MiniKrimi Adventskalender am 20. Dezember


Heute: der MIniKrimi im Doppelpack. Denn ich kann mich nicht entscheiden. Also überlasse ich euch die Wahl. Welcher ist besser? Unter allen Antworten verlose ich ein Exemplar meines winterlichen Fünf-Seenland-Krimis „Miniataurus“, passend zur Jahreszeit.

  1. Saitenwechsel

Er kam unerwartet früher als geplant von der Dienstreise zurück und wurde von schrillen Dissonanzen empfangen. Seine Frau Gina hatte offensichtlich ein neues Hobby: sie übte Violine. „Diese Seite von dir kannte ich noch gar nicht,“ sagte er und ergriff  – bildlich gesprochen und wörtlich genommen – die einmalige Gelegenheit, eine andere Saite seines Lebens aufzuziehen, nachdem er die alte G-Saite runtergedreht, ausgefädelt, die neue Saite eingefädelt und einmal fest über das Ende ihres Halses gewickelt hatte.

2. Gestreift

„Wie süß, Schnucki, dass du mich doch noch mitgenommen hast, in deinen Skiurlaub. Eine Woche ohne dich, das hätte ich nicht ausgehalten. Ich will dich doch jede Sekunde bei mir haben.“

„Klar, mein Zuckerstückchen. Eine Woche Kitzbühel nur mit meinen Freunden – das wäre ja nicht zum Aushalten gewesen.“

Sie kichert. Und fragt: „Schnucki, hier steht Streif. Ist das auch ganz sicher eine Anfängerpiste?“

„Ganz sicher, mein Häschen. Da kommst du ohne zu schieben gar nicht voran. Deshalb habe ich deine Skier heute morgen extra nochmal gewachst. Und jetzt ab mit dir.“

„Ahhhhhhhhh!“

MiniKrimi Adventskalender am 17. Dezember


Krieg der Schneesterne

Es gibt Kriege, die dauern Jahre an. Jahrzehnte, sogar. Der längste über ein Vierteljahrhundert, ungefähr von 1618 bis 1648, der Vietnamkrieg wütete von 1955 bis 1975. Dagegen ist die Auseinandersetzung, die Christiane seit ihrem Einzug in das Eckhaus im ruhigen Villenvorort vor 10 Jahren mit der Firma führt, die von der Stadtverwaltung mit der Reinigung ihrer kleinen Seitenstraße betraut wurde, rein zeitlich gesehen eine Lappalie.

Aber emotional gleicht der Kampf einem Atomkrieg. Zumindest, was Christiane betrifft. Im Laufe des Konfliktes ist sie von einer erhöhten Reizbarkeit über nervös bedingte Unruhezustände mit Schlafstörungen in eine handfeste Depression hinübergeglitten, die sie, vor allem in den Wintermonaten, nur mit starken Psychopharmaka in den Griff bekommt.

Und das kam so: Christiane und ihre Familie konnten ihr Glück kaum fassen, als sie aus einer Schar von über 100 Beweber*innen ausgewählt wurden und in die frisch renovierte kleine Eckvilla an der putzigen Spielstraße einziehen durften. „Bitte achten Sie vor allem darauf, dass Ihr Straßenanteil immer sauber und gepflegt ist. Das ist hier ein elegantes Viertel“, hatte die Vermieterin ihnen noch vor der Unterzeichnung des Mietvertrags nahegelegt. Woraufhin Christianes Mann nach einem langen Blick aus dem Fenster gemurmelt hatte: das ist ein Eckgrundstück. Gefühlt müssen wir mehrere hundert Meter Straßenrand ‚pflegen‘!

Christiane hatte in ihrer Begeisterung über den positiven Ausgang ihrer Überzeugungstaktik („Wir sind die idealen Mieter: fast erwachsene Kinder, eine Gärtnerin als Großmutter, keine Haustiere – und wir sind so oft unterwegs, wir haben gar keine Möglichkeit, das Haus zu ver-, ehm zu bewohnen.“ Was natürlich – fast – alles nicht wirklich stimmte. Die Kinder waren kaum aus der Pubertät heraus und gerade in dem Alter, in dem Parties in Haus und Garten, laute Rockmusik zu jeder Tages- und Nachtzeit und eine permanente Durchflutung des Hauses mit Gleichaltrigen gang und gäbe sind. Die Oma praktizierte Ikebana und lebte 500 Kilometer weit weg. Und auch wenn Asta, Rex, Kugel und Mäuschen von Christiane wie Menschen behandelt wurden, waren sie für Außenstehende Dobermann, Afghane, Siam und Kartäuser) nur beiläufig geantwortet: „Naja, das müssen wir ja nicht allein machen, dafür gibt es ja die Straßenreinigung.“

Beim süffisanten Lächeln der Vermieterin hätte sie eigentlich Verdacht schöpfen müssen. Tat Christiane aber nicht. Denn es war Sommer. Sommer in der Stadt. Die Straße war und blieb sauber, und das Thema Straßenreinigung geriet in Vergessenheit. Bis im September die ersten Blätter zu fallen begannen. „Hallo Frau Müller, ich bin vorhin zufällig bei Ihnen vorbeigefahren. Also, da liegen immens viele Blätter auf der Straße. Die müssen Sie entsorgen. Das hatten wir doch besprochen! Und außerdem – kann es sein, dass ich einen Hund bellen gehört habe? Und ich hätte beinahe eine Katze überfahren, die dann auf Ihrem Grundstück verschwunden ist….“ Die Vermieterin klingt gereizt.

„Alles gut, Frau Huber. Da müssen sich mich wohl in dem Moment verpasst haben, als ich im Baumarkt einen Laubbläser geholt habe. Hundegebell? Ich habe noch nie was gehört. Tja, die Nachbarskatzen fühlen sich bei uns sehr wohl, offensichtlich…. Ja, tschüss dann, Frau Huber! Ach, Moment, Frau Huber?“

Aber da hatte die Vermieterin schon aufgelegt. Minuten später hörte Christiane ein Geräusch, an das sie sich dunkel aus ihrer Schwabinger Wohnung erinnerte. Eine Straßenreinigungsmaschine. Christiane rannte vor die Tür, riss das Gartentörchen auf – und sah die Maschine gerade noch um die Straßenecke verschwinden. Sie hastete hinterher. „Moment!“, rief sie. „Sie haben vergessen, unsere Straßenseite zu kehren.“ Tatsächlich war die gegenüberliegende Seite, die an einen kleinen öffentlichen Park grenzte, blankgeleckt, kein Blättlein lag mehr auf dem Asphalt. Während entlang ihres Gartenzauns ein bunter Blätterhaufen vor sich hingammelte. „Halt, warten Sie!“ Endlich hörte der Mann in der Kabine Christianes Rufen. Er kurbelte die Scheibe runter und erklärte unwirsch: „Das ist ne Spielstraße hier. Da müssen die Bewohner ihre Seite selber kehren. Nur im Winter nicht.“ Sprachs und ward nicht mehr gsehen.

