Abkühlung mit Spannungsfaktor


Zu heiß? Am 24.7. um 17 Uhr gibt’s eine spannende Abkühlung. Ich lese aus meinem Trüffel- Krimi Miniataurus und entführe euch dazu in die Frische des Fünf-Seen-Landes und nach San Miniato.

Und zwar auf einem Schiff, hoch über München, der „Alte Utting“. Neugierig? Ich freu mich auf Euch!

Die Lesung wird von den Mörderischen Schwestern in Bayern organisiert Im Link gibts alle Details.

Adventskalender MiniKrimi am 20. Dezember


Bluthochzeit

Keiner von beiden hatte geglaubt, dass das Glück in diesem Leben nochmal an ihre Tür klopfen würde. Nicht, dass ihr Dasein bisher unerfüllt gewesen wäre. Im Gegenteil. Sie war eine erfolgreiche Modedesignerin mit eigenem Label und Geschäften in München, Köln und Kitzbühel. Er war ein ebenso erfolgreicher Autor von Heimatkrimis. Beide hatten einen ausgedehnten Bekanntenkreis, der nicht nur aus Bewunderern, sondern durchaus auch aus echten Freunden bestand. Und natürlich hatten beide auch die eine oder andere Beziehung durchlebt, von schwindelnden Höhen hinunter zu abgründigen Tiefen. Und beide hatten für sich beschlossen, dass in punkto Beziehungen die Ebene einen weit besseren Lebens- und Liebesweg bot.

Bei gelegentlichen Treffen im Hause ihrer gemeinsamen Freundin Ella hatten sie sich, nach dem ein oder anderen Glas Champagner, sogar darüber unterhalten, wieviel angenehmer der Alltag ohne emotionale Komplikationen und ergo bar fester Bindungen sei. Ella aber war ganz offensichtlich anderer Meinung gewesen. 


Ganz sanft hatte sie einen Komplott mit Eros, Amor und Aphrodite geschmiedet und die beiden mit viel Geduld und List in einem zarten Liebesnetz gefangen. Und so waren aus tausend freundschaftlichen Berührungen zärtliche Umarmungen geworden und aus belanglosen Begrüßungs-Bussi-Bussis leidenschaftliche Küsse. Das Besondere an diesem Wunder war, dass das Glück der beiden zwar himmelwärts, aber dabei doch immer auf geraden Wegen verlief, ohne steiles Bergauf-bergab, sondern vielmehr auf einer Hoch-Ebene. Das beflügelte ihr Wesen und machte beide auch im Beruf, der für ihn wie für sie gleichzeitig eine Berufung war, noch produktiver.

Soviel Erfolg, das fühlten beide, wollte auf eine solide Basis gestellt werden. Nicht der anderen wegen! Nein, sie selbst wünschten sich für Ihre Beziehung die höchste Vollendung. Es war nur selbstverständlich, dass Ella von ihnen zur offiziellen Hochzeitsplanerin bestellt wurde.

Das beste Hotel Münchens wurde ausgesucht, und dort natürlich die Panorama-Suite mit einem Blick über die Dächer der Innenstadt und weiter bis zu den Bergketten am Horizont. Ella höchstpersönlich schmückte Schlafzimmer und Hochzeitsbett. Wie, das blieb ihr streng gehütetes Geheimnis. 

Die Feier war, wie nicht anders erwartet, atemberaubend schön. Vom Ja-Wort im romantischsten Standesamt der Stadt über den Nachmittag auf einem Schiff am Starnberger See bis hin zum opulenten Abendbuffet im Bayerischen Hof. Zum Ausklang tanzten und tranken Brautpaar und Gäste ausgelassen im Night Club bis in die frühen Morgenstunden.

Dann torkelten die Frischvermählten in ihre Suite. Ohne das Licht anzumachen – das schadet ab einem gewissen Alter sowohl dem Teint als auch der Illusion – öffnete die Braut als erstes die hohen Fenster und lehnte sich, übervoll mit Glückseligkeit und Alkohol, in die dunkle Morgenbrise. Als sie sich umdrehte, lag ihr Göttergatte bereits auf dem Bett, in Frack, Seidenstrümpfen, Halstuch und Lackschuhen – und schnarchte. Leidenschaftlich, das schon. Aber tief und fest. An die Vollendung der Hochzeitsnacht war nicht zu denken. Sie war nicht besonders enttäuscht. In ihrem Alter konnte sie Bedürfnisse sowohl emotional als auch geistig steuern, und schließlich hatte sie die Katze nicht im Sack gekauft. Seine Qualitäten und Fertigkeiten waren ihr bis ins kleinste Detail bekannt. Und da auch sie zwar im Herzen blutjung, an Jahren jedoch ebenso fortgeschritten war wie ihr nun Angetrauter, fühlte sie wie er die magische Anziehung eines rosenduftenden Bettes mit dem Versprechen, das berauschende Fest durch einen erholsamen Schlaf zu krönen. 

