MiniKrimi Adventskalender am 24.Dezember/Heiligabend


Und heute kommt der zweite Teil. Etwas früher, um euch das Warten auf das Christkind zu verkürzen. Oder Ihr lest die Geschichte komplett in den nächsten Tagen. Vielleicht eignen sich die Raunächte ja besonders dafür.

Euch allen eine GESEGNETE, FIREDOVLLE WEIHNACHT. Danke, dass Ihr mir und meinem Kalender gefolgt seid.

Molotow Madonna Teil 2

Kapitel 5

Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun. Molière

Frankfurt am Main, 21.6.2004, mittags

Der Kontrast zwischen dem schmalen Reihenmittelhaus in Eschersheim und Thomas luxuriöser Altbauwohnung könnte kaum größer sein. Und doch waren Thomas und Frank einmal unzertrennlich. Gleiche Ideen, gleiche Clique, gleiche Zigaretten, gleiche Frisur und gleiche Freundinnen. Wobei Thomas den Aufriss machte  und Frank den Tröster spielte. Bei Melanie war er hängengeblieben. Oder war sie seine große Liebe? Vielleicht, denkt Maria, denn in der Flüchtigkeit, mit der er seiner Frau einen Begrüßungskuss ins Haar haucht, auf den Scheitel zwischen weißer Haut und grauem Ansatz, liegt ein unendlich leiser Schatten alter Zärtlichkeit. Da sind sie schon über einen Haufen Turnschuhe gestiegen,  zwei zum Bersten volle Mülltüten und eine kläglich maunzende Perserkatze mit zerrissenem Ohr und coupiertem Schwanz.

Maria lehnt sich an den abgestoßenen Türrahmen, und die Katze schmiegt sich an ihr Bein. Wir stehen da wie Dominosteine, ein Wort von Frank, und wir kippen um, denkt sie. „Hättest du nicht mal den Müll raustragen können?“ Melanies Stimme ist hoch und spitz.  „Hier stinkt‘s wie im Scheißhaus. Und das Katzenklo macht auch keiner sauber. Ich hab seit fünf Uhr früh Regale eingeräumt, wenn ich heimkomme, kann ich wenigstens ein Minimum an Ordnung erwarten, oder? Und du hast wieder im Wohnzimmer geraucht!“ „Na und?  Das erste  was du machst, wenn du zur Tür rein kommst, ist meckern. Meckermeckermecker. Ja, hier stinkt’s nicht nur wie im Scheißhaus, das ist ein Scheißhaus. In einer Scheißstadt. Ich hab die Nase voll. Von hier, von dir, von diesem ganzen Scheißleben.“ Frank sieht eigentlich noch genauso aus wie vor 20 Jahren. Die Augen etwas aufgedunsen und die Haare nur unmerklich dünner, aber immer noch so leuchtend blond. Adonis, witzelte Justus. Und Frank wurde dann immer rot. Er wollte nicht wegen seines Aussehens beliebt sein oder geliebt werden. Er kam aus einer Arbeiterfamilie, sein Vater stand bei Opel in Rüsselsheim am Fließband. Grundschule, Gymnasium, Einserabitur. Frank war der Überflieger, und auch sein Jurastudium machte er mit Links. Das war es, was Thomas an ihm faszinierte. Justus schätzte Frank wegen seiner messerscharfen Urteilskraft. Als sie ihr Manifest  entwarfen, musste Frank jeden Satz lesen und freigeben. Nur, was vor Franks Urteil bestehen konnte, war gut genug für die Öffentlichkeit.

Melanie sonnte sich im Schatten ihres schönen klugen Freundes. Mit ihm heilten die Wunden, die Thomas in ihr Selbstbewusstsein gerissen hatte, als er ihr den Laufpass gab. Melanie, die Mitläuferin. Plapperte alles nach, Hauptsache, es klang nach Intelligentia und hatte mindestens drei Fremdwörter im Satz. Hatten sie ihre Rollen getauscht? Aber Frank war schon immer ein Denker gewesen, ein Träumer, ein Idealist mit einer Schwäche für Bücher und wissenschaftliche Theorien. Ohne diese Nacht säße er heute als Ordinarius für Jura an einer renommierten deutschen Uni. Stattdessen hockt er mit ausgebeulten Jeans, fettigen Haaren und Dreitagebart auf einem durchgesessenen Sofa. Und wartet auf Melanie, die abgelaufene Lebensmittel aus dem Supermarkt nach Hause bringt.

Auf dem Tisch stapeln sich Bücher. Juristische Fachliteratur. Zeitungsartikel über den Frankfurter Kessel 1984. Und über die spektakuläre Festnahme einer studentischen Terrorzelle unmittelbar vor einem Sprengstoffanschlag auf die Deutsche Bundesbank.

Frank scheint nicht im Mindesten überrascht, Maria zu sehen. Aber darüber wundert sie sich inzwischen nicht mehr.  Er begrüßt sie fast mit den gleichen Worten wie Peter. „Ach, Maria. Hallo. Du hast lange gebraucht. Sehr lange. Ich habe das kaum noch ausgehalten.“ „Hallo, Frank. Es …. tut mir leid. Ich wusste nicht…. Hast du auf mich gewartet?“ Maria bahnt sich ihren Weg zwischen Bergen von Illustrierten, schmutzigen Socken, einem Teller mit dem Rest eines Marmeladenbrötchens und einem Korb voll vergilbter Bügelwäsche. „Entschuldige das Chaos“, Frank wedelt mit der Hand von links nach rechts und betrachtet das kleine Reihenhauswohnzimmer, als sähe er es zum ersten Mal. „Ich muss mal wieder saubermachen. Weißt du, Melanie arbeitet viel, sie hat drei Jobs. Die Kinder sind ja nicht mehr klein, aber deshalb kosten sie nicht weniger, im Gegenteil. Es geht mir nicht gut, Maria. Ich habe Depressionen. Und keine Arbeit.“ „Es ist gut, Frank. Alles ist gut.“ Was für ein blöder Satz. Justus hätte ihn ihr um die Ohren gehauen. Nichts ist gut, fast nie im Leben. Für einen Moment flackert das alte Feuer in Franks Augen. „Nein. Ist es nicht“, zischt er. Greift unvermittelt nach einer Schachtel Zigaretten auf der Fensterbank, macht die Terrassentür auf und geht in den kleinen Garten. Maria folgt ihm.

Auf dem schmalen Streifen zwischen zwei verfallenen Gartenzaunreihen fristen verlorene Grasbüschel ein kümmerliches Dasein. Am hinteren Ende haben Efeu und Giersch ihren Eroberungsfeldzug begonnen, Forsythien, Flieder und Pfingstrosen haben bereits kapituliert und strecken nur noch vereinzelte Blüten aus der Unkrautumzingelung. Am bemoosten Ast eines krummen Apfelbäumchens lässt eine erschlaffte Hängematte ihre Fäden auf die Erde baumeln. „Schau dich ruhig um, Maria. Das ist mein Paradies. Meine Hölle. Mein Garten Eden. Mein Getsemani. Hier stehe ich jede Nacht, statt zu schlafen. Sehe das Blaulicht und die vermummten Polizisten, höre die Sirenen und die Stimme aus dem Lautsprecher. Und frage mich, wo wir uns verrannt haben. Und wann. Und ob. Dann gebe ich mir die Schuld. Wenn ich nicht mit Melanie rumgeknutscht hätte, statt ordentlich aufzupassen, hätte ich vielleicht was bemerkt. Hätte Justus warnen können. Vielleicht. Aber weißt du, Maria, das sind alles nur Schattengefechte. Die Entscheidung hat jemand anders getroffen, an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit. „Alea iacta est.“ In der Nacht da draußen vor der Deutschen Bundesbank war alles schon längst beschlossene Sache. Wir waren die Marionetten. Der Drahtzieher saß ganz woanders.“

Maria ist müde. Sie hat kaum geschlafen, unruhig auf jedes Geräusch reagiert und mit wachsender Panik auf das Schlüsselloch gestarrt in der Erwartung einer dieser typischen Hitchock-Szenen, in  denen sich der Schlüssel lautlos langsam zu drehen beginnt und du auf das Unausweichliche wartest, unfähig, es aufzuhalten. So trostlos dieser Garten auch ist, Maria hatte grade angefangen, sich fallen zu lassen in einem Abziehbild von Familienleben, so brüchig und verschlissen es auch sein mag. Aber jetzt dreht sie sich zu Frank, ist ganz wach und ganz bei dem, was er gesagt hat. „Der Drahtzieher? Dann stimmt es und ich hatte Recht. Die ganze Zeit hatte ich Recht?!“ „Womit hattest du Recht, Maria? Damit, dass du dich geweigert hast, in Justus einen Terroristen zu sehen? Oder mit deiner Behauptung, dass er sich nie und nimmer selbst umgebracht hätte?“ „Mit beidem, Frank. Mit beidem. Und jetzt erzähl mir, was du weißt. Bitte. Pack aus. Schlepp dein Wissen nicht länger allein mit dir herum.“

Frank hat sich auf die rissigen Waschbetonfliesen gehockt, wippt mit gespreizten Knien mechanisch auf und ab. „Mit jedem Tag, jedem Monat, jedem Jahr, in dem ich geschwiegen habe, wurde sie drückender, dieses Last. Wie oft habe ich dir geschrieben, in Gedanken und wirklich. Ich hab sogar deine Email-Adresse recherchiert, kürzlich. Aber dann….“ „Warum hast du so lange geschwiegen?“ „Ich weiß nicht. Ich rede mir ein, wegen Thomas. Weil ich ihn …. immer noch mag. Ihn nicht reinreiten will. Er ist doch der Einzige von uns, der es zu was gebracht hat. Der nicht kaputt gegangen ist, an der Nacht. Er ist unser Leuchtfeuer, sowas wie ein Wahrzeichen, der Beweis, dass unsere Ideen nicht umsetzbar waren, nichts als wirres Marihuanagewäsch. Er hat unseren Positionen den Rücken gekehrt und ist erfolgreich geworden.“ „Hast du dich denn nie gefragt, ob sein Erfolg auf eurem Scheitern aufbaut?“ „Doch. Aber das habe ich schnell wieder verdrängt. Das bringt doch nichts. Vorbei ist vorbei.“ „Nicht ganz. Du kannst für dich entscheiden, wie du leben willst, Frank. Aber du hast kein Recht, die Erinnerung an andere durch Lügen zu verfremden. Zu verdunkeln. Zu kriminalisieren. Du hast kein Recht, durch dein Schweigen das Leben anderer zu blockieren. Genau das hast du getan. Bis heute.“

„Komm, setz dich neben mich“. Misstrauisch folgt Maria ihm zur Hängematte. Nein, ein Sturz aus dieser Höhe kann nicht gefährlich sein, entscheidet sie. Aber die Fäden halten zusammen. Und die kleine Veränderung des Blickwinkels genügt, um sie beide in eine andere Dimension zu schaukeln.  In das Frankfurt der 1980er Jahre, den Hörsaal der Johann-Wolfgang-Goethe-Uni, die Altbau-WG. Die Taunusanlage vor der Deutschen Bundesbank. Während Frank erzählt, fallen die Jahre von ihm ab, er spricht wieder so wie damals, flüssig, überzeugend, moduliert, mitreißend.

Sie galten schnell als die Elitetruppe von Professor van Xanten. Als er ihnen seine große, interdisziplinäre Studie anvertraute, war klar: die vier sind zu ganz Hohem berufen. Die wandern direkt aus der Uni in die Chefetagen der Wirtschaft, der Gerichte, der Politik. Das Zeug dazu hatten sie. Vier hoch intelligente, extrem motivierte junge Männer und ein Groupie. Letztendlich war es ihre Kompetenz, ihre Gründlichkeit, die ihnen zum Verhängnis wurde. Denn je tiefer sie in die Materie eindrangen, desto klarer wurde ihnen, dass sie mit ihren empirischen Daten nicht weiter kamen. Tiefgreifendere Analysen, Feldstudien, vor allem Interviews mit Menschen, Erfahrungsberichte. Nur so konnten sie die Grundlagen schaffen für eine gesicherte Prognose über die Zukunft der Gesellschaft. Vor allem: Eine Beschreibung des Status Quo allein erschien ihnen nicht nur ungenügend und lächerlich, sondern geradezu kriminell. Sie waren jung, sie waren Genies. Sie wussten, was kommen würde. Sie mussten ein Konzept ausarbeiten zur Weichenstellung, um zu vermeiden, was sie empirisch gesichert voraussagen konnten. Ein grundlegender Wandel musste her, in Gesellschaft und Wirtschaft, gesteuert von der Politik und getragen von allen Bevölkerungsschichten. Als sie ihrem Professor ihr Manifest vorstellten, hatten sie mit allem gerechnet, Erstaunen, Skepsis, Enthusiasmus, Bewunderung. Aber: „nie wieder habe ich diesen Ausdruck gesehen, bei einem Menschen. Das war die nackte Angst, gepaart mit einem Schuss Wahnsinn“, sagt Frank. Ausgeschlossen, Sie haben sich verrannt. Ich entziehe Ihnen die Studie. Verbrennen Sie alles, was damit zusammenhängt. Oder kommen Sie zur Vernunft, meine Herren, meine Dame.

Der Schock, die Betäubung hatten eine ganze Woche angehalten. Dann hatten sie zu diskutieren begonnen. Thomas war dafür, den Rat des Professors zu befolgen. Die Studie nach Plan abzuschließen und den verdienten Erfolg einzufahren. Und dann, in einem weiteren Schritt, vielleicht vorsichtig zu versuchen, das Manifest in kleinen, akzeptablen Portionen an entscheidender Stelle anzubringen. Mit dem Renommée, das sie sich erworben hätten, wäre das leicht gewesen, und  dann hätte er versucht, über Vickys Familie Türen zu öffnen. Er hatte das Mädchen kürzlich auf einer Demo gegen Studiengebühren kennen gelernt, und es hatte ihn fasziniert, dass sie aus purer Solidarität mitging, obwohl ihr Vater ihr jede Privatuni hätte zahlen können.

Justus war strikt dagegen. Er nannte Thomas einen Heuchler. Peter pflichtete ihm bei. Melanie versuchte zu schlichten und schlug vor, sich erst mal den Starbahn West Demos anzuschließen und dort zu schauen, wie ihre Ideen bei „sozial engagierten“ Leuten ankämen.

Das machten sie dann auch, aber die Gruppe war schon gespalten. Als Professor van Xanten die Veröffentlichung der „revolutionärsten Gesellschaftsstudie seit Marcuse“ ankündigte, unter seinem Namen, natürlich, gab das allen neuen Auftrieb. Sogar Thomas war jetzt der Meinung, dass sie sich dagegen wehren müssten, wenn sich jemand mit ihren Federn schmücken wollte. Und so arbeiteten sie den Plan zur spektakulärsten Aktion seit Erfindung der Demos aus. Sie malten die Thesen ihres Manifestes auf ein Transparent – in Vickys gestochener Schrift. In der Mittsommernacht wollten sie das Dach der Deutschen Bundesbank erklimmen, den Gipfel der Finanzmanipulation, sozusagen, und von dort das Manifest entrollen. Kurz vorher sollten Melanie und Frank Flugblätter in allen Redaktionen und auf den Straßen verteilen, um auf die Aktion aufmerksam zu machen. Sie waren sich sicher, dass der Medienhype groß genug sein würde, um ihnen zumindest ein erstes Gehör zu verschaffen. An der Überzeugungskraft ihres Chefdenkers, Justus, zweifelten sie keinen Augenblick. Alles Weitere wäre dann wie ein Sonntagsspaziergang. „Ich glaube, an diesem Punkt unserer Planung waren wir alle ziemlich bekifft“, grinst Frank unwillkürlich. „Anders kann ich mir diese Selbstüberschätzung heute nicht erklären.“ „Und Thomas? Wieso war der plötzlich so umgeschwenkt?“ „Ja, diese Frage hätten wir uns damals mal stellen sollen“, sagt Frank.

„Und dann?“ „Ja, dann kam der Abend vor der Nacht. Kurz bevor es losgehen sollte, verschwand Justus. Und stieß erst vor der Deutschen Bundesbank wieder zu den anderen. Daraus wurde ihm dann der Strick gedreht. Im wörtlichen Sinn…. Der Polizeizugriff kam völlig überraschend. Aber noch unglaublicher war die Anschuldigung, wir hätten vorgehabt, die Bank in die Luft zu jagen.  Völlig absurd! Aber dann wurde Sprengstoff in einem Rucksack oben auch dem Dach gefunden. Molotowcocktails und Dynamit.“ „Woher kam das?“ „Keine Ahnung. Wir hatten das auf alle Fälle nicht eingepackt“. Der einzige, der schon oben war, war Thomas. Ihn musst du fragen. Seinen Teil der Geschichte muss er dir selbst erzählen“.

