MiniKrimi Adventskalender am 22. Dezember


Kein richtiger Krimi, schlussendlich. Stimmt. Aber – was würdet Ihr sagen, wenn Euch das passieren würde? Keine Sorge, lehnt Euch entspannt zurück, in der Gewissheit, dass Euer Heiligabend ganz sicher weniger aufregend ablaufen wird.

Die Weihnachtserbin

Heiligabend: Frida hat ihren Mann Jan und die Kinder auf den Weihnachtsmarkt geschickt, um in Ruhe die letzten Vorbereitungen für das Weihnachtsfest zu treffen. Alles wie jedes Jahr, sie erwarten Oma Anita, Opa Bernd und Jans arroganten Bruder David. Sie gilt als perfekte Gastgeberin. Aber heute fragt sie sich, ob sie in den letzten Jahren, seit sie in das Haus am Stadtrand von Berlin gezogen sind, nicht zu oft nachgegeben und zu wenig an sich gedacht hat. Ihr Blick fällt auf die rote Küchenuhr, die ihre besten Tage hinter sich hat. Vielleicht geht es mir genauso, denkt Frida. Und sie spürt, wie so etwas wie Unmut in ihr aufsteigt und Unzufriedenheit. Da klingelt es an der Tür. Wer kann das sein?

„Ja, bitte?“, fragt sie in das Schneegestöber. Vor ihr steht ein Mann mit roter Mütze. Nein, nicht der Weihnachtsmann, das erkennt Frida an der grimmigen Miene, mit der er ihr einen aufgeweichten Umschlag entgegenstreckt. „Frida Rosenzweig?“, schnauzt er sie an. „Ja. Haben Sie was gegen meinen Namen?“ „Ist mir egal, solange er auf dem Briefkasten steht.“ „Aber das tut er doch nicht!“ „Eben. Deshalb musste ich so lange suchen. Eilauftrag vom Kunden. Und das an Heiligabend. Hier, unterschreiben!“ Natürlich passt ihr ganzer Name, Kahler-Rosenzweig, nicht auf das Signaturpad. Ebenso wenig wie auf den Briefkasten. „K. Rosenzweig“ krakelt Frida auf das Pad, dann stürmt der Mann zurück auf die Straße.  „Frohe Weihachten“, ruft sie ihm hinterher, um ihrem perfekten Image noch irgendwie gerecht zu werden.

Dann setzt sie sich mit dem Brief in die Küche. Dr. Ernst R. Schreck, Notar, steht auf dem Umschlag. Er enthält die Einladung zur „Testamentseröffnung im Erbfall Pepita Rosenzweig“ am 24.12.2015, 13 Uhr, in der Straße zum Löwen 12 in Wannsee. Frida schaut auf die Küchenuhr. Fünf vor zwölf. Wie passend, denkt sie. Was mache ich jetzt? Du kannst da unmöglich hin, sagt die perfekte Gastgeberin in ihr. Die Vorbereitungen! Na und, antwortet  eine Stimme, die Frida nicht mehr gehört hat, seit sie hier eingezogen ist. Denk an dich! Pepita muss Oma Anitas totgeschwiegene Zwillingsschwester sein. Bestimmt hat sie dir was vererbt, sonst hätte dich dieser Schreck nicht eingeladen.

Frida  schaut sich in der Küche um, sieht die abblätternde Farbe an den Fensterrahmen, die angeschlagenen Kacheln. „Willst du  so weitermachen? Das Haus muss dringend renoviert werden. Aber dafür fehlt euch das Geld. Jan ist lieb und nett, aber er verdient nicht genug. Nimm die Sache selbst in die Hand. Zieh den Mantel an und geh.“

Und das tut Frida. Der Weg nach Wannsee über leergefegte Straßen ist kürzer als gedacht. Das Anwesen Nummer 12 entpuppt sich als majestätische Gründerzeit-Villa mit Auffahrt und Freitreppe. Frida parkt den alten Familienvolvo direkt neben einem grün funkelnden Jaguar XJ. Sie  wird erwartet, in der Tür steht ein untersetzter Mann mit Kugelbauch und schütterem Haar. Auch kein Weihnachtsmann, konstatiert Frida mechanisch. „Frau Rosenzweig, schön, dass Sie da sind. Schreck“, sagt er mit öliger Stimme.

Die nächste Stunde vergeht wie im Traum. Das getäfelte Arbeitszimmer, die hohen Stühle. Das Video, in dem eine Frau wie ein Rabe im schwarzen Kleid mit funkelnden Knopfaugen sagt, dass sie Haus, Auto und Bankkonten ihrer Großnichte Frida vererben will. „Die einzige Bedingung, die du erfüllen musst“, krächzt ihre brüchige Stimme aus den Lautsprechern, „ist, zu beweisen, dass du nicht so verlogen bist wie der Rest meiner Familie.“ „Und wie?“ fragt Frida. „Ganz einfach“, erklärt der Notar, „Sie müssen vollkommen ehrlich sein. Und zwar alle.“ „Das sind wir doch immer“, strahlt Frida. Wenn’s weiter nichts ist. In Gedanken zieht sie schon in die prachtvolle Villa ein. Das Treppengeländer ist eine prima Skater-Rail für Finn, und im Garten könnte Annas Pony stehen. „Gehen wir?“ Dr. Schreck sieht sie auffordernd an. „Wir? Wohin?“ „Zu Ihnen nach Hause. Ihre Großtante hat mich mit der Überprüfung Ihrer Ehrlichkeit betraut“. 

Die Rückfahrt verläuft schweigsam. Bestimmt würde Dr. Schreck den Heiligen Abend lieber woanders verbringen. „Mein Gänsebraten ist vorzüglich“, flötet Frida und öffnet die Tür. Rauchschwaden vernebeln die Sicht, ein beißender Geruch nach verbranntem Fleisch straft ihre Behauptung Lügen. Mit einem Schrei stürzt Frida in die Küche. Sie hantiert immer noch hektisch mit Töpfen und Pfannen, als Jan und die Kinder nach Hause kommen. „Was ist denn hier passiert?“ Anna rümpft die Nase. „Das stinkt.“ „Kinder, riecht doch lecker.“ Jan will die Stimmung retten. Da sieht er den rundlichen Mann, der Frida ein spöttisches Lächeln zuwirft. „Das gilt noch nicht“, sagt sie hastig. „Erst muss ich alles erklären.“

Jan runzelt kritisch die Stirn. Aber die Kinder sind begeistert. „Zum Glück ist die dumme Gans angebrannt“, ruft Finn. „Jetzt gibt’s Spaghetti mit Tomatenketchup, ok?“ „Das fängt ja gut an“, wispert Frida ihrem Mann zu. „Das wir noch viel besser“, antwortet er.

Statt eines „Du wirst immer jünger, wie machst du das bloß?“ hilft Jan Oma Anita mit der Bemerkung aus dem Mantel: „Du hast ganz schön zugenommen!“ Und Finn brüllt: „Pelz ist Mord! Freiheit für alle Tiere jetzt sofort!“ Opa Bernd erlangt nach Fridas Erklärung zu diesem „etwas anderen“ Heiligabend als erster die Fassung wieder. „Wir können endlich aufhören mit dem Theater, Anita.“ Dann fragt er: „Frida, darf mein Mann dazukommen?“ Denn Bernd und Anita gehen schon lange getrennte Wege. Sie unterhält einen Swingerclub auf Malle, und er hat seine heimliche Liebe Adam geheiratet. „Glaubt bloß nicht, dass ihr den Sommerurlaub bei mir verbringen könnt“, warnt Anita vorsorglich. “Ihr seid viel zu spießig für meine Gäste.“ Frida wundert sich, warum Anita und Pepita sich nicht vertragen haben. Wo sie sich so ähnlich sind. Zwillinge eben.

Als David kommt, macht es ihr sogar richtig Spaß, ehrlich zu sein. „Du bist viel zu spät. Wie immer. Gut, so haben wir wenigstens ohne deine Anzüglichkeiten essen können“, wirft sie ihm an den Kopf. Und setzt noch eins drauf: „Wir haben kein Geschenk für dich. Du bringst ja auch nie was mit.“ „Stimmt nicht“, antwortet David, zieht ein zerknülltes Päckchen aus der Manteltasche und beweist seine Anpassungsfähigkeit an die besonderen Umstände mit der Bemerkung: „Beim Ausmisten habe ich deine alten Topflappen gefunden, die musst du bei mir vergessen haben, als du zu Jan gezogen bist. Hier – stehen dir ganz wunderbar“.

