Golgatha ist eine Blumenwiese


Eigentlich müssten wir Karfreitag im Winter feiern. Wenn die Blätter welken und sterbend vom Baum segeln, wenn das Gras verdorrt ist und die letzten Blüten zu Staub zerfallen.


Jetzt, inmitten leuchtender Forsythien, zarter Kirschbaumblüten und bunten Blumeninseln im frischen Grün, jetzt ist die Zeit der Wiedergeburt. Des „JA“ zum Leben. Und dann stirbt Jesus. Und nicht nur er. Ich kriege das Lied nicht aus dem Kopf, in dem ein Sterbender sich vom Vater, vom Freund und seiner Freundin verabschiedet: „Seasons in the sun“. Es ist hart, zu sterben, singt Terry Jackson, wenn der Frühling in der Luft liegt. Ob Sterben im Frühjahr besonders schwer fällt?

Ja. Der Tod gehört zum Leben. Auch, wenn wir es heute ganz gut schaffen, diese Tatsache ganz hinten in unserem Alltag zu verstecken. Da wir in einem reichen Land leben, in dem es weder tödliche Armut noch tödliche Kriege gibt, musste ein Virus kommen, um uns die unangenehme Realität unserer Sterblichkeit täglich vor Augen zu führen, zumindest medial. Symptomatisch für unsere Zeit, dass viele sich dieser Wirklichkeit nicht stellen wollen und das leugnen, was nicht sein soll.

Ich habe heute Morgen einen Gottesdienst via Zoom verfolgt. Zwei Gedanken der Predigt begleiten mich seitdem. Gott greift angesichts des größten Schreckens, der den Menschen befällt, nicht auf ein Wunder zurück. Er geht durch das Sterben in den Tod. Und weil er das tut – sage ich – ist er uns immer nah, nicht nur, aber auch, wenn wir ganz unten sind. Keine menschliche Angst ist ihm fremd. Und anders als z.B. im Buddhismus geht es nicht darum, die Schmerzen unserer Existenz „wegzumeditieren“ bzw. uns aus unserem nicht unzulänglichen Körper zu lösen. Das Erlebnis von Schwäche, Schmerz und Leid gehören zu unserer Lebenserfahrung. Wir sollen sie bewusst wahrnehmen und durch sie hindurchgehen (wie durch das Wasser und Feuer der Zauberflöte), mit Gott, mit Jesus, mit dem Mut machenden Geist an unserer Hand.

Auf der anderen Seite erwarten uns Licht und Sonne, Liebe und – Vergebung. Ich glaube, die Frage nach Schuld und Vergebung kommt bei Menschen oft auch erst hoch, wenn es ihnen schlecht geht, wenn sie Angst, Lebensangst, haben. Wie schön, dass wir Christen seit dem Karfreitag die Gewissheit haben, dass uns Vergebung ganz sicher ist.

Dann ist es von Winter und Tod nur ein kleiner Schritt hin zu Frühling und Leben. Zwei Tage, um genau zu sein. Es ist gut, dass Karfreitag im Frühling liegt.

Jetzt gehe ich zu meiner Schwiegermutter. Keine Ahnung, was sie mitten im Sterben so sehr am Leben hält. Wenn es Vergebung ist, auf die sie wartet, hoffe ich, dass sie spüren kann: alles ist gut. Unabhängig davon, ob die Menschen, um die es ihr geht, sie besuchen werden oder nicht.

Golgatha ist eine Blumenwiese.  

Adventskalender MiniKrimi vom 10. Dezember


Der heutige Krimi wurde von Birgit Schiche geschrieben. Ganz lieben Dank dafür! Viel Spaß beim Lesen – und vielleicht denkt Ihr danach auf einmal anders über Eure lieben Nachbarn…

Eine liebe, nette Nachbarin

Claudia mochte ihre Wohnung. Drei Zimmer, Küche, Bad mit Badewanne und ein schöner, sonniger Balkon mit Blick ins Grüne mitten in der Großstadt. Seit fast dreißig Jahren wohnte sie nun schon in diesem gutbürgerlichen Stadtteil und es fühlte sich einfach richtig an. Das war auch gut so, denn seit Beginn der Corona-Pandemie arbeitete sie nur noch im Homeoffice. Also in ihrem Wohnzimmer am Esstisch, im Sommer sogar auf dem Balkon, was schon ein bisschen als Luxus gelten durfte. Doch nun im November war es kalt, grau und ungemütlich. Sie saß zum Arbeiten immer noch an ihrem Esstisch und langsam hasste sie ihren harten Stuhl, der ihr Rückenschmerzen bereitete. Die Tage waren seit Monaten bestimmt von Online-Meetings, Online-Workshops, Online-Vorträgen und Arbeiten am PC. Später dann Spiele-Abende oder Klönschnack mit Freundinnen, online natürlich. Was sie zu Beginn der Pandemie noch begeistert hatte und wovon sie kaum genug bekommen konnte, saugte ihr nun allmählich die Energie aus der Seele. Auf Dauer waren Online-Kontakte eben doch kein Ersatz für echte Sozialkontakte. Das machte was mit ihr, sie veränderte sich in kleinen, schleichenden Schritten. Aber so war das eben im Lockdown, und sie hielt sich an die Regeln. Aus Überzeugung. Und aus Respekt vor der bedrohlichen Krankheit, denn sie gehörte wegen einiger Vorerkrankungen zur Risiko-Gruppe. Außerdem wollte sie nicht klagen, sie wollte durchhalten. „Schlimmer geht immer“, dachte sie. Und vielleicht war das ein Fehler. Denn genauso kam es.

Vor kurzem erst waren neue Mieter in die Wohnung über ihr eingezogen, ein Pärchen. Vorgestellt hatten sich die beiden Neuen natürlich nicht, sowas war leider aus der Mode gekommen. In der Dachgeschosswohnung hatten die Mieter in den letzten dreißig Jahren schon so einige Male gewechselt. Claudia war inzwischen die „dienstälteste“ Mieterin im Haus, was sie ein bisschen stolz machte. 

Die neuen Mieter hatten den Oktober durchgängig genutzt, um die Wohnung zu renovieren. Den ganzen Tag hörte Claudia ein Schrabbeln wie beim Tapetenlösen, dazu Poltern, Hämmern – auch während der Mittagsruhe und am Wochenende. Die Schritte in der Dachgeschosswohnung klangen wie das Stampfen einer Elefantenherde. Zweierlei Stimmen, mal fröhlich plappernd oder schräg singend, mal fluchend oder streitend, klirrten Tag für Tag, Stunde für Stunde wie zu Geräuschen gewordene spitze Scherben auf sie herab. 