Sie alle seien drei Tage lang festgehalten worden, in getrennten Zellen. Am vierten Tag habe man sie entlassen und ihnen mitgeteilt, dass der „Rädelsführer“ Justus N. sich in seiner Zelle erhängt habe. Er habe ein ausführliches Geständnis hinterlassen. „Aber ich wusste, wo Justus war, an diesem Abend. Er misstraute Thomas und irgendwie auch mir. Er hatte einen persönlichen Kontakt zu einer Journalistin, Johanna. Er hat sich mit ihr getroffen und ihr von unserer Aktion berichtet. Exklusiv und vorab. Vielleicht hat er auch mit ihr geschlafen, ich glaube, sie war in ihn verliebt.“ „Und warum habe ich davon nichts in der Zeitung gelesen?“ „Johanna war zur Taunusanlage gekommen, und da hat sie den Polizeieingriff miterlebt. Sie hat versucht, zu fotografieren. Da hat ihr ein vermummter Polizist den Fotoapparat weggenommen und sie brutal zusammengeschlagen. Als sie aus dem Krankenhaus kam, war sie ihren Job bei der Rundschau los. Ich habe sie nur noch einmal gesehen, danach ist sie untergetaucht. Verstehst, du, Justus hat nie einen Terroranschlag geplant. Das hat ihm jemand untergeschoben. Um ihn zu vernichten. Uns zu vernichten. Ich wusste das. Aber ich habe einfach den Mund gehalten. Weißt du, Melanie war schwanger, damals“, fügt er dann noch hinzu, fast flüsternd.

Frank schweigt. Sein Mund ist ein schmaler Strich in einem grauen Gesicht. Jetzt sieht er aus wie ein alter Mann, vom Kummer gefaltet. Sie möchte ihm gerne etwas Freundliches sagen, aber ihr fällt nichts ein. Unsinnig, ihm Vorwürfe zu machen. Sie legt ihm die Hand auf den Arm, nur ganz kurz, spürt seine Kälte durch den dünnen Stoff des Hemdes. Dann schält sie sich aus der Hängematte und geht. Das Reihenhaus ist leer. Von Melanie und den Kindern keine Spur. Auch die Katze ist verschwunden.

Kapitel 6

Unglücklich das Land, das Helden nötig hat. Bert Brecht

Frankfurt am Main, 21. Juni 2004, nachmittags

„Was fange ich an mit diesem schrägen Tag?“ Wäre das eines dieser Computerspiele, das ihre Freundin Assunta immer spielt, würde sie einfach auf Neustart drücken. Und sich nur mit einem kontinentalen Frühstücksbüffet zufriedengeben, gefolgt von einer entspannenden Massage und einer Viertelstunde Baden im Meer. Um dann bei Herder das neue Nummer 1-Buch der Spiegel-Beststellerliste zu kaufen und den Rest des Tages damit zu verbringen, es daheim auf der Terrasse in einem Stück zu verschlingen. Aber so geht das nicht. Maria ist in Frankfurt. Es ist Juni, ein kalter Juni. Und sie hat eine Aufgabe  zu erfüllen, bevor sie überhaupt jemals wieder in Ruhe und Frieden ein Buch lesen kann. Vor allem will sie in den Fotoalben blättern, die den Weg ihres Sohnes säumen. Das Baby im Krankenhaus, der Kleine im Laufställchen, mit der mannshohen Schultüte, am Meer bis auf den Kopf eingegraben im Sand. Justus mit Zigarre und Zylinder auf der Abifeier. Justus vor den Toren der Uni. Mit seinen Freunden in der WG. Beim Pastaessen, alle aus einer Schüssel. Justus mit Brille vor dem riesigen Computerungetüm, das sie ihm besorgt hatte, eine echte Neuheit. Justus mit ihr, Maria, seiner Mutter. Gleiche Augen gleiches Lachen ungleiches Schicksal. Es ist nicht richtig, dass der Sohn vor der Mutter stirbt. Sie weiß plötzlich, worin der Fehler liegt in der Statue von Michelangelo in der Basilica di San Pietro in Rom. Wie bei einem Wimmelbild hat sie lange gebraucht, um ihn zu finden. Tief in sich. Die Anordnung der Figuren sollten umgekehrt sein. Der Sohn sollte die tote Mutter in seinen Armen halten!

Als Maria aus ihren Gedanken auftaucht, ist sie schon bis zur Eschenheimer Landstraße gelaufen. Sie sucht einen Taxistand und fährt in die Böhmerstraße hinter der Alten Oper. Sie hat es jetzt plötzlich eilig. Will alles erledigen, hinter sich lassen und dann zurück. Nach Rom. Zu den Bildern ihres Sohnes, die sie seit 20 Jahren nicht mehr angeschaut hat.

Sie blickt hinauf zu den Fenstern im zweiten Stock und nimmt eine leise Bewegung wahr, spürt sie mehr, als dass sie sie sieht. Noch bevor sie die Klingel berührt hat, hört sie den Summer. Sie geht in den kühldunklen Hauseingang, die getäfelten Wände riechen schon nach Sonne und Licht. Und nach Pfeifentabak. Maria zögert. Da fällt die Tür hinter ihr ins Schloss. Gut, dass einem manche Entscheidungen abgenommen werden, denkt sie.

Thomas erwartet sie an der Wohnungstür. „Ich hätte es wissen müssen, Maria. Vielmehr, ich wusste es ja. Aber gut, einen Versuch war es wert.“ „Für wen? Für dich oder van Xanten?“ Die Eile in ihr wird immer drängender. Kein Wort zuviel, keine Minute zu lang. „Ich kenne jetzt in groben Zügen die Wahrheit, Thomas. Wir brauchen uns nicht mehr mit Details aufzuhalten. Ich will von dir nur noch Bestätigungen. Und das Wissen um das gesamte Ausmaß deiner Schuld. Keine Sorge, ich nehme dieses Wissen mit mir mit und bewahre es auf. Falls mir dein Pfeife rauchender Freund dazu noch die Gelegenheit lässt.“

Thomas setzt einen bestürzten Gesichtsaufdruck auf. Vielleicht ist er ja sogar echt. Denn als Thomas sich im Wohnzimmer großzügig von seinem kostbaren Cognac bedient, zittern seine Hände, und etwas von der goldgelben Flüssigkeit fällt auf den  Tábriz unter seinen Füßen. Sofort verbreitet sich ein Aroma von Eiche und Tagetes im Raum und verflüchtigt sich wieder.

„Maria, also wirklich. Was denkst du von mir?“ „Nur das Schlechteste, Thomas. Nur das Schlechteste.“

„Also gut. Ich werde nicht versuchen, dich umzustimmen. Aber ich fürchte, du wirst selbst erkennen, dass du dich irrst.“ Irgendwo in den Tiefen der Wohnung fällt etwas um. Thomas zuckt zusammen. Geht zur Zimmertür, schaut auf den Flur, geht kurz hinaus, Stimmengemurmel, dann kommt er zurück, schließt die Tür hinter sich. Er setzt sich auf das breite Ledersofa und schlägt die Beine übereinander.

„Ich nehme an, Frank hat dir erzählt, dass er Beweise dafür hat, dass Justus in der Stunde vor unserer Aktion keinen Terroranschlag vorbereitet hat?“ Maria schaut ihn an und schweigt. „van Xanten mochte Justus. Er wollte ihn aufbauen, etwas aus ihm machen. Als seinen Protégé. Natürlich war eine gehörige Portion Eitelkeit mit im Spiel. Er wusste genau, in Puncto Genie konnte er Justus nicht das Wasser reichen. Aber ein Förderer, der die Vorzüge seines Schützlings erkennt, steht im gleichen Lichtkegel und kann ihn sogar lenken. Aber so war Justus nicht. Er war weder käuflich noch korrumpierbar.“

„Das war der größte Unterschied zwischen euch beiden“, wirft Maria ein. Ganz sachlich und ohne Betonung. „Du bist seine Mutter,“ sagt Thomas und seufzt. „Um dich habe ich Justus immer am meisten beneidet. Wenn du nicht gewesen wärst, du und deine Gespräche, deine Überzeugungen, hätte er sich vielleicht von van Xanten überreden lassen. Aber du, du, du….“ „Du gibst mir die Schuld? Ist es so schlimm, für dich?“ „Egal. Also, van Xanten war von Justus enttäuscht, ja. Aber vor allem hatte er Angst. Angst um sein Prestige. Angst um seine persönliche Stellung. Es ging nicht darum, dass er unsere Ideen für eine echte politische Gefahr hielt. Wir waren für ihn nicht mehr als ein Haufen in die ideologische Irre gelaufener Jungspunde. Was ihm Sorgen machte, große, existentielle Sorgen, war das Potential, das er in Justus erkannt hatte. Kombiniert mit der Tatsache, dass er sich nie würde benutzen lassen, umdrehen, integrieren, war das eine gefährliche Mischung.“ „Eine tödliche Mischung, ja?“ fragte Maria. „Ja“, Thomas nickte.

„Als van Xanten einmal den Entschluss gefasst hatte, Justus zu eliminieren, was alles weitere nur Routine. Den Sprengstoff organisieren und placieren, falsche Informationen an der richtigen Stelle streuen. Der Innenminister und der Polizeipräsident waren nicht nur mit ihm „per Du“, sie spielten im selben Golfclub.“ „Und in der gleichen Korruptionsliga“, unterbricht ihn Maria spöttisch. „Aber warum musste Justus sterben? Warum genügte es nicht, ihn festzunehmen und dann nach einiger Zeit wieder laufen zu lassen?“ „Das fragst du nicht wirklich, oder? Weil Justus nie klein beigegeben hätte. Keine Drohung der Welt hätte ihn davon abgehalten, die Wahrheit zu sagen. Oder zu versuchen, sie herauszufinden.“

„Und dann wäre es auch dir an den Kragen gegangen, stimmt‘s, Thomas?“ Marias Stimme schneidet den Raum in zwei scharf abgegrenzte Bereiche. Gut und Böse. Er steht auf der falschen Seite. „Wer hat den Sprengstoff auf‘s Dach geschmuggelt? Du als Fensterputzer. Mit Erlaubnis der  Bank. Deshalb konntet ihr eure Aktion überhaupt ungehindert starten. Ohne, dass euch ein Wachmann dabei gestört hat. Was war für dich drin, Thomas? Sag‘s mir!“

„Vicky und ich wollten heiraten. Ihr Vater und van Xanten kannten sich natürlich. Ich war ein No Name ohne Geld und Adel, sozusagen. Nicht gerade die Nummer 1 unter den Bewerbern um die Hand der Millionenerbin. Van Xanten versprach mir, meinen Namen wieder mit auf die Studie zu setzen.“

„Das ist alles? Für eine schnöde Erwähnung unter einem Haufen Papier hast du Justus verraten?“ „Ich habe ihn nicht verraten! Ich wollte ihn schützen! Van Xanten hatte mir erzählt, dass der Verfassungsschutz hinter Justus her sei, weil er  bei den Startbahn-West-Demos verdächtige Kontakte zur militanten Szene geknüpft hatte. Er hat mir versprochen, dass er sich dafür einsetzen würde, dass Justus trotzdem eine berufliche Karriere an der Uni machen könnte.“

„Und das hast du ihm geglaubt?“ „Ich wollte es glauben, ja.“ „Und dann?“ „Dann rastete Justus in der U-Haft völlig aus. Wir waren ja alle verhaftet worden. Nur pro Forma, wie mir van Xanten versichert hatte. Aber Justus schrie die ganze Zeit rum, beschimpfte mich als Verräter. Und er zog Vicky mit rein. Sie würde nichts mehr von mir wissen wollen, wenn sie erst wüsste, was für ein Judasschwein ich sei.“ „Und das war dann sein Todesurteil? Hast du ihn umgebracht, Thomas? Warst du das?“ „Wo denkst du hin, Maria! NEIN!“ Thomas schreit. Er steht auf, fängt an, auf und ab zu laufen. Stolpert über den Tàbriz. Tritt gegen die Bar. „Nein! So war das nicht! Ich war ja selbst total überrascht, als ein Polizist mich in ein Zimmer führte und ich van Xanten am Fenster stehen sah. Unser ursprünglicher Plan gehe nicht auf, sagte er mir. Unser Plan! Justus werde nie und nimmer auf sein Angebot eingehen. Er sei geradezu hysterisch. Und er würde mich gnadenlos mit hineinziehen, das hätte ich ja wohl selbst bemerkt. Ich versicherte ihm, dass Justus sich in der Zelle schon wieder beruhigen würde. Aber er glaubte mir nicht. Er wollte noch einen Versuch machen und ihm ganz offen andeuten, dass dir, seiner Mutter, etwas zustoßen könnte.  Da bat ich van Xanten, mich zu ihm zu lassen und zu versuchen, ihn umzustimmen. Er gab mir zehn Minuten.

Zuerst wollte Justus nichts von mir hören. Er hockte sich in eine Ecke und hielt sich Augen und Ohren zu. Er war völlig blutverschmiert. Mein Gott, die Polizisten hatten ihn richtig zusammen geschlagen. Terroristen, auch mutmaßliche, waren seit der RAF sowas wie das rote Tuch der Staatsmacht.

Dann fragte ich, ob er wüsste, wo du seiest. Und da schaute er mich an. Ich ging ganz dicht zu ihm hin und flüsterte ihm ins Ohr, ganz gleich, was irgendwer ihm auch immer sagen, womit auch immer man ihm drohen würde, dir würde nichts passieren. Ich schütze Maria, wenn‘s sein muss mit meinem Leben. So, als wäre sie meine Mutter. Habe ich gesagt. Dann hat der Polizist an der Tür mich am Arm gepackt und rausgeführt. Aber Justus letzter Blick hängt bis heute an mir. Ich habe Wort gehalten.“

„Oh, dann verdanke ich dir ja noch viel mehr, als ich dachte, Thomas. Nicht nur meine Freiheit, nein, mein Leben! Wann hast du denn entschieden, dich von deinem Versprechen zu entbinden? Immerhin hätte ich mir gestern Abend beinahe das Genick gebrochen beim Sturz in der Pension. Aber das weißt du ja alles.“

„Maria, das Versprechen das ich Justus gegeben habe, gilt, solange ich lebe. Glaube mir. Wir blieben zwei Tage in U-Haft. Am dritten Tag wurden wir entlassen. Und erfuhren, dass Justus sich in seiner Zelle erhängt hatte. Angeblich hatte er ein Bekennerschreiben hinterlassen. Ich ging gleich zu van Xanten, ich wollte mich vergewissern, dass es den Brief wirklich gab. Er war für mich nicht zu sprechen. Aber am Abend traf ich ihn im Haus bei Vickys Vater. Sie hatte mich heimlich reingelassen. Sie war erschüttert. Ich hatte nie bemerkt, wie sehr sie Justus verehrte. Wahrscheinlich bin ich auch für sie nur die zweite Wahl gewesen! Ich stellte van Xanten zur Rede, ich war schon ziemlich betrunken. Er packte mich am Arm, zerrte mich in die Bibliothek und zischte: Justus hat gekriegt, was er verdient hat. Du hast jetzt nur eine Wahl: entweder du hältst die Klappe, dann liegen vor dir eine glänzende Karriere und ein tolles Eheleben. Oder du endest wie Justus. Und jetzt hau ab und werd nüchtern.

„Ich bin nicht stolz auf mich, Maria. An diesem Abend hätte ich Vicky die Wahrheit sagen können. Und mit den Konsequenzen leben. Vielleicht allein, vielleicht nicht reich. Aber mit einem etwas reineren Gewissen. Ich war zu schwach. Das Einzige, was ich gemacht habe, war, dich aus dem Gefängnis abzuholen, wohin sie dich gebracht hatten, um Justus Leichnam zu identifizieren, pro Forma. Und dich nach Italien zu begleiten. Aber ob ich das ohne Vicky geschafft hätte, keine Ahnung. Jetzt weißt du alles. Mach, was du willst. Aber bitte geh hier durch die Hintertür raus. In der Ecke im Garten ist ein Loch im Zaun. Ich passe auf, dass dir niemand mehr folgt. Leb wohl, Maria. Schade. Ich wäre gerne dein Sohn gewesen.“

Kapitel 7

Was soll der fürchten, der den Tod nicht fürchtet? Friedrich Schiller, die Räuber

Frankfurt am Main, 21. Juni 2004, abends

Maria sitzt auf der Bank am Schaumainkai, direkt gegenüber spiegeln sich Abendwolken in den Fenstern der Deutschen Bundesbank. Peter ist nicht da. Aber sie spürt Justus so nah bei sich wie nie mehr seit dem Tag, als die Polizei sie im Streifenwagen abgeholt und ins Untersuchungsgefängnis gefahren hat, um ihren toten Sohn zu sehen. Stundenlang, so schien es, hatte sie da gesessen, in dieser unendlichen Stille, die entsteht, wenn die Grenzen der Welt durchlässig werden für die Ewigkeit. Hatte ihn in den Armen gehalten wie damals als Kind. Das war er immer noch. Ihr Kind. Aber so kalt. So nah und so unerreichbar weit weg. So sinnlos. So tot.

