MIniKrimi Adventskalender am 18. Dezember


Schneekönigin

Draußen fallen weiße Flocken dicht an dicht. Der Wind treibt sie gegen das Fenster, sie gleiten am Glas herunter, kleine weiße Kometen mit einem Schweif aus glitzernden Wasserkristallen. „Josh, komm weg vom Fenster, da ist es so zugig, du erkältest dich noch.“ „Mama“, antwortet der Junge, „nein, vielleicht kommt jetzt gerade in diesem allereinzigen Moment die Schneekönigin zu mir geflogen. Wenn ich sie dann nicht sehe, nur, weil unsere Fenster undicht sind, dann….“ „Was dann, Josh? Du weißt schon, dass die Schneekönigin nur in der Fantasie von Hans Christian Andersen existiert hat? Und in den Filmen, die daraus entstanden sind?“ „Nein, Mama, das stimmt nicht. Andersen hat sie vielleicht ENTDECKT. Und die Filme haben seine Geschichte wiederholt. Aber das ändert nullkommanix daran, dass es sie gibt. Beweis: die Schneeflocken.“

„Komm her, Kind“, die Mutter zieht den Kopf des Jungen zu sich und nimmt ihren Sohn kurz und fest in den Arm, bevor er ihr die Zusammensetzung eines Schneekristalls erklären kann. Da ist es wieder, das leise Nagen, das sich vom Kopf über das Herz in ihren Magen windet. Josh ist leicht autistisch und außerdem hochbegabt. Mit all den Problemen, die das mit sich zieht. Wenn er in eine besondere Schule gehen, intensive Förderung und Motivation bekommen könnte. Vielleicht wäre er ein Computer-Genie, oder ein Weltklasse-Pianist. Sportler. Was auch immer. Aber sie kann ihm das alles nicht bieten. Die psychologische Betreuung, die die Schule organisiert hat, hat ihm bis jetzt nicht sichtbar geholfen. Josh ist ein aufsäßiger Außenseiter, der immer mehr in seine Traumwelt abgleitet.

Irgendwann, denkt die Mutter manchmal, wache ich auf, schaue in die Nacht und erkenne meinen Sohn draußen im Universum. Major Tom. Ohne Weg zurück.

Sie ist alleinerziehend. Vor der Pandemie hatte sie eine kleine Musikschule für Kinder und Erwachsene. Das ließ sich online nicht durchziehen. Jetzt arbeitet sie als Aushilfe in einem Café und in einem Supermarkt. Das Geld reicht trotzdem kaum für Miete, Essen und das Allernötigste für Josh. Extras, Schulen, Kurse, eine Reise – nicht drin.

An Abenden wie diesem ist sie der Verzweiflung besonders nahe. Weihnachten steht vor der Tür. Wie gerne würde sie ihrem Sohn all seine Wünsche erfüllen. Nicht, dass er ihr auch nur einen verraten hätte. Aber sie würde ihm so gerne einen rundum glücklichen Weihnachtsabend schenken. Mit einem schönen großen Baum, einem festlich gedeckten Tisch, etwas Besonderem zu essen. Scampi, vielleicht. Von denen hatte er noch lange nach der Sommerwoche mit seiner Patentante in Kroatien geschwärmt. Stattdessen muss sie am 24. bis Ultimo arbeiten. Wenn nicht, wird eben eine andere eingestellt. An Interessentinnen mangelt es nicht. Das hat die Chefin ihr unverblümt gesagt. „Und kommen Sie mir nicht mit der Gewerkschaft. Sonst sind sie gleich draußen.“

„Ach, Josh“, seufzt sie, geht in den kleinen Flur, holt ihren dicken Schal und legt ihn dem Jungen um die Schultern. Der ist so auf das Schneegestöber draußen konzentriert, dass er davon gar nichts mitbekommt.

Am nächsten Tag ist im Supermarkt der Magen-Darm-Virus ausgebrochen. Die Hälfte der Mitarbeitenden hat sich krank gemeldet. Die Mutter schickt Josh eine Nachricht aufs Handy: Schatz, ich kann heute nicht vor 21 Uhr heimkommen. Kriegst du das hin, alleine? Sonst klingele bei Piet.“ Sekunden später antwortet der Sohn: „Mama, echt jetzt? Ich bin doch gerne allein. Nein, Piet ist immer so anstrengend. Soll ich dir was zu Essen machen?“ „So lieb von dir, aber nein. Danke! Ich bring uns was Abgelaufenes mit, was Leckeres, versprochen!“ Sie zerdrückt eine Träne und hastet wieder an die Kasse.

Josh holt seinen Teller aus dem Kühlschrank, stellt ihn in die Mikrowelle, 5 MInuten. Er deckt den Tisch mit Serviette und Glas. Setzt sich und isst langsam und bedächtig. So wie jeden Tag. Danach macht er seine Hausaufgaben. Er ist leicht irritiert, weil er heute fünf Muniten länger braucht als sonst. Er ist abgelenkt. Denn draußen hat es wieder zu schneien begonnen.

Bald ist der kürzeste Tag des Jahres. Um vier fällt die Dämmerung über Häuser und Straßen. Josh schaut dem Schneeflockentanz eine Weile vom Fenster aus zu. Da fegt ihm der Wind eine besonders große Flocke entgegen. Er schließt die Augen, sie ist so nah, er meint, sie zu spüren. Die Scheekönigin, denkt er.

In Windeseile zieht er Jacke, Mütze, Handschuhe an und rennt aus der Wohnung. Als die Tür ins Schloss fällt, merkt er, dass er seinen Schlüssel auf der Kommode vergessen hat. Egal. Er rennt die Treppen hinunter, 5 Stockwerke, reißt die Haustür auf und blickt sich suchend um. Menschen hasten mit hochgezogenen Krägen durch das Schneegestöber, viele balancieren Tüten und Pakete in den Händen. Autos stecken fest, hupen. Josch schaut nach links. Nach rechts. Wo ist sie nur?