Am nächsten Morgen dann wäre sie, frisch geduscht und neu geschminkt, dem opulenten Frühstück zwischen Kissen und Federn ebenso wenig abgeneigt wie einem zärtlichen Liebesdessert.

Sie sank neben ihn und fiel sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf – aus dem sie, mitten in der Nacht, wie ihr schien, auf grausame Weise geweckt wurde. Sie hatte das Gefühl, als habe jemand ihren Kopf mit einem Gong verwechselt und schlage ihr mit einem Knüppel gegen Schläfe und Ohren, immer und immer wieder. Sie fuhr hoch, starrte mit zugekniffenen Augen in das halbdunkle Zimmer und erkannte, dass das Geräusch von außen durch die weit geöffneten Fenster hereindrang. Es waren die Glocken der ehrwürdigen Münchner Kirchen, die die Gläubigen, von denen wahrscheinlich niemand die halbe Nacht durchgefeiert hatte, zum Morgengebet riefen. Der Dom, Sankt Peter, die Heilig Geist Kirche und Sankt Michael vereinten ihre Stimmen zu machtvollem Geläut. Ihren Mann schien das nicht zu stören, er lag weiter reglos unter der Decke. Sie aber sprang auf, stolperte brillenlos durch das Zimmer, schob die Vorhänge leicht beiseite und schloss die Fenster. 

Ahhh – Ruhe! Aufatmend machte sie sich auf den Weg zurück ins Bett. Und erstarrte! Was war das? Matratze, Laken, Decke – alles war blutrot. Und er? Machte keinen Mucks! Oh nein! „Das kommt davon, wenn sich alte Leute wie Teenager benehmen. Ich hätte wissen müssen, darauf achten müssen, verhindern müssen…“ Aber was? Ein Blutsturz, was sonst? Oder hatte er das Steakmesser in die Brusttasche gesteckt und sich im Schlaf damit erstochen? Unmöglich! Wut kam in ihr auf. „Er muss doch gewusst haben, wie krank er ist. Warum hat er mir nichts davon gesagt? Warum hat er mich überhaupt geheiratet? Vor allem – warum dann die Gütertrennung? Oder – wollte er eigentlich MICH mit dem Steakmesser erstechen? Aber nein. Davon hätte er ja auch nichts gehabt. Außer, er hat mich so gehasst……“ 

Aus der Tiefe der blutroten Decke kam ein Stöhnen. Dann ein Gähnen. Dann schälte sich eine Hand aus den Falten und tastete die leere Bettseite entlang. „Wo bist du?“ 

Vor Erleichterung wurde ihr schwindelig. Sie glitt an der Wand zu Boden, kroch hinüber zum Bett. Suchte auf dem Nachttisch nach ihrer Brille. „Was machst du denn da?“, fragte er. Statt zu antworten, starrte sie fasziniert auf die Laken und Decken. Erst jetzt nahm sie den intensiven Geruch nach Rosenblüten wahr, süß und stark und, ja, beinahe mazeriert. Die ersten Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg über die Dächer und an den Vorhängen vorbei ins Zimmer gebahnt hatten, malten ein unglaubliches Bild, das sie dank ihrer Brille nun deutlich erkennen konnte:

Auf dem Bett war ein Meer tiefroter Rosenblüten verstreut worden, ohne Zweifel von Ella, der Hochzeitsplanerin. Leider hatte das Brautpaar aus hinlänglich beschriebenen Gründen diese ästhetische Hommage nicht gewürdigt. Mehr noch: es hatte die Pracht nicht, wie vorgesehen, nach ausgiebiger Bewunderung sorgfältig beiseitegelegt, sondern sich einfach mitten hineingeworfen. Die Körperwärme, gepaart mit zwar bekleideten, aber dennoch unruhig wälzenden Bewegungen zweier ausgewachsener Menschen, hatte quasi zu einer heißen Enfleurage geführt. Und die erhitzten, zerdrückten Blätter hatten ihre rote Farbe mit allem geteilt, was sie berührt hatte. 

„Jetzt ist es eh schon passiert“, murmelte sie, schmiegte sich eng an ihren Ehemann – und die beiden holten die Freuden der Hochzeitsnacht am helllichten Morgen ausgiebig nach. 