„Und was macht van Xanten heute?“, hatte Maria Thomas gefragt, schon an der Hintertür. „Wie, das weißt du nicht? Ach stimmt, du hast ihn ja nie selbst gesehen. Er hat geheiratet und den Namen seiner Frau angenommen. Echter Adel, weißt du. Er heißt jetzt von Ronneberg.“ „Der Ministerpräsident?“ „Genau der.“

Maria schaut sich um. Kein Mensch in der Nähe. Sie stellt die große Einkaufstüte neben sich. Darin liegen ein Kittel, ein Kopftuch, professionelles Reinigungsmaterial. Und eine Reihe chemischer Zutaten. Maria kann sich gut an das Rezept für ihren „Lieblingscocktail“ erinnern, auch, wenn das nie mehr als ein Running Gag zwischen Justus und ihr war. Justus hatte sich immer so sehr auf Weihnachten gefreut. Auch, als er eigentlich kein Kind mehr war. „Einmal werden wir noch wach…“ hatten sie gemeinsam gesungen, am Vorabend der Bescherung. Ja. Genau. Einmal werden Sie noch wach, Herr Ministerpräsident.

Kapitel 8

Ich hab zwei große Türen aufgemacht. Ludwig Hirsch

Frankfurt am Main, 22. Juni 2004, frühmorgens

Am nächsten Morgen geht Maria in aller Frühe zur Staatskanzlei. Hält dem Pförtner den Putzkolonnenausweis hin, den Thomas zwanzig Jahre lang aufbewahrt hat. Die Türen sind offen, wie versprochen. Im Putzwagen verborgen die Mollie mit Zeitzünder. Sie deponiert sie im Papierkorb des großen Büros, direkt unter dem Telefon. Pünktlich um neun wird Thomas den Ministerpräsidenten anrufen. Und dann. Schöne Bescherung!

Epilog

Es ist / Verwelkt der Lorbeer und das Saitenspiel verklungen! / Es war auf Erden ihre Heimat nicht. Sappho

Basilica di San Pietro, Rom.

Ich weiß, du hättest so etwas nie gemacht, sagt sie der trauernden Mutter aus Stein. Ich weiß, dein Sohn hätte das nicht erlaubt. Meiner auch nicht, weißt du. Justus war immer und absolut gegen jede Gewalt. Und er ist ja auch nicht wieder lebendig geworden, nur, weil ich ein Molotowcocktail ins Büro des hessischen Ministerpräsidenten gelegt habe. Ich schäme mich dafür. Und ich bitte dich, verzeih mir! Es war ja dann letztendlich doch nur eine kleine Bombe. Er ist nicht gestorben, wie Justus. Ich weiß selbst, dass es falsch ist, aber ich fühle mich irgendwie befreit. Und nicht nur ich. Auch Thomas. Er hat wirklich versucht, die Vergangenheit rückgängig zu machen. Und Frank sei verändert, erzählte mir Melanie. Kümmere sich mehr um die Kinder und suche sich eine Arbeit. Nur Peter ist verschwunden. Aber ich denke, vielleicht sehe ich ihn eines Morgens bei mir auf der Terrasse stehen. Dann biete ich ihm einen Kaffee an und ein Margarinebrot. Und wir blättern in Justus Fotoalbum. Du bist nicht allein, Maria aus Stein. Und ich bin es auch nicht mehr.

MiniKrimi Adventskalender am 23. Dezember


Heute und morgen präsentiere ich euch hier nochmal einen „Bibelkrimi“. Dazu muss ich nichts erläutern, er ist selbsterklärend. Viel Spaß heute beim ersten Teil.

Molotow Madonna

Prolog.

Denn alles, was entsteht, ist wert, dass es vergeht. Drum besser wär’s, wenn nichts entstünde. Johann Wolfgang von Goethe

Basilica di San Pietro, Rom. Wie lange steht sie schon  vor diesem Meisterwerk Michelangos, wie zu einem Gegenentwurf erstarrt?  In Marmor geschnittene Trauer, zur Unendlichkeit verdammt. „Signora? Lady? Itte ise closinge taime. Wire schlissene“. Der Custode steht jetzt dicht hinter ihr.  Sie riecht seinen Feierabenddunst nach Rasierwasser und Knoblauch an ihrer Schulter. Nicht unangenehm. Eher irdisch. Alltäglich. Es ist dieser Geruch mehr als seine Stimme, der sie erreicht und zurückholt aus der Erinnerung. Aus dem Traum. Eben noch hatte sie Justus Haut gespürt, kühl wie ein schattiger Stein, schweißfeucht und weich. Eben noch hatte er in ihren Armen gelegen. Und jetzt steht sie da, in der lebensleeren Kirche, und schaut auf die Pietà, diese ewige Mutter mit ihrem toten Sohn. Ausgeschlossen selbst von diesem einen großen Schmerz. Du bist wenigstens nicht allein, denkt sie, du hältst ihn fest. Ich bin einsamer als du. „Scusi. Adesso vado“,  sagt sie in die Tiefe der verlassenen Kirche hinein, geht schnell zur nächsten Tür hinaus und hinein in die Sonne, noch bevor das Echo ihrer Absätze auf dem Steinboden verhallt.

Kapitel 1

Parole, parole parole, Worte in den Wind gesprochen…… Dalida

Frankfurt am Main, 20. Juni 2004, mittags

„Gut siehst du aus! Ich hab oft an dich gedacht, wie es Dir wohl geht, was du wohl machst…“  „…ob ich wohl auch nicht zurück komme… Ob ich euch in Ruhe lasse…“ „Maria, bitte! Wie kannst du… Ahahaha, immer noch die gleiche scharfe Zunge! Daran muss ich mich erst wieder gewöhnen…“ „Willst du wirklich, dass ich so lange bleibe?“ Während Thomas zu weitschweifigen  Erklärungen ausholt, verbale Protuberanzen, wie Justus diese Art genannt hatte, mit der sich Thomas aus unangenehmen Situation herauszureden pflegte, schaute sie sich um. Eine geräumige Altbauwohnung, aufwendig und stilistischer saniert. „Was macht deine Frau denn beruflich?“, fragt sie und tastete sich Blick für Blick entlang an mokkabraunen Wänden, einem Kamin aus rotem Carraramarmor, Mahagonitischen mit exakt austarierten Bücherstapeln und üppigen Chrysanthemensträußen. „Innenarchitektin?“ „Woher weißt du das?“ Thomas klingt ehrlich besorgt. Vor allem das Ehrliche wundert sie. „Nur eine Vermutung. Du warst ja schon damals mehr an Inhalten interessiert als an der Verpackung.“ „Du erinnerst dich an unsere  nächtelangen Diskussionen? Das waren Zeiten!“

„Du und Justus, ihr konntet nichts einfach so stehen lassen. Jede These, jede Idee musste ausgereizt werden…“ „…zu Ende gedacht! Und dann entweder akzeptiert oder verworfen. Maria, dein Sohn und ich, wir hatten den Schlüssel zur idealen Gesellschaft in der Hand. Unser Plan war nicht einfach nur genial, er war der richtige! Wenn wir ihn damals umgesetzt hätten, sähe Europa heute anders aus. Keine Überalterung, kein Nord-Süd-Gefälle, keine Langzeitarbeitslosigkeit!“ „Und woran ist Euere Idee gescheitert, Thomas?“ „Keine Ahnung. Gesellschaft war noch nicht bereit? Vielleicht waren wir zu radikal? Justus  war absolut kompromisslos gegenüber dem Establishment…“ „…mit dem du ja schon geliebäugelt hast…Viktoria .. Die Bankierstochter … Ist sie das, da auf dem Foto?“

„Sie war mit dabei auf den Demos, damals. Ich hatte keine Ahnung von ihrem familiären Hintergrund. Außerdem…“ „Ja. Wo die Liebe hinfällt… Aber du hättet nicht ewig auf 2 Hochzeiten tanzen können. Morgens mit Justus und der Truppe die Weltrevolution ausrufen und abends zu Opernball und Champagnerempfang. Thomas, ich bin nicht zum Vergnügen hier. Ich habe nicht vergessen, dass du es warst, der mir geholfen hat. Geld, Papiere, eine neue Identität. Ohne Victorias Familie wäre das nicht möglich gewesen. Dass ich überlebt und den Schock nach Justus Tod überwunden habe, verdanke ich dir. Aber jetzt muss ich meinen Frieden finden. Du verstehst das doch, Thomas? Du musst das verstehen. Und du musst mir helfen“.

Thomas sitzt ganz still in seinem Sessel. Ist er eingeschlafen? Entschlafen, vielleicht? Nein. Er legt den Kopf zurück und beginnt einen verzweifelten Dialog mit der Stuckdecke. „Maria. Maria! Ich habe nie mehr etwas von dir gehört! Ich dachte, du hast ein neues Leben gefunden. Eine neue Familie, vielleicht sogar. Lass’ die Vergangenheit ruhen,  Maria. Und selbst wenn ich wollte, wie könnte ich dir helfen? Ich weiß doch auch nichts.  Ich habe zwanzig Jahre lang versucht, ein paar Stunden zu vergessen. Und es ist mir nicht einmal annähernd geglückt. Immer wieder holen sie mich ein, in diesem immer gleichen Albtraum. Und ich sehe Justus unten am Seil, wie er zu mir heraufschaut und mich anlacht. Und das Lachen wir lauter und lauter, und dann hängt er an einem anderen Seil, vom Fenster in der Gefängniszelle. Nein, Maria, ich will mich nicht erinnern! Keiner kann das von mir verlangen!“

Mit einem Ruck senkt Thomas den Kopf, reißt die Augen auf und flüstert: “bitte, geh.“ Sie sieht ihn an mit einem Blick, den er sofort erkennt, von Justus so gut kennt. Natürlich, sie ist ja seine Mutter. Und er versteht, dass sie die Wahrheit sucht. Aber er kann sie ihr nicht geben. „Versuchs doch mal bei Peter. Vielleicht kann der dir weiter helfen.“ „Peter? Und wo finde ich den? Hier in Frankfurt?“ „Jaaa. Eine Adresse hat er leider nicht. Er wohnt mal hier, mal da. Aber mittags und abends kannst du ihn in der Bahnhofsmission finden. Da holt er sich sein Margarinebrot.“ „Was? Peter? DER Peter? Euer  „Einsteinchen?“ „Was glaubst du denn, Maria? Dass Justus Tod nur dich zerstört hat? Wir waren alle total fertig, damals. Peter hat keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen. Studium geschmissen, Gelegenheitsjobs angenommen und soviel gesoffen, dass er die Probezeit nie überstanden hat. Ich helfe ihm von Zeit und Zeit und wo ich kann. Ich weiß genau, dass ich es nur Vicky zu verdanken habe, wenn ich heute nicht neben ihn am Mainkai übernachten muss“.

Thomas steht auf und geht zur Bar. Greift nach einem Cognacschwenker und einer aufwändig versilberten Karaffe. Schenkt sich großzügig ein. „Du auch einen Frapin Cuvé 1888?“ „Danke, mir ist schon schwindlig. Hoffentlich hast du Peter nichts davon angeboten, sonst kommt er noch auf den Gedanken, dass du genug Geld hättest, um ihm mehr als ein Margarinebrot zu spendieren.“ Thomas starrt in den honiggelben Branntwein. „Ja, ein Schluck hiervon würde ihn einen Monat lang ernähren. Das ist die Schmiede des Lebens. Du hast die Wahl. Bist du Hammer oder Amboss? Ich habe mich entschieden.“ Maria stützt sich mit beiden Händen auf den Sessellehnen ab. Ihre Beine sind schwer, ihre Füße geschwollen. „Ich finde hinaus“, sagt sie. Aber Thomas reagiert nicht einmal. Er steht unbeweglich am Fenster, eine schwarze, bauchige Silhouette vor einem rotvioletten Stadthimmel.

Kapitel 2

Was wollen wir trinken, sieben Tage lang, was wollen wir trinken, komm sag an! Bots

Frankfurt am Main, 20. Juni 2004, nachmittags, abends

Frankfurt Bankfurt. Das war einer der Sprüche, die auf den Transparenten standen, damals. Von wegen Occupy. In Frankfurt hatten die Studenten schon in den 1980er Jahren gewusst, welches Ende es nehmen würde, wenn die Banken nicht an die Kandarre kämen. Justus, Thomas, Frank und Peter hatten genaue Vorstellungen davon, was passieren würde, wenn die Märkte unkontrolliert wachsen und der Handel mit  Wertpapieren von Finanzjongleuren in ein Roulette verwandelt würden. Und sie hatten einen Plan entwickelt, um das zu verhindern. Politische Instrumente, die die Wirtschaft in den Dienst der Gesellschaft stellen würden. Und nicht umgekehrt. Ihre Ideen waren nicht wirklich neu. Und auch nicht revolutionär. Sie waren so logisch und leicht nachzuvollziehen, dass jeder, wirklich jeder davon überzeugt worden wäre. Wenn sie die Chance bekommen hätten, sie vorzustellen. Einer breiten Öffentlichkeit. Die Medien hätten sich darauf gestürzt, Talkshows und Interviews hätten die Truppe bekannt gemacht. Und das einfache Volk, der „deutsche Michel“, hätte zugehört. Und sich nicht weggedreht wie dieser Uniprofessor Franz Xaver von Xanten. Dabei war der Plan doch auf seinem Mist gewachsen, letztendlich. In seinen Seminaren  hatte er die Grundlagen dafür gelegt. Justus und Thomas hatten nur weiterentwickelt, was er als Grundriss skizziert hatte. Aber er? Wie Marcuse und Habermas hatte er offenbar keine Lust, mit anzusehen, wie seine Ideen Gestalt annahmen und Umsetzung….

Und heute? Zwanzig Jahre danach hat Bankfurt sein Profil geschärft. Die Skyline aus glitzernden Glasfassaden schmiegt sich an den Mainufern entlang, dazwischen Museen als sichtbares Zeichen der Allianz von Geld und Kunst. Sogar die Lokale im Bahnhofsviertel haben glänzende Schaufensterscheiben und sehen nicht annähernd so schäbig aus wie in den 80ern. Touristen und Busse, Fahrräder, dicke Autos und dazwischen dunkelhäutige Männer und Frauen mit Kopftüchern, alle in Eile, alles im Fluss. Auf der Hauptbahnhofsüdseite prallt der Lärm plötzlich von den renovierten Steinwänden ab. In der Baseler Straße riecht es nach Urin und altem Fett, und auf den Stufen der Bahnhofsmission sitzt eine Gruppe junger Japanerinnen mit mannshohen Rucksäcken und sonnenverbrannten Gesichtern.

Niemand nimmt von Maria Notiz, als sie an den Tischen und auf den Bänken nach Peter sucht. Sie ist sich sicher, dass sie ihn erkennen wird. Verwahrloster als damals kann er nicht aussehen. Schließlich fragt sie eine junge Praktikantin und nimmt ihr das Misstrauen mit der Erklärung, sie sei seine Tante und wolle ihn zum Essen einladen. „Ich fühle mich immer noch wie Mitte Dreißig, aber wenn ich mich für eine Sechzigjährige ausgebe, glaubt mir das jeder,“ merkt sie. Ihr Spiegelbild in dem blankgeputzten Fenster wirft ihr das Bild einer graumelierten, leicht untersetzten Frau mittleren Alters zurück. Mittleren Alters bei Annahme einer Lebenserwartung von 120. „Nein, tut mir leid, Herr Brenner ist heute noch nicht gekommen. Aber  schauen Sie doch mal ins Haus Windeck. Da hat er,  glaube ich, grade ein Zimmer. Er freut sich bestimmt, seine Tante zu sehen. Er hat ja so viel von Ihnen erzählt!“ Maria widersteht dem Bedürfnis, ein Missverständnis mehr in dieser Welt aufzuklären. Und geht hinaus in die Sonne der Baseler Straße, ein Margarinebrot in der Hand.

So lange war sie nicht in dieser Stadt. Sie hatte so gehofft, alle Brücken verbrannt zu haben, hinter sich. Aber während sie durch das Wirtschafts- Kultur- und Verwaltungsviertel wandert, kommen Erinnerungen geflogen wie Motten. Flattern ins Augenlicht. Justus am Römerberg. Verstecken spielen dort, wo heute die Schirn steht. Mama ein Eis, bitte! An der Kurt-Schumacher-Straße gibt sie den Kampf  gegen das Gestern auf und nimmt ein Taxi zur Windeckstraße. Die Dame am Empfang des Männerheims sieht aus wie eine Figur im Vorabendkrimi aus Hamburg.  Und sie will ihr partout nicht sagen, ob Peter hier wohnt oder nicht. „Seine Tante? Ach. Na dann lassen Sie mal ne Telefonnummer da, wenn er kommt, richte ich ihm aus, dass sie da waren“. Sie ist Majorin bei der Heilsarmee und spricht wie ein Feldwebel. Sie kennt keinen Widerspruch, und Maria wundert sich, dass die Männer hier im Wohnheim, immerhin allesamt an die rauen Stürme des Alltags gewöhnt und gewiss nicht zimperlich im Umgang mit Frauen, sich das gefallen lassen. Als wäre man ein kleines Kind. Genau, denkt sie dann. Und erinnert sich ganz unvermittelt im Gespräch an den „kleinen Peter“ und sein verschmitztes Glucksen, wenn er ihr die Augen zuhielt und fragte: „rate mal, wer das ist?“ Treffer. Mitten ins Mutterherz der Majorin. „Also für gewöhnlich sitzt er um diese Zeit auf einer Bank am Schaumainkai und betrachtet die Skyline,“ sagt sie. „Auf welcher Bank, kann ich Ihnen nicht sagen!“, schiebt sie noch hinterher, aber der Stahl in ihrer Stimme ist geschmolzen. „Natürlich, da hätte ich auch selbst drauf kommen können,“ kontert Maria, „Bänke und Banker waren schon immer seine Faszination“.

