MiniKrimi Adventskalender am 8. Dezember


Santa Lucia

„Wir reißen uns hier täglich den Ar… auf für die Sicherheit unserer Frauen und Mädchen. Und so ein paar verrückte Millionärsbabys kleben sich auf der Autobahn und am Flughafen fest. Irre, sowas, einfach irre! Wegen denen kommen wir dann nicht rechtzeitig, um zu verhindern, dass so ein Islamfanatiker wieder mal ein deutsches Kind absticht.“

Senta sitzt still am Tisch und schneidet konzentriert ihr Tofuschnitzel in sieben exakt gleich lange Streifen. Sie ist die Tiraden ihres Vaters gewöhnt. Und sie weiß, diskutieren bringt nichts, ihr Vater rückt kein Stück von seiner Position ab. Im Gegenteil: er versteigt sich nur zu immer absurderen Behauptungen. Einmal hat er sogar versucht, Sentas Telefon abhören zu lassen, mit der Begründung, sie werde von einem linksextremen Aktivisten gestalkt.

Senta hat keine Ahnung, ob ihre Mutter die Ansichten ihres Mannes teilt. Bei Tisch ist sie vollauf damit beschäftigt, Ehemann und Sohn zu bedienen, und nach dem Essen das Geschirr ab- und die Küche aufzuräumen. Ihre einzige Reaktion besteht darin, auf die aggressive Frage von Arne, Sentas Bruder, warum seine blöde Schwester kein richtiges Fleisch mehr isst, zu beschwichtigen: „Is‘ gut jetzt, Arne. Lass sie doch.“

Den Rest des Abends verbringen Arne und sein Vater entweder vor dem Fernseher oder in ihrem Stammlokal. Seit der Sohn in die Fußstapfen des Vaters getreten ist und nun schon im zweiten Jahr die Polizeischule besucht, sind die beiden noch enger zusammengewachsen. Sie sprechen dieselbe Sprache, sie spielen im gleichen Fußballclub, sie trainieren im gleichen Kampfsportverein, sie teilen die gleichen Überzeugungen und Einstellungen.

Senta ist so weit von ihnen entfernt wie der Mars von der Erde, Sie hockt im Lotussitz auf ihrem Bett, im Hintergrund läuft leiser Indiepop. Sie scrollt durch ihre Telegram-Gruppe. Andi fragt, was heute noch so läuft. „Nichts. Mir hat mein Vater wieder krass die Stimmung gekillt“, antwortet Senta. „Ich häng noch was hier in Telegram ab, dann hau ich mich in die Kiste.“

Sie ist todmüde, aber sie kann nicht einschlafen, wie so oft in letzter Zeit. Als sie mit den Fridays for future Protesten angefangen haben, waren sie meist zu zehnt, maximal. Aber jetzt ist die lokale Gruppe schon so groß, ,dass es ihr schwerfällt, alle Namen und Gesichter zu koordinieren. Sie nennen sich jetzt auch „Letzte Generation“, denn sie sind davon überzeugt, dass nach ihnen niemand mehr da sein wird, wenn es ihnen und ihren Gleihaltrigen auf der ganzen Welt nicht gelingt, den Konsumwahnsin, die Koloniale Ausbeutung und die Klimakrise zu stoppen. Sie sind international vernetzt. Sie predigen Wasser und trinken es auch. Keine Flugurlaube zu last minute Preisen, für sie. Sie fahren Fahrrad, ÖPNV oder gehen zu Fuß. Sie tragen nachhaltige Klamotten aus fairem Handel. Sie boykottieren die Modeindustrie. Sie ernähren sich fleischlos, nicht, weil sie kein Steak mögen, sondern weil das der Umwelt schadet und ein Privileg ist, auf das sie verzichten möchten. Sie lassen sich von den Eltern weder bringen noch abholen, auch nicht mit Elektroautos. Und sie üben sich in Gelassenheit, wenn alte weiße Männer und auch nicht so alte weiße Frauen, die sie nicht einmal kennen, ihnen Heuchelei vorwerfen.