„Auf wen wartest du denn?“, fragt eine brüchige Stimme. Sie gehört zu einem Wesen in einem langen dunkelblauen Mantel, der über und über mit Sternen übersäht ist. Die Beine stecken in pelzbesetzten schwarzen Stiefeln, die Hände in einem plüschigen hellblauen Muff. Auf dem Kopf trägt es eine riesige hellblaue Fellmütze, unter der dichte weiße Locken hervorschauen. Es ist sehr blass, mit blauen Augen und riesig langen Wimpern. „Hallo, du bist also die Schneekönigin. Gut., dass du kommst. Ich habe schon auf dich gewartet.“

Das Wesen zuckt zusammen. „Psst! Ich bin inkognito. Weißt du, was das heißt?“ „Klar. Ich verrate dich nicht. Wohin bringst du mich?“

„Hm, mal sehen.“ Das Wesen nimmt Joshs Hand und geht einfach die Straße hinunter. „Was ist mit deiner Mutter? Deinem Vater?“ „Meine Mutter kommt heute erst spät von der Arbeit. Aber ich habe ihr ja schon gestern gesagt, dass ich auf dich warte.“

„Ok. Gut. Pass auf: wir gehen zum Hafen. Bist du schon mal mit einem Schiff gefahren?“ „Ich dachte, du hast deinen Schlitten dabei.“ „Blödsinn. WIe könnte ich denn mit dem Schlitten durch diesen Verkehr kommen? Nein, heute fahre ich lieber mit dem Schiff. Pass auf, wir nehmen ein richtig großes, eines mit Autos im Bauch.“ „Du meinst eine Fähre? Komisch, das hätte ich nicht von dir gedacht.“

„Tja, man lernt eben nie aus. Märchen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.“

Die nächsten Stunden erlebt Josh wie einen Traum. Einen zuckersüßen voll gebrannter Mandeln, Kinderpunsch und Makronen. Auf der Fähre ist ein richtiger Weihnachtsmarkt aufgebaut, mit einem richtigen Karussell, und die Schneekönigin kauft ihm, was immer er will. Sogar einen silbernen Luftballon. „Fliegen wir mit dem in dein Schloss?“ „Hm, mal sehen.“ Also fliegen sie erst mal mit dem Karussell, Runde um Runde. Ist das toll!

Die Schneekönigin scheint nicht so durchgeplant zu sein wie Josh. „Mal sehen“ ist einer ihrer Lieblingssätze. Das Meer ist ruhig, die Bewegung der Fähre monoton. Viele Leute lächeln über Josh und die Schneekönigin. „Wie lieb sich die Oma um den Kleinen kümmert,“ sagen sie. Josh grinst die Schneekönigin an und legt den Finger auf die Lippen. Von ihm erfahren sie nichts. Sie essen einen Riesen Berg Pommes, trinken noch mal Punsch, und dann spielen sie Flipper. „Das habe ich mit meiner Mama alles noch nie gemacht“, stellt Josh fest. Und hat ein kleines Bisschen Sehnsucht. Inzwischen ist sie bestimmt zu Hause und wundert sich, wo ihr Sohn ist. Vor allem, weil er ohne Handy und Schlüssel weggegangen ist.

„Du, ich muss meine Mama anrufen.“ „Später. Hier auf See geht das nicht. Wir machen das gleich, wenn wir an Land gehen. Also bevor wir in meinen Rentierschlitten steigen.“

„Ok“, sagt der Junge und merkt, dass ihm die Augen zufallen.

Am nächsten Morgen entdecken Reinigungskäfte im Hafen von Trelleborg in Südschweden ein schlafendes Kind in einer Nische der Fähre, mit einem zusammengefallenen silbernen Luftballon fest in der kleinen Faust. Die Polizei bringt ihn ins nächste Krankenhaus, aber auf dem Weg dorthin wird Josh schon wach. „Wo? Was? Wer? Wo ist die Schneekönigin?“ Es dauert nicht lange, bis die Mutter des Kindes in Travemünde ausfindig gemacht wird. Sie ist natürlich halbtot vor Sorge und verspricht, sofort nach Trelleborg zu kommen. Die deutsche Polizei begleitet die Frau.

Noch im Krankenhaus erzählt Josh seine Geschichte. Aber niemand glaubt ihm. Die Schneekönigin, also wirklich!

Erst viel später gelingt es den Beamten in Deutschland und Schweden, Licht in die „Andersen-Entführung“, wie die Medien Joshs Abenteuer betiteln, zu bringen.

Ein Räuber erbeutete in Hamburg 500 Tausend Euro in kleinen Scheinen. Auf der Flucht brach er in den Wohnwagen eines Kindertheaters ein, das auf einem der Weihnachtsmärkte die Schneekönigin aufführte. So verkleidet gelangte er unerkannt nach Travemünde. Als Josh ihn ansprach, wurde ihm klar, dass dieses Kind die allerbeste Tarnung für die Überfahrt nach Schweden war. In dem Punsch war ein mildes Beruhigungsmittel, das Josh lediglich einen tiefen Schlaf beschert hatte.

Die ganze Zeit in Trelleborg hatte Josh sich geweigert, den Luftballon losszulassen. Das war doch sein Ticket zur Schneekönigin! Zuhause angekommen, verkroch er sich in sein Zimmer. Erst am übernächsten Tag kam er heraus, umarmte seine Mutter und flüsterte: „Ich weiß, du glaubst mir nicht und bist mir böse. Und vielleicht war das wirklich eine andere Schneekönigin. Aber sie war nett. Schau mal, was sie mir in den Luftballon geklebt hat.“

Er hält der Mutter mehrere 500 Euro Scheine hin.

Was denkt Ihr, geben die beiden die Scheine ab?

Adventskalender MiniKrimi am 5. Dezember


Wunschlos glücklich

„Was wünscht du dir zu Weihnachten, Nicoletta? Egal was es ist, sag es uns. Wir werden versuchen, dir deinen Wunsch zu erfüllen. Wir sind so überglücklich, dass wir durch dich eine richtige Familie geworden sind, meine Süße!“

„Und so eine stolze. Mit so einer wunderhübschen Tochter.“ Antonia strahlt das kleine Mädchen an und streckt die Arme nach dem Kind aus. In Zeitlupe bewegt sich Nicoletta vom Ende der Couch in Richtung der Frau mit den langen blonden Locken, die sie erst seit 3 Monaten kennt und jetzt „Mama“ nennen soll. Dabei sah ihre Mama ganz anders aus. Schwarze Haare, so wie sie selbst. Große graue Augen und ein lustiges Grübchen am Kinn. Helena hieß sie – und sie war viel jünger als diese Frau. 