Das Mainufer im Sommer ist ein beliebter Treffpunkt. Für Verliebte ebenso wie für Hundebesitzer,  Halbwüchsige mit gesteigertem Alkohol- und Nikotinbedarf und Drogengeschäfte. Die Polizei hatte diesen Ort des flüssigen Geschehens schon in den 1980ern abgeschrieben und den Strom seinem Treiben überlassen. Maria muss nicht lange suchen. Peter hat den idealen Beobachtungsposten gewählt. Wenn es denn etwas zu beobachten gäbe, jenseits der trägdunkel dahinschaukelnden Fluten. Direkt gegenüber reckt sich der Turm der Deutschen Bundesbank in die granitgrauen Wolken, die sich drohend am Sternenhimmel zusammengeschoben haben wie ein spontan anberaumter Flashmob.

Sie setzt sich neben ihn. Einfach so. Den ganzen Weg bis hierher hat sie Worte wie Puzzleteile umhergeschoben, auf der Suche nach der richtigen Kombination für einen Begrüßungssatz. Schweigen erscheint ihr am natürlichsten. Was sollen sie sich auch sagen? Die Mutter, deren Sohn in einer Nacht vor zwanzig Jahren an der Hochhauswand auf der anderen Seite des Mains festgenommen und kurze Zeit später tot in seiner Zelle gefunden wurde, und der Freund, der dabei war, damals, der das alles überlebt hat und jetzt hier sitzt, nach Alkohol stinkend zwar, ungekämmt und wahrscheinlich sogar verlaust, aber am Leben, immerhin. 

„Du bist zurück.“ „Ja.“ „Hast aber lange gebraucht, dafür.“ „Hm.“ „Ich komme jeden Tag hierher. War mein erster Weg, gleich als sie mich aus der Haft entlassen haben.“ „Ich wollte es wenigstens versuchen. Ich habe es versucht, Peter.“ „Was? Vergessen?“ „Verzeihen“. „Und du schaffst das nicht? Ausgerechnet du? Hahaha!“ Ein hohler Laut, heiser und höhnisch, eine Lache, kein Lachen, räkelt sich träge in seiner Kehle. So schwach, es bewegt nicht einmal seinen Adamsapfel. „Und jetzt willst du dich rächen. An mir!“ „Nein, Peter. Ich will nur die Wahrheit wissen. Ich habe ein Recht darauf. Als seine Mutter.“ „Seine Mutter und mehr. Sein Vorbild. An Mut, an Tatkraft. An Entschlossenheit. Kompromisslos und direkt.“ „Und ehrlich.“ Sie flüstert es, plötzlich zuversichtlich, ihn eingeschworen zu haben, auf die Sache, ihre gemeinsame Sache. „Ehrlich? Was ist denn ehrlich? Das frage ich mich seit der Nacht damals. Immer wieder.“

„Justus war ehrlich! So ehrlich, dass er am Ende sogar gestorben ist, daran.“ „Justus? War ehrlich? Das habe ich immer geglaubt. Aber war er das wirklich?“ Peter schüttelt den Kopf, langsam, er sieht aus wie Master Joda oder  eine animierte Schildkröte aus einem japanischen Zeichentrickfilm.  Dann fängt er übergangslos an zu erzählen, und Maria braucht selbst ein paar Sekunden, um zu verstehen, wovon er redet. Von der Nacht vor genau 2o Jahren.

„Wir haben uns den ganzen Tag ausgeruht, damit wir fit sind, richtig fit. Aber ich bin so müde, als hätte ich einen Marathonlauf durch den ganzen Taunus gemacht. Wir sollen nichts trinken, hat Justus gesagt. Und nicht einschlafen. Hellwach und nüchtern sollen wir sein, sonst kann die Aktion schnell lebensgefährlich werden. Hahaha!

Wir haben geübt, das ganze letzte Jahr. Sind im Taunus rumgeklettert. Naja, eigentlich sind wir erst dort auf die Idee zu der Aktion gekommen. Wir hängen da so am Felsen, an der Lorsbacher Wand, da ruft Justus plötzlich nach unten: Hey, stellt euch mal vor, das wäre die Fassade  der Deutschen Bundesbank. Da würden die Leute gucken, was?“ Erstmal war das nur sowas wie unser Running Gag. Aber irgendwann kam einer von darauf, dass so eine Aktion, genau so eine Aktion, uns mit einem Schlag bekannt machen würde. Was wir monatelang versucht hatten, in die Presse zu kommen, einen Termin beim Bürgermeister zu kriegen, in Bonn, im Wirtschaftsministerium. Keiner wollte was wissen von uns. Und Professor van Xanten war der Schlimmste von allen. Dabei hatte der uns doch erst darauf gebracht, dass wir eine neue Ordnung brauchen, wenn nicht alles vor die Hunde gehen soll, in Deutschland. In Europa. Auf der Welt. Ungebremstes Wachstum zerstört die Erfinder, das hat er uns immer wieder gesagt. Und „der Mensch ist des Menschen Wolf“. Aber dann, als wir zu ihm gekommen sind, mit unserem Plan? „Die Revolution frisst ihre Kinder“, hieß es dann plötzlich. Und: fangt erst mal mit eurem eigenen Leben an. Macht das Studium zu Ende. Findet ’nen Job. Ne Frau. Die ganze Cat Stewens-Leier. Scheiße, Mann. Darauf hatten wir keinen Bock, nee. Also ab in den Untergrund. Und da haben wir dann die Aktion geplant. 

Die Kletterseile und Karabiner haben wir in Darmstadt gekauft, um nicht aufzufallen. Die Helme in Mainz. Magnesia hätten wir beinah vergessen. Der Rest war Übung. Hahaha! Thomas hat sich bei ’ner Putzfirma anheuern lassen und die Fassade der Deutschen Bundesbank ausspioniert. Und Fotos gemacht. Ich hab ne Skizze angefertigt von der Route. Und auswendig gelernt. Kein Papier rumliegen lassen, im Zimmer. Oder sonstwo.  Thomas geht voraus, dann ich, Justus als letzter mit dem Transparent. So isses geplant. Also packen wir alles zusammen. Fangen um vier Uhr nachmittags an, viel zu früh. Wir haben einen Fahrradanhänger dabei, sowas neues, wo man die Kinder reinsetzt. Den können wir erst beladen, wenn es dämmert. Irgend so ein Depp schaut sonst bestimmt aus dem Küchenfenster raus in den Innenhof und fragt: „Hey was mache se denn mit dem Anhänger da, habbe se uff aamal Kinner?“

Wir gehen den Plan nochmal durch. Schritt für Schritt. Melanie und Frank sichern und machen einen auf Liebespaar, dabei. Haha. Weißt du, dass die jetzt verheiratet sind, Maria? Krank, was? Thomas geht als erster. Er kennt den Weg, und er hat ein paar Griffe montiert, beim Fensterputzen. Ich kapiere bis heute nicht, dass das keiner gemerkt hat! Haha, das kommt, weil die Banker zu sehr mit der Innensicht beschäftigt sind. Da kriegste nicht mit, was vor deinem Fenster passiert.“ „Ich habe gar nicht gewusst, dass ihr klettern konntet. Justus hat nie davon erzählt.“ „Justus hat viel nicht erzählt, Maria. Ganz viel, glaube ich.“ „Und dann?“ „Dann isses dunkel und wir wollen los. Packen alles in den Fahrradanhänger. Da sagt Justus, ich komme gleich nach. Muss noch schnell was erledigen. Wie, was? frage ich. Aber Thomas sagt nur ok, ok.

Ich kapier das nicht. Ich kann das nicht ab, wenn plötzlich was nicht nach Plan läuft. Pläne sind wichtig! Ich hab meinen Plan. Jeden Morgen ein Margarinebrot am Bahnhof. Mittags wieder. Am Abend ne Suppe bei der Majorin. Und dann ein Bier hier auf der Bank. Das ist mein Plan.“ „Ja, das ist dein Plan, Peter. Aber warum hat Justus euren Plan umgeworfen?“ Maria bemüht sich, ihre Stimme tief zu halten, sich nichts von ihrer Aufregung anmerken zu lassen. „Justus hat alles kaputt gemacht. Alles. Wir sind zur Deutschen Bundesbank gefahren. Melanie und Frank haben sich abgeknutscht und dabei die Straße im Auge behalten und das Transparent. Thomas ist losgeklettert, ich soll warten, bis Justus kommt. Aber er kommt nicht. Thomas macht von oben Zeichen mit der Taschenlampe. Dann endlich kommt Justus. Ganz blass und wortlos. Klappt das Transparent auseinander, schaut mich an und sagt: wenn du keine Lust mehr hast, dann geh. JETZT. Ich glaub ich spinn. Tickt er noch richtig? Ich starre ihn an. „Ok, Mann. Dann los jetzt!“, brüllt er. So laut, dass Melanie los schreit. Und ich klettere. Einen Meter, zwei. Drei. Ich höre Justus atmen, hinter mir. Und dann wird‘s plötzlich total hell. Überall Autos und eine Stimme, wahnsinnig laut: Hier spricht die Polizei. Kommen sie sofort da runter. Werfen Sie die Schusswaffen weg und nehmen Sie die Hände hoch. Ich schau runter. Schusswaffen? Was für Schusswaffen? Jemand reißt Justus auf den Boden. Er fällt hin. Ein Bulle tritt auf ihn ein. Ich schreie. Da sieht Justus mich an. Nur mich.“

Peter stützt seinen Kopf in die Hände, krümmt sich auf der Bank zusammen, als würde er die Schläge spüren, selbst, jetzt, nach zwanzig Jahren. „Er schaut mich an. Und der Plan? Justus? Was ist mit unserem Plan?

Ich habe einen Plan. Meinen Plan. Jeden Morgen ein Margarinebrot am Bahnhof. Mittags wieder. Am Abend ne Suppe….“ „Peter, ich weiß. Peter, hör mir zu. Was war passiert, Peter? Wer hat euch verraten?“ Aber Peter hört nicht mehr zu. „Justus, warum? Van Xanten war ein Arsch. Das wussten wir. Justus, warum? Wo ist dein Plan? Ich habe einen Plan, Justus. Ein Plan ist wichtig. Jeden Morgen ein Margarinebrot…“ „Peter. PETER! Was war mit van Xanten? Peter?“ Peter wiegt seinen schmächtigen, schlecht riechenden Körper hin und her. Murmelt: „Morgens ein Margarinebrot. Das ist mein Plan.“ Dann, plötzlich, hält er mitten in der Bewegung inne. Schaut Maria mit durchdringenden rot unterlaufenden Augen an. „Haste mal‘n Bier, Mädel?“  Maria steht auf und geht. Wortlos. So, wie sie gekommen ist.

Kapitel 3

Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realismus. Alfred Hitchcock

Frankfurt am Main, 20. Juni 2004, nachts

Plötzlich kommt Maria alles zu groß vor, zu laut. Das Knirschen der Kiesel unter ihren Schritten. Die von einer Windböe geschüttelten, nachtgrauen Kastanienblätter, die Umrisse des Bootshauses am Fuß der Treppe. Die schwarzen Wellen. Es riecht nach Wasser. Und nach Pfeifenrauch. Maria bleibt stehen. Nimmt Witterung auf und saugt die Nachtluft durch die  gekräuselte Nase. Der Raucher muss auf der Treppe stehen, auf der untersten Stufe. Er will nicht gesehen werden, aber doch bemerkt. Plötzlich ist der Schaumainkai wie ausgestorben. Keine Pärchen, keine Junkies. Keine Hunde und Besitzer. Geschweige denn eine Polizeistreife.

Sie zählt im Stillen bis fünf. Dann rennt sie los. An der Schweizer Straße hält sie ein Taxi an. Lässt sich atemlos auf die Rückbank fallen. Schweiß rieselt zwischen ihren Schulterblättern den Rücken hinunter. Zieht als dünnes Rinnsaal Streifen in das Makeup ihrer Stirn, klebt in den Augenfalten und bleibt in ihren Wimpern hängen. Sie ist noch nie gerne gejoggt. Mit sechzig ist sie dafür definitiv zu alt.

Der Nachtportier hebt nur kurz den Blick von seinem Buch, als Maria die Glastür aufschiebt. Ist sie so schwer oder bin ich so schwach? fragt sie sich. Zu alt! denkt sie wieder, als sie Sekunden braucht, um sich selbst in dem Spiegel an der Wand rechts neben der Rezeption zu erkennen. „Zimmer vierzehn, bitte. Hat jemand nach mir gefragt?“ „Wieder schaut der Nachtportier von seinem Buch auf, unwillig, wie ihr scheint. Er hält es aufgeschlagen in der linken Hand, während er im Sitzen den Oberkörper verdreht und mit der Rechten ihren Schlüssel vom Haken nimmt. Das Fach dahinter ist leer. „Nee, keiner“, brummt er. Maria hat plötzlich das unwiderstehliche Bedürfnis nach  einer Konversation mit einem normalen Menschen, einem ihr freundlich gesinnten. Und ein Leser ist doch ein freundlicher Mensch, oder? „Was lesen Sie denn da?“ fragt sie ihn mit, wie sie meint, genau austarierter stimmlicher Schwingung zwischen Interesse und Neugier. „Ein Rezept für Rippche mit Sauerkraut, mei Frau is im Krankehaus un da muss isch morsche koche. Bleibt einem abber auch nix erspaat. Wolle se sich noch was mit ruff nemme? Wasser und Bier is inner Minibar.“ „Danke, sehr freundlich. Nein. Ich bin müde. Bitte, wecken Sie mich morgen um acht. Gute Nacht.“

Kein Literat, aber freundlich. Maria steigt die mit abgewetztem rotem Teppich belegten Stufen hinauf, geht links einen Gang hinunter, ihr Zimmer ist das letzte hinten im Eck. Plötzlich geht mit einem dumpfen Klack das Deckenlicht aus. In der muffigen Finsternis tastet Maria nach der Wand, hebt  gleichzeitigen den rechten Fuß – und macht einen Schritt ins Leere. Sie verliert den Halt und fällt.

Eine Stufe, noch eine, eine dritte. Die Treppe ist hart und steil. Da fühlt sie eine Hand an ihrem linken Unterarm und eine an ihrer rechten Schulter. „Vorsicht, Stufe!“ sagt eine tiefe Stimme. „Ohne Licht ist das hier lebensgefährlich, gnädige Frau.“ Als sie wieder steht, lässt der Mann ihren Arm los. „Ist Ihnen nichts passiert? Soll ich Ihnen was zu trinken bringen? Oder …. wollen wir gemeinsam einen Absacker nehmen, auf den Schreck? Drüben in Sachsenhausen, vielleicht?“ Maria steht. Wacklig noch, aber sie steht. Langsam lockert der Schreck seinen Griff. und sie beginnt wieder, zu denken und zu fühlen. Immer noch fehlt das Licht. Vielleicht ist ihr Geruchssinn deshalb geschärfter als sonst. Fein aber ganz deutlich nimmt sie den Pfeifengeruch wahr. Pflaume und Whiskey. Der gleiche wie am Schaumainkai. Sie reißt ihre Augen auf, sicher sieht er das Weiße in ihnen im Dunkeln leuchten. Sie macht sich steif, lehnt sich so weit wie möglich nach hinten. Stille. Sekundenlang nur. „Sie sollten sich in Acht nehmen, wissen Sie“, flüstert es plötzlich heiser an ihrem Ohr. So dicht, dass sie bei jedem „t“ die Spucketröpfchen spürt, auf ihrem Hals. „Vielleicht ist Frankfurt einfach nicht das richtige Pflaster für Sie. In Italien ist es doch auch viel wärmer. Gehen Sie zurück. Bevor es zu spät ist.“ Mit einem Mal ist das Licht wieder an, und hastige Schritte eilen die Treppe hinauf. „Da bin ich aber beruhigt, dass Ihnen nichts passiert ist, gnädige Frau“, ruft der Pfeifenraucher überlaut in Richtung Gang. „Gute Nacht“ Und, leise: „Denken Sie an meinen Rat“.

„Iss Ihne werklisch nix bassiert?“ fragt der Nachtportier. Er ist ehrlich besorgt. „Das is in dreissich Jahre noch ned vorkomme. Da is einfach die Sischerung rausgefalle. Isch hab se grad widder reigedreht“.

„Danke, alles ist gut“, sagt Maria. „Nichts ist gut“, denkt sie und schließt die Tür ihres Zimmers zweimal ab.