Da stößt Finn einen Wutschrei aus. Anna und er haben ihre Geschenke ausgepackt. Der Junge hält einen Chemiebaukasten in die Höhe. „Papa. Was soll das? Wo ist mein neues Skateboard?“ „Kannst du mir mal sagen, warum dieses Kind sich für nichts von alledem interessiert, was mir als Kind Spaß gemach hat?“, fragt Jan leise seine Frau. „Das liegt vielleicht daran, dass er gar nicht dein Sohn ist, sondern der deines Bruders“, flüstert Frida zurück. Was für ein Albtraum, denkt sie. Und: hätte ich bloß diesen Brief nie bekommen!

Der Rest des Abends versinkt im Chaos. Bernd hat sich von Adam abholen lassen. David haben die beiden gleich mitgenommen, mitsamt dem Veilchen, das ihm Jan verpasst hat. Anita sitzt mit Dr. Schreck auf der Terrasse und raucht einen Joint. „Das habe ich mir auf Malle angewöhnt. Hilft super gegen Arthrose“. Jan hat die Kinder ins Bett gebracht. Jetzt steht er im Schlafzimmer und packt seinen Koffer. „Mensch Jan, bitte. Es tut mir so leid. Das war einfach alles zu viel für mich“, sagt Frida und macht eine ausladende Armbewegung. „Alles“ meint dieses Leben. „Wollen wir es nicht noch mal versuchen? In Tante Pepitas Haus? Ohne Sorgen?“ „Und wie bringen wir Dr. Schreck dazu, in uns eine ehrliche Familie zu sehen?“, fragt ihr Mann. „Hm, wir geben ihm einfach so viel zu trinken, dass er sich morgen an nichts mehr erinnert!“

Am 25. sitzen alle beim Frühstück. Frida und Jan, Finn, Anna und Oma Anita, als Dr. Schreck die Treppe hinunter kommt. Sein Aussehen macht seinem Namen alle Ehre. „Guten Morgen“, ruft Frida gut gelaunt. „Schauen Sie, die perfekte ehrliche Familie!“ „Von wegen“, sagt Schreck. „Sie sind verlogen! Sie haben mich gestern betrunken gemacht, damit ich mich an nichts erinnere. Aber hier, ich habe alles aufgenommen“, und er zeigt auf sein Handy. Da klingelt es an der Tür. „Das ist mein Taxi. Auf Nimmerwiedersehen, Familie Kahler-Rosenzweig,“ „Halt, Sie können uns doch nicht so einfach sitzen lassen, nach allem, was wir wegen Ihnen durchgemacht haben“, ruft Frida verzweifelt und versucht, ihn festzuhalten. Es klingelt ein zweites Mal. „Lassen Sie mich los“, faucht Dr. Schreck. Aber Frida ist mit ihren Nerven völlig am Ende. Soll Dr. Schreck ihrenTraum von einer rosigen Zukunft zum Platzen bringen? Sie greift nach dem schweren Klöppel, der am Eingang neben dem alten Gong hängt. Und schlägt zu.

Als es zum dritten Mal klingelt, fährt Frida zusammen. Ist sie doch glatt am Küchentisch eingenickt! Es riecht nach verbranntem Braten, und durch dicke Rauschschwaden fällt ihr Blick auf die rote Uhr. So spät! Sie rennt zur Tür. „Schatz, wir haben die Zeit vergessen, nicht böse sein!“ Jan legt ihr mit beschwichtigender Mine den Arm und die Schultern. „Macht nichts!“ Frida strahlt ihre Familie an. „Ich bin auch noch nicht fertig. Hatte wichtigeres zu tun. Was haltet ihr davon, wenn wir Heiligabend heute mal anders feiern? Nicht perfekt, aber dafür so, dass alle Spaß haben?“ „Au ja“, ruft Anna. „Können wir statt dem Gänsebraten Spaghetti essen?“ Und Finn ergänzt hoffnungsvoll: „Mit Tomatenketchup?“

MiniKrimi Adventskalender am 21. Dezember


Diesen MiniKrimi hat die wunderbare Birgit Schiche geschrieben – Ihr erinnert euch sicher an sie, sie hat schon letztes Jahr den Kalender mit ihren bezaubernden, amüsanten und tiefgründigen Geschichten bereichert. Ihr könnt sie direkt besuchen auf www.planb-schiche.de.

Viel Spaß mit ihrem MiniKrimi.

Advent des Schreckens

Diana wohnte noch nicht lange in der kleinen Reihenhaussiedlung. Sie war hierhergezogen, nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte. Sie hatten sich immer mehr auseinandergelebt, nicht mehr am Leben des jeweils anderen teilgenommen, sich gestritten und angeschrien – bis ihr Mann schließlich sogar gewalttätig wurde. Die Scheidung war sehr unschön gewesen, Ralf hatte sie partout nicht gehen lassen wollen. Diana war seitdem ängstlich und sehnte sich nach Ruhe und einem Neuanfang. Hier, in der kleinen Stadt, wo sie niemand kannte, wollte sie sich ein neues, unbeschwertes Leben aufbauen. Ihre Nachbarn hatte sie bisher nur flüchtig kennengelernt, man grüßte sich freundlich. Doch jetzt in der Adventszeit hatten offenbar alle zu viel zu tun, gingen zu Familientreffen, besorgten Geschenke, erledigten bei der Arbeit schnell noch die letzten wichtigen Aufgaben zum Jahresabschluss. Da blieb keine Zeit für nachbarschaftliche Treffen.

Diana war allein, ohne Angehörige und in der neuen Stadt auch noch ohne Freunde. Auf weihnachtlichen Schmuck hatte sie weitgehend verzichtet, ihr war gerade nicht nach besinnlicher Stimmung zumute. Die sonst so geliebten Lichterketten und Christbaumkugeln blieben im Umzugskarton, in ihrer Wohnung war es eher dunkel und trist, ebenso draußen auf der Terrasse und im Garten. Sie fand es gruselig, aus dem Fenster nur in tiefe Dunkelheit zu starren. Die Treppen im schon etwas betagten Reihenhaus knarrten hin und wieder einfach so, als hätte das Haus ein eigenes Leben, es war unheimlich. Manchmal schien es ihr auch, als raschelte etwas in den Wänden. Am liebsten verzog sich Diana abends schnell ins Schlafzimmer und ins Bett. Dort fühlte sie sich sicher.

Zum wiederholten Mal bemerkte sie, dass Kleinigkeiten von ihrer Terrasse verschwunden waren. Einer von ihren Garten-Clogs aus Plastik, nacheinander beide Gartenhandschuhe. Sie hatte die Dinge zuletzt gebraucht, als sie ihre Beete am Rande der Terrasse mit Tannenzweigen abgedeckt und so winterfest gemacht hatte. Ihre Mütze, die sie auf der kleinen Terrassenbank vergessen hatte, war ebenfalls verschwunden. An der Vorderseite des Hauses fehlte plötzlich der kleine Weihnachtsmann, den sie vorne als einzigen Adventsschmuck in das Mini-Bäumchen im Blumenkübel gehängt hatte. Und dann diese unheimlichen Geräusche, als würde jemand heimlich in der Dunkelheit durch den Garten schleichen. Leider lag kein Schnee, sonst hätte sie nach Fußspuren gucken können. So malte sie sich in ihrer Fantasie einiges aus und wurde langsam immer panischer. Als eines Abends das Telefon klingelte und gleich, nachdem sie sich gemeldet hatte, wieder aufgelegt wurde, überschlugen sich ihre Gedanken.

Wer machte denn sowas? Die gestohlenen Dinge hatten doch keinen materiellen Wert, höchstens einen persönlichen. Und dann dieser Anruf gerade. Langsam wuchs der Verdacht in ihr: Sie hatte einen Stalker. Ob ihr Ex-Mann ihre neue Adresse herausbekommen hatte? Sie erneut bedrängen und ihr drohen wollte? Oder hatte er einen seiner unsympathischen Kumpel dafür angeheuert? Diana fröstelte. Angst stieg in ihr auf und ließ sie nicht mehr los. Tag für Tag kreisten ihre Gedanken um die neue Bedrohung, jeden Tag neue Horrorfantasien, das war ihr ganz persönlicher Adventskalender. Inzwischen war der vierte Advent bereits vergangen.

