MiniKrimi Adventskalender am 21. Dezember


Diesen MiniKrimi hat die wunderbare Birgit Schiche geschrieben – Ihr erinnert euch sicher an sie, sie hat schon letztes Jahr den Kalender mit ihren bezaubernden, amüsanten und tiefgründigen Geschichten bereichert. Ihr könnt sie direkt besuchen auf www.planb-schiche.de.

Viel Spaß mit ihrem MiniKrimi.

Advent des Schreckens

Diana wohnte noch nicht lange in der kleinen Reihenhaussiedlung. Sie war hierhergezogen, nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte. Sie hatten sich immer mehr auseinandergelebt, nicht mehr am Leben des jeweils anderen teilgenommen, sich gestritten und angeschrien – bis ihr Mann schließlich sogar gewalttätig wurde. Die Scheidung war sehr unschön gewesen, Ralf hatte sie partout nicht gehen lassen wollen. Diana war seitdem ängstlich und sehnte sich nach Ruhe und einem Neuanfang. Hier, in der kleinen Stadt, wo sie niemand kannte, wollte sie sich ein neues, unbeschwertes Leben aufbauen. Ihre Nachbarn hatte sie bisher nur flüchtig kennengelernt, man grüßte sich freundlich. Doch jetzt in der Adventszeit hatten offenbar alle zu viel zu tun, gingen zu Familientreffen, besorgten Geschenke, erledigten bei der Arbeit schnell noch die letzten wichtigen Aufgaben zum Jahresabschluss. Da blieb keine Zeit für nachbarschaftliche Treffen.

Diana war allein, ohne Angehörige und in der neuen Stadt auch noch ohne Freunde. Auf weihnachtlichen Schmuck hatte sie weitgehend verzichtet, ihr war gerade nicht nach besinnlicher Stimmung zumute. Die sonst so geliebten Lichterketten und Christbaumkugeln blieben im Umzugskarton, in ihrer Wohnung war es eher dunkel und trist, ebenso draußen auf der Terrasse und im Garten. Sie fand es gruselig, aus dem Fenster nur in tiefe Dunkelheit zu starren. Die Treppen im schon etwas betagten Reihenhaus knarrten hin und wieder einfach so, als hätte das Haus ein eigenes Leben, es war unheimlich. Manchmal schien es ihr auch, als raschelte etwas in den Wänden. Am liebsten verzog sich Diana abends schnell ins Schlafzimmer und ins Bett. Dort fühlte sie sich sicher.

Zum wiederholten Mal bemerkte sie, dass Kleinigkeiten von ihrer Terrasse verschwunden waren. Einer von ihren Garten-Clogs aus Plastik, nacheinander beide Gartenhandschuhe. Sie hatte die Dinge zuletzt gebraucht, als sie ihre Beete am Rande der Terrasse mit Tannenzweigen abgedeckt und so winterfest gemacht hatte. Ihre Mütze, die sie auf der kleinen Terrassenbank vergessen hatte, war ebenfalls verschwunden. An der Vorderseite des Hauses fehlte plötzlich der kleine Weihnachtsmann, den sie vorne als einzigen Adventsschmuck in das Mini-Bäumchen im Blumenkübel gehängt hatte. Und dann diese unheimlichen Geräusche, als würde jemand heimlich in der Dunkelheit durch den Garten schleichen. Leider lag kein Schnee, sonst hätte sie nach Fußspuren gucken können. So malte sie sich in ihrer Fantasie einiges aus und wurde langsam immer panischer. Als eines Abends das Telefon klingelte und gleich, nachdem sie sich gemeldet hatte, wieder aufgelegt wurde, überschlugen sich ihre Gedanken.

Wer machte denn sowas? Die gestohlenen Dinge hatten doch keinen materiellen Wert, höchstens einen persönlichen. Und dann dieser Anruf gerade. Langsam wuchs der Verdacht in ihr: Sie hatte einen Stalker. Ob ihr Ex-Mann ihre neue Adresse herausbekommen hatte? Sie erneut bedrängen und ihr drohen wollte? Oder hatte er einen seiner unsympathischen Kumpel dafür angeheuert? Diana fröstelte. Angst stieg in ihr auf und ließ sie nicht mehr los. Tag für Tag kreisten ihre Gedanken um die neue Bedrohung, jeden Tag neue Horrorfantasien, das war ihr ganz persönlicher Adventskalender. Inzwischen war der vierte Advent bereits vergangen.

Diana war allein mit ihren angsterfüllten Gedanken und inzwischen ein schreckhaftes Nervenbündel. Es war erneut etwas verschwunden – die kleine Kunststoffschaufel, mit der sie jeden Tag Vogelfutter aus dem großen Eimer ins Vogelhäuschen an der Terrasse füllte. Wer stahl so eine billige kleine Schaufel? Doch nur jemand, der sie nervös machen wollte. Ihr sagen wollte: „Ich bin hier, fühle dich ja nicht zu sicher!“

Inzwischen hatte sie sich billige dunkle Vorhänge fürs Wohnzimmer gekauft. Sie fand sie absolut nicht schön, konnte sich aber abends dahinter verstecken und die Welt vor dem Wohnzimmerfenster und der Terrassentür ausschließen. Doch die Geräusche, leises Rascheln wie von Schritten im Garten, drangen dennoch zu ihr durch und ließen sie aufschrecken. Der eisige Wind, der abends ums Haus blies und an den Baumkronen rüttelte, machte es noch unheimlicher.