Also nahm Christiane den Laubbläser in Betrieb und die Blätterhaufen in Angriff. Doch bereits nach zwei Minuten klopfte ihr die erboste Nachbarin aus Nummer 7 auf die Schulter. Christiane, ganz berauscht von der Macht der Maschine, verstand zunächst nichts. Als die Frau immer wilder gestikulerte, schaltets sie den Bläser ab. „Nicht in der Mittagszeit zwischen zwölf und drei“, brüllte die Nachbarin in die plötzliche Stille.

„Ach so, das wusste ich nicht, entschuldigte sich Christiane. „Aber am Nachmittag habe ich einen Kundentermin…..“ „Egal. Gesetz ist Gesetz“, sagte die Frau und kehrte in ihre Jägerzaunburg zurück. Um 17.30 Uhr war Christianes Termin vorbei, und sie ging, mit Laubbläser bewaffnet, wieder auf die Straße. Dort traf sie ihre Tochter Isabella, die aus der Schule zurückkam. Sie riss der Mutter wortlos das Gerät aus der Hand, schaltete es aus und dozierte erbost: „Sag mal, bist du total übergeschnappt? Weißt du nicht, dass diese Dinger GIFT für die Tiere sind? Und übrigens auch für alle Menschen unter 50, bei denen das Gehör noch funktioniert. Nimm gefälligst den Besen, Mama.“

„Na hör mal, damit dauert das ja ewig. Gut, dann machst du das eben, Madame Umweltbewusst.“ „Das könnte dir so passen. Ich muss bis morgen die Seminararbeit fertigschreiben. Ne, ne, das machst du gefällgst selbst, wenn du deinen Putzfimmel jetzt schon auf die Straße ausweiten musst.“

Um es kurz zu machen: Christiane konnte weder Mann noch Kinder von der Notwendigkeit des Straßenreinigens überzeugen. Auch das Argument „Vermieterin“ zog nicht, weil nur sie von zuhause aus arbeitete und die Anrufe von Frau Huber entgegennahm. Also kehrte und blies (wenn isabella nicht daheim war) Christiane den ganzen Herbst über im Schweiße ihres Angesichts über 50 Straßenmeter – gefühlt waren es 5000. EInmal die Woche kam das von der Stadt beauftragte Reinigungsiunternehmen, putzte die gegenüberliegende, an einen kleinen Park angrenzende Straßenseite- und blies die Blätter gegelmäßig gegen Christianes Gartenzaun. Sie beschwerte sich per Mail. Sie rief in der Stadtverwaltung an. Sie rannte auf die Straße udn stellte sich von das Gefährt. Alles umsonst. Im Gegenteil. Alle schienen sich gegen sie verschworen zu haben. Der Sachbearbeiter in der Stadtverwaltung, die Straßenreinigungsfahrer – und sogar die Blätter, die vermehrt dann runtersegelten, wenn sie gerade ihren Straßenanteil reingefegt hatte. „Nimm dir das noch nicht so Herzen. Du wirst ja regelrecht hysterisch“, sagte ihr Mann, statt sie zu trösten oder, besser noch, zu unterstützen.

Christiane wachte jeden Mittwoch, dem Tag der Straßenreinigung, mit Bauchschmerzen auf. SIe hastete vor die Tür, fegte alle über Nacht gefallenen Blätter auf die andere Straßenseite – und erlebte mit, wie der Fahrer diese mit einem höhnischen Grinsen wieder zu ihr hinüberschob.

Egal. Christiane ertrug all dies und tröstete sich damit, dass sie im Winter wenigstens keinen Schnee schippen musste.

Im ersten Winter war das auch so. Denn die paar wenigen Flöckchen, die zwischen Dezember und März vom Himmel rieselten, waren getaut, noch bevor sie das Wort Schneeschippen auch nur angedacht hatte.

Doch dann kam der vierte Winter in der Spielstraße. Püntklich zu Weihnachten schneite es, als hätte Frau Holle das ganze dänische Bettenlager ausgeschlagen. 3 Tage und Nächte. Der Schneeräumer kam – nicht. Auf der kleinen Straße häuften sich Schneemassen. Ein Nachbar klingelte und erklärte der erstaunten Familie Müller, dass sie für das Straßenstück an ihrem Haus verantwortlich seien, wie alle hier. Nur, dass die anderen kaum 10 Meter hatten, jeweils. Während das Eckgrundstück….. „Ich wusste es!“, schimpfte Christianes Mann. „Aber nein! Im Winter räumt die Firma. Das haben die mir so versichert“, wandte Christane ein. „Ja, theoretisch schon. Aber Spielstraßen liegen in der Priorität an letzter Stelle. Erst kommen die Haupt-, dann die Nebenstraßen. Und dann wir. Das kann bei so ’nem Wetter eine Woche dauern. Und bis dahin sind wir, also SIE verantwortlich.“

Schließlich schippten alle Männer der Straße – ganz ausnahmsweise – gemeinsam, und Christianes Mann baute aus dem aufgetürmten Schnee eine Bar, an der sie dann bis in die Nacht standen und Bier tranken.

Inzwischen begann es zu tauen, und nach 7 Tagen erschien die Straßenreinigungsfirma und streute tonnenweise Split in die Pfützen.

Im darauffolgenden Herbst startete Chrtiane, gestärkt durch die Einnahme eines Nerventonikums, einen erneuten Anlauf, um sich gegen die blättrigen Übergriffe der Firma zu wehren. Inzwischen begegnete ihr der Fahrer mit blankem Hass, denn sie hatte sich „ganz oben“ über ihn beschwert und angeregt, dass die Spielstraße einer anderen Firma übergeben würde. Doch damit hatte sie in ein Wespennest gestochen. „Der Sachbearbeiter kassiert gutes Geld für den Auftrag, vom Firmenchef“, erklärte ihr eine andere Nachbarin, die offenbar über alles informiert war – woher, das gab sie nicht preis. Jedenfalls erhielt Familie Müller daraufhin mehrere Bußgeldbescheide im vierstelligen Bereich, weil angeblich ihre Bäume über das zulässige Maß in die Straße hineinragten. Nur, weil ihr Mann zufällig früher als üblich nach Hause kam, entging Christiane einer Verhaftung wegen tätlichen Angriffs auf einen städtischen Beamten, der ihr den letzten Bescheid zustellen wollte.

In den folgenden Wintern tobte der Krieg der Schneesterne immer heftiger, beide Seiten fuhren immer schärfere Geschütze auf. Der Reinigungsdienst schob die Schneemassen aus der gesamten Spielstraße zunächst an den Müllerschen Zaun, der unter der Last zusammenbrach. Frau Huber verlangte Schadenersatz von den Mietern. „Schnee ist höhere Gewalt, die damit verbundenen Risiken müssen von Ihnen getragen werden.“

Daraufhin vereiste Christiane die Fahrbahn, so dass der Schneeräumer auf der Spiegelfäche ins Schleudern kam, gegen eine Garagenwand prallte (nicht die Müllersche!) und der Fahrer eine leichte Gehirnerschütterung erlitt – angeblich.