Diana war allein mit ihren angsterfüllten Gedanken und inzwischen ein schreckhaftes Nervenbündel. Es war erneut etwas verschwunden – die kleine Kunststoffschaufel, mit der sie jeden Tag Vogelfutter aus dem großen Eimer ins Vogelhäuschen an der Terrasse füllte. Wer stahl so eine billige kleine Schaufel? Doch nur jemand, der sie nervös machen wollte. Ihr sagen wollte: „Ich bin hier, fühle dich ja nicht zu sicher!“

Inzwischen hatte sie sich billige dunkle Vorhänge fürs Wohnzimmer gekauft. Sie fand sie absolut nicht schön, konnte sich aber abends dahinter verstecken und die Welt vor dem Wohnzimmerfenster und der Terrassentür ausschließen. Doch die Geräusche, leises Rascheln wie von Schritten im Garten, drangen dennoch zu ihr durch und ließen sie aufschrecken. Der eisige Wind, der abends ums Haus blies und an den Baumkronen rüttelte, machte es noch unheimlicher.

„Advent, das lateinische Wort für Ankunft“, dachte sie. Ob Ralf ein perfides Spiel damit trieb? Das würde zu ihm passen. Sie schauderte und bemerkte, dass ihre Hände ständig ein wenig zitterten.

An den letzten Tagen vor Weihnachten wollte es gar nicht richtig hell werden. Morgens war es noch stockdunkel, wenn Diana nach der abonnierten Tageszeitung schaute. Als dem Nachbarn nebenan der Schlüssel klirrend aus der Hand fiel, schrie Diana leise vor Schreck auf. Der Nachbar, ein Mann in den Fünfzigern, immer noch ganz gutaussehend, sah besorgt zu ihr rüber und machte einen Schritt auf sie zu.

„Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“

„Ja, ja“, winkte sie ab und verschwand schnell wieder im Haus.

Am Abend sah sie den Nachbarn nach Hause kommen, bepackt mit mehreren Einkaufstaschen und einer großen Packung Katzenstreu. Eine Katze hatte sie hier noch gar nicht gesehen. Eigentlich mochte sie Tiere. Damit hatte der Nachbar zumindest einen Pluspunkt bei ihr.

Am nächsten Morgen passte sie ihn ab, als er das Haus verlassen wollte. Natürlich ließ sie es möglichst zufällig aussehen. Sie entschuldigte sich für ihren ängstlichen Schrei vom Vortag und stellte sich als neue Nachbarin vor. Er hieß Martin und wohnte auch erst seit einem knappen Jahr hier.

Sie verabredeten sich zum Abend auf ein Glas Wein. Es tat Diana gut, endlich mal nicht allein zu sein und von ihren ängstlichen Gedanken an Ralf und den Stalker abgelenkt zu werden.

Martin erzählte gerade, dass er eigentlich gar kein Haustier haben wollte. Doch der pechschwarze, etwa acht Jahre alte Kater gehörte quasi zum Haus.

„Katzen sind sehr territorial, sie verlassen manchmal lieber ihre Menschen als ihre gewohnte Umgebung. So bin ich nun Katzenbesitzer geworden“, meinte er leise lachend. „Und das Lustigste ist dabei“, sagte er und legte eine spannungsfördernde Kunstpause ein, „dass Baghira mir ständig Geschenke nach Hause bringt und auf die Fußmatte legt. Nicht etwa erjagte Mäuse, die hier in den alten Häusern durchaus vorhanden sind – man kann sie manchmal in den Wänden rascheln hören. Nein, dieser dusselige Kater schleppt mir ständig Sachen an, die er irgendwo findet oder klaut. Schuhe, Gartenhandschuhe, Kinderspielsachen, Tücher, kleine Schäufelchen, letztens sogar einen kleinen Plüschweihnachtsmann!“, zählte er nun laut lachend auf. Für einen Moment war Diana wie versteinert, doch dann brach es auch aus ihr heraus, ein fröhliches, ungebremstes Lachen über Baghira, den samtpfötigen Stalker und Dieb, und über Mäuse, die in den Wänden und im Garten raschelten.

Sie hatte einen Freund gefunden. Nein, eigentlich zwei: Martin und Baghira. Diana war angekommen in ihrem neuen Leben, und Weihnachten konnte ein unbeschwertes Fest werden. Hallelujah.

MiniKrimi Adventskalender am 20. Dezember


Heute: der MIniKrimi im Doppelpack. Denn ich kann mich nicht entscheiden. Also überlasse ich euch die Wahl. Welcher ist besser? Unter allen Antworten verlose ich ein Exemplar meines winterlichen Fünf-Seenland-Krimis „Miniataurus“, passend zur Jahreszeit.

  1. Saitenwechsel

Er kam unerwartet früher als geplant von der Dienstreise zurück und wurde von schrillen Dissonanzen empfangen. Seine Frau Gina hatte offensichtlich ein neues Hobby: sie übte Violine. „Diese Seite von dir kannte ich noch gar nicht,“ sagte er und ergriff  – bildlich gesprochen und wörtlich genommen – die einmalige Gelegenheit, eine andere Saite seines Lebens aufzuziehen, nachdem er die alte G-Saite runtergedreht, ausgefädelt, die neue Saite eingefädelt und einmal fest über das Ende ihres Halses gewickelt hatte.

2. Gestreift

„Wie süß, Schnucki, dass du mich doch noch mitgenommen hast, in deinen Skiurlaub. Eine Woche ohne dich, das hätte ich nicht ausgehalten. Ich will dich doch jede Sekunde bei mir haben.“

„Klar, mein Zuckerstückchen. Eine Woche Kitzbühel nur mit meinen Freunden – das wäre ja nicht zum Aushalten gewesen.“

Sie kichert. Und fragt: „Schnucki, hier steht Streif. Ist das auch ganz sicher eine Anfängerpiste?“

„Ganz sicher, mein Häschen. Da kommst du ohne zu schieben gar nicht voran. Deshalb habe ich deine Skier heute morgen extra nochmal gewachst. Und jetzt ab mit dir.“

„Ahhhhhhhhh!“

MiniKrimi Adventskalender am 19. Dezember


In der Kürze liegt die Würze. Oder Mut zur Lücke? Vielleicht möchte ich aber auch nur einmal einen MiniKrimi OHNE Tippfehler veröffentlichen?

Alles und nichts von alledem. Heute Morgen las ich auf einer FB-Gruppe (für Krimi Autor*innen), deren Mitglied ich bin, folgende Tagesaufgabe: Minikrimi mit Handycap: max 30 Worte und keines darf 2x vorkommen.

Gesagt, getan. Ja, ich kann auch kurz und kürzer. Und Ihr freut Euch vielleicht, dass Ihr heute nicht so lange auf das Krimi Türchen warten müsst und schneller ins Bett kommt. Oder zu den noch nicht erledigten Vorweihnachtsaufgaben.

Et voilà. Der Titel wird übrigens nicht mitgezählt. Ebensowenig wie die Anführungszeichen.

Date à la carte

„Schatzi, wir ham nur noch eine Keule inner Truhe. Du musst wieder in die Dating App. Such diesmal aber bitte was mit mehr Fleisch auf den Rippen aus.“

MIniKrimi Adventskalender am 18. Dezember


Schneekönigin

Draußen fallen weiße Flocken dicht an dicht. Der Wind treibt sie gegen das Fenster, sie gleiten am Glas herunter, kleine weiße Kometen mit einem Schweif aus glitzernden Wasserkristallen. „Josh, komm weg vom Fenster, da ist es so zugig, du erkältest dich noch.“ „Mama“, antwortet der Junge, „nein, vielleicht kommt jetzt gerade in diesem allereinzigen Moment die Schneekönigin zu mir geflogen. Wenn ich sie dann nicht sehe, nur, weil unsere Fenster undicht sind, dann….“ „Was dann, Josh? Du weißt schon, dass die Schneekönigin nur in der Fantasie von Hans Christian Andersen existiert hat? Und in den Filmen, die daraus entstanden sind?“ „Nein, Mama, das stimmt nicht. Andersen hat sie vielleicht ENTDECKT. Und die Filme haben seine Geschichte wiederholt. Aber das ändert nullkommanix daran, dass es sie gibt. Beweis: die Schneeflocken.“

„Komm her, Kind“, die Mutter zieht den Kopf des Jungen zu sich und nimmt ihren Sohn kurz und fest in den Arm, bevor er ihr die Zusammensetzung eines Schneekristalls erklären kann. Da ist es wieder, das leise Nagen, das sich vom Kopf über das Herz in ihren Magen windet. Josh ist leicht autistisch und außerdem hochbegabt. Mit all den Problemen, die das mit sich zieht. Wenn er in eine besondere Schule gehen, intensive Förderung und Motivation bekommen könnte. Vielleicht wäre er ein Computer-Genie, oder ein Weltklasse-Pianist. Sportler. Was auch immer. Aber sie kann ihm das alles nicht bieten. Die psychologische Betreuung, die die Schule organisiert hat, hat ihm bis jetzt nicht sichtbar geholfen. Josh ist ein aufsäßiger Außenseiter, der immer mehr in seine Traumwelt abgleitet.

