Nachdem der Eiswind im Kälterausch die Blätter von den Bäumen gerissen hat, kaum, dass sie erblassen durften, nachdem es kurz vor Geisterstunde ist und nachdem mir kein Haiku einfallen will, nein, es gefällt keinem Gedicht in meiner Gedankenwelt, heute regennacht, nachdem ich zu müde bin, um den Chiara-Blog einzurichten und zu deprimiert, um mich mit einer Tasse Schokolade über meine Schreibfehlzeiten hinwegzutrösten, nachdem die Arbeit in meinem Nacken sitzt und an meinen Stunden nagt, gnaden- und einfallslos –
erzähle ich die Geschichte von der Nordseesturmnacht zu Ende. So, wie ich sie erinnere. So, wie meine Mutter sie uns Kindern bei Kerzenschein und Oktoberstürmen erzählt haben mag.
Die Familie saß also in ihrem Ferienhaus an der Nordsee. Es war ihr erster Urlaub am Meer, und sie genossen ihn in vollen Zügen. Wattwanderungen und Muschelsammeln, Strandburgen und Dünenklettern. Es gab so viel zu tun, dass die Kinder am Abend müde in die karierte Bettwäsche fielen, und die Eltern auch.
Doch in dieser, der besagten, der schon vorab an-erzählten Nacht, wurden sie vom Sturm geweckt. Der Wind war schon heftig gewesen, als sie beim Abendbrot saßen (wären sie ins Dorf gegangen und hätten sie gemütlich in einem schönen Restaurant ein Touristenmenu gegessen, hätte der Wind ihnen beim Hinausgehen so heftig in die Gesichter geblasen, dass sie im Hotel ein Zimmer mit vier Betten genommen hätten. Und wäre die Geschichte mit dem Ausblasen der Kerze nach der Gutenachtgeschichte zu Ende gewesen.
Aber die Eltern wollten sparen oder es gab kein offenes Restaurant oder die Kinder waren zu müde – jedenfalls gab es wahrscheinlich nur Wurst- und Käsebrote – deutsche Familien essen Wurst- und Käsebrote zu Abend, auf Brettchen, so dachte ich mir das, und manchmal, aber nur manchmal, wünschte ich mich an einen deutschen Abendbrottisch, wenn es bei uns paniertes Hirn gab oder Minestrone als primo. Aber sonst war ich immer zufrieden mit dem, was es bei uns, wie in jeder italienischen Familie – so dachte ich – zum Abendbrot gab. Pasta oder Reis und dann Salat und Gemüse und Frittata oder Huhn und dann Yoghurt und Obst oder – aber nicht immer – Kuchen und Eis. Ich war ein recht dickes Kind.
Die Familie hatte also schon am Abendbrottisch gehört, dass draußen der Wind mächtig wehte. Nachts wachten sie auf, weil der Sturm sich an die Hauswände schmiegte und dann mit wehenden Fingern um die Ecken griff, so, als wolle er das kleine Ferienhäuschen mal eben durch die Luft wirbeln. Die Kinder hatten Angst und krochen zu den Eltern ins Bett. Und da hörten sie es. Laut und deutlich. Ein dumpfer Schlag. Er kam aus dem Esszimmer. Da, wieder einer. Aus dem Wohnzimmer? Rrrummmms, die Wand bebte und das Bücherregal kippte um. Dann Stille. Nur der Wind heulte. Nur der Wind? Nein, da heulte noch etwas anderes. Laut und klagend klang es durch die Nacht. Vermischte sich mit dem Dröhnen der Wellen und dem Grollen des Donners. Und dann wieder rrrrrrrrrummmmms. De Teller kippten aus der Anrichte. RRRRRRRuuuuuummmmmms. Ein Fenster ging zu Bruch. Und diese Stimme. Dieser Gesang. So unendlich traurig. Wie aus einer anderen, untergegangenen Welt.
Rrrummms. Rrrummmms. RRRuuummmmms. Die Schläge gegen das Haus wurden immer heftiger. Sie schienen von allen Seiten auf die Wände hereinzuprasseln. Dann flaute der Sturm langsam ab, und auch die Schläge verminderten ihre Wucht. Zusammengekauert verbrachte die Familie den Rest der Nach in einer Ecke des Schlafzimmers.
Am nächsten Morgen war es windstill, und durch die zerbrochenen Fensterscheiben lachte die Sonne aus einem stahlblauen Himmel. Vorsichtig öffnete der Vater die Tür. Es ging nicht. Vergeblich stemmten sie sich alle gemeinsam dagegen.
Die Tochter – oder war es der Sohn – schließlich kletterte durch das zerbrochene Fenster. Und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Die anderen stiegen eilig hinterher. Sie umrundeten das Haus, auf der Suche nach dem Kind. Das saß neben einem riesengroßen Wal, der in der Sturmnacht am Strand genau neben ihrem Häuschen gestrandet war. Und mit der Flosse recht unsanft angeklopft hatte.
Ich kann mich nicht erinnern, ob der tot war, der Wal. In meiner Version 2011 holen die vier alle Decken und tränken sie mit Wasser, legen sie auf den Wal und kühlen ihn, bis die Flut wieder kommt. Holen Hilfe, und mit dem halben Dorf gelingt es ihnen, das Tier wieder ins Meer zu schieben.