Senta liegt im Bett, und ihre Gedanken fahren Karussell. Seit ein paar Wochen ist Farid in ihrer Gruppe. Er kommt aus Afghanistan und wohnt in einer Unterkunft für UMFs, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Farid hat ganz andere Sorgen als die Reduzierung von Auto- und Flugverkehr. In seinem Land herrschen WIllkür und Unterdrückung. Und trotzdem macht er mit, klebt sich aufs Rollfeld. „WIr haben alle nur eine Welt. Was wir hier machen, ist auch für die jungen Leute in Afghanistan wichtig“, sagt Farid. Er betet zu Allah um Einsicht für die Taliban und die Politiker*innen in Deutschland. Gewalt ist Gewalt. Gegen Menschen und gegen die Natur. Farid ist einer von denen, die Sentas Vater am liebsten postwendend zurückschicken würde. Mit nem kräftigen Tritt in den A… Sentas Bruder sagt, dass solche wie Farid Schuld daran sind, dass es mit Deutschland den Bach runtergeht, kulturell, wirtschaftlich und politisch.

Sie steht auf, um sich in der Küche ein Bier zu holen, als Absacker. Immerhin, dafür gilt noch das deutsche Reinheitsgebot. Aus dem Wohnzimmer hört sie Vater und Bruder laut ein WM-Fußballspiel kommentieren. Ach ja – dass „wir“ schon in der Vorrunde ausgeschieden sind, liegt natürlich auch an den Ausländern. Obwohl – offenbar nicht an denen, die in der Nationalmannschaft spielen…..

Arnes Handy auf dem Küchentisch vibriert. Eine neue Telegram-Mitteilung. Aus den Augenwinkeln liest Senta „Flashmob Adventskerzen“. Was ist das? Offenbar hat ihr Bruder eine Telegram-Gruppe gegründet, die einen Flashmob plant. Sie erkennt ein paar Namen aus seiner Polizeischule. „Tooooor“ brüllt es aus dem Wohnzimmer. Senta giibt Arnes Passwort ein – er ändert es regelmäßig, und reglmäßig knackt sie es – und nimmt sich mit dem Psedonym Deutschmädel18 in die Gruppe auf. Auf Telegram geht das ja anonym ohne Telefonnummer und SIM Card. In ihrem Zimmer trinkt sie das Bier aus und fällt in einen unruhigen Schlaf.

In den nächsten Tagen wächst die Telegram Gruppe Flashmob Adventskerzen immer weiter. Offenbar plant ihr Bruder einen Adventsbesuch im UMF-Wohnheim, „um den Fremdlingen hier ein Stück gute deutsche Kultur nahezubringen.“ Passend zum Advent sollen alle „Kerzen“ mitbringen, „für eine warme und gemütliche Stimmung.“ Arnes Freund und Zimmerkollege auf der Polizeischule, Karsten, erklärt sich bereit, die“Kerzen“ zu organisieren. Und Claudia, ebenfalls eine Polizeischülerin, will für die „Cocktails“ sorgen, zur Auflockerung.

Senta ist schnell klar,. dass er hier nicht um einen besinnlichen Adventsnachmittag geht. Für Kerzen liest sie Fackeln, die Cocktails sind Mollies, da ist sich Senta sicher.

Gar nicht sicher ist sie allerdings, wie sie das Ganze vereiteln kann. Der Polizei einen anonymen Tipp geben? Am Ende landet sie damit bei ihrem Vater, und der ist sicher einer der Hauptfackelträger. Ihre Freunde der Letzen Generation will sie ebenfalls nicht mit hineinziehen. Die würden wahrscheinlich, schwarz maskiert und mit Steinen bewaffnet, zum Straßenkampf antreten. Nein. Da muss eine andere Lösung her.

Am nächsten Tag trifft sie sich nach der Schule mit Farid. Er will Fackeln kaufen. „Fackeln? Im Enrst jetzt? Wofür???“ „Weißt du, ein paar von uns haben Familie in Schweden, also Onkeln und Tanten, die da schon länger leben, und zu denen sie eigentlich wollen, sobald die derutschen Behörden sie gehen lassen. Und da dachte ich, wir machen ein bisschen schwedische Stimmung am Luziafest, am 13. Dezember.“

Das ist dieLösung. „Super, Farid. Darf ich mitmachen? Ich könnte unseren Schulchor fragen, die kommen bestimmt sehr gerne und singen für euch das Luzialied! Komm, wir sprechen das gleich mit der Heimleitung ab.“

Wenn Senta etwas gelernt hat, bei ihren Aktionen, dann ist das Organisation. In kürzester Zeit steht ein wunderbar romantisches Luziafest. DIe Flashmob-Gruppe ist leicht vom 13. Dezember als Termin zu überzeugen. Denn das Deutschmädel weiß aus interner Quelle, dass am 14. Dezember die Häfte der jungen Flüchtlinge verlegt werden soll. Da ist für die Aktion natürlich Eile geboten.