„Advent, das lateinische Wort für Ankunft“, dachte sie. Ob Ralf ein perfides Spiel damit trieb? Das würde zu ihm passen. Sie schauderte und bemerkte, dass ihre Hände ständig ein wenig zitterten.

An den letzten Tagen vor Weihnachten wollte es gar nicht richtig hell werden. Morgens war es noch stockdunkel, wenn Diana nach der abonnierten Tageszeitung schaute. Als dem Nachbarn nebenan der Schlüssel klirrend aus der Hand fiel, schrie Diana leise vor Schreck auf. Der Nachbar, ein Mann in den Fünfzigern, immer noch ganz gutaussehend, sah besorgt zu ihr rüber und machte einen Schritt auf sie zu.

„Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“

„Ja, ja“, winkte sie ab und verschwand schnell wieder im Haus.

Am Abend sah sie den Nachbarn nach Hause kommen, bepackt mit mehreren Einkaufstaschen und einer großen Packung Katzenstreu. Eine Katze hatte sie hier noch gar nicht gesehen. Eigentlich mochte sie Tiere. Damit hatte der Nachbar zumindest einen Pluspunkt bei ihr.

Am nächsten Morgen passte sie ihn ab, als er das Haus verlassen wollte. Natürlich ließ sie es möglichst zufällig aussehen. Sie entschuldigte sich für ihren ängstlichen Schrei vom Vortag und stellte sich als neue Nachbarin vor. Er hieß Martin und wohnte auch erst seit einem knappen Jahr hier.

Sie verabredeten sich zum Abend auf ein Glas Wein. Es tat Diana gut, endlich mal nicht allein zu sein und von ihren ängstlichen Gedanken an Ralf und den Stalker abgelenkt zu werden.

Martin erzählte gerade, dass er eigentlich gar kein Haustier haben wollte. Doch der pechschwarze, etwa acht Jahre alte Kater gehörte quasi zum Haus.

„Katzen sind sehr territorial, sie verlassen manchmal lieber ihre Menschen als ihre gewohnte Umgebung. So bin ich nun Katzenbesitzer geworden“, meinte er leise lachend. „Und das Lustigste ist dabei“, sagte er und legte eine spannungsfördernde Kunstpause ein, „dass Baghira mir ständig Geschenke nach Hause bringt und auf die Fußmatte legt. Nicht etwa erjagte Mäuse, die hier in den alten Häusern durchaus vorhanden sind – man kann sie manchmal in den Wänden rascheln hören. Nein, dieser dusselige Kater schleppt mir ständig Sachen an, die er irgendwo findet oder klaut. Schuhe, Gartenhandschuhe, Kinderspielsachen, Tücher, kleine Schäufelchen, letztens sogar einen kleinen Plüschweihnachtsmann!“, zählte er nun laut lachend auf. Für einen Moment war Diana wie versteinert, doch dann brach es auch aus ihr heraus, ein fröhliches, ungebremstes Lachen über Baghira, den samtpfötigen Stalker und Dieb, und über Mäuse, die in den Wänden und im Garten raschelten.

Sie hatte einen Freund gefunden. Nein, eigentlich zwei: Martin und Baghira. Diana war angekommen in ihrem neuen Leben, und Weihnachten konnte ein unbeschwertes Fest werden. Hallelujah.

Adventskalender MiniKrimi am 16. Dezember


Auf vielfachen Wunsch heute eine Fantasy-Geschichte. Oder ein Märchen. Nicht Korrektur gelesen, weil die Hunde mich zur Abendrunde abholen. Morgen miste ich die Fehler aus. Versprochen!

Die Hummel

„Du darfst sie nicht so nah an dich heranlassen.“ „Ja, klar. Aber wie mache ich das?“ Er saß auf der Treppe vor dem Einkaufszentrum, das Kinn auf sein Skateboard gestützt. Schwarze Strähnen fielen in sein blasses Gesicht. Die Augen, zwei Kohlestücke, hielten den Blick der gebeugten Frau fest, die eine Stufe unter ihm steht. „Wie?“ fragte er. Die beiden bildeten eine Oase im Vorweihnachtskauflauf, links und rechts schoben sich Menschen an ihnen vorbei, Konturen, die zu einer murmelnden Masse verschmolzen.

„Das ist ganz einfach – wenn du weißt, wie es geht.“ Jenseits des kleinen Mäuerchens, das die Eingangstreppen zum Einkaufszentrum begrenzte, sammelten sich vier junge Männer. Skateboards in den Händen, schauten sie zu dem ungleichen Paar hinüber, mit einer Mischung aus Häme und Verachtung. Einer rief: „Versteckst du dich hinter dem Rock deiner Oma! Warte, wir kriegen dich“, in diesem scharfen Flüstern, das so viel lauter ist als ein leises Wort.