Irgendwann, denkt die Mutter manchmal, wache ich auf, schaue in die Nacht und erkenne meinen Sohn draußen im Universum. Major Tom. Ohne Weg zurück.

Sie ist alleinerziehend. Vor der Pandemie hatte sie eine kleine Musikschule für Kinder und Erwachsene. Das ließ sich online nicht durchziehen. Jetzt arbeitet sie als Aushilfe in einem Café und in einem Supermarkt. Das Geld reicht trotzdem kaum für Miete, Essen und das Allernötigste für Josh. Extras, Schulen, Kurse, eine Reise – nicht drin.

An Abenden wie diesem ist sie der Verzweiflung besonders nahe. Weihnachten steht vor der Tür. Wie gerne würde sie ihrem Sohn all seine Wünsche erfüllen. Nicht, dass er ihr auch nur einen verraten hätte. Aber sie würde ihm so gerne einen rundum glücklichen Weihnachtsabend schenken. Mit einem schönen großen Baum, einem festlich gedeckten Tisch, etwas Besonderem zu essen. Scampi, vielleicht. Von denen hatte er noch lange nach der Sommerwoche mit seiner Patentante in Kroatien geschwärmt. Stattdessen muss sie am 24. bis Ultimo arbeiten. Wenn nicht, wird eben eine andere eingestellt. An Interessentinnen mangelt es nicht. Das hat die Chefin ihr unverblümt gesagt. „Und kommen Sie mir nicht mit der Gewerkschaft. Sonst sind sie gleich draußen.“

„Ach, Josh“, seufzt sie, geht in den kleinen Flur, holt ihren dicken Schal und legt ihn dem Jungen um die Schultern. Der ist so auf das Schneegestöber draußen konzentriert, dass er davon gar nichts mitbekommt.

Am nächsten Tag ist im Supermarkt der Magen-Darm-Virus ausgebrochen. Die Hälfte der Mitarbeitenden hat sich krank gemeldet. Die Mutter schickt Josh eine Nachricht aufs Handy: Schatz, ich kann heute nicht vor 21 Uhr heimkommen. Kriegst du das hin, alleine? Sonst klingele bei Piet.“ Sekunden später antwortet der Sohn: „Mama, echt jetzt? Ich bin doch gerne allein. Nein, Piet ist immer so anstrengend. Soll ich dir was zu Essen machen?“ „So lieb von dir, aber nein. Danke! Ich bring uns was Abgelaufenes mit, was Leckeres, versprochen!“ Sie zerdrückt eine Träne und hastet wieder an die Kasse.

Josh holt seinen Teller aus dem Kühlschrank, stellt ihn in die Mikrowelle, 5 MInuten. Er deckt den Tisch mit Serviette und Glas. Setzt sich und isst langsam und bedächtig. So wie jeden Tag. Danach macht er seine Hausaufgaben. Er ist leicht irritiert, weil er heute fünf Muniten länger braucht als sonst. Er ist abgelenkt. Denn draußen hat es wieder zu schneien begonnen.

Bald ist der kürzeste Tag des Jahres. Um vier fällt die Dämmerung über Häuser und Straßen. Josh schaut dem Schneeflockentanz eine Weile vom Fenster aus zu. Da fegt ihm der Wind eine besonders große Flocke entgegen. Er schließt die Augen, sie ist so nah, er meint, sie zu spüren. Die Scheekönigin, denkt er.

In Windeseile zieht er Jacke, Mütze, Handschuhe an und rennt aus der Wohnung. Als die Tür ins Schloss fällt, merkt er, dass er seinen Schlüssel auf der Kommode vergessen hat. Egal. Er rennt die Treppen hinunter, 5 Stockwerke, reißt die Haustür auf und blickt sich suchend um. Menschen hasten mit hochgezogenen Krägen durch das Schneegestöber, viele balancieren Tüten und Pakete in den Händen. Autos stecken fest, hupen. Josch schaut nach links. Nach rechts. Wo ist sie nur?

„Auf wen wartest du denn?“, fragt eine brüchige Stimme. Sie gehört zu einem Wesen in einem langen dunkelblauen Mantel, der über und über mit Sternen übersäht ist. Die Beine stecken in pelzbesetzten schwarzen Stiefeln, die Hände in einem plüschigen hellblauen Muff. Auf dem Kopf trägt es eine riesige hellblaue Fellmütze, unter der dichte weiße Locken hervorschauen. Es ist sehr blass, mit blauen Augen und riesig langen Wimpern. „Hallo, du bist also die Schneekönigin. Gut., dass du kommst. Ich habe schon auf dich gewartet.“

Das Wesen zuckt zusammen. „Psst! Ich bin inkognito. Weißt du, was das heißt?“ „Klar. Ich verrate dich nicht. Wohin bringst du mich?“

„Hm, mal sehen.“ Das Wesen nimmt Joshs Hand und geht einfach die Straße hinunter. „Was ist mit deiner Mutter? Deinem Vater?“ „Meine Mutter kommt heute erst spät von der Arbeit. Aber ich habe ihr ja schon gestern gesagt, dass ich auf dich warte.“

„Ok. Gut. Pass auf: wir gehen zum Hafen. Bist du schon mal mit einem Schiff gefahren?“ „Ich dachte, du hast deinen Schlitten dabei.“ „Blödsinn. WIe könnte ich denn mit dem Schlitten durch diesen Verkehr kommen? Nein, heute fahre ich lieber mit dem Schiff. Pass auf, wir nehmen ein richtig großes, eines mit Autos im Bauch.“ „Du meinst eine Fähre? Komisch, das hätte ich nicht von dir gedacht.“

„Tja, man lernt eben nie aus. Märchen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.“

Die nächsten Stunden erlebt Josh wie einen Traum. Einen zuckersüßen voll gebrannter Mandeln, Kinderpunsch und Makronen. Auf der Fähre ist ein richtiger Weihnachtsmarkt aufgebaut, mit einem richtigen Karussell, und die Schneekönigin kauft ihm, was immer er will. Sogar einen silbernen Luftballon. „Fliegen wir mit dem in dein Schloss?“ „Hm, mal sehen.“ Also fliegen sie erst mal mit dem Karussell, Runde um Runde. Ist das toll!

Die Schneekönigin scheint nicht so durchgeplant zu sein wie Josh. „Mal sehen“ ist einer ihrer Lieblingssätze. Das Meer ist ruhig, die Bewegung der Fähre monoton. Viele Leute lächeln über Josh und die Schneekönigin. „Wie lieb sich die Oma um den Kleinen kümmert,“ sagen sie. Josh grinst die Schneekönigin an und legt den Finger auf die Lippen. Von ihm erfahren sie nichts. Sie essen einen Riesen Berg Pommes, trinken noch mal Punsch, und dann spielen sie Flipper. „Das habe ich mit meiner Mama alles noch nie gemacht“, stellt Josh fest. Und hat ein kleines Bisschen Sehnsucht. Inzwischen ist sie bestimmt zu Hause und wundert sich, wo ihr Sohn ist. Vor allem, weil er ohne Handy und Schlüssel weggegangen ist.

„Du, ich muss meine Mama anrufen.“ „Später. Hier auf See geht das nicht. Wir machen das gleich, wenn wir an Land gehen. Also bevor wir in meinen Rentierschlitten steigen.“

„Ok“, sagt der Junge und merkt, dass ihm die Augen zufallen.