Der Abend des 13. Dezembers ist da. Und Senta fühlt sich bodenlos. Wenn was schiefgeht? Sie hat keine Ahnung, wie viele Mobber tatsächlich zum Flash kommen werden – das ist ja der Witz dabei. Aber was, wenn die auf die süßen weißen Chormädchen losgehen? Dagegen könnten auch ihre Freunde*innen, die sie – natürlich ohne den Hintergrund zu erklären – eingeladen hat, nichts ausrichten.

Der Mob ist für 17.30 Uhr angesagt. Um 17.15 Uhr versammeln sich 50 Kinder in niedlichen weißen Klamotten mit Kränzen im Haar und Kerzen in den Händen vor der Unterkunft. Um 17.25 Uhr singen sie sich ein. Und um 17.30 Uhr singt ein Chor heller jubelnder Stimmen „Santa Lucia“, dass es nur so über den Platz schallt. Überall werden Fenster aufgerissen. Die jungen Flüchtlinge kommen mit ihren Betreuer*innen aus dem Haus, viele von ihnen haben Tränen in den Augen. Aus allen Straßen gesellen sich derweil immer mehr Menschen dazu. Sie tragen dunkle Kleidung, schwenken brennende Fackeln und rufen etwas, das im lauten Kindergesang untergeht, zumal die Anwohner alle kräftig mit einstimmen. Senta glaubt „Deutschland“ zu verstehen.

Aber warum auch nicht? Nach der letzten Strophe greift sie nach dem Mikrophon des Chorleiters: „Herzlich willkommen in Deutschland“, ruft sie. „Ihr seht, auch bei uns ist der Advent international, aber wie überall feiern wir die Hoffnung auf das Licht mit Fackeln und Kerzen. Ein besonderes Dankeschön auch euch“ – mit einer schwungvollen Armbewegung umfasst sie den dunklen Fackelmob – „wie toll, dass Ihr mitfeiert. Heute sind wir alle eine große Gemeinschaft. Meine Freund*innen von der letzten Generation, und da hinten steht mein Bruder. Arne, hast du dir diese Überraschung ausgedacht? WOW, danke. Ein Applaus für unsere Luzias und die Fackelträger*innen.“

Inzwischen haben die Flüchtlinge Teller mit Fladenbrot rausgetragen. Und aus den umliegfenden Häusern haben die Bewohner*innen beigesteuert, was sie in Küche und Kühlschrank hatten. Das Luziafest dauert bis weit in den Abend hinein. Und Senta wünscht sich, dass ein paar der Fackelleute, die ertaunlicherweise mitfeiern, vielleicht ins Nachdenken kommen.

Arne eher nicht. Davon ist Senta überzeugt.

Adventskalender MiniKrimi am 6. Dezember


(danke, liebe Petra 🙂 )

Der eilige Nikolaus

In der Pandemie haben es Nikoläuse besonders schwer. Ich rede nicht von denen aus Schokolade, sondern ich meine die, die durch Kindergärten, Wohnungen oder Schulen ziehen, mit Mitra und goldenem Buch, um die Kinder mit einer Geschichte und ein paar Kleinigkeiten zu beschenken. So, wie es ihr Vorgänger vor rund 1700 Jahren in Myra gemacht hat. Dabei hat der historische Nikolaus durchaus eine Affinität zu pandemischen Zeiten, denn er erbte das Vermögen, das er an die Armen und Kleinen verteilte, von seinen Eltern. Und die waren an der Pest gestorben. Düstere Zeiten also, damals wie heute. Und wie immer, wenn es den Menschen schlecht geht, freuen sie sich ganz besonders auf schöne, herzwärmende Momente. Wie eine halbe Stunde mit Sankt Nikolaus, seinen Geschichten und kleinen Geschenken. 

Nun ist der Nikolausbesuch nicht nur für die lieben Kleinen – die bösen sehen ihm meist eher mit gemischten Gefühlen entgegen – und ihre Eltern eine Freude. Auch für die vielen Menschen, die am 6. Dezember in Kostüm und Rolle schlüpfen, ist dieser Tag wichtig, nämlich als fest einkalkulierter Verdienst. 

„Nikolausbesuch trotz Corona“ titeln daher Tageszeitungen und Webseiten schon seit Tagen und Wochen. Und tatsächlich ist die Vermummung bei diesem „Heiligen“ ja ohnehin praktisch Teil des Kostüms, so dass die ihn selbst und die Anderen schützende FFP2-Maske gut unter einem entsprechenden Rauschebart verborgen werden kann.