„Oder auch nicht“, sagte die gebeugte Frau. 

Wenig später saßen sie in ihrem Häuschen, efeuumrankt, von einem knorrigen Birnbaum beschattet. Bis zur chrom- und glasglitzernden Einkaufswelt waren es nur ein paar Hundert Meter – und doch stand das Haus auf einem anderen Kontinent. Während er den Einkaufs-Trolley durchs hohe Gras zog – sie vorneweg und immer wieder rufend: „Vorsicht, nicht auf den Löwenzahn hier vorne treten“, und „Achtung, Gänseblümchen voraus“ oder „Wollen wir reingehen oder lieber zuerst der Hummel folgen?“ – fiel jedes Gefühl von Raum und Zeit von ihm ab. Zuerst konnte er nicht verstehen, warum er sich überhaupt mit den Skatern eingelassen und auf ihre Provokationen reagiert hatte. Dann vergaß er sie ganz und gar. 

In dem kleinen Zimmer mit der Tapete aus himmelblauem Samt, auf der gemütlichen Bank rund um den grünen Kachelofen, in dem trotz des Sommers ein munteres Feuer die Luft mit Wärme und Lavendelduft füllte, atmete der Junge so klar und frei wie lange nicht mehr. Wie noch nie, eigentlich. Seine Eltern waren geschieden, seine Mutter lebte in einer anderen Stadt, seinen Vater sah er nur, wenn er ihm das Wochengeld auf die Bettdecke legte. Der Junge wusste nicht einmal genau, wo er arbeitete – oder was genau. In der oberen Etage einer Bank, mit einer Sekretärin, die keine Anrufe durchstellte. Auch nicht, als sein Sohn von einem Bus angefahren worden war und der Vater die Einwilligung zu einer OP hatte geben sollen. 

Das war lange her. Und doch hatte sich wenig geändert. Er wohnte noch zu Hause. Die Schule hatte er hinter sich gelassen. Jetzt stand er vor seinem Leben und wusste nicht, welche Weg er nehmen sollte. Also ging er mal hierhin, mal dorthin, mit dem Skateboard unterm Arm und unter den Füßen. Er ließ sich treiben, ein Tropfen im Strom. So sah er sich. Doch die Menschen, denen er begegnete, schienen in ihm etwas anderes zu erkennen. Etwas, das störte. Sie. Ihren Rhythmus. Obwohl er nichts tat, außer einfach da zu sein. Sich zu bewegen, zu stehen, zu sitzen. Als sei er ein schwarzer Block, eine undurchdringliche Materie, die sich ihnen in den Weg stellte. Sie daran hinderte, weiterzumachen mit dem, was sie gerade taten. Er spürte ihre Unsicherheit, ihren Widerwillen, ihre Abneigung wie eine Druckwelle, ohne sie anzusehen. Manchmal gelang es ihm, an ihnen vorbeizugleiten wie Wasser. Aber oft hielten sie an, oder inne, und schimpften auf ihn ein. Rempelten, schlugen und traten ihn. Er wehrte sich nicht, wusste nicht wie und auch nicht warum. So war es auch heute gewesen. Er war mit dem Skateboard die Treppen heruntergefahren, ohne die anderen zu beachten. Doch sie hörten auf, sich gegenseitig mit Kunststücken zu überbieten, und machten Front gegen ihn. Drückten ihn an das Mäuerchen, griffen nach seinem Board. Ein gutes, teures. Wenn die gebückte Frau nicht gekommen wäre, hätten sie es ihm wohl weggenommen.

Aber auch das schien nun lange her zu sein. Sie schenkte ihm die dritte Tasse Tee ein, ein blässliches Gebräu, in dem winzige Blüten wie Schneeflocken schwammen. „Siehst du, so geht das. Wenn sie auf dich zukommen, ziehst du dich einfach zurück. Immer mehr. Stülpst dich ein. Sitzt auf der Bank und trinkst Tee. Lässt den Raum hinter dir, und die Menschen, die dich ummauern. Atmest die Weite. Ganz einfach.“

Er wusste nicht, was daran einfach sein sollte. Aber er fühlte, dass es so war. Nachdem er eine kleine Weile in dem Lavendelzimmer gesessen und Tee getrunken hatte, sagte sie: „Nun geh.“

Es nahm sein Skateboard und lief durch das hohe Gras bis zu dem windschiefen Tor im verwitterten Holzzaun. Als er es hinter sich schloss und sich zur Straße drehte, war es dunkel. Die Laternen gossen gelbe Streifen auf den Gehweg. Zuhause angekommen, sah er auf die Uhr. Es war weit nach Mitternacht.