Kapitel 4

In der Armut liegt ein Glanz verborgen, der Glanz des Authentischen. Ernesto Cardenal

Frankfurt am Main, 21. Juni 2004, am späten Vormittag

Alles sieht ganz anders aus und trotzdem genau wie früher. Die Fressgass war in den Achtzigern die Gourmetmeile Frankfurts, wo alle, die es sich leisten konnten oder so tun wollten, als ob sie das könnten, sich mit Lebens- und Genussmitteln eindeckten. Gänseleberpastete, Champagner, erlesene Parfums, feine Zigarren. Heute sind noch ein paar Läden mit biologischen Spezialitäten hinzu gekommen und einem Gütesiegel, dass die Verdoppelung eines überteuerten Preises rechtfertigt. Aber auch hier das für Frankfurt so typische Gedränge aus Menschen aller Haut-, Haar- und Augenfarben. Frauen in High Heels und Miniröcken, Frauen in Burkas, Frauen mit Pekinesen und Frauen mit Kinderwagen. Männer in Anzügen und Manschettenknöpfen, Männer mit Jelaba. Blonde Kinder mit heller Haut und dunkle Kinder mit Mandelaugen. Dazwischen Asiaten in Söckchen und Gruppen mit Fotoapparaten vor dem Bauch. Jetzt im Sommer  fallen sie wieder in Scharen ein. Touristen aus Amerika, aus Japan, sogar aus Russland. Vor der Konditorei Lochner bleibt sie stehen, plötzlich gepackt von der Lust auf Bethmännchen. Sieben Euro verlangt die Verkäuferin. Sie ist barsch und spricht sächsisch. Beides ist neu in der Fressgass, stellt Maria fest. Die Zeiten haben sich eben geändert. Mit der Bethmännchentüte in der Hand geht sie weiter zum Kornmarkt.

Um Wackers Kaffeegeschäft scheint die Zeit einen Bogen gemacht zu haben. Drinnen sieht es noch genauso aus wie in den Achtzigern. Die blank blitzenden Kaffeeschütten, die hohe Theke, auf der sich Schokoladen, Plätzchen und allerlei kleine Geschenke einladend türmen. Die kleinen wackeligen Tischchen und an jedem mindestens eine Person zu viel. Alle lachend, alle redend, Kaffee trinkend. Nur die Luft ist anders, heute, bemerkt Maria. Früher hatte jeder eine Zigarette in der Hand. Das gehörte dazu, zum Sehen und Gesehen werden. Wie oft hatte sie sich mit Justus hier verabredet. Sie kam aus dem Verlag und er aus der Uni. Sie wollte ihm nicht nachspionieren. Erwachsene Kinder sind zwar immer noch deine Kinder, aber sie sind eben auch erwachsen. Deshalb respektiere ihre Privatsphäre, so, wie du es dir von ihnen und von jedem anderen Menschen für dich wünschst. Das war Marias Maxime gewesen. Und je deutlicher sie diese geäußert und vor allem gelebt hatte, um so lieber hatte sich Justus mit ihr getroffen.

Und nicht nur er. Auch seine Freunde liebten es, mit Maria zu diskutieren. Über das Habermas-Interview in der taz, über den Washington-Consensus in der Wirtschaftstheorie und über den Club of Rome. Sie mochten ihre „anarchistischen Anschauungen“, wie Thomas sie nannte. Der Tisch ganz hinten am Fenster war ihr Stammplatz gewesen. Unwillkürlich geht Maria in den Laden. Hinter der Theke fremde Gesichter. Ihr Platz ist besetzt. Natürlich. Es duftet nach frisch gemahlenem Kaffee und Brötchen. Maria schließt die Augen. Für einen Moment erwecken diese vertrauten Düfte die Vergangenheit wieder zum Leben. Und sie sieht sich dort sitzen, eine dynamische, noch junge Frau mit braunen Locken, großer Brille und feinen Falten um Mund und Augen, Lachfalten, Glücksfalten. Um sie herum junge Studentinnen und Studenten. Lebenshungrig. Wissensdurstig. Voller Tatendrang und dem Wunsch, die Welt zu verändern. Zu verbessern.

Und? Was haben sie erreicht? Nichts! Die Welt dreht sich weiter, aber Justus ist tot. Nein. Das ist nicht seine Schuld und nicht die Konsequenz seiner Ideen, seiner Überzeugung. Das ist die Schuld eines anderen. Eines Menschen mit bösen Hintergedanken und ausreichender Macht, um sie auszuführen. Wenn Justus Tod nicht umsonst sein soll, dann muss Maria diesen Mann finden. Und zu Ende bringen, was Justus nicht anfangen konnte. „Was kann ich für Sie tun? Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Wir haben eine ganz neue Mischung! Wollen Sie sich einen Moment setzen? Da hinten wird grade ein Tisch frei“. Maria lächelt. Sie lächelt, als sie sich auf ihren alten Platz setzt. Lächelt mit der Kaffeetasse am Mund. Lächelt die Leute am Nebentisch an. Sie weiß jetzt, was sie tun muss. Wie Michelangelos Pietà in der Basilica von San Pietro wird sie die Erinnerung an ihren Sohn bewahren und halten.

„Entschuldigung, ist hier noch frei?“ Die Frau ist nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht alt. Mitte vierzig, schätzt Maria. So wie sie damals. Irgendetwas an ihr wirkt vertraut. Die Stimme mit ihrem Klang nach leicht gesprungenem Glas? Die prüfend unter gesenkten Wimpern hervorstechenden Blicke? Die zärtliche unbewusste Bewegung, mit der ihr linker Mittelfinger über den rechten Handrücken streicht? Damals waren die Hände weicher, heller, nicht so rissig, und auch die Adern kamen nicht so deutlich hervor. „Melanie. Melanie Wenzel!“ Die Frau beugt sich mit einem Ruck nach vorne. Schießt einen Blick auf Maria ab, der sich in ihren Augen verhakt. „MARIA! Was machst du denn hier in Frankfurt? Warst du immer hier? Die ganzen Jahre?“ Maria liest die Sorgen aus Melanies  Fältchen, kleine Alltagsnöte, zuviel Monat übrig und kein Geld mehr da, Schulprobleme. Und große Lasten. Kein Job in Aussicht, kein Argument gegen Franks Alkoholkonsum. Und immer wieder die Erinnerung an damals. Natürlich, warum wäre sie sonst hier, heute Mittag? Sorgfältig faltet Maria Melanies Kummer in die Papierserviette vor sich. Schiebt sie unter die Kaffeetasse und sagt: „Zwanzig Jahre lang habe ich meinen Mut gehäufelt. Jetzt bin ich hier. Wegen Justus. Wegen mir. Und wegen dir. Und Frank und Peter. Ich will wissen, was passiert ist. Ich bin stark genug für die Wahrheit und entschlossen genug, um sie herauszufinden. Und dann, wenn alles klar ist, können wir einen Schlussstrich ziehen  und ein zweites Mal anfangen zu leben. Zu denken. Zu planen. Das bin ich euch schuldig.“ Melanie rührt mit dem Löffel in ihrem Kaffee. Kleine kreisende Bewegungen, die immer schneller werden. Bis braune Tropfen auf die weiße Tischdecke schwappen. „Ohne aufzuschauen, Maria anzuschauen, sagt sie, und sie betont dabei jedes einzelne Wort: „Komm. Wir gehen zu Frank.“

MIniKrimi Adventskalender am 18. Dezember


Schneekönigin

Draußen fallen weiße Flocken dicht an dicht. Der Wind treibt sie gegen das Fenster, sie gleiten am Glas herunter, kleine weiße Kometen mit einem Schweif aus glitzernden Wasserkristallen. „Josh, komm weg vom Fenster, da ist es so zugig, du erkältest dich noch.“ „Mama“, antwortet der Junge, „nein, vielleicht kommt jetzt gerade in diesem allereinzigen Moment die Schneekönigin zu mir geflogen. Wenn ich sie dann nicht sehe, nur, weil unsere Fenster undicht sind, dann….“ „Was dann, Josh? Du weißt schon, dass die Schneekönigin nur in der Fantasie von Hans Christian Andersen existiert hat? Und in den Filmen, die daraus entstanden sind?“ „Nein, Mama, das stimmt nicht. Andersen hat sie vielleicht ENTDECKT. Und die Filme haben seine Geschichte wiederholt. Aber das ändert nullkommanix daran, dass es sie gibt. Beweis: die Schneeflocken.“

„Komm her, Kind“, die Mutter zieht den Kopf des Jungen zu sich und nimmt ihren Sohn kurz und fest in den Arm, bevor er ihr die Zusammensetzung eines Schneekristalls erklären kann. Da ist es wieder, das leise Nagen, das sich vom Kopf über das Herz in ihren Magen windet. Josh ist leicht autistisch und außerdem hochbegabt. Mit all den Problemen, die das mit sich zieht. Wenn er in eine besondere Schule gehen, intensive Förderung und Motivation bekommen könnte. Vielleicht wäre er ein Computer-Genie, oder ein Weltklasse-Pianist. Sportler. Was auch immer. Aber sie kann ihm das alles nicht bieten. Die psychologische Betreuung, die die Schule organisiert hat, hat ihm bis jetzt nicht sichtbar geholfen. Josh ist ein aufsäßiger Außenseiter, der immer mehr in seine Traumwelt abgleitet.

Irgendwann, denkt die Mutter manchmal, wache ich auf, schaue in die Nacht und erkenne meinen Sohn draußen im Universum. Major Tom. Ohne Weg zurück.

Sie ist alleinerziehend. Vor der Pandemie hatte sie eine kleine Musikschule für Kinder und Erwachsene. Das ließ sich online nicht durchziehen. Jetzt arbeitet sie als Aushilfe in einem Café und in einem Supermarkt. Das Geld reicht trotzdem kaum für Miete, Essen und das Allernötigste für Josh. Extras, Schulen, Kurse, eine Reise – nicht drin.

An Abenden wie diesem ist sie der Verzweiflung besonders nahe. Weihnachten steht vor der Tür. Wie gerne würde sie ihrem Sohn all seine Wünsche erfüllen. Nicht, dass er ihr auch nur einen verraten hätte. Aber sie würde ihm so gerne einen rundum glücklichen Weihnachtsabend schenken. Mit einem schönen großen Baum, einem festlich gedeckten Tisch, etwas Besonderem zu essen. Scampi, vielleicht. Von denen hatte er noch lange nach der Sommerwoche mit seiner Patentante in Kroatien geschwärmt. Stattdessen muss sie am 24. bis Ultimo arbeiten. Wenn nicht, wird eben eine andere eingestellt. An Interessentinnen mangelt es nicht. Das hat die Chefin ihr unverblümt gesagt. „Und kommen Sie mir nicht mit der Gewerkschaft. Sonst sind sie gleich draußen.“

„Ach, Josh“, seufzt sie, geht in den kleinen Flur, holt ihren dicken Schal und legt ihn dem Jungen um die Schultern. Der ist so auf das Schneegestöber draußen konzentriert, dass er davon gar nichts mitbekommt.

Am nächsten Tag ist im Supermarkt der Magen-Darm-Virus ausgebrochen. Die Hälfte der Mitarbeitenden hat sich krank gemeldet. Die Mutter schickt Josh eine Nachricht aufs Handy: Schatz, ich kann heute nicht vor 21 Uhr heimkommen. Kriegst du das hin, alleine? Sonst klingele bei Piet.“ Sekunden später antwortet der Sohn: „Mama, echt jetzt? Ich bin doch gerne allein. Nein, Piet ist immer so anstrengend. Soll ich dir was zu Essen machen?“ „So lieb von dir, aber nein. Danke! Ich bring uns was Abgelaufenes mit, was Leckeres, versprochen!“ Sie zerdrückt eine Träne und hastet wieder an die Kasse.

Josh holt seinen Teller aus dem Kühlschrank, stellt ihn in die Mikrowelle, 5 MInuten. Er deckt den Tisch mit Serviette und Glas. Setzt sich und isst langsam und bedächtig. So wie jeden Tag. Danach macht er seine Hausaufgaben. Er ist leicht irritiert, weil er heute fünf Muniten länger braucht als sonst. Er ist abgelenkt. Denn draußen hat es wieder zu schneien begonnen.

Bald ist der kürzeste Tag des Jahres. Um vier fällt die Dämmerung über Häuser und Straßen. Josh schaut dem Schneeflockentanz eine Weile vom Fenster aus zu. Da fegt ihm der Wind eine besonders große Flocke entgegen. Er schließt die Augen, sie ist so nah, er meint, sie zu spüren. Die Scheekönigin, denkt er.

In Windeseile zieht er Jacke, Mütze, Handschuhe an und rennt aus der Wohnung. Als die Tür ins Schloss fällt, merkt er, dass er seinen Schlüssel auf der Kommode vergessen hat. Egal. Er rennt die Treppen hinunter, 5 Stockwerke, reißt die Haustür auf und blickt sich suchend um. Menschen hasten mit hochgezogenen Krägen durch das Schneegestöber, viele balancieren Tüten und Pakete in den Händen. Autos stecken fest, hupen. Josch schaut nach links. Nach rechts. Wo ist sie nur?

„Auf wen wartest du denn?“, fragt eine brüchige Stimme. Sie gehört zu einem Wesen in einem langen dunkelblauen Mantel, der über und über mit Sternen übersäht ist. Die Beine stecken in pelzbesetzten schwarzen Stiefeln, die Hände in einem plüschigen hellblauen Muff. Auf dem Kopf trägt es eine riesige hellblaue Fellmütze, unter der dichte weiße Locken hervorschauen. Es ist sehr blass, mit blauen Augen und riesig langen Wimpern. „Hallo, du bist also die Schneekönigin. Gut., dass du kommst. Ich habe schon auf dich gewartet.“

Das Wesen zuckt zusammen. „Psst! Ich bin inkognito. Weißt du, was das heißt?“ „Klar. Ich verrate dich nicht. Wohin bringst du mich?“

„Hm, mal sehen.“ Das Wesen nimmt Joshs Hand und geht einfach die Straße hinunter. „Was ist mit deiner Mutter? Deinem Vater?“ „Meine Mutter kommt heute erst spät von der Arbeit. Aber ich habe ihr ja schon gestern gesagt, dass ich auf dich warte.“

„Ok. Gut. Pass auf: wir gehen zum Hafen. Bist du schon mal mit einem Schiff gefahren?“ „Ich dachte, du hast deinen Schlitten dabei.“ „Blödsinn. WIe könnte ich denn mit dem Schlitten durch diesen Verkehr kommen? Nein, heute fahre ich lieber mit dem Schiff. Pass auf, wir nehmen ein richtig großes, eines mit Autos im Bauch.“ „Du meinst eine Fähre? Komisch, das hätte ich nicht von dir gedacht.“

„Tja, man lernt eben nie aus. Märchen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.“

Die nächsten Stunden erlebt Josh wie einen Traum. Einen zuckersüßen voll gebrannter Mandeln, Kinderpunsch und Makronen. Auf der Fähre ist ein richtiger Weihnachtsmarkt aufgebaut, mit einem richtigen Karussell, und die Schneekönigin kauft ihm, was immer er will. Sogar einen silbernen Luftballon. „Fliegen wir mit dem in dein Schloss?“ „Hm, mal sehen.“ Also fliegen sie erst mal mit dem Karussell, Runde um Runde. Ist das toll!

Die Schneekönigin scheint nicht so durchgeplant zu sein wie Josh. „Mal sehen“ ist einer ihrer Lieblingssätze. Das Meer ist ruhig, die Bewegung der Fähre monoton. Viele Leute lächeln über Josh und die Schneekönigin. „Wie lieb sich die Oma um den Kleinen kümmert,“ sagen sie. Josh grinst die Schneekönigin an und legt den Finger auf die Lippen. Von ihm erfahren sie nichts. Sie essen einen Riesen Berg Pommes, trinken noch mal Punsch, und dann spielen sie Flipper. „Das habe ich mit meiner Mama alles noch nie gemacht“, stellt Josh fest. Und hat ein kleines Bisschen Sehnsucht. Inzwischen ist sie bestimmt zu Hause und wundert sich, wo ihr Sohn ist. Vor allem, weil er ohne Handy und Schlüssel weggegangen ist.

„Du, ich muss meine Mama anrufen.“ „Später. Hier auf See geht das nicht. Wir machen das gleich, wenn wir an Land gehen. Also bevor wir in meinen Rentierschlitten steigen.“

„Ok“, sagt der Junge und merkt, dass ihm die Augen zufallen.

Am nächsten Morgen entdecken Reinigungskäfte im Hafen von Trelleborg in Südschweden ein schlafendes Kind in einer Nische der Fähre, mit einem zusammengefallenen silbernen Luftballon fest in der kleinen Faust. Die Polizei bringt ihn ins nächste Krankenhaus, aber auf dem Weg dorthin wird Josh schon wach. „Wo? Was? Wer? Wo ist die Schneekönigin?“ Es dauert nicht lange, bis die Mutter des Kindes in Travemünde ausfindig gemacht wird. Sie ist natürlich halbtot vor Sorge und verspricht, sofort nach Trelleborg zu kommen. Die deutsche Polizei begleitet die Frau.

Noch im Krankenhaus erzählt Josh seine Geschichte. Aber niemand glaubt ihm. Die Schneekönigin, also wirklich!