„Wenn sie mit der Renovierung fertig sind, wird es schon ruhiger werden“, versuchte sie ihren wachsenden Unmut zu beruhigen. Doch der ständige Lärm drohte, ihr den letzten Nerv zu rauben. Als wären die Belastungen durch die Corona-Pandemie nicht schon genug.

In Online-Veranstaltungen konnte Claudia kaum noch folgen, so fahrig und unkonzentriert war sie inzwischen. Wegen der Störgeräusche musste sie dauerhaft ihr eigenes Mikrofon ausschalten. So konnte sie sich kaum noch aktiv beteiligen, was auch bei ihren Vorgesetzten nicht gut ankam, verdammt. Den Ärger fraß sie in sich rein, wortwörtlich. Sie stopfte sich das Maul mit selbstgebackenen Weihnachtskeksen, schokoladigen Lebkuchen, buttrigem Stollen. Sie bekam wieder häufiger Migräne, vielleicht auch wegen der ungesunden Ernährung. Aber sie wollte nicht die Nachbarin sein, die sich „immer gleich beschwerte“. So wollte sie nicht gesehen werden, so war sie nicht. Alle kannten sie als nette, liebe Nachbarin!

Als endlich der Umzugswagen kam und die Helfer laut polternd die Möbel und Kisten ins Dachgeschoss schleppten, atmete sie auf. Jetzt würde bestimmt bald Ruhe einkehren. Darum sagte sie auch nichts, als das gerade am Morgen frisch geputzte Treppenhaus abends schon wieder völlig verdreckt war. Eigentlich hätten das die neuen Mieter selbst bereinigen müssen. Aber um des lieben Friedens Willen putze Claudia die Treppe abends noch ein zweites Mal. Es gab ja Hoffnung.

Doch auch zwei Wochen nach dem Umzug war es keineswegs leiser. Man hatte sich in der Dachgeschosswohnung inzwischen eingerichtet. Aber Teppiche schien es keine zu geben. Die trampelnden Elefantenschritte waren jedenfalls weiterhin laut und deutlich zu hören. Ebenso das Singen, Plappern, Streiten. Hinzugekommen waren mehrere Heulanfälle der jungen Nachbarin. Sie hatte dabei wirklich Ausdauer. Er schien eher der sportliche Typ zu sein, hatte er doch einen Boxsack aufgehängt, auf den er täglich enthusiastisch einprügelte. Tack, tacktack, tacktacktack, dazu die Beinarbeit, mindestens eine Stunde lang. Vorab übte er sich zum Warmwerden im Seilspringen. Klack-stampf, klack-stampf, klack-stampf, leichtfüßig war er wahrlich nicht. Sie hatte schon einige Male unwillkürlich nach oben an die Wohnzimmerdecke geschaut in der Erwartung, dort müssten sich Risse zeigen oder Staub würde bei jedem Sprung auf sie herab rieseln. Viele Male war sie schon unwillkürlich zusammengezuckt, hatte wütend geschnaubt. Außerdem liebte der neue Nachbar Sportsendungen, insbesondere Fußball, und konnte sich dabei regelrecht cholerisch ereifern – er brüllte jedenfalls wie im Fußballstadion. Offenbar war er HSV-Fan, da gab es gerade viel zu brüllen. Und zu fluchen.

Wenn er nicht mit seinem Sport beschäftigt war, widmete sich seine Lebensgefährtin ihrem offenbar noch recht neuen Hobby: Sie übte sich im Cello-Spielen. Man konnte zwar eine Weihnachtsmelodie erahnen, aber es war nicht gerade ein Vergnügen die ersten Takte von „Oh, Tannenbaum“ wieder und wieder zuhören, tagaus, tagein – Disharmonie pur. Manchmal spielte sie auch auf einer Blockflöte. Hier hatte sie offenbar einen Übungsvorsprung und konnte verschiedene Lieder wie „Jingle Bells“ und „Oh, du fröhliche“ anstimmen. Aber schöner klang das auch nicht wirklich. Claudia reagierte mittlerweile geradezu allergisch auf jedes aus der Dachwohnung auf sie wie klebriger Honig herab tropfende, polternde, an den Nerven zerrende Geräusch. So ging es nicht weiter.

Sie war diese Woche wieder mit der Treppenhausreinigung dran und machte sich gleich am Montagmorgen an ihre Reinigungspflicht. Jetzt, um acht Uhr früh, war es noch nicht einmal richtig hell. Claudia drückte auf den Lichtschalter – nichts. Auf ihrem Treppenabsatz war mal wieder die Birne kaputt. Dann musste sie die Stufen eben im Halbdunkel reinigen, irgendwie würde das schon gehen. Quasi im Blindflug fegte sie über die Stufen. Die Dachgeschossmieter und ihre – trotz Corona! – zahlreichen Gäste hatten reichlich Schmutz ins Haus getragen, statt sich unten die Füße ordentlich abzutreten. Nun musste sie ihnen auch noch hinterher putzen. „Bestimmt tragen die auch keine Masken und waschen sich nicht die Hände“, steigerte sie sich maßlos in ihren Ärger hinein. Und überschritt eine Grenze. Ein Plan reifte in ihren Gedanken. Claudia grinste böse, aber zufrieden. 

Hätte sie jetzt einer der anderen Hausbewohner gesehen, sie hätten die liebe, nette Nachbarin nicht wieder erkannt.

Am nächsten Morgen gegen sieben Uhr hallte ein lautes Poltern gefolgt von einem Schreckensschrei durchs Haus. Dann: Stille. Claudia hielt den Atem an und widerstand nur mühsam der Versuchung, sofort nachzuschauen. Erst als sie die Stimmen anderer Nachbar:innen hörte, öffnete auch sie ihre Wohnungstür und trat hinaus. 