 Und trotzdem ist das Geschäft auch heuer, im zweiten Jahr in Folge, für die berufsmäßigen Nikoläuse mau. Studenten, Gelegenheitsarbeiter und Minijobber hocken frustriert auf der Couch und starren nostalgisch auf Handyvideos vergangener Performances, während draußen zarte Flocken aus dem Himmel rieseln. Kinder sitzen vor dem Fernseher und müssen mit einem Zeichentrick-Surrogat vorliebnehmen, oder mit Fantasy-Gebilden aus der Disneyschen Traumfabrik.

Aber halt! Wer stapft denn da durch den frisch gefallenen Schnee auf dem Kirchplatz? Das gelbe Laternenlicht malt bizarre Schatten auf die lichtglitzernden Tannen, und dazwischen bewegt sich eine große Gestalt in langem Mantel. In einer Hand hält sie einen Stab, in der anderen einen großen Sack. Sankt Nikolaus – denn wer sollte das sonst sein? – bleibt immer wieder stehen und schaut sich nach allen Seiten um. „Er sucht die Kinder, er sucht uns“, flüstert Lisa und versucht, den zwei Jahre älteren Bruder beiseite zu schieben, um einen besseren Blick durch das beschlagene Fensterglas auf den Menschen zu werfen. 

Finn ist sieben und stolz darauf, nicht mehr an Nikolaus, Christkind & Co. zu glauben. Aber die Gestalt, die dort unten ganz offensichtlich über den verlassenen Park Richtung Kirche huscht, hat schon verdammt viel Ähnlichkeit mit dem Mann, den es eigentlich nicht gibt. 

„Schau mal, jetzt ist er an der Tür zur Sakristei. Er denkt bestimmt, die Kinder warten wegen der Kälte heute drinnen auf ihn. Komm, Finn, wir müssen runter! Stell dir mal vor, wie enttäuscht Sankt Nikolaus ist, wenn er drinnen gar niemanden findet.“ Und als sie sieht, dass ihr Bruder noch zögert, fügt sie verschmitzt hinzu: „Der Sack sieht so aus, als wären da viele Überraschungen drin. Und wenn wir die einzigen Kinder sind…..“

„Ok. Komm.“ Finn geht vorsichtig zur Zimmertür, schaut nach, ob die Luft rein ist, winkt seiner Schwester, und dann schleichen beide auf Zehenspitzen, Winterjacken in der Hand, aus der Wohnung. Eltern sind solche Spielverderber. Wahrscheinlich hätten sie ihnen „wegen Corona“ verboten, dem Nikolaus hinterherzulaufen.

Draußen ist es eiskalt und stockdunkel. Im Park springen sie von Lichtpfütze zu Lichtpfütze, gehen zwischen den Tannen in Deckung und suchen den Heiligen Mann. Schwer ist das nicht, denn seine Stiefel haben im Schnee deutliche Spuren hinterlassen, bis hin zur Sakristei. Die Tür steht einen Spalt offen. „Alles dunkel. Wahrscheinlich ist er schon wieder weg“, flüstert Finn. „Der Arme, er war sicher total enttäuscht“, antwortet Lisa. Aber da sehen sie einen Lichtstrahl im Kirchenraum umherirren. „Komm“, sagt Finn wieder. Und die Geschwister schieben sich vorsichtig in die Sakristei. Auch im Dunkeln erkennen sie sofort, dass etwas nicht stimmt. Der Tisch ist umgeworfen, die Türen der Schränke mit den Messgewändern, Kerzenhaltern, Kelchen und allem, was in einer Sakristei an Kostbarkeiten aufbewahrt wird, hängen schief in den Angeln. Aus dem Kirchenraum dringen Geräusche, ein Klirren, ein dumpfer Knall, ein Fluch. Lisa starrt ihren Bruder an. „Der Nikolaus flucht doch nicht… oder?“ „Nein. Er kommt zurück. Schnell in den Schrank!“ 

Hinter Messgewändern versteckt beobachten die Kinder, wie Sankt Nikolaus hastig die Sakristei durchquert, mit dem prallen Sack in der Tür hängenbleibt, ihn losreißt und in der Dunkelheit verschwindet.