Beim nächsten Schneefall stand Herr Müller morgens beim Öffnen der Gartentür vor einer zwei Meter hohen Schneemauer. Er konnte gottseidank über die Garage ausweichen.

Christiane machte Fotos und mobiliserte die Presse. Der Artikel mit der Überschrift „Familie unter Schneeterror, Reinigunsmafia am Werk?“ kostete den Fahrer, den stellvertretenden Firmenchef und den Sachbearbeiter ihren Posten.

Und dann ging im kommenden Winter alles gut. Eine andere Firma reinigte die kleine Spielstraße, und Christiane brachte dem Fahrer frühmorgens einen heißen Espresso ans Fenster.

Woraufhin ihr Mann anonyme Schreiben erhielt, die seiner Frau eine Affäre mit einem Straßenreininger andichtete. Das gleiche Schreiben fand seinen Weg auch in die Stadtverwaltung und wurde dort, im Gegensatz zum Hause Müller., ernst genommen. Der Mann musst gehen. Und die alte Firma wurde wieder beauftragt.

Wir schreiben das Schneesternenjahr 2022. Vor Weihnachten hüllt ein Tiefdruckgebiet ganz Deutschland fest in eine dicke weiße Umarmung. Auch die kleine Spielstraße ist schneebedeckt.

Christiane kennt den Tagesablauf der Straßenreinigung auswendig. SIe schreckt um 4 Uhr früh aus einem unruhigen Schlaf, zieht sich an, bewaffnet sich mit Schneeschaufel und Besen und wartet am Gartentor auf den Schneeräumer. Da kommt er auch schon. Mit seiner mächtigen Schaufel nimmt er eine Riesenladung gefrorenen Schnee auf und schiebt ihn gegen Christianes Gartenzaun. Rollt zurück. nimmt die nächste Ladung auf, gibt Gas und rammt das ganze an den Holzzaun. Die dahinter liegende Eibe knirscht, knackt und bricht unter der Last zusammen. „Halt“ schreit Christiane. „Halt, SIe, Sie, Sie…. MÖRDER“! SIe reißt das Gartentürchen auf und rennt dem Schneeräumer entgegen, der mit einer neuen Schneemasse auf sie zurast. Die Schaufel schleift am eisigen Boden entlang, nimmt Schnee und etwas Schwrzes, Gestikulierendes auf, fährt in die Höhe – und schleudert alles über den Zaun direkt in Müllers Garten.

Später wird der Fahrer beteuern, er hätte Christiane nicht gesehen. „Die Frau war ja rabenschwarz angezogen. Keine Warnweste und nichts. Und draußen war’s stockdunkel.“

Als Christiane das Krankenhaus nach drei Monaten verlässt, ist ihre Hüfte noch nicht ganz geheilt. Der Schädelbruch verursacht ihr immer wieder höllische Kpfschmerzen. Im Sommer zieht Familie Müller um. In eine Dachterrassenwohnung am anderen Ende der Stadt.

„“Bitte achten Sie vor allem darauf, dass Ihr Straßenanteil immer sauber und gepflegt ist. Das ist hier ein elegantes Viertel“, legt die Vermieterin Christianes Nachmietern noch vor der Unterzeichnung des Mietvertrags nahe. Mal sehen, wie lange die hier bleiben, denkt sie, und fügt hinzu: „Ein gutes Verhältnis zur Straßenreinigung kann Vorteile haben.“

Adventskalender MiniKrimi am 7. Dezember


Eine schöne Bescherung 

In der Vorweihnachtszeit ist es immer am schlimmsten. Wenn draußen die Lichtgirlanden, in den Fenstern die Jakobsleitern und am Adventskranz die Kerzen leuchten, wenn die Luft nach Glühwein duftet und gebrannten Mandeln, wenn sich im Keller die Dosen mit frisch gebackenen Plätzchen stapeln und das Radio „Last Christmas“ in Dauerschleife dudelt, packen die Erinnerungen Erika jedes Mal mit aller Macht. Denn genau in dieser magischen, wunschprallen, nach Vergebung und Liebe suchenden Zeit ist Erika die schlimmste Kränkung ihres Lebens widerfahren. 

In der Vorweihnachtszeit ist es immer am besten. Wenn draußen ein eisiger Ostwind den Schnee vor sich hertreibt und drinnen vor dem munter flackernden Kaminfeuer Whiskey und Pfeife auf ihn warten, genießt Eduard die Erinnerungen am meisten. Und während das Holz in den Flammen knistert, ergreift die Genugtuung wieder Besitz von jeder Faser seines Körpers, prickelnd und über die Maßen erregend.

Erika hatte nie ein besonders gutes Verhältnis zu ihrer Mutter. Die Erstgeborene, ein Mädchen statt des ersehnten Stammhalters, schmal und schmächtig. Aus der konnte nichts „Gescheites“ werden, das hatte die Mutter gleich beim Anblick der Neugeborenen prophezeit. Im Laufe ihres Lebens hat Erika diese Erwartungen voll und ganz erfüllt. Von einer scheuen Schülerin, die sich statt in Freizeitaktivitäten lieber in Bücherwelten stürzte, entwickelte sie sich zur einer musikbesessenen Medizinstudentin. Natürlich gaben ihr die Eltern keinen Pfennig dazu, und Erika verdiente sich Studium, Bücher, Unterkunft und Essen durch Klavierunterricht. Dass sie ihr überhaupt erlaubten, die Universität zu besuchen, lag ganz einfach daran, dass sie dadurch früh „aus dem Haus, dem Auge und dem Sinn“ der Mutter verschwand.

Eduard interessierte sich schon im Kinderwagenalter für Geschwindigkeit: er stellte sich kerzengerade in seinem Buggy auf und hieb mit einem langen Schnürsenkel auf die Schwester ein, die ihn, wie ein eingespanntes Pferd, in Windeseile über den Hof ziehen musste. Mit fünf zerschnitt er die Bremsen ihres Fahrrads, woraufhin sie wie ein Pfeil die Straße bergab und gegen den Baum an der ersten Kreuzung sauste. Selbstverständlich trat er nach dem Realschulabschluss in das elterliche Autohaus ein und verdrängte den Vater, so schnell es ging, aus dem Geschäft. Sein rasanter Lebensstil kostete im Laufe der Zeit allerdings mehr, als ihm seine diesbezügliche Expertise einbrachte. Schließlich stand das Autohaus – das Lebenswerk des Vaters – kurz vor dem Konkurs. Dann starb die Mutter, und nur mit ihrem Geld konnte er die geschäftliche „Kurve kriegen“. Allerdings war dazu mehr als sein eigener Erbanteil nötig...