Schon bald stand er wieder da, diesmal in der Schlange vor einem Eiscafé, als die Leute hinter ihm plötzlich anfingen, mit ihm zu streiten. Er hatte nichts gesagt und auch nichts getan. Außer dazustehen. „Was drängelst du dich vor? Was glaubst du, wer du bist? Hey, fass meine Freundin nicht an.“ Und schon begann ein bedrohliches Schieben und Stoßen. „Lass sie nicht zu nah an dich ran“, murmelte die gebeugte Frau. „Ich versuche es. Kann ja nur besser werden“, dachte der Junge und begann, sich in sich selbst zurückzuziehen. Erst die linke Hand, dann die rechte, dann die Beine, schließlich stülpte er sich ganz und gar ein. Als er sich wieder entfaltete, stand er vor dem windschiefen Tor mit dem verwitterten Holzzaun. Er ging durch das hohe Gras, achtete auf den Löwenzahn und die Gänseblümchen und  – nein – ging auch diesmal nicht der Hummel hinterher. Drinnen saß er auf der Bank vor dem grünen Kachelofen, und diesmal war die Luft mit warmem Melissenduft erfüllt. Die gebeugte Frau schenkte ihm Tee ein, ein blässliches Gebräu, in dem lila Blüten wie Feenaugen schwammen. Irgendwann sagte sie wieder: „Nun geh.“ 

Draußen vor dem Café stand nur er. Der Laden war längst geschlossen, und Krähen zankten sich um die Eiswafellreste, die neben dem Mülleimer lagen.

Immer, wenn er wieder angegriffen wurde, zog der Junge sich zurück. Immer war das Holztor offen, immer blühten Löwenzahn und Gänseblümchen, auch, wenn er eben noch auf dem Eiskanal gestanden und Schlittschuh gelaufen war. Aber wenn er wieder zurückkam, war es manchmal nicht mehr Abend, sondern ein neuer Tag war bereits angebrochen. Oder schon wieder vorbei. Das machte dem Jungen nichts aus, denn was hatte er schon zu tun? Oder zu verlieren?

Eines Tages, kurz vor der Wintersonnenwende, ging er bei Anbruch der Dunkelheit in den Englischen Garten. An dem kleinen See mit der Schwaneninsel flackerten Fackeln, Menschen standen in Gruppen zusammen, tranken Glühwein und aßen Maroni. Den Jungen überkam eine tiefe traurige Einsamkeit. Wie gern würde er sich daneben stellen. Dabei sein. Dazugehören. Er ging hinunter zum Wasser. Kleine Wellen schwappten leise ans Ufergras. Die Gänse schliefen längst in den Büschen, nur Fledermäuse zogen von Baum zu Baum. Da stand plötzlich ein Mädchen neben ihm. Haare so lang wie seine, nur rot. Augen so groß wie seine, nur grün. Im Fackelschein sprühten sie Funken. „Bist du auch allein?“, fragte sie. Und er nickte. „Dann sind wir schon zwei.“ Sie lächelte und streckte die Hand nach ihm aus. So vertraut war diese Geste, dass er vergaß, sich zurückzuziehen. Und dann war es zu spät. Sie zog und zerrte an seinem Arm, riss ihn mit sich, hinein in den See, in die leisen, schwarzschwappenden Wellen. Immer tiefer und weiter. Nur mit größter Anstrengung gelang es ihm, seine Finger von den ihren zu lösen. Und er schlüpfte in sich hinein. Erst mit dem linken Arm, dann mit dem rechten. Mit den Beinen, das war schwierig, weil der nasse Stoff steif und unbeweglich war. Aber schließlich gelang es ihm.

Das Holztor klemmte, und er musste mit aller Kraft drücken, um es zu öffnen. Das Gras war kniehoch, und statt Löwenzahn und Gänseblümchen hatten sich Kletten und Giersch breit gemacht. Die Hummel suchte er vergebens. Aber drinnen war alles wie immer. Die Bank und der Kachelofen. Nur roch die Wärme diesmal nach Weihrauch. Und der Tee schmeckte rauchig. Er saß und trank, er atmete und trank. Ohne Raum. Ohne Zeit. „Willst du mich heute nicht fortschicken?“, fragte er die Frau. Auch sie war anders. Grauer. Zerstaubt. Die Stimme wie brüchiges Pergament. „Nein. Du gehst oder bleibst, heute ist es an dir, zu entscheiden.“

Als der kürzeste Tag des Jahres anbrach, fanden Spaziergänger einen leblosen Jungen am Ufer des kleinen Sees mit der Schwaneninsel. Zartrotes Sonnenlicht koste sein schwarzes Haar. Eine Hummel setze ihren Flügelschlag aus und berührte mit ihrem flaumigen Körper die kalte Stirn.

Adventskalender MiniKrimi am 18. Dezember


Der heutige MiniKrimi stammt aus der Feder von Dagmar alias Traumspruch. Mehr über sie und von ihr gibt’s auf ihrer Homepage.