„Freust du dich denn gar nicht auf unser erstes gemeinsames Weihnachten?“, fragt die blonde Zweitmama jetzt. Zweitmama, so nennt Nicoletta sie heimlich. 

„Ich glaube, wir überfordern sie gerade, Antonia. Das ist alles ein bisschen viel für sie. Sie ist doch erst vor einer Woche bei uns eingezogen. Lass ihr etwas Zeit zum Eingewöhnen. Das ist hier alles neu für sie. Sie kommt sich wahrscheinlich vor wie in einem Märchen.“ Edgar ist ungefähr so alt wie seine Frau. Er hat braunes Haar, einen Bart und eine runde Brille. Eigentlich sieht er lustig aus. Lustig und so, als ob man ihm vertrauen könnte. Eigentlich. 

„Ja, das stimmt. Entschuldige, Nicoletta. Komm erst mal richtig an. Genieß dein großes rosa Zimmer, den verschneiten Garten, den Kamin. Das muss eine riesen Umstellung sein für dich, aus einer winzigen Sozialwohnung in so ein prächtiges Haus.“

„Antonia!“ Aber es stimmt. Edgar und seine Frau haben Nicoletta schon seit ihrem ersten Kennenlernen in Anwesenheit der Sozialarbeiterin nach Strich und Faden verwöhnt. Sie mit Kleidung überhäuft, sie hat ein Ipad bekommen und ein IPhone. Und ein komplett eingerichtes Zimmer mit einem Himmelbett und einem dreistöckigen Puppenhaus. Das Kind hat das alles an- und hingenommen und immer danke gesagt. Aber das einzige Mal, als Nicolettas Augen geleuchtet haben und sie übers ganze Gesicht gestrahlt hat, war, als Edgar ihr mit Puppy an der Leine entgegenkam. Einem blonden Retriever-Welpen. 

Auch jetzt dreht sie sich nach ihm um. Er ist immer in ihrer Nähe und schmiegt seine weiche Schnauze in Nicolettas Hand. 

„Vielleicht hat sie im Moment einfach keine offenen Wünsche mehr. Bist du wunschlos glücklich, Nicoletta?“, fragt Antonia.

Die Kleine zuckt mit den Schultern. Schaut auf Puppy. Dann hinaus in den Garten. „Also – einen Wunsch hätte ich schon. Aber ich weiß nicht, ob das geht…“

„Erzähl! Dann werden wir sehen“, ermutigt Edgar seine neue Tochter. 

„Meine Mama, also, meine echte Mama“ – dabei schaut das Kind entschuldigend zu Antonia hinüber, die bemüht lächelt – „hat mir immer erzählt, dass der Weihnachtsmann in der Heiligen Nacht durch den Kamin kommt und die Geschenke bringt. Aber ich habe ihn nie sehen können, weil – wir hatten doch keinen Kamin. Ich wünsche mir so sehr, dass der Weihnachtsmann mir die Geschenke bringt – und ich möchte ihm dabei zusehen. Nur ganz heimlich, durchs Schlüsselloch. Damit er mich nicht entdeckt…. Meint Ihr, das geht?“

Antonia und Edgar schauen sich an. Nein, das geht auf keinen Fall, und überhaupt, glaubst du noch an den Weihnachtsmann? Der Satz liegt Antonia noch auf den Lippen, als Edgar schon antwortet: „Wenn’s weiter nichts ist! Klar geht das. Wir haben doch einen extra guten Draht zum Weihnachtsmann!“ 

Und endlich lächelt Nicoletta. Sie lächelt Edgar an, nicht nur mit dem Mund, sondern mit strahlenden Augen.

Später, als die Kleine im Bett liegt, kommt es zu einer heftigen Diskussion zwischen den frisch gebackenen Eltern.

„Wie konntest du ihr sowas versprechen. Das Kind ist acht Jahre alt! Was soll der Quatsch mit dem Weihnachtsmann? Und dieser Blödsinn mit dem Kamin! Wie willst du das anstellen? Bei uns ist die Bescherung außerdem an Heiligabend, nicht erst am Weihnachtstag. Nur, weil ihre Mutter aus Italien oder England oder so kam, müssen wir uns doch nicht anpassen.“

„Es ist ihr erstes Weihnachten bei uns! Und die Sache ist ganz einfach! Ich verkleide mich als Weihnachtsmann und verstecke mich im Kamin, während Du Nicoletta holst. Dann gibst du mir ein Zeichen, du hustest, oder so, und ich rutsche runter und verteile die Geschenke. Im Zimmer ist es dunkel, und ich bin mit Rauschebart und Haaren sowieso nicht erkennbar. Dann scheuchst du sie schnell wieder ins Bett. Das ist alles. No problem.“

An Heiligabend geht Nicoletta früher als sonst ins Bett. Die Aufregung…! Antonia hat ihr fest versprochen, sie nachts zu wecken und mit ihr dem Weihnachtsmann aufzulauern. Aber vorher drehen die Eltern noch eine Runde mit Puppy.

Dann ist es gleich soweit. Erwartungsvoll starrt Nicoletta durch’s Schlüsselloch. Puppy schmiegt wie immer seine weiche Schnauze in Nicolettas Hand. Antonia steht gelangweilt daneben. „Ohhhh“, flüstert Nicoletta plötzlich. Dann „Ahhhh!“.

Von drinnen kommt wie eine Antwort ein Schrei: „AHHHHHHH!“ Und noch einer: „AHHHHH! Antoniaaaaa!“ Antonia reißt die Tür auf und bleibt vor Schreck erstarrt auf der Schwelle stehen. Im Kamin prasselt ein lustiges Feuer, und der Weihnachtsmann tanzt davor herum, in wilden Sprüngen, wie eine lebendige Fackel. Antonias Versuche, ihren Mann zu löschen, kommen zu spät. Weißer Phosphor ist tückisch und brennt mörderisch.