Erika, inzwischen längst Landärztin mit eigener Praxis, Ehemann und zwei Kindern, saß bei der Testamentseröffnung kerzengerade auf dem Ledersofa. Sie musste gegen die ungehindert durch die großen Fenster in den Raum hineinstürzende Sonne blinzeln und nahm den Anwalt, den die Mutter offenbar kurz vor ihrem Tod mit ihren Angelegenheiten betraut hatte, – übrigens ein Kunde und Duzfreund ihres Bruders – nur als Scherenschnitt war.  Im Nachhinein hat sie versucht, das Testament anzufechten, um zumindest einen Pflichttei des Erbes zu erhalten. Vergeblich. Nachdem sie alle Instanzen durchlaufen hatte, nahm der Richter, der ihr in der letzten Verhandlung die allerletzte Hoffnung genommen hatte, sie beiseite. Ob ihr bewusst sei, dass ihr Anwalt zur Clique von Eduard gehöre? Er habe es wirklich geschickt angestellt, so dass ihm, dem Richter, bei dieser lückenlosen Vorgehensweise tatsächlich die Hände gebunden gewesen seien.

Eduard sitzt vor seinem Kamin. Verträumt betrachtet er die Glut. Um ihn herum nur die Stille einer sternenklaren Nacht. Er hat den Brief zweimal gelesen. Wort für Wort. Aber er kann keinen Fallstrick erkennen. Nur eine tiefe Traurigkeit. Erika war schon immer melancholisch veranlagt. Sie schreibt, dass ihr Mann gestorben sei. Ein Unfall, der die gesamte Familie in arge Bedrängnis gebracht habe. Sie könne die Praxis nicht mehr halten und werde wohl auch aus dem Haus ausziehen müssen. Das wenige Geld, das ihr bleibe, sei für die letzten Studienjahre ihre Kinder bestimmt. Nach so viel Leid habe sie das dringende Bedürfnis, in ihrem Leben Ordnung zu schaffen. Sie wolle den Zwist mit ihrem Bruder beilegen. „Lassen wir den Schnee von gestern doch einfach tauen“, schrieb sie. „Und endlich wieder wie Geschwister zueinander sein.“

Der dem Brief beigelegte Versöhnungstropfen muss noch aus dem Weinkeller seines Schwagers stammen. Ein vorzüglicher Chateau Lafitte. „Santé, Schwester“, sagt Eduard und hebt das Glas.

Dank seiner Selbstgerechtigkeit ist er kaum überrascht, als sie trotz vorgerückter Stunde vor seiner Tür steht, und es gelingt ihm gerade noch, ihr das Glas in die Hand zu drücken, als die Welt um ihn herum sich zu drehen beginnt. Sekunden später liegt er leblos auf dem Terracottaboden.

Frau Dr. Erika Monhaupt ist untröstlich, den Bruder so unmittelbar nach ihrem Wiedersehen verloren zu haben. Dabei verschweigt die Ärztin natürlich sowohl ihren Brief samt Versöhnungsgeschenk als auch ihre Kenntnis bezüglich der Ursache für den plötzlichen Tod ihres Bruders. 

Die Vorweihnachtszeit, denkt sie, während draußen dichte Schneeflocken tanzen und im Kamin ein lustiges Feuer prasselt, ist doch gar nicht so übel. Morgen kommen die Kinder. Ist das nicht eine schöne Bescherung?

Adventskalender Minikrimi am 19. Dezember


Foto: Polarnacht

Heute noch ein Krimi von meiner Autorenkollegin Mona Moldovan. Sie reist regelmäßig in den hohen Norden. Das Foto ist von ihr. Danke, liebe Mona.

Nordlichter

1.
Ich wache leicht verkatert auf, habe gestern den letzten Rest „Linie“ Aquavit getrunken. Die Flasche habe ich aus Deutschland mitgebracht und sie für ganz besondere Notsituationen aufbewahrt. Wie absurd: Der Inhalt wurde hier in Norwegen hergestellt, zweimal über die „Linie“ (Äquator) verschifft (das soll den besonderen Geschmack verleihen), dann exportiert, dann nach Süddeutschland geliefert, und schließlich in meinem Gepäck über Oslo nach Tromsø und mit dem Schneemobil hierher transportiert, ins Nirgendwo. So eine Flasche bewahrt man für besondere Fälle auf. Gestern war es soweit. Zum Glück ist sie heute leer, weil Alkohol nicht beim Denken hilft; zumindest mir nicht, und ich muss verdammt nochmal denken. Nicht, dass es eilt; bis es taut, wird es Mai. 

Aber gerade das ist auch mein Problem: die Erde und alle Seen, die ganze Welt um mich herum: alles weiß und hart und tiefgefroren. Die Leiche auch. Daher muss ich nachdenken: wie werde ich sie los, sodass niemand sie jemals findet. Wie werde ich ihn los. Wären wir weiter südlich, hätte ich mehr Ideen. Norwegen hat sehr tiefe Fjorde und nicht alle frieren in Winter zu, die wenigsten eigentlich. Näher am Atlantik hätte ich auch keine großen Probleme damit. Aber hier in diese weiße Wüste wird es ungleich schwieriger. Bei minus zwanzig Grad ist es einfach unmöglich, ein Loch zu graben, um einen erwachsenen Mann darin zu beerdigen. Auch, wenn er in den letzten Jahren etwas geschrumpft und abgemagert ist. Ihn in einem See zu versenken kann ich auch vergessen. Ich weiß nicht, wie dick das Eis ist, aber egal ob dreißig Zentimeter oder drei Meter. Es ist auf jeden Fall zu dick. 

2.
Diese verdammte Einsamkeit. Ich habe immer mit der Illusion gelebt, dass es mir nichts ausmacht, alleine zu bleiben. Dass die Einsamkeit sich hier genauso anfühlt wie in den letzten Jahren, wie im Rest der Welt. Aber hier ist sie noch härter, rauer und jetzt absolut endgültig. Ichdenke darüber nach, wie es dazu kam, eigentlich ist es keine komplizierte Geschichte. Die Jahre sind gekommen und gegangen. Wir hatten uns immer weniger zu sagen, und die Liebe ist versickert, das Ende nah, aber nie zum Greifen. Wir teilten eine Wohnung, aber waren irgendwie nie am selben Ort zusammen; wir teilten Erinnerungen, aber nicht mehr die Gegenwart und schon gar keine Pläne für die Zukunft. Die Stille war so laut, dass ich auf die Idee kam, uns für den Winter eine Hütte in Lappland zu mieten, um, weit abseits von Zivilisation, Internet und anderen Ablenkungen, endlich ehrlich miteinander zu sein. Das ist dann leider gründlich misslungen. Oder vielleicht ist es auch gründlich gelungen: Jedenfalls waren wir irgendwann viel zu ehrlich miteinander. Ein Wort ergab das anderen, und irgendwann habe ich mich dann vergessen. Oder gehenlassen? „Provoziere nie eine Frau, wenn sie ein Messer in der Hand hält“, habe ich früher oft gescherzt, ohne zu ahnen, dass daraus irgendwann bitterer Ernst werden würde. Es ist so leicht und ging so schnell. Ein Stich – und dann Stille. Für immer. Ich bin nicht wirklich allein. Sein Körper ist ja noch hier. Aber irgendwie fühle ich mich plötzlich verlassen. Einsam.