„Halt, halt, unsere Geschenke,“ flüstert Lisa erschrocken. „Pssst“, faucht ihr Bruder. „Schnell.“ Er zieht die Schwester hinter sich her zum Pfarrhaus. Dort läutet er Sturm. 

„Der Nikolaus ist aus der Kirche gelaufen und hat vergessen, uns unsere Geschenke zu geben“, erklärt Lisa dem verblüfften Pfarrer und den Gästen, mit denen er gerade gemütlich zu Tisch saß. „Nein, er hat alles gestohlen“, ruft Finn. „Da läuft er!“

Tatsächlich kommt der unheilige Mensch mit dem schweren Sack im Schnee nur langsam voran. Der Pfarrer und seine Gäste rennen ihm nach – immer den Spuren im frischen Schnee hinterher.

Lisa und Finn haben es nicht eilig, nach Hause zu kommen – sie gehen ganz sicher einer saftigen Standpauke entgegen. „Ob sie ihn fangen, den Nikolaus?“, fragt Lisa. „Bestimmt. Wenn er nicht um die Ecke einen schnellen Schlitten geparkt hat“, antwortet Finn.

Adventskalender Minikrimi vom 15. Dezember


Foto: Kirahoffmann

Ein Hauch von Marilyn

Ihr Bruder war schon immer ein großer Marilyn Monroe Fan gewesen. 1962 hatte er als 12jähriger in der Wochenschau gesehen, wie die amerikanische Skandalschönheit „Happy birthday, Mr. President“ ins Mikrophon gehaucht hatte. Seither bevölkerte Marilyn alle Träume des Teenagers, und auch als Erwachsener war es Bernhard nie gelungen, sich ganz von seinem Idol zu lösen. Er besaß unzählige Bildbände über sie, sammelte Artikel und TV-Beiträge. Selbstverständlich standen in seiner Bibliothek auch all ihre Filme. Als Fotograf hatte er immer wieder Models in die Verzweiflung getrieben, weil er sie als Marilyn-Double in erotischen Posen porträtiert hatte.  Drei Ehen waren an seiner „Marilynitis“, wie seine Schwester Dorothea die Verehrung nannte, gescheitert. 

Aber dann war Rosi gekommen. Eine dralle Brünette ohne ausgeprägte Persönlichkeit, aber mit viel Geld und der Fähigkeit leidenschaftlicher Hingabe. Sie hatten sich an der Rennbahn kennengelernt, wo Bernhard, schon ziemlich abgebrannt, darauf lauerte, ein paar Paparazzi-Fotos von zufällig auftauchenden Promis zu machen. Rosi hatte ihren Vater begleitet, um das erste Rennen seines neuesten Pferdes 007 zu sehen.  Es waren die „wilden Siebziger“. Rosi verliebte sich auf den ersten Blick in Bernhard, zog ihn in das nächste Gebüsch hinter den Stallungen – und damit war seine Zukunft besiegelt. 

Rosis Vater knüpfte nur zwei Bedingungen daran, seine minderjährige Tochter in die Hände oder besser die Arme des guten, aber nicht sonderlich erfolgreichen Fotografen zu geben: erstens musste Bernhard fortan alle anfallenden Fotoarbeiten für die Baufirma Herbert Huber übernehmen – kostenfrei! Zweitens durfte er Rosi nie betrügen. 

Die zweite Bedingung bereitete Bernhard anfangs Kopfzerbrechen. Denn einem Künstler wie ihm wurde auf Dauer sogar ein Leben im Luxus zu langweilig. Aber Rosi liebte ihn heiß und innig, und da sie keinen anderen Lebensinhalt hatte, tat sie alles, um ihrem Bernhard zu gefallen. Er ließ ihr Haar wasserstoffblond färben, züchtete ihr soweit es ging eine Marilyn-Figur an und ersteigerte sogar ein paar Original Monroe-Kleider. Hier gebot der Schwiegervater, der immer noch die Hand auf dem Vermögen der Tochter hatte. allerdings schnell Einhalt.

So lebten Bernhard und Rosi ein trautes Leben zu zweit, oder eigentlich zu dritt. Sie gab für ihn die Marilyn, und er für sie den Ehemann. Eigentlich, dachte Dorothea, hatten die beiden sich redlich verdient.

Leider starb Rosi unvermittelt und unerwartet, nachdem sie um 1 Uhr nachts, mit einer Flasche Champagner in der Hand, in 10 cm High-Heels auf dem Garagendach balanciert war. Nicht aus Übermut, sondern für Bernhards neuestes Fotoprojekt. Mit 55 und Arthrose in den Beinen hatte sie sich nicht gut genug aufrecht halten können.