Erst viel später gelingt es den Beamten in Deutschland und Schweden, Licht in die „Andersen-Entführung“, wie die Medien Joshs Abenteuer betiteln, zu bringen.

Ein Räuber erbeutete in Hamburg 500 Tausend Euro in kleinen Scheinen. Auf der Flucht brach er in den Wohnwagen eines Kindertheaters ein, das auf einem der Weihnachtsmärkte die Schneekönigin aufführte. So verkleidet gelangte er unerkannt nach Travemünde. Als Josh ihn ansprach, wurde ihm klar, dass dieses Kind die allerbeste Tarnung für die Überfahrt nach Schweden war. In dem Punsch war ein mildes Beruhigungsmittel, das Josh lediglich einen tiefen Schlaf beschert hatte.

Die ganze Zeit in Trelleborg hatte Josh sich geweigert, den Luftballon losszulassen. Das war doch sein Ticket zur Schneekönigin! Zuhause angekommen, verkroch er sich in sein Zimmer. Erst am übernächsten Tag kam er heraus, umarmte seine Mutter und flüsterte: „Ich weiß, du glaubst mir nicht und bist mir böse. Und vielleicht war das wirklich eine andere Schneekönigin. Aber sie war nett. Schau mal, was sie mir in den Luftballon geklebt hat.“

Er hält der Mutter mehrere 500 Euro Scheine hin.

Was denkt Ihr, geben die beiden die Scheine ab?

MiniKrimi Adventskalender am 2. Dezember


Was sind schon Frauen?

„Jerome, ich habe einen großen Wunsch an dich. Und ich weiß, du wirst ihn erfüllen. Denn das ist mein Vermächtnis: ich will, dass du es im Leben zu etwas bringst. Du sollst studieren, Medizin oder Jura. Damit du ein gutes Leben hast.“

Er muss nicht lesen, was auf den lange vergilbten Seiten steht. Er kennt jedes Wort. Hat das Buch hunderte Male durchgeblätter,t, diesen einen Schatz, den seine Mutter für ihn vor ihrem Tod geschrieben hat. Erinnerungen an sie, an die Heimat, an ihr gemeinsames Leben.

Mit dem Daumen streicht er liebevoll über das Gesicht der Frau auf dem ausgebleichten Foto. Dünn ist sie da schon, vom Tod gezeichnet, dem Preis für ihre Beziehung zum Gutsverwalter Mbabazi.  Zur Belohnung für ihre „Dienste“ hatte er Jerome zur Schule geschickt. Und ihm immer etwas zu essen gegeben. Das war mehr als die meisten anderen Kinder im Dorf Iganga hatten. Aber seine Mutter hatte diese Privilegien mit ihrem Leben bezahlt. Wie unendlich viele afrikanische Frauen, die von Männern aufgrund ihrer sexuellen Aktivitäten mit AIDS angesteckt wurden.

Nach dem Tod der Mutter stürzte sich Jerome ins Lernen und leitete die stille Wut, die in ihm brodelte, in Energie und Leistung um. Als Mbabazi den Jungen aufs Feld schicken wollte, um seinen Unterhalt zu verdienen, schritt der Leiter des kleinen Schulzentrums ein. Seine Frau und er adoptierten Jerome. Da waren die beiden schon in den Fünfzigern, und als sie nach seiner Pensionierung zurück nach Amerika gingen, nahmen sie Jerome selbstverständlich mit. 

Er beendete die Highschool, danach das College und verließ die Harvard-Universität mit einem Prädikatsexamen in Jura. 

Heute ist Jerome ist Juniorpartner einer angesehenen Kanzlei in Chicago. Seine Wurzeln aber hat er nie vergessen. Seine Adoptiveltern haben immer wieder mit ihm gemeinsam im Memory Book gelesen, das seine Mutter für ihn gemacht hat, Anfang des neuen Jahrtausends. Sie haben in ihm die Liebe zu Afrika wach gehalten und genährt. In seiner Kanzlei ist er zuständig für Wirtschaftsverträge zwischen amerikanischen Firmen und Partnern in Afrika. Er möchte etwas zurückgeben von dem, was seine Mutter ihm hinterlassen hat. Liebe und Achtung. 

Das Telefon unterbricht Jeromes Tagtraum. „Mister Miller, brauchen Sie noch etwas für Ihren Termin für die Verhandlungen von Stevenson Inc. mit der Ugandischen Regierung? Dolmetscher, zum Beispiel?“ „Nein, danke, Grace. Englisch ist neben Suaheli Amtssprache, ich komme gut zurecht.“ Jerome lächelt. Er bezweifelt, dass seine Sekretärin über seine Herkunft und seinen Werdegang informiert ist. Wozu auch? Behutsam legt er das kostbare Buch zurück in die oberste Schublade seines Mahagoni-Suhreibtisches. In Iganga hatten sie alle zusammen nur einen klapprigen Holztisch, an dem wurde gegessen, gearbeitet – und oft, nach dem langen Heimweg von der Schulweg durch die sirrende Hitze, auch geschlafen. 

Ja, er hat einen langen Weg hinter sich. Von Iganga nach Chicago. Einen erfolgreichen Weg. Und jetzt setzt er sich dafür ein, dass Kinder wie er in ihrer Heimat ein besseres Leben führen können. 

Er ist gespannt auf die Vertreter der ugandischen Regierung. Angeblich sind sie von der Premierministerin Nabbanja persönlich ausgesucht worden. Er weiß, dass Zeit in seiner Heimat anders bewertet wird, und hat Rogers und Jennings von Stevenson Inc. entsprechend gebrieft. Als sich eine Stunde nach dem vereinbarten Termin die Tür zum Sitzungsraum öffnet, lächeln die beiden nur freundlich erleichtert.

Aber niemand hat Jerome auf den Schock vorbereitet, der ihn bei der Begrüßung der Männer aus Uganda trifft.

Er ist alt geworden, das Haar schütter und weiß. Er ist kleiner, drahtiger. Aber Jerome würde ihn immer und überall erkennen. Mbabazi, den Mörder seiner Mutter! Er bringt die Verhandlungen hinter sich wie ein Schlafwandler. Schweiß steht auf seiner Stirn, er ist sich sicher, dass alle Anwesenden wissen müssen, was in ihm vorgeht. Aber sie bleiben entspannt. Mbabazi erkennt in Mister Miller ganz offensichtlich nicht den kleinen Jungen aus Iganga, Malaikas Sohn, dem er die Mutter genommen hat. 

„Diesen Abschluss müssen wir unbedingt feiern“, sagt Jerome zu Mbabazi. „Ich kenne da eine ganz besondere Bar, die wird Ihnen gefallen.“ Mbabazis Kollege entschuldigt sich. Doch Jerome hat den Alten richtig eingeschätzt. Es gibt Züge im Charakter eines Menschen, die verändern sich nie. 

Die Bar ist angenehm dunkel, auf der Tanzfläche räkeln sich junge Mädchen. Jerome geht hier nie alleine hin, nur, wenn er bestimmte Kunden begleiten muss. Nach einigen Whiskys wirdv Mbabazi redselig.  Erzählt von seiner Vergangenheit. Wie er 2006 als Gutsverwalter eines amerikanischen Farmers plötzlich krank wurde. Und dass sein Boss so große Stücke auf ihn hielt, dass er ihn zur Behandlung nach Amerika schickte. „Wie sie sehen: ich habe überlebt! Und ich sage Ihnen, ich genieße mein zweites Leben in vollen Zügen!“

„Und die Frauen, die sich angesteckt haben? Sicher haben sie Frauen angesteckt?“ „Mein Schohn“ – Mbabazis Aussprache beginnt zu verwischen – mein Schohn: Was sind schon Frauen? Was bedeutet ihr Leben?“ „Ja, was?“ , fragt Jerome und verzieht sein Gesicht zu einem höhnisch grausamen Grinsen.

Chicago ist immer belebt, auch nachts. Taxis drängeln sich auf den Spuren, überholen auf der Jagd nach Kunden. Mbabazi ist diesen Trubel nicht gewöht. In Kampala geht es ruhiger zu. Jerome greift nach dem Arm des Alten, als er unvermittelt die Fahrbahn betritt, genau vor einem großen schwarzen Wagen.

„Ich konnte ihn nicht halten“, wird er später der Polizei sagen, Erschütterung im Blick. Niemand hat gesehen, dass er den Mann nicht gehalten, sondern gestoßen hat.

Info:

Memory Books entstanden in Uganda. Rund 40 Tausend aidskranke Mütter schrieben sie für ihre Kinder, damit sie sich an sie und ihre Familie erinnern sollten, wenn die Mütter tot waren. In den Büchern stand immer auch der Wunsch, dass das Kind lernen und einen guten Beruf ergreifen sollte.

Wenn Ihr mehr über die Memory Books erfahren wolltm empfehle ich euch den ergreifenden preisgekrönten Film von Christa Graf als Video, Blue Ray oder bei Amazon Video Stream.


Fallobst oder „den Russen“ gibt es nicht


Ich könnte so viel schreiben. Ich hätte so viel zu sagen. Den Leuten, die „den Russen“ angreifen, denen, die „den Russen“ verteidigen- In den sozialen Netzwerken, mit echten oder falschen Fotos und Videos. Ich könnte meine Prognosen den endlosen Einschätzung auf allen Kanälen hinzufügen. Meinen Ängsten Ausdruck geben, meinem Mitleid.

Stattdessen poste ich heute eine Geschichte, die mir „durch Zufall“ – jedoch glaube ich nicht an Zufälle – eben wieder in die Hände gefallen ist. Sie entstand anlässlich eines Schreibworkshops 2014 im Rahmen eines Frauentages und basiert auf den Erinnerungen einer Teilnehmerin. Die Geschichte passt gut in die Gegenwart – und auch zum Weltgebetstag der Frauen, morgen.

Fallobst

Der kleine Hans stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Anrichte besser überblicken zu können. Vielleicht lag ja noch ein Kanten Brot auf dem Teller, oder ein Apfel. Aber nein, dort stand nur ein Krug mit klarem Wasser. „Mama, ich hab Hunger! Haben wir denn gar nichts mehr?“ Die Mutter kam aus der kleinen Kammer, die als Schlazimmer für sie und ihre drei Kinder diente. „So, Hunger hast du?“ „Ja. Aber Frieda auch“. Die Mutter drehte sich zu Frieda um, die, an den Türrahmen gelehnt, mit großen Augen zu ihr aufblickte. „Gut, dem können wir abhelfen. Heute ist ein sonniger Tag, wie geschaffen, um Fallobst aufzulesen“. Sie nahm die Hirtentasche vom Haken an der Tür und hing sie ihrer Tochter um. „Pass auf deinen kleinen Bruder auf und bleibt nicht zu lange weg. Es wird jetzt schon früh dunkel.“

„Komm“, sagte die siebenjährige Frieda zu ihrem Bruder, und die beiden machten sich auf den Weg. Sie gingen die Hauptstraße hinunter zu den Obstwiesen am Ortsende von Treffurt.

Treffurt war damals, im Jahr 1946, eine kleine Stadt mit 3000 Einwohnern. Sie lag in Thüringen unmittelbar an der Grenze zu Hessen. Frieda und Hans waren mit Mutter, Großvater und der jüngsten Schwester als Donauschwaben in das mittelalterliche Städtchen evakuiert worden. Die Familie hatte, wie alle Flüchtlinge, ein ganzes Leben hinter sich gelassen. Den Bauernhof, die Tiere, die Freunde. Jetzt lebten sie schon seit zwei Jahren in zwei Zimmern in einem alten Haus voller Flüchtlinge aus Polen, der Slowakei und anderen Gebieten. Das Essen war rationiert, und wenn die Lebensmittelkarten aufgebraucht waren, gab es nur zwei Möglichkeiten: hungern oder Obst und Gemüse klauben. Kartoffeln von den abgeernteten Feldern und Fallobst von den Obstwiesen.

Frieda mit ihren Holzssandalen und Hans, der barfuß ging, kam der Weg zu den Apfelbäumen unendlich lang vor. Aber schließlich standen sie auf der Wiese. Nur noch ein paar wenige schrumpelige Äpfel lagen auf dem Gras. „Guck, mal, sind ja überall Würmer drin“, beklagte sich Hans. „Es sind aber keine anderen da, also müssen wir halt mit denen Vorlieb nehmen“ antwortete Frieda, die vernünftige. „Und pflücken dürfen wir nicht, der gehört uns ja nicht.“ Die Kinder bückten sich und sammelten nach und nach die einsamen Apfel in die Hirtentasche. Frieda summte vor sich hin. Und Hans träumte vielleicht schon vom Apfelkompott.

„Stojats“, hörten sie plötzlich eine laute Stimme direkt hinter Ihnen. „Was ihr machen?“ Erschrocken drehten sich die Kinder um. Vor Ihnen stand ein riesiger Soldat. Breitbeinig und mit aufgepflanztem Bajonett. Hans und Frieda ließen die Äpfel fallen, die sie in der Hand hatten. Frieda nahm ihren ganzen Mut zusammen: „Wir nehmen nur die, die schon am Boden liegen“, sagte sie trotzig, während Hans hinter ihrem Rücken hervorlugte. 

„Ihr dumme Kinder!“, dröhnte der Russe. Ging zum Baum und schüttelte ihn kräftig. Ein wahrer Apfelregen prasselte auf die Kinder herunter. Im Handumdrehen lagen so viele Apfel am Boden, dass sie nicht nur die Hirtentasche damit füllten, sondern auch die Hosentasche und die Schürze vollstopften. „Choroschego appetito“, lachte der Soldat, drehte sich um und ging zurück zu seinem Wachhäuschen hinter der Wiese.

Noch heute  im September, wenn die Äpfel reifen, geht Frieda mit ihren Enkelkindern zu dem Apfelbaum am alten Kirchlein in dem Dorf, in das sie als Erwachsene mit ihrem Mann gezogen ist. Sie sammeln das Fallobst auf und backen daraus einen Apfelkuchen. Und dann erzählt sie ihren Enkelkindern die Geschichte von dem russischen Soldaten und den Äpfeln.

Adventskalender MiniKrimi am 15. Dezember


Nein, ich bin kein TV-Sender. Dennoch gibt es bei mir heute eine Wiederholung. Weil ich die Story wirklich sehr gerne mag!

Verlorener Sohn

Seit Nicolas nicht mehr bei ihr wohnt, bleibt der Briefkasten meistens leer. Kein Grund mehr, mit klopfendem Herzen in Hausschuhen und Bademantel zum Gartentor zu hasten und die Briefe einzuholen wie ein Fischer sein Netz, immer in der Furcht vor gelben Briefumschlägen, Vorladungen, Einschreiben.

Nicolas ist fort und sie allein. Die Erleichterung ist der Leere gewichen. Und zuweilen – ganz besonders jetzt, in der Adventszeit – sehnt sie sich nach sogar nach seinen schwankenden Schritten mitten in der Nacht, seinem lauten Schnarchen mitten am Tag, seinen kurzen Beleidigungen im Vorbeigehen – und dann immer wieder doch noch einem  flüchtigen unerwarteten Kuss auf ihren Scheitel. „Tschö Mom, bist meine Beste.“

Das war einmal. Nach der letzten Zwangseinweisung in die Psychiatrie hat sie Nicolas in einem Brief die Mutterschaft gekündigt. Du hast bei mir kein Zuhause mehr, hat sie geschrieben. Und es schon Stunden später bitterlich bereut. Hat diese Reue lange mit sich herumgetragen. Sie wachsen lassen, bis sie so schwer wurde, dass sie sie ablegen musste. In einem Brief an ihren Sohn. Einer Einladung.

Hat da nicht grade der Briefkasten geklappert? Obwohl sie keine Post erwartet, geht sie raus, in Hausschuhen und Bademantel. Und tatsächlich. Im Kasten liegt ein Umschlag. Grau und faltig. Sie reißt ihn auf, mit zitternden Fingern. Findet ein Foto. Ein Seeufer. Auf grauem Kies die Überreste eines großen Feuers. Deutlich erkennt sie trotz der Brandnarben den nagelneuen blauen Schuh. Kontoauszüge mit dem Namen ihres Sohnes. Verbrannte Medikamentenblister. Und vorne im Bild ein von den Flammen nur halb zerfressenes Blatt Papier. Sie kennt den Brief, erinnert jedes Wort. „Lieber Nic, wie geht es dir? Ich hoffe, du kannst deinen Lebensweg gesund und stark weiter gehen. Du hast bestimmt viel vor. Diese neuen Schuhe sollen dich weit tragen. Lass uns Vergangenes vergessen und neu anfangen. Warum kommst du Heiligabend nicht zu mir? Nach Hause?“ Sie hat oben auf den Briefbogen ihre Adresse geschrieben, zur Sicherheit.

Und nun dieses Foto. Als sie es umdreht, auf der Suche nach Halt, liest sie: Tausend Euro in kleinen Scheinen bis 18 Uhr. In einer Nettotüte im Papierkorb am Hundesee. Sonst geht Ihr Nic nirgendwo mehr hin.