Am nächsten Morgen entdecken Reinigungskäfte im Hafen von Trelleborg in Südschweden ein schlafendes Kind in einer Nische der Fähre, mit einem zusammengefallenen silbernen Luftballon fest in der kleinen Faust. Die Polizei bringt ihn ins nächste Krankenhaus, aber auf dem Weg dorthin wird Josh schon wach. „Wo? Was? Wer? Wo ist die Schneekönigin?“ Es dauert nicht lange, bis die Mutter des Kindes in Travemünde ausfindig gemacht wird. Sie ist natürlich halbtot vor Sorge und verspricht, sofort nach Trelleborg zu kommen. Die deutsche Polizei begleitet die Frau.

Noch im Krankenhaus erzählt Josh seine Geschichte. Aber niemand glaubt ihm. Die Schneekönigin, also wirklich!

Erst viel später gelingt es den Beamten in Deutschland und Schweden, Licht in die „Andersen-Entführung“, wie die Medien Joshs Abenteuer betiteln, zu bringen.

Ein Räuber erbeutete in Hamburg 500 Tausend Euro in kleinen Scheinen. Auf der Flucht brach er in den Wohnwagen eines Kindertheaters ein, das auf einem der Weihnachtsmärkte die Schneekönigin aufführte. So verkleidet gelangte er unerkannt nach Travemünde. Als Josh ihn ansprach, wurde ihm klar, dass dieses Kind die allerbeste Tarnung für die Überfahrt nach Schweden war. In dem Punsch war ein mildes Beruhigungsmittel, das Josh lediglich einen tiefen Schlaf beschert hatte.

Die ganze Zeit in Trelleborg hatte Josh sich geweigert, den Luftballon losszulassen. Das war doch sein Ticket zur Schneekönigin! Zuhause angekommen, verkroch er sich in sein Zimmer. Erst am übernächsten Tag kam er heraus, umarmte seine Mutter und flüsterte: „Ich weiß, du glaubst mir nicht und bist mir böse. Und vielleicht war das wirklich eine andere Schneekönigin. Aber sie war nett. Schau mal, was sie mir in den Luftballon geklebt hat.“

Er hält der Mutter mehrere 500 Euro Scheine hin.

Was denkt Ihr, geben die beiden die Scheine ab?

MiniKrimi Adventskalender am 16. Dezember


Nach einem tollen „Not only Christmas“ Jazzkonzert mit dem zaberhaften Damen-Quartett Jeann d’Azz bleibt, um den heutigen MiniKrimi zu veröffentlichen, nur noch Zeit für den Griff in die Vergangenheit. Aber ich hoffe, dabei kommen auch meine hessischen Leser*innen auf ihre Kosten. Womit wir schon beim Thema wären:

Todeshappen

Alf trug sein Moleskin immer griffbereit entweder in der Jackentasche oder, falls er auf Reisen war, im Rollkoffer bei sich. Denn die besten Einfälle kommen unbemerkt und schleichen sie auf leisen Sohlen schnell wieder davon, wie professionelle Einbrecher, davon war er überzeugt. Eigentlich hatte er nur seinem Ärger über den Service und das kalte Essen Luft machen wollen. Vielleicht – oder vor allem – auch seinem Frust über das verpatzte Wiedersehen mit Carla unmittelbar vor diesem schicksalhaften Restaurantbesuch. Wie auch immer: aus den Notizen, die er zwischen versalzenen Horsd’oeuvres und dem, von einer schlecht gelaunten und noch schlechter ausgebildeten Bedienung auf den Tisch geknallten, lauwarmen Hauptgang auf eine Moleskin-Seite gekritzelt hatte, wurde ein Beststeller. Sein ganz großer Wurf. Ein Gourmet-Krimi, der Alf von den untersten Regalen billiger Bahnhofs-Büchermarktketten in die Primezone renommierter Buchläden katapultierte.

Alf signierte, Alf las, Alf dinierte – auf Kosten von Verlegern und Restaurateuren, die sich im Schatten seines Romans etwas Ruhm erhofften. „Alf P. hat bei uns gespeist, es hat ihm vortrefflich gemundet, sein Moleskin lag die ganze Zeit geschlossen neben seinem Teller.“ Nachdem auch die dritte Auflage von „Mord aus kulinarischen Motiven“ vergriffen war, arbeitete Alf an einer Fortsetzung mit dem Arbeitstitel „Rache ist Blutwurst“. Dafür schlug er sich durch die Imbissbuden der Nation. Warum, das wusste er selbst nicht so genau. Vielleicht war er die vielen Sternemenüs leid, die er, wenn auch kostenfrei, hatte verdauen müssen. Vielleicht hoffte er aber auch, bei seinen Streifzügen durch die Stehgastronomie Carla wieder zu treffen, die als Kommissarin sicher an irgendeinem dieser Stände irgendwo in Deutschland ihre mittägliche Currywurst verzehrte – denn diese Essgewohnheit hatte Alf aus den unzähligen Krimiserien im deutschen Fernsehen verinnerlicht.

Und so stand er nun an einem regnerischen Wintertag am Mainkai unter einem triefenden Sonnenschirm mit „Binding-Bier“-Werbung, starrte auf die Frankfurter „Mainhatten-Skyline“ und sinnierte darüber, wie er seinen Buchtitel mit der Standard-Speisekarte einer Imbissbude in Einklang bringen konnte. Denn leider hatte er bislang keine gefunden, die außer Curry- und Rot-, Thüringer und grober, ja sogar Veggie Bratwurst auch Blutwurst im Angebot hatte.

Zu blöd, dachte Alf. Zückte sein Moleskin und schickte sich an, die Imbissbude am Mainkai in bösen Stichworten zu verewigen. Matschige Pommes, ein Haar im Curryketchup. Dass es sein eigenes war, kümmert ihn wenig. „Alles gut, der Herr?“, säuselte die ölige Stimme des Budenbesitzers zu ihm herüber. „Wolle Se ’n Schnäppsche zum Runnerspüle?“

Alf dreht sich halb zu dem dreisten Mann um. Offenbar wusste der nicht, wen er da vor sich hatte. Oder doch? „Komme Se, Herr P.“, sagte der Mann doch jetzt und kam mit einem Schnapsglas in der Hand aus seinem Wagen zu Alf an den Stehtisch. „Den werde Se brauche, dann tut des net gar so weh, in Ihre letzte Minute“. Gerade als Alf anfangen wollte, sich zu fragen, was der Mann mit diesem kryptischen Satz wohl meinen könnte, traf die erste Schmerzwelle seinen Magen wie eine Attacke mit japanischen Küchenmessern.

Alf zuckte zusammen, krümmte sich und sackte schließlich am Tisch hinab in den schlammigen Boden. Regen fiel kühl auf seinen plötzlich glühend heißen Nacken. „Nur damit Se wisse, warum Se jetzt den Löffel abgebbe“, fuhr der Imbissbuden-Besitzer in freundlichem Plauderton fort. „Nach Ihrem Bestseller-Buch hat bei mir keiner mehr esse wolle. Nach em halbe Jahr war isch pleite. Die Imbissbude is alles, was isch noch hab, als Existenz. Und jetzt wolle Sie mir die aanoch wegnemme? Ebbe reischts.“

Das letzte, was Alf aus seinem Autorenleben mitnahm, war der Geschmack nach ranzigem, mit Blausäure vermischtem Fett im Gaumen.

MiniKrimi Adventskalender am 15. Dezember


Stein um Stein

Ich habe Pläne, große Pläne, ich baue dir ein Haus. Jeder Stein ist eine Träne, und du ziehst nie wieder aus

Der Bass dröhnt, die monotone Stimme von Till Lindemann prallt von den Kellerwänden ab wie ein Squashball. „Jeder Stein ist eine Träne“, murmelt er, schreit er, dann. „Träne, jawohl. Was bist du bloß für eine Träne!“ Er kauert sich auf den Boden, wirft die Hacke neben sich und schluchzt.

„Warum? Wir hatten doch so ne tolle Zeit zusammen. Und jetzt? Auf einmal?“

Er starrt auf die Kellerwand, sein Blick gleitet hinaus, in den Garten. Er auf einer Decke im Gras, sie neben ihm. Seine Hand in ihrem seidenweichen, langen Haar. „Ach Mensch, Cora!“ 

Er stemmt sich hoch, mit Mühe. Greift nach der Bierflasche. Leer. Aber der Wodka ist noch halb voll. Das wird reichen, bis er hier fertig ist. 