„Oh, mein Gott, wie schrecklich!“

„Ist er schlimm verletzt? Lebt er noch?“

„Hat schon jemand einen Krankenwagen gerufen?“

„Kann hier jemand Erste Hilfe?“

„Ja, ich“, rief Claudia den aufgescheuchten Nachbar:innen zu. Mit zwei Handgriffen löste sie die verräterische Nylonschnur von der unteren Kante des Treppengeländers, damit sie nicht auch noch selbst stolperte, und lief vorsichtig die vom Wischen noch feuchten Stufen hinunter. Ja, er war schon ein sportlicher, gut aussehender Kerl. Gewesen. Claudia spürte keinen Puls mehr, drehte ihn jedoch trotzdem gekonnt in die stabile Seitenlage. Die anderen nickten anerkennend. Sein Kopf lag in einem merkwürdigen Winkel zum Körper.

„Wie ist das denn passiert?“

„Er muss wohl auf den feuchten Stufen ausgerutscht sein. Es brennt im dritten Stock mal wieder kein Licht im Flur, und er hat es morgens immer sehr eilig.“

Na bitte, Claudia musste gar nichts sagen.

Mit dieser Erklärung gaben sich alle zufrieden, auch die Sanitäter und die später eintreffenden Polizeibeamtinnen, die routinemäßig den Todesfall untersuchten. Sie hatten keinen Verdacht und notierten „Tod durch Unfall“. Claudia hatte endlich wieder Ruhe. Dachte sie jedenfalls.

Denn die nun alleinstehende Mieterin aus dem Obergeschoss weinte jede Nacht laut jammernd und schluchzend. So war es auch Claudia unmöglich, erholsamen Schlaf zu finden. Sie hatte bereits dunkle Ringe unter den Augen, wirkte um Jahre gealtert und ließ deshalb seit neuestem in Online-Veranstaltungen ihre Kamera ausgeschaltet. Auf diese Weise war sie unhörbar, unsichtbar. „Untragbar!“, fand daraufhin ihr Arbeitgeber, der sie ausdrücklich rügte. Dabei war sie doch vor dieser verdammten Corona-Pandemie eine unverzichtbare Spitzenkraft gewesen! 

Tagsüber versuchte die junge Nachbarin, sich mit Musizieren von der Trauer abzulenken, „Oh, Tannenbaum“, immer wieder von vorne. Und zu Claudias Entsetzen kam sie zusätzlich auf die Idee, sich mit Springseil und Boxsack zu betätigen, um sich ihrem verstorbenen Liebsten nahe zu fühlen. Claudia war verzweifelt. Der Lärm bohrte sich unerbittlich in ihr Hirn und ihre Seele. Klack-stampf, klack-stampf. Tack, tacktack, tacktacktack. Elefantentrampeln, Cello-Geschrammel, Heulerei. 

„So nicht! Nicht in ihrem Haus! DAS war untragbar!“, schnaubte sie wütend, als ihr die harschen Worte ihres Arbeitgebers wieder einfielen. 

Als sie turnusmäßig erneut mit der Treppenhausreinigung an der Reihe war, überlegte Claudia, was sie tun könnte. Gerade wischte sie mit einem Tuch über das Geländer zum Dachgeschoss, an dem sich die trauernde Nachbarin seit dem Tod ihres sportlichen Lebenspartners beim Treppensteigen regelrecht festklammerte. Ja! Das war es!

Claudia verschwand in ihre Wohnung und stöberte in ihrer umfangreichen Krimisammlung. Richtig, hier stand es – sie wusste, was sie besorgen musste. Abermals erschien dieses kleine böse Glitzern in ihren Augen – und dieser fiese Zug um die Mundwinkel herum. Die liebe, nette Nachbarin.

Als zehn Tage später die junge Dachgeschossbewohnerin in ihrer Wohnung bewusstlos von einer Freundin aufgefunden wurde, stellte der Notarzt eine Vergiftung fest. 

„Sie hat so um ihn getrauert! Deshalb versuchte sie, den Schmerz zu betäuben, um endlich mal wieder schlafen zu können“, gab die Freundin später dem Polizeibeamten zu Protokoll. „Konnte doch keiner ahnen, dass sie eine Überdosis nimmt, wovon auch immer! Als ich einige Tage nichts von ihr gehört habe, bin ich mit meinem Zweitschlüssel in ihre Wohnung gegangen und hab sie gefunden.“ Die Freundin schluchzte. Die junge Nachbarin konnte nicht mehr gerettet werden und wurde zwei Tage vor Weihnachten neben ihrem sportlichen Lebensgefährten beigesetzt. „Tod durch Suizid“, stand auf dem Totenschein. Die Ärztin hatte mit all den schweren Corona-Fällen so viel zu tun, dass ihr gar keine Zeit blieb für Zweifel, Fragen, Untersuchungen oder gar eine Autopsie. 

Claudia summte leise vor sich hin: „Stihille Nacht, hei-lige Nacht …“, während sie ein letztes Mal in diesem Jahr das Treppenhaus putzte. Dem oberen Treppengeländer widmete sie sich dabei besonders sorgfältig. Endlich war in ihrem Haus wieder Ruhe eingekehrt. „Frohe Weihnachten“, wünschte die liebe, nette Nachbarin aus Corona-gerechtem Abstand allen Hausbewohner:innen, „und ein geruhsames Fest!“

MiniKrimi Adventskalender am 7. Dezember


Gemeinsam statt einsam: Weihnachten in Zeiten von Corona

Dass sie einmal positive Gefühle für Angela Merkel hegen würde, hätte Eva sich nie träumen lassen. Das war ein kompletter Bruch mit ihren politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen und ihrem gesamten Leben seit ihrer Studienzeit.

Nach Kindheit und Jugend in einer schwäbischen Kleinstadt erschien ihr das Berlin der 1960er Jahre wie eine Befreiung. Sie hatte sich für Soziologie eingeschrieben, aber schon bald verbrachte sie die meiste Zeit in rauchigen Kneipen, in denen sie mit Kommilitonen, Arbeitern und Leuten, die sich als Philosophen bezeichneten, über die neue Weltordnung diskutierte. 

Einige ihrer Freundinnen und Freunde wollten es nicht beim Diskutieren belassen. Sie waren der Überzeugung, um etwas Neues zu schaffen müsse man das Alte zerstören. Mit Gewalt. Den Worten folgten Taten, und Eva verbachte die nächsten Jahre auf höchst abenteuerliche Weise im Dunstkreis einiger inzwischen von Interpol gesuchten Freiheitskämpfer, wie sie sich nannten. 