Sie kämpft mit sich. Bank oder Polizei? Oder beides? Die Handschrift ist ihr fremd. Und es wäre nicht das erste Mal, dass Nic sich in Schwierigkeiten bringt. Bis vier Uhr sitzt sie am Küchentisch vor dem Adventskranz und der xten Tasse Kaffee. Ringt mit sich und geht um halb fünf zur Bank. Am vorletzten Arbeitstag vor Weihnachten sind die Ausfallstraßen so verstopft, dass sie um 17.58 Uhr am Hundesee die Tüte in den Abfall wirft. Und dann erst merkt, dass sie nicht auf die Plastiktütenmarke geachtet hat.

Dann geht sie zurück zum Auto. Wartet im Schutz der Dunkelheit, doch nichts passiert. Um acht Uhr gibt sie auf. Und halb neun ist sie wieder daheim. Um zehn klingelt es an der Tür. Sie ist inzwischen so erschöpft, dass sie keine Angst mehr spürt.

„Sollte das nicht eine Netto-Tüte sein? Das ist so typisch du. Gibst 1000 Euro für deinen verlorenen Sohn her, aber bei Netto einkaufen, um die richtige Tüte zu haben, das geht dir zu weit. Darf ich reinkommen, Mom? Hier ist dein Geld. War nur ein Test, diesmal. Mir geht es gut. Aber ich brauche ein neues Paar Schuhe.“

Adventskalender MiniKrimi am 7. Dezember


Eine schöne Bescherung 

In der Vorweihnachtszeit ist es immer am schlimmsten. Wenn draußen die Lichtgirlanden, in den Fenstern die Jakobsleitern und am Adventskranz die Kerzen leuchten, wenn die Luft nach Glühwein duftet und gebrannten Mandeln, wenn sich im Keller die Dosen mit frisch gebackenen Plätzchen stapeln und das Radio „Last Christmas“ in Dauerschleife dudelt, packen die Erinnerungen Erika jedes Mal mit aller Macht. Denn genau in dieser magischen, wunschprallen, nach Vergebung und Liebe suchenden Zeit ist Erika die schlimmste Kränkung ihres Lebens widerfahren. 

In der Vorweihnachtszeit ist es immer am besten. Wenn draußen ein eisiger Ostwind den Schnee vor sich hertreibt und drinnen vor dem munter flackernden Kaminfeuer Whiskey und Pfeife auf ihn warten, genießt Eduard die Erinnerungen am meisten. Und während das Holz in den Flammen knistert, ergreift die Genugtuung wieder Besitz von jeder Faser seines Körpers, prickelnd und über die Maßen erregend.

Erika hatte nie ein besonders gutes Verhältnis zu ihrer Mutter. Die Erstgeborene, ein Mädchen statt des ersehnten Stammhalters, schmal und schmächtig. Aus der konnte nichts „Gescheites“ werden, das hatte die Mutter gleich beim Anblick der Neugeborenen prophezeit. Im Laufe ihres Lebens hat Erika diese Erwartungen voll und ganz erfüllt. Von einer scheuen Schülerin, die sich statt in Freizeitaktivitäten lieber in Bücherwelten stürzte, entwickelte sie sich zur einer musikbesessenen Medizinstudentin. Natürlich gaben ihr die Eltern keinen Pfennig dazu, und Erika verdiente sich Studium, Bücher, Unterkunft und Essen durch Klavierunterricht. Dass sie ihr überhaupt erlaubten, die Universität zu besuchen, lag ganz einfach daran, dass sie dadurch früh „aus dem Haus, dem Auge und dem Sinn“ der Mutter verschwand.

Eduard interessierte sich schon im Kinderwagenalter für Geschwindigkeit: er stellte sich kerzengerade in seinem Buggy auf und hieb mit einem langen Schnürsenkel auf die Schwester ein, die ihn, wie ein eingespanntes Pferd, in Windeseile über den Hof ziehen musste. Mit fünf zerschnitt er die Bremsen ihres Fahrrads, woraufhin sie wie ein Pfeil die Straße bergab und gegen den Baum an der ersten Kreuzung sauste. Selbstverständlich trat er nach dem Realschulabschluss in das elterliche Autohaus ein und verdrängte den Vater, so schnell es ging, aus dem Geschäft. Sein rasanter Lebensstil kostete im Laufe der Zeit allerdings mehr, als ihm seine diesbezügliche Expertise einbrachte. Schließlich stand das Autohaus – das Lebenswerk des Vaters – kurz vor dem Konkurs. Dann starb die Mutter, und nur mit ihrem Geld konnte er die geschäftliche „Kurve kriegen“. Allerdings war dazu mehr als sein eigener Erbanteil nötig...

Erika, inzwischen längst Landärztin mit eigener Praxis, Ehemann und zwei Kindern, saß bei der Testamentseröffnung kerzengerade auf dem Ledersofa. Sie musste gegen die ungehindert durch die großen Fenster in den Raum hineinstürzende Sonne blinzeln und nahm den Anwalt, den die Mutter offenbar kurz vor ihrem Tod mit ihren Angelegenheiten betraut hatte, – übrigens ein Kunde und Duzfreund ihres Bruders – nur als Scherenschnitt war.  Im Nachhinein hat sie versucht, das Testament anzufechten, um zumindest einen Pflichttei des Erbes zu erhalten. Vergeblich. Nachdem sie alle Instanzen durchlaufen hatte, nahm der Richter, der ihr in der letzten Verhandlung die allerletzte Hoffnung genommen hatte, sie beiseite. Ob ihr bewusst sei, dass ihr Anwalt zur Clique von Eduard gehöre? Er habe es wirklich geschickt angestellt, so dass ihm, dem Richter, bei dieser lückenlosen Vorgehensweise tatsächlich die Hände gebunden gewesen seien.

Eduard sitzt vor seinem Kamin. Verträumt betrachtet er die Glut. Um ihn herum nur die Stille einer sternenklaren Nacht. Er hat den Brief zweimal gelesen. Wort für Wort. Aber er kann keinen Fallstrick erkennen. Nur eine tiefe Traurigkeit. Erika war schon immer melancholisch veranlagt. Sie schreibt, dass ihr Mann gestorben sei. Ein Unfall, der die gesamte Familie in arge Bedrängnis gebracht habe. Sie könne die Praxis nicht mehr halten und werde wohl auch aus dem Haus ausziehen müssen. Das wenige Geld, das ihr bleibe, sei für die letzten Studienjahre ihre Kinder bestimmt. Nach so viel Leid habe sie das dringende Bedürfnis, in ihrem Leben Ordnung zu schaffen. Sie wolle den Zwist mit ihrem Bruder beilegen. „Lassen wir den Schnee von gestern doch einfach tauen“, schrieb sie. „Und endlich wieder wie Geschwister zueinander sein.“

Der dem Brief beigelegte Versöhnungstropfen muss noch aus dem Weinkeller seines Schwagers stammen. Ein vorzüglicher Chateau Lafitte. „Santé, Schwester“, sagt Eduard und hebt das Glas.

Dank seiner Selbstgerechtigkeit ist er kaum überrascht, als sie trotz vorgerückter Stunde vor seiner Tür steht, und es gelingt ihm gerade noch, ihr das Glas in die Hand zu drücken, als die Welt um ihn herum sich zu drehen beginnt. Sekunden später liegt er leblos auf dem Terracottaboden.

Frau Dr. Erika Monhaupt ist untröstlich, den Bruder so unmittelbar nach ihrem Wiedersehen verloren zu haben. Dabei verschweigt die Ärztin natürlich sowohl ihren Brief samt Versöhnungsgeschenk als auch ihre Kenntnis bezüglich der Ursache für den plötzlichen Tod ihres Bruders. 

Die Vorweihnachtszeit, denkt sie, während draußen dichte Schneeflocken tanzen und im Kamin ein lustiges Feuer prasselt, ist doch gar nicht so übel. Morgen kommen die Kinder. Ist das nicht eine schöne Bescherung?

Barfuß auf Asche


Sie beißt in den Himmel. Er schmeckt nach Schwefel. Seine Asche verklebt ihren Mund wie türkischer Honig, nur bitter. Die Straße fließt und reißt ihre nackten Füße mit. Stiche von Scherben, Knirschen von Knochen, diese Finger, so weiß – bloß schnell weiter. Die Luft heult und brüllt. Fegefeuer Berlin. „Komm Mädchen fass an. Was stehst du da rum?“ Eine Hand, ein Eimer Wasser schwappt über. Sie geht wie auf Schienen, trägt den Eimer zum Haufen rauchender Balken. „Schnell Mädchen.  Gib her! Und hol einen neuen. Da hinten. Nun lauf schon!“ Sie geht wie auf Schienen. Der Himmel aus Asche, der Boden ein Meer aus gestrandeten Häusern. Die Menschen ertrunken im Feuer. Immer wieder muss sie hinsehen, sie ansehen. Die toten Augen greifen nach ihrem Blick. Saugen ihn auf. Dann wird alles schwarz.

„Mama? Mama? Was sitzt du denn hier im Dunkeln?“ Leise, mit abgewandtem Mund: „Also ich hab das Gefühl das wird immer schlimmer. Mit ihr.“ Überlaut: „Mama? Hast du nicht gehört, dass wir angerufen haben?“ Beleidigt: „Wir versuchen seit gestern, dich zu erreichen, MAMA.“ 

„Ach ja? Ich hab nichts gehört. Vielleicht hat das Telefon geklingelt, als ich im Bad war. Außerdem: woher soll ich wissen, wer anruft?“ 

„Also hast du es doch gehört?“ 

„Vielleicht?“ 

Warum bist du nicht rangegangen, Mama!  Keine Frage! „Wir machen uns doch SORGEN!“ 

„Ich bin kein kleines Kind. Ich bin eine alte Frau. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Im Bombenhagel hab ich Wasser geschleppt. Barfuß. Ich bin über Leichen geklettert. Ich brauche keine Aufpasser!“

Endlich sind sie weg. Ich kann sie nicht ertragen. Mama tu hier, Mama doch nicht so! Mama was MACHST du da schon wieder? Alles in vorwurfsvollen Großbuchstaben, in diesem pausen- und atemlosen Staccato der zur Mutter wider Willen gewordenen Tochter. Verkehrte Welt! 

Was denken die eigentlich, wie ich die letzten fünfundachtzig Jahre gelebt habe? Mich hat nie jemand in Watte gepackt. Allein in einer zerbombten Stadt, die ganze Welt ein Trümmerhaufen und ich mitten drin. Und ich hab überlebt. Ohne dass mir jemand ständig hinterhergelaufen ist.  Ohne dass sich jemand um mich gekümmert hat. Und jetzt soll ich plötzlich am Gängelband gehen, nur, weil ich älter bin? Die Menschen werden heute eben immer älter. Sagen sie jeden Tag im Fernsehen. Na und? Wenn man sie nicht töten will, muss man sie so nehmen, wie sie werden. 

Ist es schon acht? Wo hab ich nur meine Brille? Da muss doch die Fernsehzeitung….. Wie geht das Ding an? Ah. Na also. Was ist denn das schon wieder? Wo ist das Erste Programm? Natürlich. Das hat India verstellt, um mir dann in die Schuhe zu schieben, dass ich nicht mal mehr den Fernseher bedienen kann! 

Diese blöden Kopfschmerzen. Du musst mehr trinken, Mamaaaaa, würde India jetzt sagen. Dabei habe ich noch nie viel getrunken. Und bin trotzdem so alt geworden. Hab ich Hunger? Eigentlich schon. Oh – keine Spaghetti im Kühlschrank. Ach, dann ess‘ ich eine Banane. Mit einem Glas Wein. Mama, du sollst nicht so viel Wein trinken, würde India jetzt sagen. Gott sei Dank lebe ich alleine hier in meiner Wohnung!

Gott sei Dank lebe ich ALLEIN! Alleinallein. Alleallein. Wenn India mich jetzt hören würde, würde sie den Mund verziehen zu ihrem falschfreundlichen Alligatorlächeln. Alligator, so werd‘ ich sie nennen, ab heute. Wenn ich mich morgen noch daran erinnere. 

Wenn sie jetzt hier wäre, würde sie zwischen den Zähnen schräg nach hinten zu diesem Unmann zischeln, den sie sich herangezogen hat wie einen Schoßhund.  „Siehst du. Ulrich. Ich sage es dir doch. Sie ist verrückt!“ 

Es rauscht. Die Nacht ist ein Rauschen, sie bauscht sich um sie herum, hüllt sie ein. In einer Blase aus Schall schwebt sie die kreischenden Straßen entlang. Federt die Stöße ab, die Tritte, die reißenden Hände. Blitze gleiten an ihr hinunter, schwarzer Regen an ihr vorbei. „Di quì Signorina“ ruft eine Stimme, „hier entlang, schnell, es geht gleich los“. Sie klettert auf die Lore, gezogen von starkbraunen Armen. „Su prendi, los, nimm und verkleide dich!“ Eine gesichtslose Stimme reicht ihr das grellbunte Kopftuch. Sie knotet es fest in ihr Haar, dieses neue zufällige Leben. Drei Tage vier Nächte, und die Zwangsarbeiter sind wieder daheim, irgendwo in Italien. Sie, die verkleidete Fremde, mitten unter ihnen. Alle verabschieden sich lachend und zum Leben erschöpft. Da steht sie allein auf der Piazza in einer unbekannten Heimat. Geflohen gelandet gestrandet. „Ehi Signorina!“, ruft die Zukunft verheißungsvoll, und sie geht ihr schnell hinterher, durch die alten Arkaden.

„India, du schon wieder? Möchtest du einen caffé? Ich hab grade frischen gemacht. Heiße Milch? Setz dich doch.“

Ah, dieser Blick. Du kommst nicht als Gast, sondern als Aufpasser! Wie war das gestern? Alligator! Kannst gleich wieder gehen! 

„Mama! Deine Nachbarin hat angerufen. Erst kamen Rauchschwaden aus deiner Wohnung, dann lief das Wasser den Balkon hinunter. Mama? Mamaaaaaaa? Um Gottes Willen! Was MACHST du da? Ach, ich bitte dich! Natürlich hab ich auch schon mal die Milch anbrennen lassen. Aber dieser Topf ist durchgeschmort. Und wie viele Eimer voll Wasser hast du ausgegossen, über dem Herd? Wie bitte? Du wolltest bei der Gelegenheit gleich den Fußboden waschen? Ach…“ 

Der nasse Lappen klatscht auf den Boden. Tränen verwackeln den Ton. „Oh, Mama!!! 

Nein. DU hörst mir jetzt zu. Das ist NICHT normal, Mama. Das passiert NICHT jeden Tag und NICHT jedem. Mama! Bitte. Sei doch vernünftig. So geht das nicht weiter. Ich will dir doch nur helfen. Nein. Du bist nicht verrückt. Nein, ich will dich nicht einweisen lassen. So einfach geht das auch gar nicht.“ Leise, zu sich: „Leider.“

Mama bleib da. Mama wo rennst du hin? Mama es ist kalt draußen! Ich WILL sie nicht mehr hören. Diese Bevormundung! Ich bin im Aschenregen durch das qualmende Berlin gelaufen. Barfuß. Und dann in einem offenen Viehwagon über die Alpen gefahren, mit Wildlederpumps an den Füßen und einem Strickjäckchen über dem Seidenkleid. Kälte? Die Kälte, die mich hier verbrennt, kommt aus Indias Augen. So leblos. So lieblos. Mein Kind? Wahrscheinlich wurde sie im Krankenhaus vertauscht, gleich nach der Geburt. Wir haben uns eigentlich nie verstanden. 

Diese kommunistischen Ideen von Umverteilung und Gütergemeinschaft! Wegnehmen will sie mir alles, was ich habe. Meine Wohnung, mein Geld. Und mein Leben! Aber das kriegt sie nicht. MICH kriegt sie nicht. Ich bin zu schnell für sie, auch noch mit fünfundachtzig. Sie findet mich nicht. 

Aber jetzt ist mir kalt. Ob ich schon zurück kann? Wo genau muss ich hin? Hier war ich noch nie! 

Freundlich bestimmend zu einer Graublonden mit Einkaufskorb: „Entschuldigung? Können Sie mir den Heimweg zeigen? Sie kennen mich doch? Ach, tut mir leid. Ich habe Sie verwechselt. Neineinein, alles ok. Nein, ich sage Ihnen doch…. ich… suche nur meinen… (lass dir was einfallen!)… meinen Hund!“ 

Beruhigend zu dem kopfroten Jogger: „Ja, meinen Hund. Wie er aussieht? Na, wie ein Hund, eben. Dort drüben? Danke! Ja, er ist mir weggelaufen. Nein, er darf keine Jogger anbellen. Da IST er ja! Na komm, du Schöner! Komm her zu mir.“ 

Beschwörend geflüstert zu dem großen stillen Hund: „Komm, wir müssen jetzt beide so tun, als seien wir alte Bekannte. Das SIND wir doch auch! Jetzt erkenne ich dich! Wir sitzen im selben Boot. Du bist Argo, mein schwarzer Freund. “

Buonasera, signorina, buonasera….. Jukeboxkitsch, transozeanischer. Flattert in den Südensonnenuntergang, wispert in ihr Sommerohr. Bella vita in maßgeschneiderten Kleidern, und die Männerwelt rollt ihr die Teppiche aus zwischen Bari und Napoli. Das Blondhaar, die Goldhaut – „ma che angelo, was für ein Engel!“ Sie flirtet und bleibt ganz bei sich. Hebt sich auf. Hebt den Blick: „Buonasera!“ Diamantenes Meer, vergossener Himmel, Mittagslichtstaub streift das kühle Parkett. Als Verlobungsgeschenk keine Kette, kein Ring – ein schwarzes Fellbündel legt er ihr ins lustweiche Bett. Sie lieben sie schlafen sie schlagen. Dann, irgendwann, ist es Winter geworden, aus dem Schrank gähnt nur das Holz, dunkelleer. Daneben zwei Koffer, abfahrtbereit. Weiße Laken auf Sesseln und Betten, vor den Fenstern die Läden auf Monate verschlossen. Und sie spult ihre Reise zurück, erst den Apennin dann die Alpen und schließlich die graue Stadt. Trümmerentleert, existenzenbefüllt. Sie ertastet die Straßen am Ende des Traums. Einsam vielleicht, aber nicht mehr allein. An der linken Hand India, in der rechten die Leine. 

„Mama, jetzt sei doch vernünftig! Du hättest tot sein können. Wenn sie Ulrich nicht in der Kanzlei erreicht hätten, wenn er dich nicht abgeholt hätte, dann wärst du inzwischen wahrscheinlich erfroren! Wo wolltest du überhaupt hin?“ 

Leise, seitwärts: „Ulrich, jetzt sag doch auch mal was! Mama, bitte. Das ist Wahnsinn! Du kannst doch nicht im Ernst glauben, dieser Hund hier sei Argo! Argo ist seit Jahrzehnten tot! Genau wie mein Vater! Tot. Nicht abgereist. Nicht verschollen. Tot. Überfahren. Alle beide. In Italien. Das weißt du doch, Mama. Mama! Komm, trink eine Tasse Tee. Du hast ganz kalte Hände. Ach, Mama. Ich will dich nicht schlagen, ich will dich nur streicheln. 

Ganz leise: Mama, ich liebe Dich!

Ganz laut: Au! Mama, bitte! Jetzt sei doch VERNÜNFTIG. Du kannst den Hund nicht behalten. Wir müssen ihn abgeben. Im Tierheim. 

Ulrich! Jetzt hör doch mal auf, du machst ihr nur Angst! 

NEIN Mama. Ulrich hat das nicht so gemeint. Wir geben dich nicht im Irrenhaus ab. Das gibt es nicht mehr. Und selbst wenn. Mama, ich liebe dich doch. Ich will dir nur helfen. Und Ulrich auch. Ulrich? Ulrich!“ 

Hinter dem Türknall her: „Ulrich, du Idiot! Warte! Mensch, fährt der einfach weg. Na egal. Besser isses. So, Mama, jetzt noch mal ganz in Ruhe. Der Hund muss weg. Und du solltest dir vielleicht mal eine Auszeit nehmen. Es gibt doch so schöne Kurorte. In Ungarn, zum Beispiel. Ganz günstig! Mama? Mama!“ 

Leise. Verzweifelt. Fragend. „Wo BIST du?“

Komm, Argo. Das hat alles keinen Zweck. India ist eigentlich ein liebes Mädchen, weißt du? Aber sie vermisst ihren Vater. Er hätte nicht wegfahren dürfen, Hals über Kopf. Sie war noch so klein. Sie ist ihm so ähnlich. Wir haben uns nie wirklich verstanden. Wie schade! Aber du, Argo, du bist etwas ganz Besonderes. Wir zwei verstehen uns prächtig. Jetzt machen wir es uns richtig schön. 

Zum Taxifahrer: „Wir wollen in ein feines Hotel mit einem guten Restaurant. Eines mit Seeblick, in dem auch Hunde erlaubt sind. Sie kennen sich ja aus. Wir vertrauen Ihnen.“ Stimmt’s, Argo?

Oben ist unten und unten ist weit. Endlos weit. Sie zieht ihre Kreise aus blauem Samt. Schwimmt ohne Netz, schmeckt das Sonnengeflirr, riecht die Wärme, hört die Wolken reisen. Argo schwimmt neben ihr, weichschnäuzig, schwarz. Unbesorgt unumsorgt atmet sie leicht in die Zukunft. Und hinten ganz hinten am Himbeerhorizont steht ER und zieht sacht an der Linie. Da stülpt sich der Himmel nach innen.

Adventskalender MiniKrimi am 5. Dezember


Wunschlos glücklich

„Was wünscht du dir zu Weihnachten, Nicoletta? Egal was es ist, sag es uns. Wir werden versuchen, dir deinen Wunsch zu erfüllen. Wir sind so überglücklich, dass wir durch dich eine richtige Familie geworden sind, meine Süße!“

„Und so eine stolze. Mit so einer wunderhübschen Tochter.“ Antonia strahlt das kleine Mädchen an und streckt die Arme nach dem Kind aus. In Zeitlupe bewegt sich Nicoletta vom Ende der Couch in Richtung der Frau mit den langen blonden Locken, die sie erst seit 3 Monaten kennt und jetzt „Mama“ nennen soll. Dabei sah ihre Mama ganz anders aus. Schwarze Haare, so wie sie selbst. Große graue Augen und ein lustiges Grübchen am Kinn. Helena hieß sie – und sie war viel jünger als diese Frau. 

„Freust du dich denn gar nicht auf unser erstes gemeinsames Weihnachten?“, fragt die blonde Zweitmama jetzt. Zweitmama, so nennt Nicoletta sie heimlich. 

„Ich glaube, wir überfordern sie gerade, Antonia. Das ist alles ein bisschen viel für sie. Sie ist doch erst vor einer Woche bei uns eingezogen. Lass ihr etwas Zeit zum Eingewöhnen. Das ist hier alles neu für sie. Sie kommt sich wahrscheinlich vor wie in einem Märchen.“ Edgar ist ungefähr so alt wie seine Frau. Er hat braunes Haar, einen Bart und eine runde Brille. Eigentlich sieht er lustig aus. Lustig und so, als ob man ihm vertrauen könnte. Eigentlich. 

„Ja, das stimmt. Entschuldige, Nicoletta. Komm erst mal richtig an. Genieß dein großes rosa Zimmer, den verschneiten Garten, den Kamin. Das muss eine riesen Umstellung sein für dich, aus einer winzigen Sozialwohnung in so ein prächtiges Haus.“

„Antonia!“ Aber es stimmt. Edgar und seine Frau haben Nicoletta schon seit ihrem ersten Kennenlernen in Anwesenheit der Sozialarbeiterin nach Strich und Faden verwöhnt. Sie mit Kleidung überhäuft, sie hat ein Ipad bekommen und ein IPhone. Und ein komplett eingerichtes Zimmer mit einem Himmelbett und einem dreistöckigen Puppenhaus. Das Kind hat das alles an- und hingenommen und immer danke gesagt. Aber das einzige Mal, als Nicolettas Augen geleuchtet haben und sie übers ganze Gesicht gestrahlt hat, war, als Edgar ihr mit Puppy an der Leine entgegenkam. Einem blonden Retriever-Welpen. 

Auch jetzt dreht sie sich nach ihm um. Er ist immer in ihrer Nähe und schmiegt seine weiche Schnauze in Nicolettas Hand. 

„Vielleicht hat sie im Moment einfach keine offenen Wünsche mehr. Bist du wunschlos glücklich, Nicoletta?“, fragt Antonia.

Die Kleine zuckt mit den Schultern. Schaut auf Puppy. Dann hinaus in den Garten. „Also – einen Wunsch hätte ich schon. Aber ich weiß nicht, ob das geht…“

„Erzähl! Dann werden wir sehen“, ermutigt Edgar seine neue Tochter. 

„Meine Mama, also, meine echte Mama“ – dabei schaut das Kind entschuldigend zu Antonia hinüber, die bemüht lächelt – „hat mir immer erzählt, dass der Weihnachtsmann in der Heiligen Nacht durch den Kamin kommt und die Geschenke bringt. Aber ich habe ihn nie sehen können, weil – wir hatten doch keinen Kamin. Ich wünsche mir so sehr, dass der Weihnachtsmann mir die Geschenke bringt – und ich möchte ihm dabei zusehen. Nur ganz heimlich, durchs Schlüsselloch. Damit er mich nicht entdeckt…. Meint Ihr, das geht?“

Antonia und Edgar schauen sich an. Nein, das geht auf keinen Fall, und überhaupt, glaubst du noch an den Weihnachtsmann? Der Satz liegt Antonia noch auf den Lippen, als Edgar schon antwortet: „Wenn’s weiter nichts ist! Klar geht das. Wir haben doch einen extra guten Draht zum Weihnachtsmann!“ 

Und endlich lächelt Nicoletta. Sie lächelt Edgar an, nicht nur mit dem Mund, sondern mit strahlenden Augen.

Später, als die Kleine im Bett liegt, kommt es zu einer heftigen Diskussion zwischen den frisch gebackenen Eltern.

„Wie konntest du ihr sowas versprechen. Das Kind ist acht Jahre alt! Was soll der Quatsch mit dem Weihnachtsmann? Und dieser Blödsinn mit dem Kamin! Wie willst du das anstellen? Bei uns ist die Bescherung außerdem an Heiligabend, nicht erst am Weihnachtstag. Nur, weil ihre Mutter aus Italien oder England oder so kam, müssen wir uns doch nicht anpassen.“

„Es ist ihr erstes Weihnachten bei uns! Und die Sache ist ganz einfach! Ich verkleide mich als Weihnachtsmann und verstecke mich im Kamin, während Du Nicoletta holst. Dann gibst du mir ein Zeichen, du hustest, oder so, und ich rutsche runter und verteile die Geschenke. Im Zimmer ist es dunkel, und ich bin mit Rauschebart und Haaren sowieso nicht erkennbar. Dann scheuchst du sie schnell wieder ins Bett. Das ist alles. No problem.“

An Heiligabend geht Nicoletta früher als sonst ins Bett. Die Aufregung…! Antonia hat ihr fest versprochen, sie nachts zu wecken und mit ihr dem Weihnachtsmann aufzulauern. Aber vorher drehen die Eltern noch eine Runde mit Puppy.

Dann ist es gleich soweit. Erwartungsvoll starrt Nicoletta durch’s Schlüsselloch. Puppy schmiegt wie immer seine weiche Schnauze in Nicolettas Hand. Antonia steht gelangweilt daneben. „Ohhhh“, flüstert Nicoletta plötzlich. Dann „Ahhhh!“.

Von drinnen kommt wie eine Antwort ein Schrei: „AHHHHHHH!“ Und noch einer: „AHHHHH! Antoniaaaaa!“ Antonia reißt die Tür auf und bleibt vor Schreck erstarrt auf der Schwelle stehen. Im Kamin prasselt ein lustiges Feuer, und der Weihnachtsmann tanzt davor herum, in wilden Sprüngen, wie eine lebendige Fackel. Antonias Versuche, ihren Mann zu löschen, kommen zu spät. Weißer Phosphor ist tückisch und brennt mörderisch.

Nicoletta ist nicht schuldfähig, aber da Antonia sich weigert, das Kind auch nur eine Nacht länger unter ihrem Dach zu beherbergen, kommt die Kleine zunächst in ein Heim mit psychiatrischer Betreuung.

Sie erzählt frei und ohne Scheu von ihrem Plan, sich am Mörder ihr Mama zu rächen. Den weißen Phosphor hatten sie gemeinsam am Elbstrand gefunden. Es sah aus wie Bernstein, aber Mamas damaliger Freund erklärte ihnen den lebensgefährlichen Unterschied. Nach seinen Anweisungen hob Nicoletta ihn in einer Metalldose auf, bis sie ihn in den Kamin zum Trocknen legen konnte. 

Dass Edgar unmöglich der Mörder ihrer Mutter sein könne, scheint sie nicht zu interessieren. Der Mann, der die junge Frau vor den Augen der Tochter überfahren und dann einfach weitergebraust war, fuhr den gleichen goldenen SUV und hatte ebenfalls braune Haare.  „Übertragung“ nennt die Psychiaterin das. Nicoletta ist das egal. Sie hat ihre Mama gerächt. 

Adventskalender Minikrimi am 20. Dezember


Foto: suju

Kinderherzen

Wie still es hier war. Auf den leeren Gängen waren die Lichter gedimmt, aus dem Schwesternzimmer tropfte Gelächter. Früher hatte sie sich ein Krankenhaus immer wie einen Bienenstock vorgestellt. Auch nachts. Prima, dachte sie. Muss ich mir keine Ausreden einfallen lassen. 

Um ganz sicher zu sein, blieb sie noch eine Viertelstunde neben Melina sitzen. Schaute auf das blasse Gesicht. Durchscheinende Haut, blaue Adern darunter. Hinter geschlossenen Lidern huschten die Augen hin und her, hin und her. Die Monitore piepsten und leuchteten. Bald war Weihnachten. Sollte eigentlich ein ganz besonderes Fest werden, dieses Jahr. Mit dem größten Geschenk, das sie sich für Melina wünschen konnten: ein neues Herz. Sie war ganz oben auf der Eurotransplant-Warteliste. 

Dann war es soweit. Ein tödlicher Unfall, ein Kinderherz. Aber Melina war erkältet. Nur ein kleiner Infekt. Das ist gleich wieder vorbei, hat sie den Ärzten zu erklären versucht. Darauf können wir nicht warten, sagten sie. Und jetzt lag ein Mädchen aus Burundi auf Zimmer 423. Mit Melinas Herz. Und Melina ging es immer schlechter. Wie ungerecht das war!

Irgendwo knallte eine Tür. Schnelle Schritte auf dem Flur. Vielleicht das Mädchen auf Zimmer 423? Sie setzte sich auf. Kerzengrade. Lauschte angestrengt. Nichts. Und dann flimmerte einer der Monitore neben Melina. Dauerpiepsen. Sie fühlte die Faust im Magen, eisige Angst im Genick. Eine Schwester kam ins Zimmer. Schaute auf den Monitor. Wieder stehengeblieben. Gab ihm einen Stoß. Alles gut. Gehen Sie nach Hause, Frau Vormberg. Schlafen Sie sich aus. 

Schlafen! Also ob sie das könnte. Wann hatten Bernd und sie das letzte Mal geschlafen? Nicht miteinander. Überhaupt. Sicher nicht, nachdem Melina das Herz nicht bekommen hatte. Seit sich ihr Zustand so verschlechtert hatte, dass sie sie ins Krankenhaus bringen mussten, wechselten sie sich nachts an ihrem Bett ab. Aber egal, ob auf Station oder zu Hause: beide dachten nur daran, dass ihre Tochter jetzt vielleicht sterben würde, während ein anderes Kind leben durfte. 

Noch dazu eines aus Afrika! Woher hatte die Familie überhaupt das Geld, um hierher zu kommen? Und Melina das Herz wegzunehmen? Ihr Herz? Wahrscheinlich hatten deutsche Gutmenschen sogar dafür gespendet. Dort unten gab es so viele kranke Kinder, Armut und Krankheit. Selbst schuld, wenn sie das nicht auf die Reihe brachten. Was kamen die hierher? Am Ende sogar noch in Booten. Flugzeugen. Eine Invasion. Abe es traute sich ja kaum einer, was dagegen zu sagen. Nur eine Handvoll ehrlicher Politiker, und gegen die wurde natürlich von allen Seiten gehetzt. Sowas nannte sich dann Demokratie. Und Melina lag in ihrem Bett und wurde immer blasser, ihr Herz immer schwächer. Und wer half ihr?

Draußen auf dem Gang war wieder Ruhe eingekehrt. Leise stand sie auf, öffnete die Tür einen Spalt weit. Schaute hinaus. Keiner da. Leere. Leere und Stille. Sie wusste genau, wo Zimmer 423 war. Hatte immer wieder davorgestanden. Wie nett, dass Sie sich um Maarifa sorgt, wo es ihrer Tochter doch so schlecht geht, sagten die Schwestern. Die hatten keine Ahnung. 

Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter. Schloss die Tür hinter sich. Ein Zimmer wie das von Melina. Noch mehr Apparate und Monitore. Fast hätte sie das kleine Gesicht übersehen, vor lauter Kanülen und Schläuchen. Sie wusste, Maarifa lag im künstlichen Koma. Sie würde nichts mitbekommen. 

Sie holte das Kissen hervor, das sie unter ihrem Kittel versteckt hatte. Näherte sich langsam, zielstrebig, Schritt für Schritt dem Bett. Beugte sich über das Kind. Maarifa war wach. Große Augen schauten sie an. Stumm, ohne Angst. Ergeben. Zärtlich.

Sie ließ das Kissen sinken. Sie weinte. Zum ersten Mal seit Wochen. Es schüttelte sie, sie stand am Bett des kleinen Mädchens, unfähig, zu denken. Sie konnte nur fühlen. Schmerz. Ohnmacht. Eine kleine, tastende Hand auf der ihren.

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