„Ja, ich bau ein Häuschen dir. Hat keine Fenster keine Tür. Innen wird es dunkel sein, dringt überhaupt kein Licht hinein“

Was hatten sie sich gefreut, über ihr kleines Häuschen. Endlich raus aus der engen Wohnung mit den ganzen Spießern. „Herr Wollke, gestern war es aber wieder viel zu laut, bei Ihnen. Man kann auch LEISE spielen, wenn Sie wissen, was ich meine. Und ein bisschen Erziehung hat noch niemandem geschadet.“ Ha, es hat sich augewollket. Wir haben jetzt ein ganzes Haus für uns. Da können wir Lärm machen, solange wir wollen. Und das hatten sie. Und wie! Cora war ganz außer Rand und Band und konnte es gar nicht fassen. Soviel Platz! Morgens vor dem Aufstehen hüpften sie manchmal wie wild auf dem Bett herum, vor lauter Freude.

„Ach Cora, ich hab dich doch geliebt. Das weißt du! Ich liebe dich immer noch. Aber du?“

Entschlossen holt er aus, hebt die Hacke und lässt sie auf die Kellerwand niedersausen. Ziegel splittern. Ein Ruck, noch einer, dann reißt er die ersten beiden Ziegel raus. Aber das Loch ist noch viel zu klein.

„Du weißt, ich hätte alles gegeben, um das zu verhindern, Cora. Aber du lässt mir ja keine Wahl. Weißt du noch, damals, als wir zusammen nach Jesolo gefahren sind, nur du und ich? Wie die rumgezickt haben, auf dem ersten Campingplatz. Nein, nein, so können Sie unmöglich zum Strand. Gut, dann eben nicht. Und dann haben wir einen gefunden, der fand uns beide ok. War das schön! Sich im Sand wälzen, bis die Haare komplett verklebt waren, und runter in die Wellen. Wer fängt den Ball zuerst? Und das Eis! Schkolade mochtest du am liebsten. Ach, Cora. Meine Cora.“

Wann hat sich alles verändert? Warum hat er nichts gemerkt? Er legt seine ganze Wut über sich selbst, seine Blindheit, in die Arbeit. Holt mit kraftvollen Stößen einen Ziegelstein nach dem anderen aus der Mauer. Wir. Hätten. Zusammen. Alt. Werden. Sollen!

Das ist der Vorteil von alten Häusern. Sie sind zwar eiskalt, aber die Mauern sind zwei Ziegelsteine dick. Haust du einen raus, hast du ne prima Lücke. Eine Höhle. Eine Kammer. Luftdicht. 

„Ja, ich schaffe dir ein Heim, und du sollst Teil des Ganzen sein

„Und dann dieser blöse Typ. Ich soll dich gehen lassen, hat er gesagt. Und dass du schon gar nicht mehr bei mir bist. Ich soll dich in meinem Herzen behalten, so, wie du warst, als wir zsuammen glücklich waren. Der spinnt doch. Nein, ich lass dich nicht gehen. Ich geb dich NIE mehr her!“

„Ohne Kleider, ohne Schuh, siehst du mir bei der Arbeit zu. Mit den Füßen im Zement verschönerst du das Fundament. Stein um Stein, ich werde immer bei dir sein“

Jetzt ist die Kammer groß genug. Er nimmt einen kräftigen Schluck aus der Wodkaflasche. Er muss sich Mut antrinken, bevor er sie anschaut. Anfasst! 

Cora, mein Liebling. Bitte, schau mich noch einmal an. Sei mir nicht böse. Ich kann nicht anders. Ich kann mich nicht von dir trennen. Ich MUSS immer bei dir sein. 

Welch ein Klopfen, welch ein Hämmern, draußen fängt es an zu dämmern“

Schließlich kniet er sich auf den steinigen Kellerboden. Streicht ihr noch einmal voll Zärtlichkeit über das lange schwarze Haar. Dann hebt er sie vom Boden auf, legt sie vorsichtig auf die Plastikplane und wickelt sie liebevoll darin ein, während die Tränen ihm übers Gesicht laufen. Da geht plötzlich ein Zittern durch ihren Körper. Ungläubig starrt er in die braunen Augen, die ihn, deutlich verwirrt, aber zunehmend klarer, anschauen.

Sein Handy klingelt. „Her Wollke, gut, dass ich sie erreiche. Ich habe die ganze Nacht recherchiert. Cora hat eine Art allergischen Schock erlitten – vermutlich haben Sie ihr zuviel Schokolade gegeben. Das dürfen Sie nie mehr tun. Aber gut, dass Sie nicht auf mich gehört und sie wieder mitgenommen haben. Also, was ich sagen will: es besteht die Chance, dass Ihr Hund wieder gesund wird.“

Er lässt das Handy auf den Boden fallen und schmiegt sein Gesicht an Coras Bauch. Sie liegt ganz still, aber ihre raue Zunge schleckt ihm sanft übers Gesicht. Sie wird wohl noch eine Weile bei ihm sein. Und wenn es dann soweit ist, wer weiß, vielleicht mauert er sie beide gemeinsam ein. 

Sorry, ich weiß, das Ende hat einen Bruch. Aber, ganz ehrlich: ich habe kein Problem damit, menschliche Protas auf die verschiedensten Weisen sterben zu lassen. Aber bei einem Hund kriege ich das nicht übers Herz. Verzeiht!

Ach ja, noch was – ich höre zuweilen gerne Rammstein.

MiniKrimi Adventskalender am 14. Dezember


Mosting oder Mord?

Ewa ist seit unglaublichen vier Jahren Single – aus Gründen, wie sie gerne kryptisch lächelnd erklärt, wenn Bekannte sie ungläubig anschauen. Denn Ewa sieht so aus, als könne sie sich vor Verehrern nicht retten. Da wird doch wohl einer dabei sei, mit dem sie es wagen könnte. Und wenn nicht – wartet der Nächste sicher schon auf seine Chance.

Aber nein – Ewa hat niemanden erhört und erwählt. Aus Gründen.

Warum meldet sie sich dann ausgerechnet jetzt bei einer Dating App an? Auch noch bei einer, bei der man nach rein optischen Kriterien „aus dem Bauch heraus“ – oder vielleicht doch etwas tiefer? – nach links oder rechts swiped? Wir kennen Ewas Antwort: aus Gründen.

Kaum hat sie ihr Profilbild hochgeladen, kommen auch schon die ersten Likes. Ewa hat nichts anderes erwartet, denn das Bild zeigt eine Frau mit langen blonden Haaren, gewinnendem Lächeln und großen, freundlichen Augen. Nicht aufgestylt, sondern natürlich. Klassisch. Genau so soll das ideale Profilbild aussehen.

Schon am ersten Abend hat Ewa einige Matches. Doch sie lässt sich Zeit. Drei, vier Männer verwirft sie nach den ersten Chats gleich wieder. Zu platt, zu offensichtlich, zu bedürftig.

Doch dann erhält sie eine Chatnachricht von Ben. Ben – sie schaut noch einmal nach – ja, richtig. Das war der dunkelharige Mittdreißiger (so steht es zumindest im Profil) mit den blauen Augen. Sie hat ihn geliked, weil sein Foto so authentisch ist. Er lehnt an einer Hauswand, im Hintergrund ein Ufer mit Segelbooten. Blaues T-Shirt, Jeansjacke, ganz leises Lächeln. Keiner, der auf den ersten Blick smashen will. Aber seine Chateinladung berührt sie: „Hallo Ewa, ich möchte dich kennenlernen. Das schreibt wahrscheinlich jeder, aber ich kann keine Originalität vortäuschen, wenn es um banale Fakten geht. Dein Bild gefällt mir, ich würde gerne mehr über dich erfahren, mehr von dir sehen. Wenn es dir mit mir genausp ginge, wäre das der erste Schritt auf meiner Himmelsleiter.“

Das ist keine Anmache. Das klingt nach echtem Interesse. Ewa spürt ein Kribbeln auf der Haut, so fremd, dass sie es beinahe nicht erkennt. Sie zögert kurz, dann gibt sie nach. Wirft alle Erinnerungen an frühere Verletzungen über Bord und springt kopfüber in den Strudel aus verliebtem Werben.