Eva wusste selbst nicht genau, wann, warum und wie sich ihre Träume zerschlagen hatten. Sie waren geplatzt, bunte Seifenblasen eines Lebens, das ihnen zu fremd war, als dass sie es hätten erreichen können. Die einen waren immer weiter an den Rand der Utopien gedriftet, hatten schließlich ihr Studium beendet und waren ein paar Jahre später selbst im einst verhassten Establishment gelandet. Andere hatten versucht, ihren Idealen treu zu bleiben, sich mit der Gesellschaft soweit zu arrangieren, dass sie wenigstens einmal am Tag einen Teller voll bekamen, und sie von innen heraus zu verändern. 

Und ein paar schließlich hatten den Kampf bis zuletzt geführt und waren gestorben. Für die Sache.

Eva gehörte zu denen, die sich arrangiert hatten. Sie hatte ihrem Leben stets einen alternativen Anstrich gegeben, mit Latzhosen, Batikkleidern, Räucherstäbchen, Tofu und Klangschalen-Meditationen. Ihre Selbstfindungskurse und Baumgespräche hatten ihr tatsächlich ein bescheidenes, aber stetiges Einkommen gesichert. Natürlich nicht genug, um für’s Alter vorzusorgen.

Und jetzt war Eva siebzig und alleine. Eine Alt-68erin mit angegrautem Hennahaar. Die Freunde von damals waren in alle Winde verstreut. Manchmal schickte eine eine Kettenmail mit der Bitte um Unterstützung eines Regenwaldprojekts. Oder einer hielt einen Diavortrag über Nepal in der Stadtbibliothek. 

Bekanntschaften waren kein Ersatz für Freunde. Das erlebte Eva besonders in der Weihnachtszeit. Da igelten sich die Leute ein in ihrem selsbtgestrickten Kokon aus Plätzchen und Gemütlichkeit, und jemand wie Eva blieb außen vor. Nicht, dass sie diess Spießer beneidete. Aber – so ganz alleine unter ihrer Palme, an die sie drei lila Kugeln hängte, hätte sie sogar einen Glühwein von der Nachbarin angenommen, wenn sie sie dazu eingeladen hätten. Hatte sie aber noch nie.

Und dieses Jahr sollte es endlich anders werden. Dank Angela Merkel. Bis zu zehn Personen aus unterschiedlichen Haushalten sollten sich treffen. Wie wunderbar!

Eva hätte nicht gewusst, woher sie zehn verschiedene Personen herzaubern sollte. Aber ein oder zwei…..oder drei, oder vier?

Sie ging ins Schlafzimmer, schloss die Tür ab und holte aus der hintersten Schublade ihrer Sockenkommode die alte Sigg Sauer, die sie damals aus der WG gerettet hatte, bevor die Bullen die Wohnung gestürmt hatten. 

Dann ging sie zu dem großen Supermarkt am Anfang des Industriegebiets. Wie erwartet tummelten sich dort an den Ausgängen gleich mehrere Weihnachtsmänner. Junge Burschen in langen, roten Gewändern, die unter Rauschebart, angeklebten Wimpern und Corona-Visier deutlich schwitzen. Eva kauft einen 6-er-Pack Mineralwasser in Plastikflaschen. Würde sie sonst nie tun. Mühsam schleppt sie ihn bis vor die Füße eines der Weihnachtsmänner. „Guten Tag, Sie wollen uns Menschen hier doch beschenken, stimmt’s?“, fragt sie und lächelt angestrengt. „Naklar, hohoho“, antwortet der Weihnachtsmann und holt einen Rabattgutschein mit aufgeklebtem Schokostern aus seinem Jutesack. „Nein, danke, ich esse keine Schokolade. Aber sie können mir ein wenig Ihrer Zeit schenken. Kommen Sie, tragen Sie mir die Flaschen ins Auto.“ 

Nach einem erstaunten Zögern packte der Weihnachtsmann – er muss wirklich jung und athletisch sein! -den Sixpack und folgte Eva zu ihrem verrosteten Renault. „Danke“, sagte sie und machte die Heckklappe auf. Als der Weihnachtsmann sich zu ihr umdrehte und sich verabschieden wollte, drücktd sie ihm die Sigg-Sauer in den Bauch. „Einsteigen, schnell“, befahl sie. 

Daheim fesselte sie ihn an einen Küchenstuhl. „Bin gleich wieder da“, versprach sie. Und hielt Wort. Bald hockten vier ratlose Weihnachtsmänner gefesselt in ihrer Küche. 

„So, Ihr Lieben. Jetzt koch ich uns ein leckeres Essen. Und danach gibt’s die Bescherung. Ganz wie in alten Zeiten! Aber erst schauen wir uns die Weihnachtsansprache von Frau Merkel an. Ohne sie hätte ich auch diesmal alleine Weihnachten gefeiert.“ 

Adventskalender Minikrimi am 2. Dezember


Der Beste seines Fachs

Er ist der Beste. Das weiß er. Und das sagen ihm auch immer wieder alle anderen. Kolleg*innen, Patient*innen. Und vor allem das Pflegepersonal. Die heimliche Leitung der Klinik, wie er lachend sagt, damit niemand merkt, wie ernst ihm diese Behauptung ist. Stell dich mit den Pflegekräften gut, und du bist der uneingeschränkte King der Abteilung. 

Deshalb stellt er sich bei jeder neuen Stelle erst einmal im Pflegestützpunkt vor. Mit gutem Kaffee und einem Korb, prall gefüllt mit all den Sachen, die sie dort wirklich mögen. Keine Schokolade oder Kuchen. Dafür Nüsse, Obst und Nervennahrung. Nach einer Woche fressen sie ihm aus der Hand. Und das ist wichtig! Sie schirmen ihn ab und stehen hinter ihm. Erlauben keine unnötigen Fragen.

So war es bislang immer. Und so ist es auch hier. Seit kaum drei Wochen arbeitet er als Assistenzarzt in der Anästhesie. Inzwischen kennt er sich überall aus, die Handgriffe während einer OP sitzen. Mit schlafwandlerischer Sicherheit überwacht er die Patienten, greift bei Bedarf sicher und routiniert ein. Schwester Lilly wirft ihm bewundernde Blicke zu, und mehr als einmal hat sie ihm schon einen Espresso gebracht – ungefragt. Er kann nicht sagen, dass ihm das missfällt. Auch Lilly selbst gefällt ihm gut, mit ihren langen schwarzen Haaren und den großen grünen Augen. Aber er hält sich zurück. Ist auf der Hut. Persönliche Kontakte kann er sich nicht leisten. Leider.