Zingiber Officinale 

Ja, sie war ziemlich stolz auf ihre selbstgezüchtete Ingwerpflanze. Vorgestern hatte sie sich mit ihrem Nachbarn darüber unterhalten. Der war ja eigentlich ein Muffel und redete mit keinem der anderen Anwohner. Ein Eigenbrötler, aber stinkreich und geizig, so sagte man. Nicht einmal eine Zugehfrau leistete er sich, obwohl er alleinstehend war. 

Als er vom Fenster gegenüber auf ihrer Fensterbank die ungewöhnliche Pflanze entdeckt hatte, rief er sie an, einfach so. Und sie unterhielten sich gut. Nicht nur, das sie quasi Garten an Garten, Fenster an Fenster wohnten, sie bemerkten, dass sie einige gemeinsame Interessen hatten. Aber leider mussten sie das Gespräch bald beenden, denn Herr Schneider, so hieß der Nachbar, hatte noch eine ebay-Auktion laufen, um die er sich nun würde kümmern müssen. Ein Sammlerstück, das er gerne in seinen Besitz bekommen würde. Quasi ein Schnäppchen, so schwärmte er ihr gestern noch vor. Heute war sie mit ihm verabredet. Er wollte sich ihre kuriose Ingwerpflanze, die auf der Fensterbank so gut gedieh, mal genau anschauen und würde deshalb zu Besuch kommen.

Leider erschien er nicht. 

Denn bereits kurz nach Ablauf der ebay-Auktion erhielt Herr Schneider selbst Besuch.

Noch am Nachmitag wollte der Verkäufer der kostbaren Uhr diese persönlich überbringen. Herr Schneider war nicht argwöhnisch, so würde der edle Chronograph beim Versenden keinen Schaden nehmen können. Auch die beiläufige Frage nach den Nachbarn, die man unter Umständen durchs Fenster sehen könnte, ließ keinen unguten Gedanken bei Herrn Schneider aufkommen.

Auf die Frage gab Schneider kurz zur Antwort, da wohne nur eine blinde Frau.  

Aha, die sieht uns also eh nicht, lachte der Schurke, und bedrohte Herrn Schneider plötzlich mit einer Waffe, die er statt der zu liefernden Uhr aus der Jackentasche zog. Unbeobachtet und in aller Ruhe fesselte er das Opfer und machte sich schließlich ebenso beruhigt mit dem Diebesgut davon.   

Sie war nur ein klein wenig enttäuscht, dass ihr Nachbar sie versetzt hatte. Das kannte sie ja schon. Die Leute wussten nicht, wie man mit einer Blinden umgeht.

Man nahm sie oft nicht für voll. Ja ja, diese Behinderte, die konnte doch froh sein, wenn man sich ihr überhaupt mal zuwendete. So überspielten manche die eigene Unsicherheit gekonnt mit einem Scheinargument. Da käme es doch nicht auf den Tag an, sie säße doch sowieso immer zuhause. Draußen sei es für sie zu gefährlich, da würde sie sich doch nicht mehr zurecht finden… so argumentierte man. 

Aber von diesem feinen Herrn hätte sie das nicht erwartet. Der hatte eigentlich einen netten Eindruck auf sie gemacht. Eigentlich, ja, eigentlich.

Aber Tatsache war, er hatte sie versetzt.

Es war zwar erst mitten am Nachmittag, aber er wollte doch seinen Besuch bei ihr noch bei Helligkeit abstatten. Jetzt wurde es bald dunkel – er würde nun nicht mehr erscheinen. 

Das sollte ihr jedoch die Laune nicht verderben. Würde sie halt ein bißchen twittern. Dort gab es bestimmt jemanden, mit dem sie sich unterhalten konnte. Und so war es. Bald hatte sie einen interessanten twitter-Austausch über Gewürzpflanzen. Auch über ihren Ingwer.

Jetzt wollte ein Twitterer sogar ein Foto sehen. Ob sie das hinbekäme? Ja klar, sie sah zwar nicht, was sie fotographierte, aber das iPhone lässt sich auch blind gut bedienen. Kamera starten, Kameramodus auswählen, Blitz aus, damit es keine Spiegelung gibt, Bild aufnehmen, Doppeltipp. Fertig. Sie würde gleich ein Bild von ihrer Pflanze machen und twittern. 

Das war dann doch nicht so schnell bewerkstelligt. Als sie das Foto samt Bildbeschreibung online gestellt hatte, war ihr Bekannter bei twitter offenbar bereits offline. Er reagierte jedenfalls nicht auf ihre Nachricht. Nun, er würde das Bild ja dann in der timeline finden. 

Es war schon ein wenig knifflig, so die richtige Einstellung zu finden, damit alles auf dem Bild zu sehen sein würde. Normalerweise stellte sie auch nicht einfach mal so eine Aufnahme ins Netz, bevor nicht ein Helferlein einen Blick darauf geworfen und das Go gegeben hatte. Mittlerweile hatte sie geübt, dass nicht auf jedem Schnappschuss ihre Füße zu sehen waren, oder der unaufgeräumte Esstisch, oder irgendein Gegenstand, der mehr über sie verraten würde, als ihr lieb wäre. Aber bei der Grünpflanze konnte sie nichts verkehrt machen. Ihre Füsse steckten in fotogenen Wollsocken, das breite Fensterbrett war aufgeräumt, und der Bildhintergrund war in diesem Fall sowieso egal. Es ging nur um die schilfartigen Blätter, die aus der Knolle wuchsen.  