3.
Der Wintersturm hat viele Stunden heftig gewütet, aber nun ist es ruhig geworden. Am Vormittag versucht die Sonne, hinter dem Horizont aufzusteigen. Sie schafft es nicht, es ist Polarnacht. Die wenigen Stunden, bis sie aufgibt, sieht der Himmel in allen Nuancen von Pink und Orange wie gemalt aus. Auf einmal weiß ich, was ich tun werde. Es ist ziemlich schwer, aber irgendwie schaffe ich, die Leiche auf dem Schneemobil festzubinden. Ich habe vor, ganz weit zu fahren und ihn irgendwo abzulegen, wo es schön ist und weiß und wo niemand je hinkommen wird. Vielleicht. Hoffentlich. 

Als ich losfahre, ist es schon wieder dunkel. Ich bin bereits lange unterwegs und beginne zu frieren, als ich merke, dass mein GPS nicht mehr funktioniert. Der Akku ist leer oder einfach eingefroren. Der Sturm hat die Wege verschüttet. Die Spuren meines Schneemobils verschwinden in der glänzenden Wüste und ich weiß nun, dass ich die Orientierung endgültig verloren habe. Aber das macht mir keine Angst. Ich fahre lange, ohne Ziel und ohne die Zeit zu beachten, bis mein Sprit fast alle ist, dann halte auf einer Lichtung, oder vielleicht auf einem gefrorenen See, wer weiß das schon. Die Nacht glänzt und funkelt magisch im Sternenlicht. 

Und dann sehe ich die ersten grünen Strahlen am Himmel. Zunächst schwach, wie die Finger einer Zauberfee. Dann eine hellere Flamme, die schnell verschwindet, bevor die nächste erscheint. Bald brennt der gesamte Himmel: tanzende, kalte, atemberaubende Nordlichter überall. Die Luft fühlt sich klar an und hart. Ich bin so müde. 

Es ist so wunderschön.

4.
Als eine raue Hundezunge über mein Gesicht leckt, wehre ich mich fast gegen die Stimmen, die mich ins Leben zurückrufen. In die Verantwortung. 

Adventskalender Minikrimi am 9. Dezember


Foto: 8Moments

Dieser Minikrimi wurde von Mona Moldovan geschrieben. Er ist eine Variation zum gestrigen Thema – Last Christmas und die Männer. Und Frauen… Danke, liebe Mona!

Die Weihnachtsfeier

Die Einladung liegt ganz unten in dem Stapel mit Weihnachtskarten, die sie aus dem Postkasten geholt hat. Christine will sie schon achtlos wegwerfen, als ihr Blick auf den Absender fällt. Den Namen der Steuerkanzlei in Grünwald kennt sie gut. Es ist der Name, den sie einmal zu tragen gehofft hatte. Wenn sie daran denkt, wie es dazu kam, dass es dann doch nicht dazu kam, versetzt ihr das immer noch einen Stich ins Herz. Sie erinnert sich an diesen Dezembernachmittag vor zwei Jahren, als sei es gestern gewesen.

Sie kam früher nach Hause, vollgepackt mit Geschenken. Leise schlich sie hinein, um die Geschenke zu verstecken, so dass Matthias sie nicht vor der Bescherung finden würde. Aber dann entdeckte SIE etwas, was sie nicht hätte finden sollen, und zwar ihn. Im Bett mit dieser Blondine, einer Kollegin… wie hieß sie nochmal?

„Das ist doch nun sowas von egal“, denkt sie. Aber das ist nur so dahin gedacht, egal ist es ihr immer noch nicht. Matthias zog unmittelbar danach aus, und sie verbrachte sehr traurige Weihnachten. Die Monate danach waren auch nicht leichter. Die Trennung, der finanzielle und gesellschaftliche Abstieg. Er war nun fest mit dieser Frau zusammen, der Kollegin und Steueranwältin. „Schwamm drüber“, versucht sie sich einzureden. Es klappt nicht.  

Wenige Tage später hat sie die Münchner Innenstadt kreuz und quer auf der Suche nach dem passenden Kleid für die Feier abgesucht. Am Ende findet sie es in einem großen, luxuriösen Kaufhaus. Rot, lang, sexy. Sie hat noch nie so viel Geld für ein Kleidungsstück ausgegeben, fast eine Münchner Monatsmiete. Leisten kann sie sich das eigentlich nicht, mit ihrem kleinen Gehalt als Angestellte im sozialen Bereich. Aber sie will Matthias zeigen, was er verloren hat. Aus Liebeskummer hat sie damals etliche Kilos abgenommen, die nur zum Teil wieder drauf sind. Ihre Haare sind jetzt auch blond. Und das Kleid steht ihr wirklich ausnehmend gut.

In den Tagen vor der Weihnachtsfeier hat es geschneit, und die großen Villen in Grünwald sehen aus wie auf einer Weihnachtspostkarte. Die Adresse findet sie schnell, Google Maps sei Dank, und zum Glück ist sie auch nicht weit von der Tram entfernt, sonst würde sie womöglich mit den geliehenen High Heels im Schnee steckenbleiben. Ein blutroter Teppich führt durch den verschneiten Garten zum Haus, links und rechts davon brennen Fackeln. Am Eingang zeigt sie die Einladungskarte mit dem goldenen Rahmen und dem mit Füller geschwungenen „M“ als Unterschrift. Der Portier verbeugt sich, nimmt ihr den Mantel ab und zeigt ihr den Bereich, wo Glühwein und Caipirinhas stehen. Der Caipirinha ist heiß und sehr stark. Und drinnen erst… überall laufen Kellner mit Tabletts voller Cocktails und Leckereien herum. Das ist schon ein Unterschied zu ihrem Büro, wo die Kolleginnen sich mit selbst gebackenen Plätzchen und Glühwein von Aldi eine kleine Feier nach der Arbeit organisieren müssen.

Sie weiß, dass sie nicht zu viel trinken sollte. Alkohol macht sie immer leicht aggressiv, sie bekommt Lust, sich zu streiten und etwas kaputt zu machen… Aber wie sollte sie den Abend sonst überstehen? Sie kennt niemanden und niemand ist daran interessiert, sich mit ihr zu unterhalten. Das teure Kleid ist hier eines von vielen, und die Männer scheinen nur Frauen interessant zu finden, die gerade der Pubertät entwachsen sind. An einer Mittvierzigerin hat offenbar niemand Interesse. Auch Matthias scheint sie nicht zu beachten. Sie hat ihn nur flüchtig gesehen, aber er hat sie offensichtlich nicht wahrgenommen. Und nun ist er ganz verschwunden. Die Blondine hat sie den ganzen Abend nicht zu Gesicht bekommen (und wie sie heißt, daran erinnert sie sich immer noch nicht). Vielleicht ist es besser so. Sie könnte sie immer noch umbringen, auch wenn das alles jetzt schon zwei Jahre her ist.