Es kommen immer mehr Corona-Patienten ins Krankenhaus. Es macht ihm nichts aus, sich im Schutzanzug um sie zu kümmern. Das ist kein wirklich schwerer Job. Leider erwischt das Virus immer mehr Pflegekräfte und Kolleg*innen. Er ist der Meinung, dass sie sich nach ihrem Dienst nicht wirklich in Acht nehmen, sondern den Stress in der Klinik wegfeiern. Und das ist in dieser Situation fatal.


Er tut das nicht. Er lebt zurückgezogen, beinahe mönchisch. Das muss er auch. 

Dann kommt der Tag, an dem Professor T. ihn in sein Büro ruft. Es geht um die junge Luise, eine Covid-19-Patientin. Er kennt das Mädchen, hat es seit der Einlieferung mit Atemproblemen betreut. Sie ist Asthmatikerin. Ihr Zustand schien stabil. Doch in der Nacht hat sich die Situation so sehr verschlechtert, dass eine Operation umgehend notwendig ist. „Und jetzt kommen Sie ins Spiel, Kollege. Kollege F. ist seit heute ebenfalls erkrankt. In Ihren Unterlagen habe ich gelesen, dass Sie bereits mehrere erfolgreiche Lungen-OPs durchgeführt haben, sogar eine Transplantation. Sie übernehmen also. Machen Sie sich fertig, die OP ist für 9 Uhr angesetzt.“

Schweiß tritt ihm auf die Stirn. „Ich, ich…“, setzt er an, doch in diesem Moment geht die Tür auf, Luises Mutter stürmt herein, umfasst seine beiden Hände und bittet ihn unter Tränen, ihre Tochter zu retten. Diesmal ist es eine schlafwandlerische Unsicherheit, mit der er sich vorbereitet. Er sieht alles nur durch einen Schleier. Schwester Lilly hilft ihm beim Ankleiden. „Sie sehen blass aus, ist alles ok?“, fragt sie ihn. „Nein!“ will er rufen. „Nichts ist ok!“ Aber er kann nur nicken. Und dann steht er im Operationssaal. Hält Instrumente in der Hand, die er bislang nur von weitem gesehen hat. Alle warten darauf, dass er anfängt. Er macht einen Schnitt, noch einen – alles ist voller Blut, Luise reißt die Augen auf, schreit ihn an: „Wie können Sie es wagen! Sie Scharlatan. Sie Hochstapler!“ Dann sinkt sie zurück. Tot. 

Der Saal ist plötzlich voller Menschen, Luises Mutter, die Kolleg*innen, Lilly, die Prüfer, die ihn damals haben durchs Examen fallen lassen. Seine Eltern, die ihn seitdem als Versager betrachtet und jeden Kontakt abgebrochen haben. Und noch viele andere, an denen er sich seitdem rächt, indem er das tut, was er wegen ihnen nicht tun darf. Luises Mutter, die ihn anstarrt und immer wieder flüstert: „Warum nur? Warum?“Er will sich umdrehen, weglaufen. Aber er klebt fest. In diesem Raum. In diesem Albtraum.

Schließlich wacht er doch noch auf, schweißgebadet. Es ist vier Uhr morgens, die Stadt schlummert im Winterdunkel. Er schüttelt sich. Was für ein Traum. Er steht auf und geht zum Schreibtisch. Dort liegt er, der Beweis, dass das alles wirklich nur ein Albtraum war: seine Approbation!   

MiniKrimi Adventskalender 2020


Schlimmer geht immer….

Was für ein Jahr! Im Februar haben wir noch den Kopf geschüttelt über Videos von wie Marsianer vermummten Menschen in China. Eigentlich komisch, dass wir dachten, in einer globalisierten Welt könnten uns Entfernungen vor diesem neuartigen Coronavirus schützen. Wir wurden schnell eines besseren – bzw. schlechteren – belehrt. Und dann kamen die bekämpfenden Einschränkungen Schlag auf Schlag. Kein Faschingsendspurt. Kein Ostern. Keine Schule. Kein Urlaub. Und jetzt – keine Weihnachtsmärkte! Keine Weihnachtsfeiern! Wie wird sich die Kontaktlosigkeit dieses Jahres auf die fernere Zukunft auswirken? Lauter Babyboomer, denen noch die rudimentärsten sozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten fehlen, weil sie die in den langen Quarantänezeiten nicht erlernt haben? Immerhin: wir feiern die Rückkehr der Kleinfamilie. Mit all ihren Schattenseiten.

Wir Kunstschaffenden haben es in diesem Jahr besonders schwer. Keine Auftritte, keine Lesungen. Und – keine aus der Realität entnommenen Impulse für den MiniKrimi Adventskalender! Keine Beobachtungen in Bussen und U-Bahnen, keine Verarbeitung vorweihnachtlicher Benimm-Faux-Pas auf Betriebsveranstaltungen, keine kriminellen Urlaubslegenden. Aber ich will nicht über Covid 19 schreiben, Türchen rauf und Türchen runter. Obwohl es dafür schon genügend Inspirationen gäbe. Und Locations. Krankenhäuser, Altenheime, von Einbrechern vernachlässigte Wohnungen….

Ich versuche mich trotzdem dran. Denn „schlimmer geht immer“. Und ich freue mich, wenn meine Kolleg*innen und alle, die gerne kurze Krimis schreiben, mitmachen. Schickt mir einfach Euren MiniKrimi, gerne auch mit einem passenden Foto (bei dem die Rechte klar sind) per Mail, und ich veröffentliche ihn mit Eurem Namen.