Sicher hätte Herbert Huber Bernhard daraufhin stante pede enterbt. Er war jedoch kurz vor seiner Tochter gestorben, und so war Bernhard mit 65 Alleinerbe eines zwar nicht atemberaubenden, jedoch so umfangreichen Vermögens, dass er einem genussvollen Lebensabend entgegenträumen konnte. Und auch für Dorothea waren himmlische Zeiten angebrochen. Ihr Bruder lud sie ein, zu ihm in die geräumige Villa am Starnberger See zu ziehen. Aus Dankbarkeit kümmerte sie sich um den Haushalt, das heißt sie achtete darauf, dass die Angestellte alle Arbeiten zu ihrer Zufriedenheit erledigt, und fuhr einmal die Woche nach München, um bei Dallmayr und Käfer das Nötige einzukaufen. Natürlich wären Filet Wellington, Kaviar, Champagner & Co. auch angeliefert worden. Aber Dorothea genoss die Fahrten in Rosis Jaguar XJ 220, einer Sonderanfertigung in metallic-beige. Und sie fuhr bei solchen Gelegenheiten auch gerne bei ihren Freundinnen vor, um mit ihnen ein Käfer-Törtchen und eine Tasse Dallmayr Kaffee zu teilen. Dorothea, die nach einem Leben als Arbeitsvermittlerin für Künstler keine üppige Rente erhalten hatte, war überglücklich. Die Marilyn-Leidenschaft ihres Bruders störte sie nicht, im Gegenteil. Sie genoss die ruhigen Stunden, während er sich im Atelier Filme, Fotos oder was auch immer ansah.

Doch dann kam die Wende. Danica, die treue Haushaltsperle, brach sich den Arm. Pflichtbewusst, wie sie war, schickte sie ihre Nichte Dajana als Ersatz. Dajana war 20, hatte hellblond gefärbte Haare und eine nostalgische 90-60-90 Figur. Nach ihrem ersten Arbeitstag brannte Bernhard bereits lichterloh. Nach einem Monat eröffnete er Dorothea, dass er Dajana heiraten wollte. Die Verlobung sollte an seinem 67.Geburstag stattfinden. Denn Dajana, so erklärte er seiner Schwester, sei streng katholisch, und ein gemeinsames Leben müsse mit dem Heiligen Bund der Ehe besiegelt werden. Ohne Gütertrennung, ergänzte Dorothea bitter, denn sie hatte Dajanas Zielstrebigkeit schnell erkannt. Auch hegte sie keinen Zweifel daran, dass das „junge Glück“ seine Liebe ungestört genießen wollte. Für sie wäre da kein noch so kleines Plätzchen geblieben.

Dorothea überlegte, plante und verwarft. Mit dem Jaguar in den Starberger See fahren? Einen wunderschönen jungen Gärtner einstellen und sich mit der Kamera auf die Lauer legen? Schließlich entschied sie sich dafür, Bernhard zum Geburtstag mit einer echten „Marilyn-Torte“ zu überraschen.

Sie kannte eine Tortenmacherin, die in der Lage war, ein wunderbares, riesengroßes und dabei äußerst schmackhaftes Gebäck herzustellen, das zudem noch Dorotheas besonderen Anforderung entsprach. Drei Etagen, feinster Biskuit, Sahnefüllungen mit exotischen Früchten, weiße Schokolade, Nougat, Baiser – nur das Beste vom Besten. Einfach unwiderstehlich.

Ein etwas tieferer Griff in Rosis Portokasse, und die Torte war verbindlich bestellt. Pünktlich am Morgen von Bernhards Geburtstag brachte die Tortenmacherin das Kunstwerk wie besprochen zum Hintereingang der Villa. Das Geburtstagskind schlummerte noch tief – wahrscheinlich träumte ihr Bruder von seiner rosigen Zukunft mit Dajana, dachte Dorothea und schmunzelte über ihre Wortwahl.