Sie war gespannt was…@GrünerDaumen zu ihrem Ingwersprössling sagen würde.

Lecker, wie der Tee schmeckte, den sie am Montag gekauft hatte. Teetrinken und abwarten, das war eine gute Einstellung. Die Gedanken kommen lassen, die Gedanken ziehen lassen. Achtsamkeit. 

Ein Klingeln an der Haustür ließ sie aufschrecken. 

Ein Polizist verlangte Einlass. Sie war sehr skeptisch, sie liess nicht einfach so fremde Menschen in ihre Wohnung. Moment! Einen Moment würde man schon warten müssen. Sie würde die Nachbarin von nebenan anrufen und diese bitten, doch mal eben rüber zu kommen. Nicht alle Polizeidienstausweise hatten eine Braillebeschriftung. Da brauchte sie sehende Unterstützung, der sie vertrauen konnte. Gerade kletterte die Nachbarin über den niedrigen Zaun, der die beiden Grundstücke seitlich trennte. An der Straße fuhr ein Streifenwagen vor. Ein weiterer Polizist betrat das Grundstück. Nachdem die Dienstausweise gecheckt waren, gewährte sie den Ordnungshütern Einlass. 

„Na, da hat ihr Nachbar aber noch mal Glück im Unglück gehabt“ erläuterte der zweite Beamte. „Dank ihrer Aufnahme, die sie in twitter gestellt haben und aufgrund der wir alarmiert wurden, konnte Herr Schneider gerade noch rechtzeitig befreit werden. Er hatte vor lauter Aufregung einen Asthmaanfall und konnte gefesselt keine Hilfe rufen. 

Die Sammler-Uhren ist er zwar los. Der Räuber hat bereits das Weite gesucht. Das sollte aber jetzt kein Problem sein, denn wir haben ja ein excellentes Fahndungsfoto, der Dieb ist gut zu erkennen; auch wenn unscharf im Vordergrund des Fotos irgendwelche grüne Blätter abgebildet sind.“ 

Mit dem Beweisfoto war sogar eine ganze Fotoreihe ausgelöst worden. Das würde die Fahndung wesentlich erleichtern. 

So hatte man den Dieb bereits dingfest gemacht, als sich Herr Schneider am übernächsten Tag bei ihr zu einer Tasse Tee und zur Begutachtung der seltenen Grünpflanze anmeldete und seinen versäumten Besuch nachholte.

copyright: Traumspruch

Nach Corona ist vor Corona


Sie mehren sich – die Beiträge mit hoffnungsfrohen Visionen einer besseren Welt NACH Corona. Weniger Kapitalismus, mehr Ökobewusstsein, weniger Egoismus, mehr Gemeinschaft, weniger Kürzungen im Gesundheitssektor, mehr Gehalt für pflegende Berufe.

Ach ja – wie gerne würde ich, wie erstaunlich viele meiner Kolleg*innen, meine rosa Brille aufsetzen und diesen Wunschträumen nachhängen. Allerdings bin ich dazu entweder zu pragmatisch, oder ich lebe in einem Umfeld, das mir die Realität des menschlichen Wesens als Masse zu deutlich vor Augen führt. Jedenfalls kann ich Euch eines vorhersagen:

Nach Corona wird es genau so sein wie davor!

Naja, vielleicht nicht ganz. Die Ladenöffnungszeiten werden wahrscheinlich nicht mehr zurückgefahren – auf diese Gelegenheit haben grade in Bayern zu viele Politiker schon zu lange gewartet.

Einige werden aufgrund von Kurzarbeit oder Arbeitsplatzverlust nicht das Geld haben, das sie gerne hätten, um von diesen verlängerten Konsumzeiten „vollumfänglich“ Gebrauch zu machen. Aber machen wir uns nichts vor: der Konsumismus wird nicht nur ungebrochen weitergehen. Er wird sich, wie ein allzu lange gestauter Fluss, erst einmal mit doppelter, dreifacher Wucht in die Einkaufsstraßen ergießen. Paare, Familien werden die Einkaufszentren stürmen, sich mit Plastiktüten beladen und sich nach physischen und finanziellen Kräften bemühen, die Konsumabstizenz wieder wettzumachen. Nicht anders als bei landläufigen Diäten wird der JoJo-Effekt eintreten.

Und sollten doch am Ende weniger Fugzeuge den Himmel Richtung all-Inclusive-Zielen durchspuren mit ihren Schleiern aus Kerosin, dann wird das nur daran liegen, dass die eine oder andere Fluggesellschaft Pleite gegangen ist.