Nach dem dritten Cocktail (oder vielleicht nach dem vierten?) sucht sie eine Toilette, aber alle sind besetzt. „Vielleicht müssen sich die jungen Frauen ihre Cocktails nochmal durch den Kopf gehen lassen. Zu viel Alkohol ist schließlich nicht gut für die Figur“, denkt sie garstig. Und geht die Treppe hinauf. Im oberen Stockwerk ist es dunkel und merkwürdig still. Sie versucht, eine Tür zu öffnen. Abgeschlossen. Auch die nächste. Und die übernächste. Dann kommt sie zu einer, die einen Spalt offen steht. Dahinter hört sie unmissverständliche Geräusche. Sie erstarrt, als eine junge Frau mit langen roten Locken heraus kommt, aber die Frau sieht Christine nicht. 

Die Tür steht nun weit offen, und sie erkennt den Mann dort im Zimmer sofort.

Und er sie. 

„Matthias…“ flüstert sie. „Christine?…“ lallt Matthias. „Was zum Teufel machst du hier? Wer hat dich eingeladen? Willst du wieder eine Szene machen? Ich hab‘ echt keine Lust auf euch alte Schachteln, die letzte habe ich gerade letzte Woche abserviert…“  Er versucht, seine Hose zu schließen, hat aber sichtlich Schwierigkeiten. Und nun weiß Christine, dass sie die ganze Zeit falsch lag. Nicht die andere Frau ist an ihrer Misere schuld. Sie macht einen Schritt ins Zimmer, und noch einen, plötzlich steht sie vor diesem Schreibtisch. Sie streckt ihre Hand aus – und dann sieht Matthias den Brieföffner in ihrer Hand. „Nein! Christine! Ich hab’s doch nicht so gemeint…!“

Er schreit nur einmal, ganz kurz und zu leise. Unten hat der DJ grade Helene Fischer aufgelegt, und die Menge gröhlt: „Atemlos…!“

Als Christine durch die glänzende Winternacht in Richtung Tram spaziert, geht es ihr auf einmal sehr gut. Ein Arschloch weniger auf der Welt. Jetzt soll ihr erst mal jemand etwas nachweisen. Sie hat sich ja mit niemandem unterhalten, und niemand hat sie beachtet. Ab vierzig werden Frauen irgendwie unsichtbar. Manchmal ist das gut so. 

Aber eine Frage lässt ihr keine Ruhe: wer hat sie zur Party eingeladen? Dann erinnert sie sich auf einmal. Die blonde Frau, mit der sie Matthias damals erwischt hat, heißt Marlena. Ein geschwungenes M als Unterschrift auf der Einladung. 

Als sie in die Trambahn Nummer 25 steigt, summt sie leise „Last Christmas“.  

Adventskalender Minikrimi am 8. Dezember


Foto von Coyot

Last Christmas  – Ein Krimi von meiner Co-Autorin Lydia H.

Schon wieder!  Wenn sie dieses verdammte Weihnachtslied noch einmal hören müsste, würde sie…..

Leider war Katja so gar nicht in der Situation,  irgendetwas zu unternehmen.  Nicht mehr. 

„Last Christmas….“. und noch einmal.  Obwohl die Verkäuferinnen des großen Warenhauses sich mit der Geschäftsführung geeinigt hatten,  das Lied nur noch dreimal pro Stunde zu spielen,  erklang es alle 10 Minuten.  Die Kunden liebten es eben.  Auch Katja,  die bis vor einem Jahr mehrmals pro Woche als Kundin hier gewesen war, hatte es immer gemocht. Schließlich hatte dieses Lied sie seit seinem Erscheinen zu Weihnachten 1984 durch eine glückliche Jugend und später eine ebenso glückliche Ehe hindurch begleitet.  Behütet, gut situiert, mit zwei entzückenden Kindern gesegnet. 

Bis last christmas. und zwar wortwörtlich. Die Kinder, längst aus dem Hause,  verbrachten die Weihnachtstage immer noch in der heimischen Villa.  Ausgerechnet an Heiligabend, unter dem stattlichen Weihnachtsbaum, ließ Markus,  Katjas Ehemann,  die Bombe hochgehen. Für Katja nicht unerwartet,  wie sie sich eingestehen musste. Selbst für einen so erfolgreichen Schlagerproduzenten wie Markus waren es in den letzten Monaten  einfach zu viele Überstunden und Geschäftsreisen gewesen. Der wahre Grund hieß Michelle,  war süße 24 und im sechsten Monat schwanger.  

Katja hatte bei ihrer Eheschließung der Gütertrennung zugestimmt und war sogar dankbar dafür gewesen. Damals wollte Markus, der erfolglose Musiker, sie damit schützen..  Zumal Katja als erfolgreiche Lektorin für den gemeinsamen Lebensunterhalt sorgte. Dann wurde Markus als Produzent sehr erfolgreich,  die Kinder kamen und Katja gab ihren Job auf. Es fiel ihr nicht mal schwer.

Die Abwicklung der letzten 20 Jahre ging dementsprechend schnell. Katja musste die Villa verlassen. Während sie sich jeden Anspruch auf Unterhalt, geschweige denn auf einen Teil des beträchtlichen Vermögens, abschminken konnte, galt das nicht für ihr Äußeres. Stark geschminkt stand sie alsbald, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, als Verkäuferin in der Kosmetikabteilung des Warenhauses, dessen geschätzte Kundin sie bislang war. Die Highheels hatte Katja gegen flache Schuhe getauscht.  Dennoch taten ihr die Füße nach 9 Stunden stehen weh. Und die offene oder auch versteckte Häme ihrer früheren Bekannten zu ertragen,  die sie nun bedienen musste,  war beschämend.

Endlich Feierabend.  Gerade in der Vorweihnachtszeit kostete der Job als Verkäuferin viel Kraft.  Begleitet von den letzten klängen der hundertsten Wiederholung von Last Christmas wurde Katja aus dem Kaufhaus hinausgespült, mitten in die überfüllte Fußgängerzone.  Sie schlängelte sich zwischen genervten Menschen und  Weihnachtsbuden bis zur befahrenen Kreuzung durch.  In 5 Minuten würde sie im Bus sitzen, auf dem Weg in ihr Einzimmerapartment  am Rande der Stadt. Sie erkannte Markus‘ Wagen sofort am personifizierten Nummernschuld: M-BIG 1. Und daran, dass er ohne abzubremsen auf die inzwischen für ihn rote Ampel zufuhr – immer auf der Überholspur, eben. Und dann stand da neben ihr diese blonde Frau im pinkfarbenen Pelzmantel, wedelte aufgedreht mit ihrem designertaschenbewehrten Arm und schrie: „Schaatzimaus, hiiier bin ich!!“ Dabei knallte eine der Tragetaschen Katja ins Gesicht. Es mussten ein Schuhkarton drin sein, dem Schmerz nach zu urteilen. Den Buggy mit Kleinkind neben der Frau registrierte Katja gar nicht.