Mit jedem Chat kommen Ewa und Ben sich näher. Er schreibt ihr Dinge, die noch nie ein Mann zu ihr gesagt und ganz sicher auch nie über sie gedacht hat. Er versteht es, ihr Herz in seine Hände zu nehmen, sanft und behutsam. Er spürt ihre Zerbrechlichkeit und legt sich um ihre Angst wie Watte. „Ich bin deine Zuckerwatte“, flüstert er ins Telefon. Ich umgebe dich mit mir – komm doch und schmecke mich.“

„Ich. Habe. Angst.“ Jetzt hat sie es gesagt. Wird er verschwinden, wird er sie ghosten, weil ihm das verbale Vorspiel zu lange dauert? Nein. „Ich liebe dich mehr als mein Leben, Ewa. Ich warte auf dich bis ans Ende aller Tage. Bis wir beide alt und grau sind, meinetwegen. Es gibt nur dich für mich. Das weißt du.“

Und sie glaubt ihm. Ihre Angst wird brüchig, und sie zeigt es ihm.

Die erste Nacht bei ihm ist unbeschreiblich. Schön. Die zweite Nacht bei ihr womöglich noch viel schöner. „Wo stehst du jetzt auf deiner Himmelsleiter?“, flüstert sie an seinem Hals. „Die Leiter? Brauche ich nicht mehr. Ich bin auf Wolke sieben. Und dort bleiben wir für immer.“

Am nächsten Morgen liegt neben Ewa nur ein zerknittertes, liebesfeuchtes Seidenlaken. Kreditkarte und Bargeld sind verschwunden. Ebenso ihr goldenes Medaillon. „Das Abschiedgeschenk meiner Mutter, mein wertvollster Schmuck“, hat sie Ben vor ein paar Stunden noch erklärt.

Den ganzen Tag schaut sie auf die Dating-App. Keine Nachricht von Ben. Sein Profil ist gelöscht. Mosting soll noch viel schmerzhafter und grausamer als Ghosting. Weil dir jemand nicht nur Verliebtheit vorspielt, sondern die ganz große Liebe. Und weil, wenn er diesen Traum zerstört, deine Selbstachtung zerbricht.

Und wie geht es Ewa? Die Begründung für ihr konsequentes Singledasein, das war das unheilbare Geschenk ihres langjährigen Verlobten. Er hatte sie mit Lues angesteckt, und als die Krankheit bei ihr entdeckt wurde, hatte der Erreger bereits ihr zentrales Nervensystem befallen. Die Behandlung mit Antibiotika konnte den Verlauf nur noch abmildern und verzögern. Der Schock darüber nahm ihr jede Lust auf eine neue Beziehung. In der Ruhephase nach dem zweiten Krankheitstadium versuchte Ewa, ihr normales Leben wieder aufzunehmen. Doch mit dem dritten Stadium kam, mit der Müdigkeit, der Schwäche von Augen und Muskeln, die Wut. Eine kalte, harte Wut auf alle Männer. Ihren Verlobten konnte sie nicht mehr bestrafen. Er hatte sich vor drei Jahren während eines von der Neuro Syphilis ausgelösten depressiven Schubs erhängt.

Vielleicht leidet auch Ewa bereits unter Wahnvorstellungen? Jedenfalls sind für sie Männer allesamt potentielle Mörder – und müssen mitleidslos bestraft werden. Auf der Dating App suchte und fand sie schnell ihr erstes „Opfer“. Kühl und jeder Emotionen beraubt durschaute sie Bens Liebesschwüre. Und rächte sich an ihm. Medaillon, Kreditkarte – alles gefakted. Um ihn in Sicherheit zu wiegen.

Die Syphilis oder Lues ist bis zum dritten Krankheitsstadium hoch ansteckend. Allerdings verläuft die erste Phase nach der Infektion meist symptomlos oder unerkannt. Bis Ben merkt, welchen Preis er für sein Mosting gezahlt hat, wird vielleicht auch er dem sicheren Tod entgegen gehen.

In der Zwischenzeit verändert Ewa ihr Profil und beginnt wieder zu swipen.

MiniKrimi Adventskalender am 13. Dezember


Tödliches Weihnachtswichteln

In den letzten zwei Wochen vor Weihnachten wird der Begriff „stade Zeit“ vollends ad absurdum geführt. In den Büros wird versucht, alles, was man 11 Monate auf die lange Bank geschoben hat, noch vor dem Jahresende in trockene Tücher zu bringen. Das schreit nach Überstunden. Und, nach getaner Arbeit, nach einer kleinen Pause vorm Nachhausefahren. An Glühwein und Plätzchen mangelt es in den Teeküchen in der Vorweihnachtszeit nie. Und wenn es draußen dunkel ist und drinnen still, kann es zwischen Kolleginnen und Kollegen schon mal zu magischen Momenten kommen. Ihr wisst, was ich meine……

Zum Glück ist Weihnachten schnell wieder vorbei. Das Neue Jahr beginnt wie ein unbeschriebenes Blatt, und über die letzten Ereignissen im Dezember wird der Mantel des Schweigens gelegt, bevor sie spätestens im Frühjahr dem Vergessen anheim fallen.

Und dann ist es auch schon wieder soweit. Weihnachten steht vor der Tür. Aber diesmal haben sich Vera und ihre Freundinnen vorgenommen, sich durch nichts und niemandem von ihrem Adventswichteln abhalten zu lassen. Ladies only, nur die Fantastischen Vier, Vera, Sara, Marlene und Bine.

Sie treffen sich im Spieglwirt, einer alten Traditionsgaststätte im neuen Gewand. Gemütliches Holz an den Wänden, die Tische blankpoliert, warme Bänke und dezente Tannengirlanden. Bayerisches Understatement, halt. Vera hat daheim schon vorgeglüht, in Vorfreude auf den Mädelsabend. Mit einer Flasche Prosecco in der Hand hat sie nach einem passenden Wichtelgeschenk gekramt. Etwas, das sie selbst einmal geschenkt bekommen hat, aber weder braucht noch benutzt. Natürlich darf es niemand von den Beteiligten selbst geschenkt haben. Nicht ihr Geschmack, aber auf keinen Fall zu hässlich zum Verschenken. Die Regeln beim Wichteln sind da ganz eindeutig. Sonst wäre es Schrottwichteln. Aber aus dem Alter sind Vera & Co. längst draußen.

Mit Mitte Dreißig hat sich normalerweise ein beträchtlicher Haufen an unnützen Dingen angesammelt. Parfum? Ihre Schwiegermutter hat ihr jahrelang Cashmere gekauft, obwohl Vera ihren Mann immer wieder gebeten hat, der penetrant dickköpfigen Frau zu erklären, dass sie genau diesen Duft hasst wie die Pest. Aber da muss noch eine Flasche übrig sein. Wo ist sie nur? Vera hat sich daran erinnert, dass sie sie ihrem Mann demonstrativ in seinen Rasierschrank gestellt hat, nach dem letzten Weiihnachtsfest. Aber da ist sie nicht. Mehr.

Schließlich hat sie die Kerze eingepackt, die ihre Patentante ihr vom Jakobsweg mitgebracht hat. Sara hat im Moment eine tendenziell esoterische Phase – vielleicht zieht sie die Kerze, das würde super passen. Die Verpackung ist beim Wichteln das Allerwichtigste. Sie muss den Inhalt verschleiern und das Geschenk wertig aussehen lassen. Vor allem aber: keiner darf wissen, wer welches Wichtel gepackt hat!

Im kleinen Schwarzen, erste Augenfältchen sorgfältig kaschiert, und in bester Prosecco-Laune steigt Vera in ihren Uber. Weil sie so lange nach dem Parfum gesucht hat, sind die drei anderen schon da und beinahe mit dem ersten Aperol Spritz fertig.

Ihr Wiedersehen wird ausgiebig gefeiert, Klatsch und Tratsch, neue und alte Kamellen werden ausgetauscht. Sara hätte es vorgestern um ein Haar mit ihrem Chef auf seinem Schreibtisch getrieben, nach der Weihnachtsfeier im Büro. „Und warum nur beinahe?“, fragt Vera. „Ich hab aus Versehen das Foto mit seiner Frau und den Zwillingen umgeworfen, und das Glas ist zerbrochen. Wie der sich aufgeführt hat! Nee danke, das muss ich mir nicht mal als One night stand antun. Wahrscheinlich hätte er mich währenddessen sogar mit dem Namen seiner Frau angeredet.“

„Never fuck the company – der Schpruch stimmt, Mädels.“ Marlene nickt weise und versucht, an ihrem Glas zu nippen, trifft den Rand aber erst beim dritten Anlauf.