Und nun…. Öffnet sich das erste Türchen des Minikrimi Adventskalenders 2020

MiniKrimi am 1. Dezember 2020

Von drauß‘ vom Walde komm ich her…

„Von drauß‘  vom Walde komm ich her, ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr. Allüberall auf den Tannenspitzen…… Ach Schei….be. Warum soll ich das blöde Gedicht auswendig lernen? Ich werd’s ja doch niemandem aufsagen können. Dabei hatte ich ganz fest mit dem Geld gerechnet. Ich brauch‘ den Weihnachtsmannjob, sonst kann ich im Januar die Miete nicht zahlen! Ich hatte sogar schon ein Kostüm für dich mit ausgeliehen, falls du mal Lust hättest, mitzugehen. Vorbei! Sch…Corona!“

„Bist du sicher, Joe? Du kannst vielleicht nicht in die Wohnungen zur Bescherung – aber in der Fußgängerzone rumlaufen kann doch nicht verboten sein.“ „Und was soll ich da machen? Mit Mundschutz ein Weihnachtsgedicht nuscheln? Nee, wenn es keine Geschenke zu verteilen gibt, zahlt die Agentur höchsten 10 Euro für 10 Stunden.“ 

„Das ist ja unter Mindestlohn!“ „Na und? Friss oder stirb. Was meinst du, wie viele sich sogar um diesen Mickerjob reißen?“

„Und, was machen wir jetzt? Ich hab keine Lust, Neujahr unter der Brücke zu hocken. Dann zieh ich hier lieber gleich aus und geh zu Freddie.“

„Und du denkst, der steht noch auf dich, jetzt, nach seinem Lottogewinn? Haste dich die letzten Jahre mal im Spiegel angeschaut?“

„Ganz zufällig weiß ich genau, dass er das tut! Alte Liebe rostet nämlich nicht. Deshalb hat er mich angerufen und gefragt, ob ich immer noch mit dem Loser zusammen bin und ob ich nicht lieber innem großen warmen Haus bei Gänsebraten und Champagner feiern will als in so nem kalten Loch mit ner Flasche Billigwodka. Aber nicht mal dafür wird’s bei dir reichen, diesmal, oder?“

„Ach Jenny. Jenny – das würdest du tun? Ehrlich?“ „Ungern, Joe. Aber ja. Ehrlich. Das würde ich. Soll ich dir’s beweisen? Guck mal, das ist ein Schlüssel! Ich war nämlich heute schon mal da. Apolloweg 1, total edle Adresse. Freddie hat sich so mega gefreut. Er hat mir gleich den Haustürschlüssel mitgegeben.“

„Ach Jenny. Gut, Reisende soll man nicht aufhalten. Du hast ja Recht. Ich bin ein verdammter Loser. Wahre Liebe erkennt man daran, dass man loslassen kann. Ich wünsch dir alles Glück dieser Welt. Grüß Freddie von mir! Halt! Ich kann dir ja nix schenken, weißte ja. Aber wart mal kurz, ich hol dir meine letzte Flasche Wodka ausm Versteck. Trinkste mit Freddie, auf die alten Zeiten, sagste ihm.“

„Joe, du bist ein Süßer. Danke. Das werd ich machen. Und – bleib sauber!“

Diesen Wunsch konnte Joe Jenny leider nicht erfüllen. 

Ein paar Tage später fand man unter der Reichenbachbrücke zwei aneinander gelehnte Leichen in ungebrauchten Weihnachtsmannkostümen. Die Obduktion ergab eine Vergiftung durch Frostschutzmittel im Wodka. Die beiden wurden als Joe P. und seine Freundin Jenny K. identifiziert. Die Polizei teilte Joes Zwillingsbruder Freddie, der seit einem dubiosen Lottogewinn in einer Pasinger Villa lebte, mit, die beiden hätten sich wohl aus Angst vor dem Verlust ihrer Wohnung selbst umgebracht. „Sie hätten Ihrem Bruder aber auch etwas unter die Arme greifen können,“ musste Polizeiobermeister R. noch loswerden, bevor der lieblose Bruder ihm die schwere Eichentür vor der Nase zuschlug. 

„Ja, Freddie, hättste mir mal unter die Arme gegriffen. Dann würden wir jetzt hier vielleicht zu dritt sitzen. Aber egal. Jetzt liegste neben Jenny. Wolltest du ja die ganze Zeit. Ich werd deinem Namen alle Ehre machen, Bruder. Versprochen. Weißt du noch, wie wir als Kinder immer dieses Gedicht aufsagen mussten? Von drauß‘ vom Walde komm ich her…..“ 

Nach Corona ist vor Corona


Sie mehren sich – die Beiträge mit hoffnungsfrohen Visionen einer besseren Welt NACH Corona. Weniger Kapitalismus, mehr Ökobewusstsein, weniger Egoismus, mehr Gemeinschaft, weniger Kürzungen im Gesundheitssektor, mehr Gehalt für pflegende Berufe.

Ach ja – wie gerne würde ich, wie erstaunlich viele meiner Kolleg*innen, meine rosa Brille aufsetzen und diesen Wunschträumen nachhängen. Allerdings bin ich dazu entweder zu pragmatisch, oder ich lebe in einem Umfeld, das mir die Realität des menschlichen Wesens als Masse zu deutlich vor Augen führt. Jedenfalls kann ich Euch eines vorhersagen:

Nach Corona wird es genau so sein wie davor!

Naja, vielleicht nicht ganz. Die Ladenöffnungszeiten werden wahrscheinlich nicht mehr zurückgefahren – auf diese Gelegenheit haben grade in Bayern zu viele Politiker schon zu lange gewartet.

Einige werden aufgrund von Kurzarbeit oder Arbeitsplatzverlust nicht das Geld haben, das sie gerne hätten, um von diesen verlängerten Konsumzeiten „vollumfänglich“ Gebrauch zu machen. Aber machen wir uns nichts vor: der Konsumismus wird nicht nur ungebrochen weitergehen. Er wird sich, wie ein allzu lange gestauter Fluss, erst einmal mit doppelter, dreifacher Wucht in die Einkaufsstraßen ergießen. Paare, Familien werden die Einkaufszentren stürmen, sich mit Plastiktüten beladen und sich nach physischen und finanziellen Kräften bemühen, die Konsumabstizenz wieder wettzumachen. Nicht anders als bei landläufigen Diäten wird der JoJo-Effekt eintreten.

Und sollten doch am Ende weniger Fugzeuge den Himmel Richtung all-Inclusive-Zielen durchspuren mit ihren Schleiern aus Kerosin, dann wird das nur daran liegen, dass die eine oder andere Fluggesellschaft Pleite gegangen ist.

An den Tankstellen werden endlich wieder die getunten Altautos Schlange stehen vor SB-Waschanlagen und Staubsaugern, mit ihren stolzen Besitzern, Cappuccino to go in der einen, Kippe in der anderen Hand, Schirmmütze ins Gesicht geschoben.