Nicoletta ist nicht schuldfähig, aber da Antonia sich weigert, das Kind auch nur eine Nacht länger unter ihrem Dach zu beherbergen, kommt die Kleine zunächst in ein Heim mit psychiatrischer Betreuung.

Sie erzählt frei und ohne Scheu von ihrem Plan, sich am Mörder ihr Mama zu rächen. Den weißen Phosphor hatten sie gemeinsam am Elbstrand gefunden. Es sah aus wie Bernstein, aber Mamas damaliger Freund erklärte ihnen den lebensgefährlichen Unterschied. Nach seinen Anweisungen hob Nicoletta ihn in einer Metalldose auf, bis sie ihn in den Kamin zum Trocknen legen konnte. 

Dass Edgar unmöglich der Mörder ihrer Mutter sein könne, scheint sie nicht zu interessieren. Der Mann, der die junge Frau vor den Augen der Tochter überfahren und dann einfach weitergebraust war, fuhr den gleichen goldenen SUV und hatte ebenfalls braune Haare.  „Übertragung“ nennt die Psychiaterin das. Nicoletta ist das egal. Sie hat ihre Mama gerächt. 

Adventskalender Minikrimi am 20. Dezember


Foto: suju

Kinderherzen

Wie still es hier war. Auf den leeren Gängen waren die Lichter gedimmt, aus dem Schwesternzimmer tropfte Gelächter. Früher hatte sie sich ein Krankenhaus immer wie einen Bienenstock vorgestellt. Auch nachts. Prima, dachte sie. Muss ich mir keine Ausreden einfallen lassen. 

Um ganz sicher zu sein, blieb sie noch eine Viertelstunde neben Melina sitzen. Schaute auf das blasse Gesicht. Durchscheinende Haut, blaue Adern darunter. Hinter geschlossenen Lidern huschten die Augen hin und her, hin und her. Die Monitore piepsten und leuchteten. Bald war Weihnachten. Sollte eigentlich ein ganz besonderes Fest werden, dieses Jahr. Mit dem größten Geschenk, das sie sich für Melina wünschen konnten: ein neues Herz. Sie war ganz oben auf der Eurotransplant-Warteliste. 

Dann war es soweit. Ein tödlicher Unfall, ein Kinderherz. Aber Melina war erkältet. Nur ein kleiner Infekt. Das ist gleich wieder vorbei, hat sie den Ärzten zu erklären versucht. Darauf können wir nicht warten, sagten sie. Und jetzt lag ein Mädchen aus Burundi auf Zimmer 423. Mit Melinas Herz. Und Melina ging es immer schlechter. Wie ungerecht das war!

Irgendwo knallte eine Tür. Schnelle Schritte auf dem Flur. Vielleicht das Mädchen auf Zimmer 423? Sie setzte sich auf. Kerzengrade. Lauschte angestrengt. Nichts. Und dann flimmerte einer der Monitore neben Melina. Dauerpiepsen. Sie fühlte die Faust im Magen, eisige Angst im Genick. Eine Schwester kam ins Zimmer. Schaute auf den Monitor. Wieder stehengeblieben. Gab ihm einen Stoß. Alles gut. Gehen Sie nach Hause, Frau Vormberg. Schlafen Sie sich aus. 

Schlafen! Also ob sie das könnte. Wann hatten Bernd und sie das letzte Mal geschlafen? Nicht miteinander. Überhaupt. Sicher nicht, nachdem Melina das Herz nicht bekommen hatte. Seit sich ihr Zustand so verschlechtert hatte, dass sie sie ins Krankenhaus bringen mussten, wechselten sie sich nachts an ihrem Bett ab. Aber egal, ob auf Station oder zu Hause: beide dachten nur daran, dass ihre Tochter jetzt vielleicht sterben würde, während ein anderes Kind leben durfte. 

Noch dazu eines aus Afrika! Woher hatte die Familie überhaupt das Geld, um hierher zu kommen? Und Melina das Herz wegzunehmen? Ihr Herz? Wahrscheinlich hatten deutsche Gutmenschen sogar dafür gespendet. Dort unten gab es so viele kranke Kinder, Armut und Krankheit. Selbst schuld, wenn sie das nicht auf die Reihe brachten. Was kamen die hierher? Am Ende sogar noch in Booten. Flugzeugen. Eine Invasion. Abe es traute sich ja kaum einer, was dagegen zu sagen. Nur eine Handvoll ehrlicher Politiker, und gegen die wurde natürlich von allen Seiten gehetzt. Sowas nannte sich dann Demokratie. Und Melina lag in ihrem Bett und wurde immer blasser, ihr Herz immer schwächer. Und wer half ihr?

Draußen auf dem Gang war wieder Ruhe eingekehrt. Leise stand sie auf, öffnete die Tür einen Spalt weit. Schaute hinaus. Keiner da. Leere. Leere und Stille. Sie wusste genau, wo Zimmer 423 war. Hatte immer wieder davorgestanden. Wie nett, dass Sie sich um Maarifa sorgt, wo es ihrer Tochter doch so schlecht geht, sagten die Schwestern. Die hatten keine Ahnung. 

Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter. Schloss die Tür hinter sich. Ein Zimmer wie das von Melina. Noch mehr Apparate und Monitore. Fast hätte sie das kleine Gesicht übersehen, vor lauter Kanülen und Schläuchen. Sie wusste, Maarifa lag im künstlichen Koma. Sie würde nichts mitbekommen. 

Sie holte das Kissen hervor, das sie unter ihrem Kittel versteckt hatte. Näherte sich langsam, zielstrebig, Schritt für Schritt dem Bett. Beugte sich über das Kind. Maarifa war wach. Große Augen schauten sie an. Stumm, ohne Angst. Ergeben. Zärtlich.

Sie ließ das Kissen sinken. Sie weinte. Zum ersten Mal seit Wochen. Es schüttelte sie, sie stand am Bett des kleinen Mädchens, unfähig, zu denken. Sie konnte nur fühlen. Schmerz. Ohnmacht. Eine kleine, tastende Hand auf der ihren.

Adventskalender Minikrimi am 2. Dezember


Magie? Oder doch bloß Zauberei?

„Ich habe dir ja immer gesagt, dass du einen Fehler gemacht hast, als du dich mit diesem Magier eingelassen hast! Mephisto! Das sagt doch schon alles. Teuflischer Typ!“

„Uwe ist kein Magier, Mutti. Er ist ein Zauberer.“

„Als ob da ein Unterschied wäre!“

„Und ob. Zauberei ist ein Handwerk, und Uwe ist Handwerker. Er lässt Kaninchen im Zylinder verschwinden und holt stattdessen Seidentücher daraus hervor. Mephisto ist sein Künstlername. Er heißt UWE. Nenn ihn bitte auch so.“

„Ach ja. Nur, dass Max aus UWEs Auto verschwunden ist und er nicht einmal ein Kaninchen auf dem Kindersitz hatte, als er zu Hause ankam. Wo bitte ist dein Kind? Machst du dir gar keine Sorgen?“

„Natürlich mache ich mir Sorgen. Meph – Uwe auch. Aber wenn du ständig auf ihm herumhackst, hilft uns das auch nicht weiter. Lass dir lieber was einfallen, um Max zu finden.“

Mit einem Ruck schiebt Yvonne den Stuhl nach hinten und greift im Aufstehen nach der Zigarettenpackung, die neben einem übervollen Aschenbecher auf dem Küchentisch liegt.

„Hör auf zu rauchen! Man sieht ja schon nicht mehr die Hand vor Augen in diesem Qualm. Wenn Max jetzt heimkommt, kriegt er keine Luft, das weißt du doch!“

„WENN er heimkommt…“ Yvonne zündet die Zigarette an. Ihre Hände zittern, immer wieder geht die Flamme aus. Endlich brennt die Zigarette, sie nimmt einen tiefen Zug und geht durch die Küchentür hinaus in den Garten. Auf und ab, auf und ab. von einer Ecke des schmalen Reihenhauses zur anderen. Beugt sich über den Jägerzaun, bis sie aus den Augenwinkeln die Straße sehen kann. Ein Kind hüpft den Bürgersteig entlang, in der einen Hand eine Schultasche, in der anderen einen Hasen. Einen Hasen? Yvonne reißt das Gartentor auf, ist mit zwei Sätzen auf der Straße. Leer. Kein Kind zu sehen. Sie wirft die Zigarette in den Rinnstein. Ihre Augen brennen, tränenlos. Wo ist Max?

„Wo ist Max? Hast Du ihn gefunden?“, flüstert sie ins Telefon, als Uwe anruft. „Nein, Schatz. Nein. Leider.“

„Dann gehe ich jetzt zur Polizei“, sagt Yvonne.

„Warte noch, Schatz. Vielleicht hat er irgendwas Spannendes gesehen, du weißt ja, wie er ist. Wenn die Polizei erst mal ermittelt, sind immer die Eltern Schuld. Am Ende nehmen sie dir Max sogar weg……Schatz, lass uns noch warten. Bis heute Abend. Ich suche den Park nach ihm ab. Dann den Bahnhof. Du bleibst zu Hause und wartest auf ihn.“

„Gut. Melde Dich.“

In der Küche hat Yvonnes Mutter die Tarotkartenj ausgelegt. „Wenn Mephisto glaubt, dass er der einzige Magier ist, hat er sich verrechnet“, murmelt sie.

„Mutti, lass das! Überleg lieber, warum Max aus dem Auto gestiegen ist. Irgendwas muss er gesehen oder gehört haben.“

„Ich glaube nicht, dass er von alleine ausgestiegen ist. Und die Karten helfen mir dabei, ihn zu finden.“ Während sie spricht, dreht sie die Karten um, eine nach der anderen. „So. Ja, klar. Der Hierophant. Der Narr. Der Magier. Und jetzt..:“ Sie lässt die letzte Karte fallen, als habe sie sich verbrannt. „Nein.“

„Mutti? Hör endlich auf damit. Mutti? Was ist?“

Yvonnes Mutter starrt auf den Küchentisch. Auf dem blanken Holz liegt die  13. Karte. Der Tod.

Ohne nachzudenken greift Yvonne zum Telefon. Die Polizei nimmt ihren Anruf ernst. Die Suche nach dem 7-jährigen Max wird umgehend eingeleitet. Sie finden das Kind schließlich im ICE von Frankfurt nach Paris in einem Koffer mit doppeltem Boden. Erstickt. Der Koffer gehört Uwe Reber, Künstlername Mephisto. Reber lässt sich ohne Gegenwehr festnehmen und gesteht sofort, schuld am Tod seines Stiefsohnes zu sein.

„Es war ein Unfall. Max träumte davon, ein großer Zauberer zu werden. Ich sollte ihm immer Tricks beibringen. Wenn eine Schulstunde ausfiel, rief er mich an, ich holte ihn ab und wir fuhren in meinen Probenraum, um zu „üben“. Wie heute. Er wollte unbedingt den Trick mit dem doppelten Boden ausprobieren. Also habe ich ihn da „verschwinden“ lassen. Natürlich wollte ich ihn gleich wieder rausholen. Aber dann stand plötzlich Yvonne in der Tür. Sie war „zufällig“ vorbeigekommen und wollte die Zeit, bis ich Max von der Schule abholen sollte, mit mir allein genießen, ohne Kind, ohne Oma…

Als sie gegangen war, befreite ich Max sofort aus dem Koffer. Es war zu spät!“

Adventskalender MiniKrimi vom 6. Dezember 2018


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Von drauß‘ vom Walde…….