Ab 20 Uhr kamen die Gäste, und kurz vor Mitternacht endlich die Torte. Dorothea hatte alle Sicherungen persönlich ausgeschaltet. Der offene Wohnbereich wurde ausschließlich von unzähligen Wunderkerzen erleuchtet, die um die Torte herum flimmerten. „Ah“s und Oh“s von allen Seiten. Dajana, festlich glitzernd in einer von Rosis Brillantketten, dachte, die Torte sei Teil von Bernhards Verlobungsüberraschung. Aber nein. „Happy Birthday, Mr. President“ hauchte es plötzlich aus dem Innern des Gebäcks. Und aus der Torte stieg Marilyn höchstselbst, eingehüllt in ein hautfarbenes Nichts, übersäht mit 2500 Glassteinen. Natürlich war es nicht die echte Monroe, aber sie sah ihr so verblüffend ähnlich, dass alle Gäste berauscht, begeistert, betäubt den Atem anhielten. Am längsten Bernhard. Er hatte den ganzen Abend getrunken, und als er die Vision seiner Kindertage leibhaftig auf sich zugerollt kommen sah, war die Euphorie grenzenlos. So groß, dass sein Herz stehenblieb.

Der eilends herbeigerufene Arzt konnte nur noch den Tod durch Herzversagen feststellen. Und das, bevor Bernhard die Möglichkeit gehabt hatte, seine letzte Marilyn zu heiraten oder sie auch nur zur Alleinerbin einzusetzen. Selbst wenn Dajana auf einer Obduktion bestehen und man Barbiturate in Bernhards Blut finden sollte – bis tatsächlich über Mord spekuliert wurde, würden ganz sich, wie bei der echten Monroe, viele Jahrzehnte vergehen. 

Dorothea als seine einzige lebende Verwandte hatte vor, diese so ausgiebig wie möglich zu nutzen. 

Adventskalender MiniKrimi vom 9. Dezember 2018


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Ihr Liebhaber gepflegter Adventskriminalistik: heute mal was Preisgekröntes. Mit dieser explosiven Adventstragödie habe ich mal den Krimipreis Goldbroiler gewonnen. Viel „Spaß“ beim Lesen….

Der Tod eines Traums. Adventstragödie in vier Akten.

1.

„Dicke rote Kerzen, Tannenzapfenduft..“ „Marie, leise, Papa schläft. War so viel los in der Schule!“. Sie legte sich aufs Bett, stöpselte das Lied ins Ohr. Die Wohnung duftete nach Zimt und Plätzchen. Marie liebte den Advent, die gemütliche Heimlichzeit.

Sieht aus wie eine dicke rote Kerze. Passt perfekt in den Adventskranz.  Keiner bemerkt, wer sich vor dem Blumenladen eine Zigarette anzündet und den Docht dazu.  Jetzt schnell weg und weiter, ein sichtlich unsichtbarer Schatten in der Menge wogender Mäntel. Der Kirchturm wird zum Logenplatz, die Straße zur Arena. Ein Knall, klirrendes Glas von zerberstenden Scheiben. Schreie. Schreie und Blut.

2.

„…Man begegnet hin und wieder schon dem Nikolaus“ Er hatte immer was Süßes im Sack. Anziehend und unheimlich zugleich. Ein geheimnisvoller Fremder. Bis er ihr zu nahe kam.

Bunt und laut und weihnachtsdurstig wimmelt die Samstagsmenge in der jubelbeschallten Einkaufsmeile. Alle freuen sich und viele nehmen gern den Glühwein, den ihnen der dick vermummte Nikolaus freundlich lächelnd anbietet. Sie kommen nicht weit. Rattengift wirkt schnell.

3.

„Lieb verpackte Päckchen, überall versteckt“. Am letzten Schultag wurde gewichtelt. Marie hatte Jo ein Schokoherz gekauft. Und er? Als sie ihr Päckchen auspackte, grölte die ganze Klasse. Ein kaputter Vibrator für „Lehrers Liebling“!

Am letzten Schultag strömen alle in die Aula. Neunhundert Schüler bestaunen die Riesentanne mit den Paketen für arme Kinder darunter. Halleluja singt der Chor der Ehemaligen. Ritual und Tradition. Diesmal mit Feuerwerk. Ein Handy klingelt, und schon wirbeln Sänger, Äste, Kerzen durch die Luft. Wie vorgezogenes Silvester.

4.

„Alte Lieder, Dunkelheit, Bald ist es so weit!“ Es war so einfach. Internet sei Dank. Erst der Flirt, dann die Kalaschnikow. Ein volles Magazin. Drei Treppen und ein Flur. „Schöne Bescherung, Papa, jetzt ist Schluss mit Weihnachtsmann“, und sie entsichert die Waffe.

Weihnachten ausgebrannt?