In den Parks, auf den Plätzen und Straßen werden sie sich stapeln, die unter 20jährigen, die endlich wieder die elterlichen vier Wände verlassen und sich, ohne Sorge vor Bullenkontrollen, mit einem Bier in der Hand und Stoff, egal welchem, zum Musikhören draußen treffen können.

Bin ich zu pessimistisch? Eine Misanthropin? Halt, nein! Es wird auch die anderen geben. Die Fitgejoggten, die auch nach Corona öfter mit dem Fahrrad fahren und nach der Arbeit weiterhin den Wald durchhasten.. Ich liebe sie – vor allem, wenn ich ihnen bei meinen Hunderunden begegne, wie sic, schwitzend, prustend und bar jeder Rücksichtnahme zentimeternah an mir vorbeischnaufen.. ich schwöre, Mann, ich habe noch nie so viel neue Funktionskleidung gesehen wie in den letzten beiden Wochen. Amazon sei Dank. Ja, für den Oniinehandel wird es nach Corona auch nicht mehr so sein wie davor. Die satten Gewinne dürften eine Zeitlang anhalten. Keine Sorge, eine Lohnerhöhung für die Mitarbeitenden, die sich während der Krise permanenter Ansteckung ausgesetzt haben, dürfte nicht eingeplant sein.

Deutschland ein Marathonland. Zum Corona-Ende den mega Marathon ausrufen – und endlich die Herdenimmunität herbeiführen … Oder einen landesweiten Wettbewerb „mein Haus/Garten/Balkon soll schöner werden“. Nachdem in den Wochen vor der Schließung der Gartencenter Tausende dort ein Happening in der Farben/Teich-/und Bauabteilung gefeiert haben, dürfen die Ergebnisse nach Corona allüberall zu bewundern sein. Dann wird es endlich wieder landauf, landab nach Grillkohle duften, und im großen Freundeskreis wird man sich bei Billigfleisch und Bier erinnern: „Weißt Du noch, als das anfing mit den Ausgangsbeschränkungen? Ja, da hab ich noch den letzten 10 Liter Eimar Insektengift ergattert und meinen Garten sommerfest gesprüht…“

Ja, meine Freund*innen. So wird das sein. Genau so. Nein, die Ausgangsbeschränkungen werden ganz sicher nicht aufrecht erhalten werden, im Gegensatz zu den Ladenöffnungszeiten. Und die Menschen werden keinen Deut anders sein als zuvor.

Also: gaudeamus igitur…! Genießen wir die saubere Luft, den blauen Himmel, das fehlende Kindergekreische, die gereinigten Straßen, die leeren Supermarktgänge und die Tatsache, dass wir uns unsere Zeit selbst einteilen können.

Vor allem aber: bleiben wir gesund. Obwohl wir eigentlich eher einmal krank und dann immun werden sollten, Ihr wisst schon, wegen der Herdenimmunität. Sonst dauert die „Corona-kRise“ am Ende noch ewig….

#wirbleibendrin. Notizen einer zwangsläufigen Wohngemeinschaft


„Kann ich mal die Butter haben?“ „Aber es ist nicht mehr viel da, lass uns was übrig. Morgen müssen wir einkaufen gehen“. „Ich hab Knieschmerzen, hoffentlich bin ich bis morgen wieder fit.“ „Ich find meine EC-Karte grade nicht. Ich beteilige ich mich dann am nächsten Einkauf.“ „Gibt’s noch Bratkartoffeln?“ „Ja, in der Küche……Du kannst schon mal was raustragen, wenn Du sie holst.“ „Ach, ich weiß nicht, mein Knie…“ „Wollen wir noch ne Runde Wizzard spielen?“

Zwei Männer über 60, eine Frau knapp darüber und eine über 70. Ein Alter, in dem man anfängt, sich „rein theoretisch“ überBetreutes Wohnen zu informieren, Mehrgenerationenhäuser. Wer kann ich schon darauf verlassen, dass das „Kind“ die Eltern einmal ernähren wird? Und beherbergen….

Und jetzt Corona. Was liegt näher, als dass sich vier Angehörige der Risikogruppe „Ältere“ zu einer solidarischen WG zusammentun? Gemeinsam einsam ist besser als alleine einer ungewissen Zukunft entgegenzuhocken, in vier Wänden, die mit jedem Tag näher auf einen zurücken. Also sind T und O zu M und R gezogen, in eine Doppelhaushälfte am Rand von München. M ist schon klar, dass sie damit im Falle einer Ausgangssperre prvilegiert sind – sie können zumindest die Sonnenstrahlen draußen genießen und können sich drinnen in einzelne Zimmer zurückziehen, bevor sie sich im Wohntzummer vor dem Fernseher wegen des Programms die Köpfe einschlagen. Die Hunde können durch den Park gegenüber in einen verwunschenen Wald. Das ist Luxus pur.

Aber wie alles hat auch dieser Luxus seinen Preis. In diesem Fall das Zusammenleben von vier voll ausgebildeten Persönlichkeiten, Individuen, jede und jeder mit sehr ausgeprägten Eigenschaften. Das kann ja heiter werden.

Leben und Sterben in Zeiten von Corona


Pestdoktor

Heben sich so die Menschen am Anfang der Pest-Epidemie gefühlt? Voller Angst, voller Unglauben, und gleichzeitig unwillig, konsequent das zu tun, was die Ausbreitung eindämmen könnte? Unzählige Bilder – jahrhundertealt und tagesaktuell. Tanzende Menschen, auf Plätzen, vor züngelnden Feuern, in hohen Hallen, Schatten auf Häusern, in Straßen. Geigen und Trommeln. Bässe und Beats. Und dann – Leere. Stille. 

Damals zogen sie von einer Stadt zur anderen, büßend die einen, plündernd die anderen. Heute schwärmen sie durch Supermärkte und Shoppingmalls, auf der Jagd nach Verzweiflungsschnäppchen. In Venedig tanzten sie im ausgehenden Mittelalter, bis sie zu Boden fielen und die Pestmasken auf den Wellen der Kanäle schaukelten. Letztes Wochenende feierte die venezianische Jugend, und als die Lokale geschlossen wurden, nahmen sie die Flaschen eben mit an den Strand.