„Du als freie Architektin hast ja gar keine Gelegenheit dazu, dich bei ner Bürosause daneben zu benehmen“, stellt Vera fest. „Schtimmt“, antwortet Marlene. „Aber isch habe Kunden…“

„Mädels, wenn wir jetzt nicht wichteln, sind wir zu besoffen, um das Papier aufzukriegen.“ Bine war schon immer die Praktischste von allen. MIt großem Hallo werden die Geschenke auf den Tisch gestellt und nochmal kräftig durchgemischt. Dann greift jede nach einem der Päckchen. Sara erwischt tatsächlich die Kerze. Und freut sich. Bine bekommt eine mit Perlen und Strass besetzte Haarspange. Wenn sie ihre dünnen Locken mit einem Haarteil aufpeppt, könnte das sogar gut aussehen. Marlene macht große Augen, als sie einen Dildo auspackt. „Bine – ist der von dir? Hast du einen neuen Freund?“ Aber ihr entsetztes „Nein!“ geht in dem lauten Gelächter der anderen unter.

Keiner der Frauen fällt auf, dass Vera plötzlich still geworden ist. Nachdenklich hält sie ihr Wichtelgeschenk in der Hand. Eine Flasche Cashmere. „Wow,“ sagt sie. „Wer?“ „Hey, das wird nicht verraten. Aber isch sag’s trotzdem“, Marlene ist dermaßen beschwippst, dass sie alle Regeln vergisst. „Das hat mir meine Adventsparty-Affäre geschenkt, als wir uns letztes Jahr nach Weihnachten getroffen haben. Verspätet, aber von Herzen, hat er gesagt. Echt, Mädels, dasch war ein Fehler. Der war doch gar nischt mein Typ. Nie gewesen. Ey, bis der dasch kapiert hat! Ich will nix haben, was mich an den erinnert!“

„Ich bin müde. War nett mich euch, Mädels. Bis bald mal.“ Vara packt ihre Sachen zusammen, legt 100 Euro auf den Tisch und verlässt, etwas unsicher auf ihren Stilettos, das Lokal.

„Was ist denn mit der los?“, fragt Sara. Aber die anderen haben keine Erklärung. Also trinken sie noch einen allerletzten Spritz.

Zuhause muss Vera sich sehr konzentieren, um das Türschloss zu finden. „Schatz, bist du das?“ ruft Timo, ihr Mann, von oben runter. Statt zu antworten, zieht Vera ihre Schuhe aus und steigt, in einer Hand die Stilettos und in der anderen Hand ihr Wichtelgeschenk, die Treppe hinauf. Timo ist im Bad und prüft lächelnd seine weißen Zähne. Dieses Lächeln. Wölfisch, geradezu.

„Na, wir war’s?“, fragt er, ohne den Blick von seinem Spiegelbild abzuwenden.

„Aufschlussreich. Ich habe heute das Parfum gesucht, das mir deine Mutter letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat.“ „Und? Gefunden?“

„Ja. Per Zufall ist es heute zu mir zurückgekommen. Als Wichtel von meiner ehenmals besten Freudin, mit der du mich damals auf Eurer Adventsparty betrogen hast. Als Dankeschön für ihre tollen Entwürfe, vielleicht? Aber merk dir eines, mein Schatz, Lügen haben nicht nur kurze Beine, sie sind wie ein Boomerang, Sie kommen zurück, und dann treffen sie DICH.“

In Vera toben Wut und Scham, Verzweiflung, Ärger – und eine Menge Alkohol. Sie fühlt sich stark. Unbesiegbar. Und im Recht. Sie holt aus und schmettert ihrem Mann die Parfumflasche an die Schläfe.

Cashmere ist ein besonders schwerer Duft. In jeder Hinsicht.

MiniKrimi Adventskalender am 12. Dezember


Ein Mord, wie er im Buche steht

Er steht bereits eine ganze Weile vor dem öffentlichen Bücherschrank. Er wartet ohne das mindeste Zeichen von Ungeduld. Die Fußgängerampel an der Schleißheimer Straße wird rot und grün und wieder rot. Und grün. Er wippt auf den Ballen und macht einen Ausfallschritt in Richtung des riesigen Baustellenkraters, wo noch vor einem Jahr der Karstadt stand. Sic transit gloria mundi, denkt er, denn er hat einmal Latein gelernt. Bis zum Abitur. Und was hat ihm die Bldung gebracht? Sei nicht so ungerecht, weist er sich selbst zurecht. Ohne Bildung, Kultur und Bücherkenntnis könntest du diesen Job nicht machen. Und es ist keineswegs ein gewöhnlicher Job. Lukrativ ist er obendrein. Und er kostet ihn nicht einmal sonderlich viel Zeit. Nur Planung. Behutsamkeit. Umsicht. Und Konzentration.

Er entscheidet sich gegen den Wechsel der Straßenseite. Er schaut nach rechts, er schaut nach links. Der Platz ist menschenleer, keine Straßenbahn in Sicht, und auf seiner Fahrbahnseite stehen keine Autos an der Ampel. Er dreht sich abrupt um, schiebt die Glastür des öffentlichen Bücherschrankes auf und greift ganz gezielt nach einem Buch. Anna Karenina. Ein wahrhaft dicker Brocken. Wieder schaut er nach links und rechts, dann schreitet er gemessenen Schrittes davon, stadteinwärts die Elisabethstraße hinunter.

An der übernächsten Straßenecke öffnet er das Buch und entnimmt ihm einen dünnen Zettel mit einer aufgedruckten Adresse und dem Zusatz: Schlüssel unter der Restmülltonne. Warum immer die Restmülltonne? Dem nächsten Kunden wird er sagen, dass er die Papiertonne nehmen soll. Restmüll kostet in Zukunft 100 Euro extra.

Er geht ins Haus, öffnet die Tür und legt den Schlüssel gemäß der Anweisung auf das Sidebord im Eingang. „Johann, Johaaaannn, du warst aber lange weg, wo bleibt mein Kaffee? Soll ich den ewig warten?“, ruft eine schrill energische Stimme aus der Wohnungstiefe. Er antwortet nicht, das sei nicht nötig, hat sein Auftraggeber ihm erklärt.

Gleichgleichgleich kommt dein Kaffee, flüstert er. Und was für einer. Der ist einzigartig. Er geht in die Küche und macht sich an die Arbeit, misst ab, rührt, mixt. Dabei schaut er immer wieder in das Buch. Nur keinen Fehler machen, jetzt! „Fertig ist der caffé speciale nach Art des Hausherrn“, summt er vor sich hin und trägt die Tasse ins Wohnzimmer. „Das wurde aber auch Zeit“, schrillt die Stimme, und die Besitzerin greift nach dem Kaffee, ohne ihn, den Überbringer, auch nur anzuschauen. Auch das hatte ihm sein Auftraggeber vorab versichert.

Die übriggebliebenen Ingredientien steckt er in einen dünnen weißen Umschlag, auf den er vorab bereits ein Wort gedruckt hat: „erledigt.“ Auf ihn ist immer Verlass.

Am nächsten Tag steht er wieder eine ganze Weile vor dem Bücherschrank. Geduldig und ohne das geringste Anzeichen von Unruhe schaut sich um und vergewissert sich, dass ihm niemand gefolgt ist und ihn keiner beobachtet. Dann öffnet er die Glastür und stellt das Buch wieder hinein. An genau die Stelle, wo er es gestern rausgenommen hat. Er ist immerhin ein Profi. Auftragsbestätigung ist bei ihm Ehrensache.

Eigentlich müsste er der Stadt einen Dankesbrief schreiben. Anonym, aber trotzdem. Diese Bücherschränke sind die idealen Briefkästen. 100% anonym, versteht sich. Wie gut, dass die Stadtverwaltung fast in jedem Viertel einen aufgestellt hat.

Morgen geht’s nach Bogenhausen. Dort wartet Madame Bovary auf ihn.

%d Bloggern gefällt das: