Gestern las ich auf Facebook einen Post in Zusammenhang mit der „Affäre Aiwanger“, der mich streckenweise an meine eigene Vergangenheit erinnerte. Deshalb – und weil ich denke, dass vielleicht auch einige von euch ähnliche Erinnerungen und Erfahrungen haben, „antworte“ ich darauf in meinem Blog.
In dem Post ging es darum, dass der Verfasser schrieb, in den 1960er und 1970er Jahren seien, auch in den Schulen, „Judenwitze“ kursiert. Er beschrieb die Reaktion seines Vaters, als er aus der Schule einen solchen Witz nach Hause brachte und vortrug: eine schallende Ohrfeige. Die habe sich ihm eingebrannt und ihn bis heute sensibilisiert für antisemitische Äußerungen.
Auch ich erinnere mich, in der Schule, es muss die 1. Klasse des Gymnasiums gewesen sein, solche Witze gehört und weitererzählt haben. Ich weiß genau, dass ich überhaupt keine Vorstellung davon hatte, was oder wer Juden waren. Ich werde den Witz hier nicht wiedergeben. Aber als Kind fand ich ihn ob seiner evidenten Absurdität tatsächlich lustig.
Zuhause beim Mittagessen gab ich ihn zum Besten. Und nein: ich erntete keine Ohrfeige. Stattdessen nahmen sich meine beiden Eltern viel Zeit, um mich, lange, bevor das Thema im Geschichtsunterricht an der Reihe war, sehr ausführlich über die Shoah und all das, was im Dritten Reich passiert war, aufzuklären.
Mein Großvater mütterlicherseits war Fotograf und Kinobesitzer. Seine Welt bestand zum Großteil aus Menschen jüdischen Glaubens. Er hat einer Reihe von ihnen aktiv geholfen, Deutschland zu verlassen. Durchaus unter Lebensgefahr. Er hat schon 1936 vor dem Krieg gewarnt.
Mein Vater war während des Krieges für das italienische Rote Kreuz tätig. Auch er hatte viele jüdische Freund*innen, die er während der deutschen Besetzung unterstützte.
Meine Eltern erzählten mir von persönlichen Erfahrungen, von ihren jüdischen Freundinnen und Freunden. Davon, dass viele Familien zu lange nach Hitlers Machtergreifung nicht daran dachten, auszureisen, sich in Sicherheit zu bringen. Denn „wir sind doch Deutsche“ bzw. „wir sind doch Italiener“. Es war für sie unbegreiflich, dass man sie aufrund einer Religionszugehörigkeit – die viele nicht einmal ausübten – verfolgen oder gar töten könne. „Das geht vorbei“, sagten sie. Oder „das werden unsere deutschen Landsleute nicht zulassen.“
Und dann geschah genau das. Und ihre Landsleute nahmen entweder an der Verfolgung, der Enteignung, der Verschleppung, der Ermordung teil, oder sie schauten zu – oder weg. „Wenn heute jemand sagt, sie hätten nichts von der Shoah gewusst, dann lügen sie. Allein der Geruch war unverkennbar,“ hat meine Mutter mir erklärt.
Ich Kind konnte nicht verstehen, was damals geschehen war. Aber ich verstand sehr wohl, dass die Menschen, die „in den Aschenbecher des VWs passten“, verbrannt worden waren. Noch lange nach diesem Tag hatte ich Albträume. Ich sah große Kinderaugen, schreckgeweitet. Ich sah hohe Öfen – und stellte sie mir vor wie den Backofen der Hexe in Hänsel und Gretel. Ich hörte ihre Schreie.
In der Schule schaut ich verstohlen meine Lehrer an, von denen fast die meisten so alt waren, dass sie Nazideutschland erlebt hatten, und fragte mich: „hat der auch Juden verbrannt?“
Ich wurde in der Zukunft eine glühende Feministin und Pazifistin. „Nie wieder“, lautete mein Credo. „Nie wieder – und ich muss meinen Beitrag dazu leisten.“
Mir ist völlig unverständlich, vom Denken wie vom Fühlen her, wie jemand in den 1980er Jahren, mitten in der Friedensbewegung, aus einer Schulkultur heraus, in der der Holocaust ausführliches Unterrichtsthema war, auf den Gedanken kommen konnte, eine solche Hetzschrift (das Wort wird dem Aiwanger-Pamphlet nicht gerecht, doch mir fällt kein schlimmeres ein, dass ich hinschreiben könnte) zu verfassen. Und zu verbreiten.
ich kann mir das nur so erklären, dass der familiäre Nährboden mit natianalsozialistischem Gedankendünger getränkt war. Dass der Holocaust nicht nur niemals thematisiert, sondern das sehr wahrscheinlich eine antisemitische Haltung gezeigt wurde. Wie sonst kommt ein Schüler auf die Idee, aus Rache an einem Lehrer so ein bodenloses menschenverachtendes Werk zu produzieren?
Die einzig andere Erklärung wäre, dass die Eltern so extrem judenfreundlich und vielleicht sogar sozialistisch waren, dass den Söhnen daraus Nachteile erwachsen wären, dass sie Neid verspürt und versucht hätten, den Eltern „eins auszuwischen“. Aber das ist natürlich utopisch. Und Blödsinn.
Bleiben also die Fakten: mitten im Wahlkampf taucht eine über 30 Jahre alte Hetzschrift auf. Und sie wirkt so glaubhaft, weil der potentielle Verfasser immer wieder gezeigt hat, dass er durchaus nationalistische Tendenzen hat, die einem Vertreter einer demokrtaischen Regierung nicht gut anstehen. Das Volk müsse sich die Demokratie zurückholen, sagte Aiwanger erst kürzlich auf einer Kundgebung. Und die Zitatenreihe ließe sich fortsetzen.
Ob es nun Aiwanger selbst war, oder sein Bruder, Inhaber eines Waffengeschäfts, oder wer auch immer aus dieser Familie, tut, meine ich, nichts zur Sache. Vielmehr können wir uns fragen, warum die Schrift genau jetzt ans Licht der Öffentlichkeit tritt.
Und dafür gibt es mehrere Erklärungen. Neben der Absicht, Aiwangers Wahlchancen zu verringern und die CSU zu destabiliseren gibt es da noch eine ganz andere Hypothese.
Was, wenn Aiwanger selbst alles lanciert hat? 1987 sagte Franz Josef Strauß, rechts von der CSU dürfe es keine demokratisch legitimierte Partei geben. Wenn Aiwanger seine Freien Wähler so aufstellen würde, dass sie für alle, denen die CSU heute nicht mehr rechts genug ist, eine (r)echte Alternative für Bayern wären?
Wir werden sehen. Spätestens am 8. Oktober.