Veranstaltungen über 1000 Personen absagen. Na gut – auch, wenn das verpasste Konzert, das Bundesligaspiel schmerzen. Aber jetzt auch noch auf den Kinobesuch verzichten? Den Zumbakurs? Das geht doch entschieden zu weit! Am Ende schließen sie auch noch die Schulen! Die Geschäfte! Diskotheken! 

Meine Familie in Italien berichtet von Ausgangssperren. Keine Gottesdienste mehr landauf. landab. Der Papst feiert alleine vor Fernsehkameras. Bei einer Mortalität von 10% ist dort auch den überzeugtesten Präventionskritikern das Lachen erfroren. Zu lange haben wir zu viel Nähe zugelassen, Küsschen links und rechts, gemeinsam gepflegtes Leiden in Bars und Restaurants. Nun ist das ganze Land eine Schutzzone. Und in München? Undenkbar!, sagen immer noch viele. Zu viele.

Die Wirtschaft stöhnt, und, ja!, für Freischaffende ist die Situation unter Umständen existenzbedrohend. Aber nicht lebensbedrohend – wie der Besuch eines Konzerts, eines Theaters, eines Festivals. Und zwar nicht einmal unbedingt für den Besucher selbst. Aber für seine Angehörigen, die vielleicht einer Risikogruppe angehören, weil sie alt sind, krank sind, weil, sie, wie ich, eine Immuntherapie machen, die die Reaktion ihres Körpers auf ein für viele harmloses Virus zum russischen Roulette werden lässt…. 

Seit gestern haben sich die Infektionen in München verdoppelt. Hey, Leute, das ist keine Laune der Natur. Und auch keine Grippe. Wir stehen damals wie heute am Rande der „Pest“. Und nur, weil wir unseren Konsumismus, unsere Gewohnheiten, unsere technische Überlegenheit nicht der Diktatur einer Krankheit unterwerfen wollen, riskieren wir die Eskalation?

Ich verstehe eigentlich nicht, warum es so schwer ist, sich einzugestehen, dass die Natur immer noch die Oberhand behalten kann. Auch in unserer Hightech-Gesellschaft. Und geradezu fassungslos stehe ich vor Auswüchsen des weltweiten Netzes, die CoVid-19 als Bioangriff eines verrückten amerikanischen Politikers entlarven, Geheimtipps zum Überleben preisgeben, wie das literweise Trinken heißen Tees, um das Virus im Hals abzutöten, oder 100% sichere Selbstdiagnosemaßnahmen anpreisen: einfach morgens für zehn Sekunden die Luft anhalten. Wenn Du das kannst, bist Du gesund. In einigen Whatsapp-Nachrichten wurden aus den Sekunden Minuten…… Auch eine hundert Prozent-Methode… 

Die allerbeste Nachricht aber ist diese: Hunde und Katzen haben in der Regel bereits eine Immunität gegen das Virus entwickelt. Diese können sie an ihre Besitzer weitergeben (ich glaube ja, das ist von einem ausgelaugten Tierheimbetreiber in die Welt gesetzt worden).

Wenn das öffentliche Leben sich nach innen kehrt, ist das kein Verzicht, sondern eine Umkehr, die ein Umdenken erfordert. Aber deshalb wird unser Leben nicht ärmer. Nur anders. Und auch, wenn Grenzen sich schließen – die Kommunikation über diese hinweg war noch nie so groß. Und so wichtig. Die Welt bricht nicht zusammen, wenn Kinder 6 Wochen keine Schule haben, die Wirtschaft Einbußen erlebt, statt jährlich neue Rekorde einzufahren, und wir unseren 6 Monate im Voraus geplanten All-Inclusive-Urlaub in einem Drittweltland nicht antreten können. 

Für die wenigen, die es noch nicht erfasst haben: Wenn Schulen, Läden, öffentliche Räume, Theater, Kinos geschlossen, Veranstaltungen verschoben oder abgesagt werden, geht es nicht in erster Linie darum, Gesunde zu schützen. Bei Kindern und Personen unter 50 ohne Vorerkrankungen geht Corona vorüber wie eine Erkältung. Und danach sind sie gegen diesen Typ immun. Es sind die Kranken und Alten, die gefährdet sind – und nein, ich befürworte eine solche demographische Bereinigung unserer Gesellschaft nicht! 

Wenn die Krankenhäuser mit Coronafällen überflutet werden, sinkt die Überlebenschance bei einem Schlaganfall, einem Herzinfarkt, einem unter normalen Umständen nicht lebensbedrohlichen Unfall auf ein Minimum. Das gilt es zu verhindern. Und es gilt, unser medizinisches Personal zu schützen.

Aber, Leute, und das ist die gute Nachricht: Corona ist eine außergewöhnliche Chance! Warum? Darum:

  • Weil weniger Aktivitäten der Menschen dem Klima nachweislich bereits gut getan haben! Die Stickstoffemissionen haben sich in China seit Corona deutlich verringert….
  • Weil weniger Konsum Grundvoraussetzung ist für das Nullwachstum, das für einen Klimawandel unabdingbar ist. Und die eine und der andere vielleicht in dieser Zeit des erzwungenen Verzichts lernen, die einfachen Dingen wertzuschätzen (frommer Wunsch – aber ich bin halt Christin).
  • Weil ein Verzicht auf Globales uns dem Regionalen wieder näher bringt. 
  • Weil einsame Waldspaziergänge gesünder sind als Shoppingtripps. 
  • Weil ein Babyboom gut ist für unsere Demographie.
  • Weil wir vielleicht keine Hände mehr schütteln können (in meinen Augen ohnehin eine hygienisch nicht zu rechtfertigende Unart), dafür aber mehr auf anderen Kanälen kommunizieren. Briefe schreiben. Emails. Telefonieren. 
  • Weil wir lesen können. Schreiben. Backen, Nähen. Meditieren. Ruhen. Entschleunigen. Beten.
  • Weil wir Mitmenschlichkeit leben und erleben können. Indem wir auf einander schauen und achten. Auf die Nachbarn, zum Beispiel.

Sicher habt Ihr noch viele weitere Gründe, warum Corona eine so nie dagewesene Chance ist. Schreibt sie mir!

Und ansonsten: bleibt gesund! Das schönste, was ich von „meiner“ Pfarrerin im Zusammenhang mit Hygienemaßnahmen erfahren habe: 30 Sekunden soll man sich die Hände waschen. 30 Sekunden – das ist so lange, wie das Beten eines Vaterunsers dauert!

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