„Du weißt, was du tun musst Schließ die Tür ab und mach auf keinen Fall auf, wenn du alleine bist, kapiert?“ „Ich bin doch kein Baby. Ich bin schon fünf. Und ich bin auch nicht dumm. Ich weiß genau, was ich machen muss, wenn ich allein bin. Und wenn ein Einbrecher kommt und die Tür mit einer Bombe aufmacht, dann nehme ich mein Jedi-Schwert und mache so! Und zack ist er tot, der EInbrecher.““

„Ja. Schon klar. Du nimmst dein Jedi-Schwert. Aber trotzdem, für den Fall, dass ein Einbrecher kommt – es kommt ja vielleicht gar keiner, also ganz sicher, glaube ich. Aber für den Fall dass doch einer kommt, und wenn dann dein Jedischwert nicht funktioniert“ 

„Mein Jedischwert funktioniert immer!“

„Schon klar. Aber wenn es plötzlich doch nicht funktioniert, dann schau her, dann nimmst du das hier.“

„Aber das ist doch das Messer aus der Küche, das wir nicht nehmen dürfen. Das japanische, das vom Papa.“

“Genau. Es ist japanisch, das ist wie von Master Yoda. Ok?“

„Ela, ich will nicht, dass du weggehst. Die Mama hat gesagt, wir sollen beide daheim bleiben, bis sie von der Arbeit kommt. Du sollst mich nicht allein lassen, hat die Mama gesagt. Und später kommt der Nikolaus.“

„Ach mach kein Aufstand. Ich bin nur kurz drüben bei der Lara. Oder hast du Angst? Du bist ja doch noch ein Baby!“

„Nein bin ich nicht. Geh weg!“

„Ok. Ciao, Kleiner.“

Max setzt sich in seinem Zimmer auf den Boden. Die Kartons sind noch nicht alle ausgepackt. Er fühlt sich gar nicht zu Hause, hier in der Wohnung in der Minervastraße. Er wäre lieber in Schwabing geblieben. Aber er weiß, dass das nicht geht. Mama und Papa sind zwar noch seine Eltern, und Elas. Aber sie sind nicht mehr zusammen. Deshalb kann Mama nicht mehr in Schwabing wohnen, und er und Ela auch nicht. Mama will das so. Jetzt wohnen sie in einer ganz neuen Wohnung. Er hat ein eigenes Zimmer, nicht mehr mit Ela zusammen. Und Mama hat auch ein Zimmer. Mit Frank. Frank ist der neue Papa. Aber Max weiß nicht, was er davon halten soll. Er hat doch schon einen Papa. Vom Fenster aus kann er die Berge sehen, wenn der Himmel klar ist. Ob er den Nikolaus sehen kann, wie er durch die Wolken fliegt? Oder machst das nur der Weihnachtsmann? Es wird dunkel, und Max hat Angst. Die Wohnung ist voller Geräusche, nichts ist vertraut. Draußen kann er den Aufzug hören. Manchmal knallt eine Tür. Dann ist alles still. Wann kommt Ela? Und Mama? Und der Nikolaus?

Da klopft es an der Tür. „Ich bin der Nikolaus. Bist du der Max?“

„Ich darf die Tür nicht aufmachen, hat Ela gesagt. Geh weg und komm zurück, wenn Mama und Ela wieder da sind!“

„Aber Max, ich bin der Nikolaus. Vor mir brauchst du doch keine Angst zu haben!“

Doch, denkt Max. Und zur Sicherheit holt sein Jedischwert. Und das japanische Messer, so, wie Ela es ihm gesagt hat. Der Nikolaus kann warten, aber wenn da draußen ein Einbrecher ist, wird Max sich wehren.

Da hört er, wie sich etwas am Türschloss bewegt. Der Einbrecher, denkt Max. Jetzt bricht er die Tür auf, wie in den Filmen, die er nicht sehen darf.

Da, jetzt wird die Wohnungstür langsam geöffnet. Draußen im Flur ist es genauso dunkel wie in der Wohnung. Max sieht nur Umrisse, ein großer schwarzer Mann in einem langen Kampfumhang. Der Feind der Jediritter! Max umklammert das Messer mit beiden Händen und rammt es dem Mann in den Bauch. Max ist stark.

Frank stirbt auf dem Weg zum Krankenhaus. Er sollte Max und Ela als Nikolaus die Geschenke bringen. So war es ausgemacht. Aber Ela hatte ihr Gründe, sich nicht daran zu halten. Das Problem Frank war gelöst.

Österliches Miniatur-Memory


Karfreitag 1989

Es ist ungewöhnlich heiß, und ich habe mich mit ausgeblasenen Eiern, Aquarellfarben, Pinseln und den Birsteiner Nachrichten von letzter Woche auf den Balkon verzogen. Weit genug weg von meiner Mutter, die mir immer noch nachträgt, dass ich sie nicht zum Karfreitagsgottesdienst begleitet habe. Jetzt tut es mir leid, und ich hätte ihr gerne gesagt, dass ich sie nicht hatte verletzen wollen, aber gleichzeitig auch keine Lust gehabt hatte, mir selbst weh zu tun. Denn das von getragenen Orgelakkorden untermalte „Haupt voll Blut und Wunden“ trägt für mich die Gesichtszüge meines Vaters, und da ich ihn auch 7 Jahre nach seinem Tod noch nicht beweinen kann, bleibt mir die Trauer wie ein Kloß im Hals stecken und verklebt mir den ganzen restlichen Tag.

Nachdem ich das obligatorische alljährliche Osterei bemalt habe, zeige ich es als Widergutmachungsversuch meiner Mutter. Sie runzelt die Stirn und sagt nichts. Das ist ihr Beitrag zur Versöhnung. Denn diesmal, ich befinde mich in der akuten Phase meines Feminismus, wackeln aufgeregte, der Sichtbarkeit halber violett umrandete Hühner über die Schale und fordern auf Plakaten „Mein Ei gehört mir“, „nieder mit der Massentierhaltg.“ Für das ganze Wort ist das Ei – es stammt übrigens von einer der drei Hennen des Bauernhofs schräg gegenüber – leider zu klein.