An den Tankstellen werden endlich wieder die getunten Altautos Schlange stehen vor SB-Waschanlagen und Staubsaugern, mit ihren stolzen Besitzern, Cappuccino to go in der einen, Kippe in der anderen Hand, Schirmmütze ins Gesicht geschoben.

In den Parks, auf den Plätzen und Straßen werden sie sich stapeln, die unter 20jährigen, die endlich wieder die elterlichen vier Wände verlassen und sich, ohne Sorge vor Bullenkontrollen, mit einem Bier in der Hand und Stoff, egal welchem, zum Musikhören draußen treffen können.

Bin ich zu pessimistisch? Eine Misanthropin? Halt, nein! Es wird auch die anderen geben. Die Fitgejoggten, die auch nach Corona öfter mit dem Fahrrad fahren und nach der Arbeit weiterhin den Wald durchhasten.. Ich liebe sie – vor allem, wenn ich ihnen bei meinen Hunderunden begegne, wie sic, schwitzend, prustend und bar jeder Rücksichtnahme zentimeternah an mir vorbeischnaufen.. ich schwöre, Mann, ich habe noch nie so viel neue Funktionskleidung gesehen wie in den letzten beiden Wochen. Amazon sei Dank. Ja, für den Oniinehandel wird es nach Corona auch nicht mehr so sein wie davor. Die satten Gewinne dürften eine Zeitlang anhalten. Keine Sorge, eine Lohnerhöhung für die Mitarbeitenden, die sich während der Krise permanenter Ansteckung ausgesetzt haben, dürfte nicht eingeplant sein.

Deutschland ein Marathonland. Zum Corona-Ende den mega Marathon ausrufen – und endlich die Herdenimmunität herbeiführen … Oder einen landesweiten Wettbewerb „mein Haus/Garten/Balkon soll schöner werden“. Nachdem in den Wochen vor der Schließung der Gartencenter Tausende dort ein Happening in der Farben/Teich-/und Bauabteilung gefeiert haben, dürfen die Ergebnisse nach Corona allüberall zu bewundern sein. Dann wird es endlich wieder landauf, landab nach Grillkohle duften, und im großen Freundeskreis wird man sich bei Billigfleisch und Bier erinnern: „Weißt Du noch, als das anfing mit den Ausgangsbeschränkungen? Ja, da hab ich noch den letzten 10 Liter Eimar Insektengift ergattert und meinen Garten sommerfest gesprüht…“

Ja, meine Freund*innen. So wird das sein. Genau so. Nein, die Ausgangsbeschränkungen werden ganz sicher nicht aufrecht erhalten werden, im Gegensatz zu den Ladenöffnungszeiten. Und die Menschen werden keinen Deut anders sein als zuvor.

Also: gaudeamus igitur…! Genießen wir die saubere Luft, den blauen Himmel, das fehlende Kindergekreische, die gereinigten Straßen, die leeren Supermarktgänge und die Tatsache, dass wir uns unsere Zeit selbst einteilen können.

Vor allem aber: bleiben wir gesund. Obwohl wir eigentlich eher einmal krank und dann immun werden sollten, Ihr wisst schon, wegen der Herdenimmunität. Sonst dauert die „Corona-kRise“ am Ende noch ewig….

Adventskalender MiniKrimi vom 15. Dezember 2018


Ein Großstadt-Krimi von/mit meiner Autorenkollegin Lydia Heck.

Alles Bio, oder was?

Das Haus in der Minervastraße 89a ist die von einem hochdekorierten und entsprechend gut bezahlen Architekten entworfene Antwort auf das Problem der Flächenversiegelung in München.  Der dringend benötigte Wohnraum muss in die Höhe gebaut werden! 6 Stockwerke mindestens! Allerdings kollidierte dieser Plan mit dem in der Stadt ebenfalls existierenden Hochhausverbot im Innenstadtbereich.

Genau diese Lage aber sollte das Projekt Minervastraße 89 für eine exklusive Käufer-Klientel attraktiv machen.  Die Lösung des Dilemmas:  eine Wohnlage nicht ganz in der Innenstadt, dafür aber eingebettet in einen parkähnlichen Garten, umfriedet mit einer mannshohen Mauer und ausschließlich den Bewohnerinnen und Bewohnern zugänglich.  Als I-Tüpfelchen war im letzten Jahr noch ein großer Naturschwimmteich hinzugekommen, in und an dem die Bewohner der Hausnummer 89a den Jahrhundertsommer gerne und ausgiebig  gefeiert hatten.

Dies alles musste natürlich den Neid der Anwohner hervorrufen. Sie wandten sich an die Stadt, sie wandten sich an das Land. Und fanden, kurz vor der Landtagswahl, schließlich Gehör.  Und so flatterte den Eigentümern in der Minervastraße eines Tages ein hoch offizielles Schreiben in den Briefkasten mit der Mitteilung, sie hätten einen Großteil ihres schönen Gartens gegen eine Entschädigung  an die Stadt abzutreten.  Auf diesem Grund sollte, sozusagen als Gegenmaßnahme zur in vielen Stadtvierteln erfolgten Gentrifizierung,  eine Siedlung mit Sozialwohnungen entstehen.