Es war nur ein kleiner Schubs. Genau genommen hatte die Blondine ja grün. Aber Markus war zu schnell, um abzubremsen.  Die Polizei fand leider keine Augenzeugen für dieses schreckliche Unglück. Die Menschen waren einfach weitergegangen. Auch Katja. 

Das Kleinkind im Buggy schaute mit großen Augen interessiert auf den pinkfarbenen Fleck auf dem Zebrastreifen, drehte sich zu seinem Au-Pair-Mädchen um und sagte klar und lächelnd: Mama.

Adventskalender Minikrimi Countdown


Draußen schwimmen Wattewolken über blasses Blau. Sie flüstern von Schnee, von Kerzenlicht, vom ersten Advent. Um vom Adventskalender Minikrimi, der morgen sein erstes Türchen für Euch bereit hält. Krimifans und Shortie-Lovers, Romantikfreunde und eilig Lesende – alle kommen auch heuer wieder auf Ihre Kosten. Versprochen!

Wie in jedem freuen wir uns über Eure Anregungen. Ihr könnt uns „Clues“ schicken, Wörter, um die herum wir unseren Krimi ranken sollen. Oder eine spannende Idee. ODER: Euren Gastbeitrag!

Noch einmal schlafen, dann ist es soweit. Morgen Abend, am 1. Dezember, startet der Minikrimi Adventskalender nur auf mariebastide.blogchristmas-2933027__340

MiniKrimi vom 22. Dezember


Heute wieder eine Geschichte nach den Clues von Monika. Du machst es mir nicht leicht, meine Liebe….

Schöne Bescherung

Der Weihnachtsmann hatte seinen Sack gut zugeschnürt. Dachte er. Aber für Timo und Ali war es nicht schwer, ihm zu folgen. Denn auf dem frisch gefallenen Schnee, auf dem feuchten, salzglänzenden Asphalt und dem hellen Marmor der Hausflure und Treppen hinterließ er eine feine, funkelnde Spur aus engelshaarfeinem Lametta. Es rieselte aus dem unauffälligen Loch, dass Timo mit seinem Messer in den Sack geschnitten hatte, während Ali einen Zusammenstoß mit dem Mann im dick ausgestopften Kostüm simulierte. Unglaublich, wie fahrlässig die Leute zu Weihnachten wurden. Als raubte ihnen der kindliche Glaube an das Gute, das alle Jahre wieder über sie hereinbrach, jeglichen Sinn für Vernunft. Anders war es nicht zu erklären, dass sie dem Weihnachtsmann ihre teuren Geschenke für Frauen und Kinder, Eltern und Freundinnen anvertrauten, nur, damit alle so tun könnten, als glaubten sie noch immer an Märchen. Stattdessen würden sie in dieser stillen Nacht, in der die reiche Vorstadtwelt wie eine mit Zuckerguss verzierte Tortenlandschaft aussah, ihr blaues Wunder erleben. Von wegen Bescherung. Beziehungsweise würde die ganz anders ausfallen als erwartet.

Timo und seine „Gangstas“ hatten alles genau geplant. Mike war der Spion und hatte ausgekundschaftet, welche Geschenke der Weihnachtsmann wo abliefern würde. Timo und Ali schlichen hinter dem armen Mann her, der sichtlich an der Gabenlast zu schleppen hatte. „Nicht mehr lange, und wir erleichtern dir die Arbeit“, flüsterte Timo, und Ali keckerte sei Lachsack-Lachen. Er hörte gar nicht mehr auf damit. Timo stieß ihn unsanft in die Rippen, denn gerade ertönte Mikes Pfiff. Darauf hatten die beiden Diebe gewartet.

Während der Weihnachtsmann sich mit aller Kraft mühte, mit dem umständlichen Kostüm die Feuerleiter hinauf und dann den Kamin hinabzuklettern, huschte Timo behände hinter ihn und legte ihm die Hand mit einem in Chloroform getränkten Lappen auf Mund und Nase. Mit einem leisen Seufzer, wie ein Luftballon, aus dem das Gas entweicht, ging der gute Mann zu Boden. Das letzte, was er sah, waren zwei Aliens mit schwarzwollenen Gesichtern, aus denen nur die Augen hervorglühten.

„Schnell, her mit dem Sack, und dann nichts wie ab“, befahl Timo. Ali schulterte ächzend den Jutesack. Wahnsinn, wie schwer der war. Kein Wunder, bei all den Uhren, Diamanten, Laptops und Kameras, die da drin steckten und jetzt nur darauf warteten, von Timo und seiner Bande vertickt zu werden.

Die beiden Halbstarken zogen und zerrten den Sack schließlich gemeinsam die Feuerleiter hinunter. Erschöpft ließen sie sich nebeneinander auf den Boden gleiten. Da brauste auch schon der geklaute Buick um die Ecke, mit Mike am Steuer. Auf dem frischen Schnee kam der Wagen in der Kurve ins Schleudern und hätte beinahe den Sack über den Haufen gefahren. „Schnell rein mit euch“, rief Mike. Sie warfen sich auf die Rücksitze, den Weihnachtsmannsack fest zwischen sich. Und dann gings los, in einem halsbrecherischen Tempo quer durch die Stadt bis hinaus zu den Dünen am Strand. Um die Zeit und bei dem Wetter war selbst die Polizei nicht draußen. Keiner verfolgte die jungen Männer. Und eine Stunde später saßen sie im Sand und begutachteten ihre Beute. „Das Zeug ist mindestens eine Million Dollar wert“, sagte Timo. Und Ali pfiff anerkennend durch seine Zahnlücke. „Wir haben echt n super Ding gedreht!“ Schließlich lag nur noch ein kleines, flaches Kästchen im Sack, nicht größer als eine Streichholzschachtel. „Was isn das?“, fragte Mike. „Keine Ahnung“, sagte Timo und dreht das Ding vorsichtig zwischen den Fingern. „Bugatti„, war darauf eingraviert. Und an der einen schmalen Seite, kaum sichtbar, blinkte es rot.