Den restlichen Nachmittag verbringe ich mit meinem neuen Freund und seiner Clique beim Metonkel. Wir lassen den verrosteten Opel am Ende des Forstwegs stehen, halb im Graben, damit der Förster noch vorbeifahren kann. Dann laufen wir durch ein sehr hellgrünes, nach Waldmeister duftendes Wäldchen hinunter zur Lichtung, auf der der schrullige Alte vor seinem Wohnwagen einen Biertisch und zwei Bänke aufgebaut hat. Der Met kostet eine Mark und wird aus einer dunklen fettfleckigen Flasche in Gläser geschenkt, die einen schmutzig braunen Rand haben und einen Bodensatz aus Staub und Dreck. Ich habe kurz Angst, mich anzustecken, weiß aber nicht, mit welcher Krankheit. Also lächle ich meinen Freund an und kippe den Met in einem Zug runter. Nach dem zweiten Glas und dem gemeinsamen Joint ist die Angst dann auch verschwunden.

Always look at the bright side of life – oder death, singen Monthy Python. Ein Metschwamm wäre gut gewesen, für Jesus, denke ich. Oder ein Joint. Am besten beides.

Ostersonntag 2018

„Mein österliches Beileid“ hat der Monsignore uns gewünscht, als meine Mutter kurz nach Ostern starb. Ein knappes Jahr und eine Katharsis später beantworte ich das leise Lächeln, das sie mir vom Foto auf dem Intarsientablett unter den bunten Tulpen zuwirft. Die Trauer hat sich aufgelöst und den Blick freigegeben auf unzählige unverhoffte Miniatur-Momente. Die Erinnerung schiebt sie mir vors Auge wie ein Damals-Dia. Ich schaue hin und wieder weg. Dann kommt irgendwann das nächste. Oder einem Erbstück, Schrank, Bild,  Recamiere, entströmt ein leiser Hauch, und dazu malt unser Gedächtnis uns das ganze Bild, komplett mit Gefühl und allem Drum und Dran:

Die Angst meines Sohnes vor dem dunkelbraunen Treppenhaus und davor, dass aus der auf halber Höhe eingelassenen ziselierten Dachbodentür etwas sehr Böses herausspringen würde. Etwas, das den Weg aus den metaphysischen Bildern meines Vaters, seines Großvaters, die in Salonhängung das Treppenhaus mit menschenähnlichen Baumfiguren in leuchtenden Ölfarben bevölkerten, in die Welt des Hauses gefunden haben könnte.

Die Gestalt meines Vaters, in der rechten Hand das dickwandige Glas mit Whiskey und zu löchrigen Quadraten geschmolzenem Eis, wie er mit der Linken die Schicksalsschläge der Eroika dirigierte, während  die Asche der Peter Stuyvesant auf den Wohnzimmerteppich segelte. Beethoven nachts um halb drei war für mich als Zehnjährige an der Tagesordnung.

Die Stimme meiner Mutter mit irgendeinem Kommentar, von treffend zu Nonsense driftend mit dem Fortschreiten der Demenz. „Du könntest in einem Drei-Sterne-Lokal kochen.“ Oder, zum Enkelsohn: „Du wirst ein fantastischer Arzt.“ Heute hören wir die Stimmen, riechen Zigarettenahnung, spüren Gänsehaut.

Und leben weiter. Sehen weiter, über den Karfreitagshorizont hinaus.

Frohe Ostern!

Was kann ein Kind, was ein Hund nicht kann?


Heute beim Friseur. Während mein Kopf in unnatürlichem Winkel hintenüber im Waschbecken hängt und die Brause ein erstes Mal meinen Ansatz mit Wasserpartikeln benetzt hat, geht die Ladentür auf. Bimbinbim, wie in einem Retro-Hörspiel, vielleicht „Die unendliche Geschichte“. Herein kommt eine runde Dame, die ganz offensichtlich einen Friseurbesuch nötig hätte. Die Massierhand stoppt die kreisrunden Bewegungen an meinem Hinterkopf, die Brause bewegt sich spürbar ziellos zwischen mir und dem Waschbecken. Im Spiegel erkenne ich mit einem gezielt gequälten Blick die Situation. Die Dame ist keine Kundin, sie kommt, um meiner Friseurin – ich finde ja, Friseuse klang viel freundlicher, das r hat so was messerscharfes – unangenehme Kunde zu bringen. Passt zum Kundrie-Aussehen, denke ich noch. Und dann: aua, denn das Wasser ist kalt und rinnt mir mal links mal rechts am Ohr vorbei. Aber das muss ich aus – und durchhalten, denn: „Was ist passiert? Erzähl!“, sagt die Friseurin, und dann beginnt ein schnelles, leises Flüstercrescendo. Das ich wegen des Fließwassers, meines Tinnitus oder einer beginnenden Taubheit nicht komplett verstehen kann. Soll, vermutlich. Etliche gefühlte Minusgrade später berichtet mir die Friseurin auf Nachfrage, während sie mir die Haare schneidet – sie sind lang genug, um unkontrollierte Bewegungen auszuhalten – , dass ihre Mutter immer schlimmer werde. Depressiv, schlechtlaunig, aggressiv. Sie vertreibe alle Leute aus ihrer Umgebung, sicher auch die Kundrie von grade eben (denke ich). Und belege stattdessen die arme Enkeltochter völlig mit Beschlag. „Sie erzählt ihr alle ihre Sorgen. Was soll das Kind denn damit anfangen? Finanziell, beruflich, ich will nicht, dass meine Tochter sich damit belastet“. Einzelkind, intelligent. Emphatisch? Hm. „Hat ihre Mutter Haustiere?“, versuche ich’s. „Einen Hund, vielleicht?“ Ja, hat sie. „Aber das nützt nichts“. Was hat ein Kind, was ein Hund nicht hat? Was kann es?

Zuhören? Trösten? Das Gehörte so verarbeiten, dass aus Problemen Liebe wird. Sonst nichts. Als meine Mutter dement wurde, habe ich versucht, meinem Sohn zu erklären, dass die Großmutter, die bisher für ihn die Instanz für Recht und Unrecht war, in seinem kleinen Leben, die Klagemauer und der Wundertütenbaum, jetzt von ihm das braucht, was sie ihm im Überfluss gegeben hat. Liebe und Punkt. „Du musst nicht verstehen, was sie alles sagt. Und  schon gar nicht lösen. Wenn du ihr zuhörst und ihr zeigst, dass du sie magst, so grantig, wie sie ist, dann ist das alles, was du tun musst. Kannst. Und solltest. Das ist deine Aufgabe, mehr nicht. Um alles andere kümmere ich mich dann,“ sagte ich ihm.