Die Minervastraße stand Kopf. Natürlich hatte niemand etwas gegen  gegen soziale Randgruppen.  Im Gegenteil,  jetzt kurz vor Weihnachten spendete man großzügig.  Aber die Vorstellung,  diese Menschen bald direkt vor der eigenen Haustür, im eigenen Garten zu haben – nein, das ging dann doch zu weit.

Auf einer kurzfristig einberufenen Eigentümerversammlung entstand der rettende Plan: Naturschutzgebiet.  Der Garten musste zum Naturschutzgebiet erklärt werden.  Das hatte schon des öfteren in München funktioniert. Man einigte sich auf eine vom Aussterben bedrohte Tierart, den Feuersalamander.  Er sollte in einer mondlosen Nacht in der Minervastraße ausgesetzt werden.

Zur Umsetzung des Planes kam es jedoch nicht.  Am darauffolgenden Mittag durchschnitt ein gellender Schrei die Ruhe des Münchener Vorortes. Katharina,  die Mutter der fünfjährigen Leni, sah fassungslos aus dem vierten Stock hinunter zum Badeteich, wo der leblose Körper ihrer einzigen Tochter leise auf dem vom Dezemberwind gekräuselten Wasser schaukelte.

Die Obduktion des Kindes ergab Atemstillstand nach Kontakt mit dem Gift einer Gelbbauchunke. Das giftige Hautsekret ruft in der Regel keine größeren Schäden hervor. Empfindliche Personen oder kleine Kinder können allerdings stärker reagieren. Das geschwächte Immunsystem der kleinen Leni, die gerade von einer Grippe genesen war,  hatte der Unke nichts entgegenzusetzen gehabt. Wie der Feuersalamander auch, ist die Gelbbauchunke ein Lurch, der in Deutschland vom Aussterben bedroht ist. Sie bevorzugt Lebensräume mit Teichen und Tümpeln. Damit war das Problem gelöst. Aus dem Badeteich wurde auf sofortigen Beschluss der unteren Naturschutzbehörde ein Biotop.  Die drei Gelbbauchunken im Garten sorgten dafür,  dass alles so blieb,  wie es war.

Dafür spendeten die Hausbewohner in diesem Advent deutlich mehr als in den vergangenen Jahren.

Auge um Zahn


Ich weiß nicht, wann sie aufgehört hat, in mir, die Angst vor meiner Mutter. Ebenso wenig weiß ich, worin diese Angst bestanden hat oder wovor ich mich gefürchtet habe. Als Kind, als Jugendliche, als Erwachsene, noch. Vor ihrer Macht. Über mich. Und meiner Ohnmacht. „Deine Mutter war immer für dich da, du Glückliche“, sagte mir kürzlich ein Freund mit dem bitteren Unterton des verlassenen Kindes. Ja, meine Mutter war für mich da. Zog meine Puppen für mich an und setzte sie an den Esstisch, wo sie mich nach der Schule erwarteten. Kaufte mir schöne und praktische Kleidung. Gab mir zu essen und zu lesen, fuhr mich zum Ballet und meldete mich im Tennisclub an. Als ich sie um einen selbstgesrickten Pullover bat, immer wieder, schenkte sie mir einen handgestrickten, für sehr viel Geld bei einer Künstlerin erworbenen. Am Samstagmorgenfrühstückstisch diskutierte sie mit mir über die Probleme der großen Welt. Politik und Kunst. Sie wachte über meinen Intellekt und schärfte meine Argumentation. Ja. Ich war immer satt und sauber. Rundherum.

Wie es ihr ging, ohne den Menschen, der ihre Welt bedeutet hatte, meinen Vater. Wie sie zurechtkam, so als Witwe, in der Männerlebenswelt, unter verheirateten Freunden, außen noch jung, aber mit einem versteinerten Herzen. Darüber sprach sie nicht. Und ich glaube nicht, dass ich zu fragen wagte. Wie es mir ging, so vaterseelenallein in einem kaltfeindlichen Dorf, ausgesperrt von Parties, Cliquen, Kino. Wie ich die weißen Stunden ertrug, in einer Wohnung ohne Echo, in der kein Pullover ankam gegen meinen Frost. Darüber sprach ich nicht. Ich log mich durch unsere Tage.

Wenn ich nachmittags nach Hause komme, steht sie da, mit einem Rechen in der Hand, und hat den ganzen Tag gekehrt. Sagt sie. Ich will in die Küche gehen, einen Kaffee kochen, Toast und Joghurt, Milch, und ihr das alles auf den Esstisch stellen, oder vor den Fernseher. Will ihre Kleidung waschen und die Schuhe putzen.

Nein. Auch, wenn es nicht das ist, was ich als erstes fühle: ich werde zu ihr gehen, lächelnd und mit einem Kuss im Sinn. Und sie in ein Gespräch verwickeln. Fragen, was sie denkt und fühlt gerade. Ich werde es versuchen.

Vielleicht nicht heute. Aber morgen.

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