Und dann blinkte es um sie herum, viele Lichter, weiß, rot und blau. Der ganze Strand wimmelte von Polizisten. „Halt, Pfoten hoch, Jungs“, hörten sie, ohne zu verstehen, was plötzlich los war. Auch, als sie beim Verhör saßen, konnten sie sich nicht erklären, wie die Polizei sie gefunden hatte. Ein Sergeant hatte schließlich Mitleid mit den drei Möchtegern-Ganoven. „Das kleine Kästchen ist eine Mini-Alarmanlage. Sie gehört zu dem Bugatti, den Marvin C. seiner Freundin zu Weihnachten schenken wollte. Marvin war selber ein Gangsta, bevor er als Rapper Millionen verdient hat. Deshalb hat er die Alarmanlage scharf gemacht. Sie hat die ganze Zeit Signale gesendet – die kamen aber nicht zu Marvin C.s Haus, sondern entfernten sich immer mehr. Da hat er uns verständigt. Und wir haben Euch gefunden. Schöne Bescherung, Jungs.

„Ich glaub, ich mach im Knast nen Rappel-Kurs“, murmelt Timo zu Ali, als er in U-Haft geführt wird.

MiniKrimi vom 13. Dezember


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Roter Schnee

So ein schöner Schlitten! Naja, was heißt Schlitten. Mit dem traditionellen Kufengefährt, das im Bergwinter oft die einzige Verbindung zur Außenwelt war und zum Leben jenseits eines einsamen Dorfes, hat dieses Highspeed-Geschöpf rein gar nichts gemein. Weder die Form noch den Zweck. Aber seit er in der Stadt lebt, hat Josef, der sich jetzt Joe nennt, ja auch keine einzige Verbindung mehr zu dem Ort, an dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hat. Zumindest denkt er das.

Aber warum ist er dann so versessen auf’s Rodeln? Auch, wenn er den Sprung ins Profilager nie gemacht hat – bei den Amateur-Rennen ist er immer ganz vorne mit dabei, und an Wagemut kann es kaum einer mit ihm aufnehmen. Ob Speedracer oder Airboard, Joe probiert alles aus.

Als er eine Einladung zum in Rodler-Kreisen legendären und allerhöchstens halb legalen Klausberg-Rennen erhält, ist Joe sofort Feuer und Flamme. Dass er damals beim Verlassen von Steinhaus nicht nur den Eltern das Herz gebrochen und sich seitdem bei keinem im Dorf mehr gemeldet hat, ist für ihn kein Argument. Und er verliert nicht einmal einen Gedanken daran, dass sein Auftauchen nach 10 Jahren für Aufregung sorgen könnte.

Er packt seinen neuen High Tech Highspeed-Rodel ein und fährt ins Tauferer Ahrntal. Joe ist kein Romantiker, aber auf der breit ausgebauten Strecke unterhalb der Sonnenburg spielen ihm die Erinnerung Bilder in den Blick, die er längst vergessen glaubte. „Josef und Kathi“ hat er damals  in die Rinde einer Eiche geritzt, am Fuß der Burgruine. Und „4ever“ dazu. Joe hat keine Ahnung, was Katharina nach seiner Flucht aus Steinhaus gemacht hat. Er hatte keine Adresse hinterlassen, nur einen Zettel, auf dem stand: „Ich muss raus. Mir wird hier alles zu eng.“

Und jetzt kommt er zurück. Für eine Nacht und ein Rodelrennen. Plötzlich ist er froh um die Dunkelheit und besorgt, dass ihn jemand erkennen könnte. Er parkt ein ganzes Stück hinter der Talstation und schultert den Rodel. Damit, dass auch ein inoffizielles nächtliches Rennen Zuschauer anzieht, hat er gerechnet. Damit, dass  jemand vielleicht genau mit ihm rechnen und auf ihn warten könnte, nicht.

Das Rennen beginnt. Joe geht an den Start. Die Nacht ist sternenkalt, der Schnee hart wie Kristall und die Luft bitterklar, so wie damals, im Winter vor zehn Jahren. In der Steilkurve hinter der Mittelstation, dort, wo die Piste als Nadelöhr zwischen mächtigen Tannen hindurchrast, hört er sie rufen: „Josef! Bischt wieder da? Jetzt gehscht nimmer fort!“

Ausgerechnet der zehnjährige rodelvernarrte Seppi findet den Schlitten. Er steht auf dem blitzenden Schneefeld, und seine Alukufen funkeln in der Morgensonne. Den Berg herunter von den Tannen her führt seine Spur, rot auf weiß.

Die Leiche von Josef Unterkammer liegt weiter unten im Bach, ein Messer im Rücken.

Adventskalenderkrimi 2.0. 9. Dezember: Abgefahren.


Ich zögere. Stehe auf. Drücke mir das Sofakissen vor den Bauch. Wie eine schusssichere Weste. Einen Panzer. „Giiisaaa, hey, was los?“ Ich schleiche zum Balkon. Schalte mit einem schnellen Entschluss meine Gedanken ab. Und reagiere aus dem Bauch heraus. Ich öffne die Balkontür, trete zwei Schritte in das schneematschnasse Dunkel. „Ich komme gleich, war nur noch mal kacken“. Ok ich habe die Zeitungswerbung gesehen, damals im Kino. Vielleicht schocke ich ihn damit? Und vor allem keine Verwunderung zeigen! Ich warte auch nicht auf seine Antwort. Schließe die Tür mit, lasse den Hebel fest einrasten. Schlüpfe in Mantel, Mütze, Schal und renne die Treppen runter. Das Flurlicht ist schon wieder kaputt! Meine Finger sind gefühlte zwei Zentimeter von der Haustür entfernt, da geht sie auf. Frau Niederreuther mit Hund, beide grau und betröpfelt. „Nabend“, nuschele ich. „Sie sollten den netten jungen Mann nicht so lange warten lassen. Sonst schnappen wir ihn Ihnen noch weg, gell, Cindy“, sagt die Niederreuther und kichert ihren Hund an. Achsoooo, mein Herz plumpst vom Hals in den Brustkorb zurück. Ich sollte wirklich weniger Krimis anschauen und endlich mal wieder war Gebildetes lesen. Poe vielleicht, oder Schiller. Oder Glauser. „Sorry, dass du so lange warten musstest. Und DANKE, dass du gewartet hast“, hauche ich vielleicht einen Tick zu sanft. „Ist schon ok, das macht dich sehr weiblich“, grinst er. „Aber jetzt hab ich mir nen Glühwein verdient, oder?“ „Mindestens“, antworte ich und hake mich mutig bei ihm. „Wenn du willst, können wir auch mit meinem Auto fahren“, sagt Franck. Mit einer betont beiläufigen Handbewegung zielt er auf die Reihe parkender Autos an der Pappelallee. Ein Blinken antwortet. „Wow, DAS ist DEIN Auto?“ entfährt es mir, als wir uns dem nagelneuen, silberleuchtenden 911er nähern. „Mann gönnt sich ja sonst nichts“, kontert Franck und ich höre den Stolz in seiner Stimme schwingen. „Bis heute“, setzt er leise hinzu. Aber ich hab’s trotzdem gehört.

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