Solange er Kind war, hat das ganz gut funktioniert. Als Erwachsener verwechselt er Liebe mit Verantwortung, und die ist ungewollt und deshalb eine Last. Ich sag’s ihm aber nicht mehr. Ich hoffe, dass er sich daran erinnern wird, wenn er Sohn und Vater ist und ich….. Großmutter.

 

Auf geht’s.


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Die Lehre  aus der Leere ziehen. Das versuche ich.

Schließlich bin ich nicht eine von diesen Mütter, die, schürzenbewehrt, ihre Kinder mit Mahlzeiten, Wollpullovern und Staublappen bis hinters Abitur begleiten.

Wie muss es jenen gehen, wenn die Tür ins Schloss fällt und der Wagen, vollgeladen mit den Zutaten für den ersten Hausstand und ein weißes, frisches eigenes Leben, um die Kurve biegt?

Genau wie sie bleibe ich zurück mit dem Ballast aus Kindheit, Schulzeit, Reifejahren. Tonnen, die es abzutragen gilt, emotionaler Sondermüll, zum Teil.

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ – der Klassiker für Lebensabschnittstarter, vorzugsweise auf der Schwelle des zweiten Jahrzehnts. Nach einem halben Jahrhundert – ja! – weiß ich um die Vielfarbigkeit der Magie, und was dem einen weiß ist, kann den anderen zum Fluch sich wenden.

Nein! Ich verzweifle natürlich nicht. Sondern gehe ganz bewusst hinein in diesen Schattenweg, lote alle Facetten einer neuen Dunkelheit neugierig aus. Und erkenne sehr bald die Duplizität des Mutterleides. Ja, das Kind ist auf den Weg gebracht und der führt von Zuhause fort. Und immer wieder auch zurück, in unserem Fall zumindest, darüber bin ich froh und dafür dankbar. Aber in unserem Familienbuch wird nicht nur eine Seite umgeschlagen. Die gemeinsamen Kapitel sind zu Ende. Jede und jeder schreibt seine Geschichte nun vor allem alleine weiter.

Aus der nahen Mutter wird eine Begleiterin in Gedanken. Das nächste Kind, mit dem ich hier gemeinsam lachen werde, wird ein Enkel sein. Das macht mich alt. Und endlich.

Vielleicht ist das der tiefgeheime Kern des Elternschmerzes. Gut, dass ich das jetzt erkannt habe. Denn in dem gespürten Wissen um meine Endlichkeit darf ich nicht länger zögern. Auf geht’s, Marie. Pack deine Sachen…. an. Und schreibe! Kapitel um Kapitel, Buch um Buch.

Jetzt. Ja. Und ach – wenn du dich umdrehst, siehst du, und zwar ganz sicher, dein erwachsenes Kind dir aus der Ferne, auch mal Nähe, folgen. Auf gleicher Höhe. Ist das schön?!

Zusammenleben leben

Baum mit Zeichen

Baum mit ZeichenIch kann deine Schritte nicht mehr hören

ohne Rhythmus schlagen sie den Boden

schleppen deine Tritte immer hinter mir.

Ich kann deine Lippen nicht mehr sehen

fablos ausgefranste

faltig schmale Striche, festgenäht im Widerspruch.

Ich kann deine Härte nicht mehr spüren

Jedes klingenspitze Wort

dringt sinnentleert am Kopf vorbei ins Herz.

Ich will dich schmatzen sehen, wangenweinrot die Vergangenheit im neuen Licht erfindend.

Ich will – dass du mich nocheinmal anschaust, so, als wäre ich dein Kind.

Bevor ich deine Schritte nie mehr hören werde.

Mir stehen die Haare zu Berge!


Nein stimmt nicht. Mehr. Aber gestern! Ich züchte mit Liebe und Jahresausdauer jeden Zentimeter, im Hinterkopf die Befürchtung, dass ich meine Haare nie wieder so lang tragen werde wie jetzt. Als Kind lief ich mal einer blonden Frau hinterher, deren Mähne sich bis auf den Po herunterlockte. So schöne Haare, dachte ich. Und lief schneller und schneller, bis ich sie überholt hatte. Dann drehte ich mich um und tat, als hätte ich etwas verloren. Ich war ja gut erzogen, wollte aber trotzdem sehen, zu welchem Gesicht die Prachtfrisur gehörte. Die Dame war weit über sechzig, mindestens. Und ich war geschockt. Diese Erinnerung trage ich mit mir rum. Und deshalb bleiben mir nur noch wenige Jahrzehnte, bis Rapunzels alte Zöpfe weg müssen.  Beinahe wäre es aber bereits gestern um meine Locken geschehen. Gewesen. Seit Wochen beäugte ich eine Strähne auf der linken Kopfseite, vorne neben dem Pony. Stumpf und widerspenstig streckte sie sich allen Lotionen, Pflegeölen und Feuchtigkeitskuren zum Trotz wie ein explodiertes Kabel in alle Richtungen außer der, in die ich sie legen wollte.

Gestresst von der bereits hinreichend beschriebenen Haut- und Nabelschau gab mir der Anblick dieser Strähne dann den Rest. Mit Mord als beherrschendem Gedanken ging ich, ganz ruhig, an meinen Sekretär. Holte aus der unteren mittleren Schublade die Papierschere und stellte mich vor den Badezimmerspiegel.  Eiskalt musterte ich mein Gesicht, als sähe ich es zum letzten Mal.

Ich brachte die Schere in Angriffsstellung. Sah mir todesmutig ins Auge. Wie ein Film liefen Szenen aus meiner Vergangenheit an mir vorüber. Ich mit  sechs und schulterlangen Haaren. Ich mit sieben und Bubikopf. Ich mit neunzehn und Spliss. Ich mit zwanzig und Pudelwelle. Ich mit dreißig und Bob. Ich blinzelte eine Träne in die Wimpern. Und schnitt…….. AHHHHHHHHHHHHHHHH!!!!

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