(danke, liebe Petra 🙂 )
Der eilige Nikolaus
In der Pandemie haben es Nikoläuse besonders schwer. Ich rede nicht von denen aus Schokolade, sondern ich meine die, die durch Kindergärten, Wohnungen oder Schulen ziehen, mit Mitra und goldenem Buch, um die Kinder mit einer Geschichte und ein paar Kleinigkeiten zu beschenken. So, wie es ihr Vorgänger vor rund 1700 Jahren in Myra gemacht hat. Dabei hat der historische Nikolaus durchaus eine Affinität zu pandemischen Zeiten, denn er erbte das Vermögen, das er an die Armen und Kleinen verteilte, von seinen Eltern. Und die waren an der Pest gestorben. Düstere Zeiten also, damals wie heute. Und wie immer, wenn es den Menschen schlecht geht, freuen sie sich ganz besonders auf schöne, herzwärmende Momente. Wie eine halbe Stunde mit Sankt Nikolaus, seinen Geschichten und kleinen Geschenken.
Nun ist der Nikolausbesuch nicht nur für die lieben Kleinen – die bösen sehen ihm meist eher mit gemischten Gefühlen entgegen – und ihre Eltern eine Freude. Auch für die vielen Menschen, die am 6. Dezember in Kostüm und Rolle schlüpfen, ist dieser Tag wichtig, nämlich als fest einkalkulierter Verdienst.
„Nikolausbesuch trotz Corona“ titeln daher Tageszeitungen und Webseiten schon seit Tagen und Wochen. Und tatsächlich ist die Vermummung bei diesem „Heiligen“ ja ohnehin praktisch Teil des Kostüms, so dass die ihn selbst und die Anderen schützende FFP2-Maske gut unter einem entsprechenden Rauschebart verborgen werden kann.
Und trotzdem ist das Geschäft auch heuer, im zweiten Jahr in Folge, für die berufsmäßigen Nikoläuse mau. Studenten, Gelegenheitsarbeiter und Minijobber hocken frustriert auf der Couch und starren nostalgisch auf Handyvideos vergangener Performances, während draußen zarte Flocken aus dem Himmel rieseln. Kinder sitzen vor dem Fernseher und müssen mit einem Zeichentrick-Surrogat vorliebnehmen, oder mit Fantasy-Gebilden aus der Disneyschen Traumfabrik.
Aber halt! Wer stapft denn da durch den frisch gefallenen Schnee auf dem Kirchplatz? Das gelbe Laternenlicht malt bizarre Schatten auf die lichtglitzernden Tannen, und dazwischen bewegt sich eine große Gestalt in langem Mantel. In einer Hand hält sie einen Stab, in der anderen einen großen Sack. Sankt Nikolaus – denn wer sollte das sonst sein? – bleibt immer wieder stehen und schaut sich nach allen Seiten um. „Er sucht die Kinder, er sucht uns“, flüstert Lisa und versucht, den zwei Jahre älteren Bruder beiseite zu schieben, um einen besseren Blick durch das beschlagene Fensterglas auf den Menschen zu werfen.
Finn ist sieben und stolz darauf, nicht mehr an Nikolaus, Christkind & Co. zu glauben. Aber die Gestalt, die dort unten ganz offensichtlich über den verlassenen Park Richtung Kirche huscht, hat schon verdammt viel Ähnlichkeit mit dem Mann, den es eigentlich nicht gibt.
„Schau mal, jetzt ist er an der Tür zur Sakristei. Er denkt bestimmt, die Kinder warten wegen der Kälte heute drinnen auf ihn. Komm, Finn, wir müssen runter! Stell dir mal vor, wie enttäuscht Sankt Nikolaus ist, wenn er drinnen gar niemanden findet.“ Und als sie sieht, dass ihr Bruder noch zögert, fügt sie verschmitzt hinzu: „Der Sack sieht so aus, als wären da viele Überraschungen drin. Und wenn wir die einzigen Kinder sind…..“
„Ok. Komm.“ Finn geht vorsichtig zur Zimmertür, schaut nach, ob die Luft rein ist, winkt seiner Schwester, und dann schleichen beide auf Zehenspitzen, Winterjacken in der Hand, aus der Wohnung. Eltern sind solche Spielverderber. Wahrscheinlich hätten sie ihnen „wegen Corona“ verboten, dem Nikolaus hinterherzulaufen.
Draußen ist es eiskalt und stockdunkel. Im Park springen sie von Lichtpfütze zu Lichtpfütze, gehen zwischen den Tannen in Deckung und suchen den Heiligen Mann. Schwer ist das nicht, denn seine Stiefel haben im Schnee deutliche Spuren hinterlassen, bis hin zur Sakristei. Die Tür steht einen Spalt offen. „Alles dunkel. Wahrscheinlich ist er schon wieder weg“, flüstert Finn. „Der Arme, er war sicher total enttäuscht“, antwortet Lisa. Aber da sehen sie einen Lichtstrahl im Kirchenraum umherirren. „Komm“, sagt Finn wieder. Und die Geschwister schieben sich vorsichtig in die Sakristei. Auch im Dunkeln erkennen sie sofort, dass etwas nicht stimmt. Der Tisch ist umgeworfen, die Türen der Schränke mit den Messgewändern, Kerzenhaltern, Kelchen und allem, was in einer Sakristei an Kostbarkeiten aufbewahrt wird, hängen schief in den Angeln. Aus dem Kirchenraum dringen Geräusche, ein Klirren, ein dumpfer Knall, ein Fluch. Lisa starrt ihren Bruder an. „Der Nikolaus flucht doch nicht… oder?“ „Nein. Er kommt zurück. Schnell in den Schrank!“
Hinter Messgewändern versteckt beobachten die Kinder, wie Sankt Nikolaus hastig die Sakristei durchquert, mit dem prallen Sack in der Tür hängenbleibt, ihn losreißt und in der Dunkelheit verschwindet.
„Halt, halt, unsere Geschenke,“ flüstert Lisa erschrocken. „Pssst“, faucht ihr Bruder. „Schnell.“ Er zieht die Schwester hinter sich her zum Pfarrhaus. Dort läutet er Sturm.
„Der Nikolaus ist aus der Kirche gelaufen und hat vergessen, uns unsere Geschenke zu geben“, erklärt Lisa dem verblüfften Pfarrer und den Gästen, mit denen er gerade gemütlich zu Tisch saß. „Nein, er hat alles gestohlen“, ruft Finn. „Da läuft er!“
Tatsächlich kommt der unheilige Mensch mit dem schweren Sack im Schnee nur langsam voran. Der Pfarrer und seine Gäste rennen ihm nach – immer den Spuren im frischen Schnee hinterher.
Lisa und Finn haben es nicht eilig, nach Hause zu kommen – sie gehen ganz sicher einer saftigen Standpauke entgegen. „Ob sie ihn fangen, den Nikolaus?“, fragt Lisa. „Bestimmt. Wenn er nicht um die Ecke einen schnellen Schlitten geparkt hat“, antwortet Finn.