Es ist nicht mehr als eine Randnotiz auf Google News, rechte Spalte: Weltmeister Kabashi tot. Weltmeister? Ich denke an Schach, aber der Name klingt eher albanisch als russisch. Gewichtdopen, ehm, -heben, eher? Nein. Thaiboxen, entnehme ich der Meldung. 35, tot in seiner Münchner Wohnung aufgefunden. Angesichts der Tatsache, dass auch Christa Wolf keine ganze Seite bekam und nur ein paar Wenigminuten in den öffentlichen TV-Nachrichten (bei den Privaten hast du ohne Doppelvorname keine Chance auf Erwähnung, gell, Gina-Lisa), hat er es doch auf einen  gewissen Zeilenwert gebracht, nach seinem Ableben. Kein Vergleicht natürlich mit anderen Größen aus Sport und Unterhaltung. Vom Torwart über diverse Sänger und Sängerinnen. Aber er war ja auch älter. Nicht so alt zwar wie Joe Frazier, aber zu alt, um ein Recht zu haben, sich melancholisch zu Tode zu dopen – und sich dadurch einen Namen in der Hall of Fame zu sichern. Früher Tod muss keine Gnade sein.

Wir sterben  – hoffentlich nicht vor Weihnachten an Überdosen. Aber wir kranken daran. Immer mehr immer öfter. Anrufe wie „Du, ich schaff den Auftrag vor Weihnachten nicht mehr, in habe Burn Out“, sind an der Tagesordnung. Ebenso wie die Absagefloskel „Sorry komme nicht zur Weihnachtsfeier, bin ausgebrannt.“ Soll ja schon bei manchen Handys als Textvorlage angeboten werden. Ja. Wir brennen mit den Adventskerzen um die Wette. Rennen hierher und dorthin. Verrennen uns. Wollen es jedem und allen recht und schön und gemütlich machen. Geld haben wir scheinbar (!) genug. Leider aber keine Zeit. Ich mache da keine Ausnahme. Oder! Doch! Jetzt gerade nämlich müsstesollte ich einen Artikel schreiben. Meine Rechnungen ausdrucken. Drei wichtige Telefonate führen. Staubsaugen. Reifenwechsel terminieren.

Stattdessen sitze ich am Mac und  – sinniere. Nehme mir die Freiheit, Zeit zu haben, ohne sie zu besitzen. Und jetzt kommt das Beste: ich verschenke sie. Euch, liebe Leser! Freut euch, ihr Christen und Nichtchristen und genießt die drei Minuten hier auf meinem Blog. Entspannt. Denkt nach, kritisiert, lacht oder ärgert euch. Egal. Für drei Minuten habe ich euer Hamsterrad angehalten. Wenn das kein Nikolausgeschenk ist!

SMS Adventskrimi. 13. Dezember: Dicke rote Kerzen


„Dicke rote Kerzen, Tannenzapfenduft….“ Sehr schön. Lass sie nur singen. In dicken bunten Stoffklumpen stehen sie um die Krippe herum, als gäbe es was umsonst. Auf die Ohren, ja. Aus der Konserve rieselt Weihnachtsmusik auf die Kunden herunter, unaufhörlich, wie überzuckerter Schnee. Seit Wochen schon. Wann hat er zuletzt in das Licht einer Kerze geschaut? Mit neun, kurz bevor seine Mutter den Job im Altenheim verloren hat. Rücken kaputt, Kopf kaputt, arbeitslos, Hartz IV. Seitdem flackern die Kerzen nur noch über den Bildschirm, daheim. Geschenke? Kein Geld. Gute Laune kommt nur noch vom Bier. Gute Worte gibts von den Leuten auf den Ämtern. Arbeitsamt. Sozialamt. Schulamt. Und Gutscheine. Geändert haben sich nichts. Aber er. Jetzt. Auch dieses Jahr wirds keine Kerzen geben. Keine Geschenke. Keinen Baum. Keinen Braten. Nicht für ihn. Aber auch nicht für die Leute da vorne, rund um die Dekokrippe. Er packt die beiden Mollys aus – seine Weihnachtsbastelei!

„Oh – du hast aber eine große Kerze! Aber meine brennt schon. Hier, schenk ich dir!“ Eine kleine Hand, eine winzige rotrunde Kerze. Ein Schneeflockenlächeln. Er packt die Mollys in den Rucksack und nimmt das flackernde Teelicht aus der Kinderhand. „Pass auf, dass sie nicht ausgeht, bis du daheim bist.“

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