Das Hotel lehnte ihr Angebot, für den an der Wäsche entstandenen nicht zu behebenden Schaden aufzukommen, ab. Dass Laken und Decken in einer Vitrine ausgestellt und im Rahmen einer Motto-Führung über „Skurrile Episoden eines Grandhotels“ gezeigt werden, ist lediglich ein nicht bestätigtes Gerücht, dass das Ehepaar übrigens selbst in die Welt gesetzt hat. 

Adventskalender MiniKrimi am 19. Dezember


Meine Allerlieblingsgeschichte. Ich könnte sie jedes Jahr wieder schreiben. Und danach lesen. Und Ihr?

Warum Krampus eine Windel trug

Artemis und Isidora waren Geschwister. Sie lebten in einem Altbau mitten im Münchner Stadtteil Schwabing, ganz in der Nähe des Englischen Gartens. Bis vor einem halben Jahr wohnten sie noch in Hamburg. Doch dann war ihre Mutter, die bei einer großen Werbeagentur arbeitete, nach München versetzt worden. Meistens wollen Kinder ihr gewohntes Umfeld nur ungern verlassen – ungezählte „Herzkino“-Filme handeln davon, wie sie sich zunächst sträuben, dann durch irgend einen meist dramatischen Umstand neue Freunde finden, Teenager verlieben sich auch oft – und am Ende weinen sie dem Meeresrauschen im hohen Norden und den Szenecafés von Blankenese keine Träne mehr nach und sind stattdessen ganz versessen auf Floßfahrten und Zelten entlang der Isar.

Artemis und Isidora hingegen waren gerne nach München gezogen, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. Artemis war mit seinen 15 Jahren ein in einschlägigen Kreisen anerkannter Hacker, und einige seiner virtuellen Kollegen lebten in und um München. Die WizKidz von heute gehen viel gelassener mit ihrer Anonymität um, bzw. haben sie längst verstanden, dass nur der keine digitalen Spuren hinterlässt, der so wenige wie möglich macht. Briefe, Telefon und persönliche Treffen sind ihrer Meinung nach bedeutend sicherer als Konferenzen im Netz, ob hell oder „dark“. Für Artemis bedeutete die Veränderung also größere Nähe und kürzere Wege.

Isidora hingegen war von einer Zickengang an ihrer Mädchenschule gemobbt worden, und zwar ziemlich übel. Einmal hatten sie einen Tankini in ihrem Mathe-Hausaufgabenheft versteckt. Ihr Lehrer, ein junger Typ mit blonden Locken, auf den sie tatsächlich total stand, hatte das Teil mit seinem Kuli aus dem Heft gefischt, sie angegrinst und erklärt: „Meine Freundin trägt nur Badeanzüge.“ Danach war Isidora so lang nicht zur Schule gegangen, so lange, bis das Fieberthermometer beim Aufheizen auf dem Induktionsherd zersprungen war. Kurz vor den Sommerferien hatten die Zicken ihr die Reifen ihres Fahrrads zerstochen. Nein, Isidora war glücklich, Hamburg den Rücken zuzukehren.

Es gab aber noch einen anderen Grund, weshalb die Geschwister dem Umzug beinahe entgegengefiebert hatten: sie wünschten sich schon seit langem einen Hund. In Hamburg hatten die Eltern immer ein Argument gefunden, um diesen Wunsch abzulehnen: Der Vermieter erlaubte keine Haustiere, weit und breit war kein Park in der Nähe, das Tier wäre den halben Tag alleine gewesen. Hier in München aber waren die Bedingungen perfekt. Der Altbau mit seinen knarzenden Holztreppen, dem Geruch nach Grünkohl aus der Hausmeisterwohnung und vor allem mit dem Englischen Garten direkt vor Tür war wie geschaffen für eine Fellnase. Tatsächlich lebten dort auch schon eine Dogge und eine Katze. Hinzu kam, dass ihr Vater als freier Journalist für den Deutschen Tierschutzbund arbeitete – und das meist von zu Hause aus. Und wenn er mal reisen musste: sein Arbeitgeber konnte schlecht was gegen einen Hund im Gepäck haben! Aus unerfindlichen Gründen schienen die Eltern jedoch immer noch nicht mitzuziehen. „Lasst uns erstmal ankommen.“ „Vielleicht zu Weihnachten.“ „Seid Ihr sicher, dass Ihr nicht allergisch seid? Wir lassen Euch lieber erstmal testen.“

Da beschlossen die Geschwister, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Und so saßen Artemis und Isidora, Art und Isi, wie sie von ihren Freundinnen und Freunden genannt wurden, am Esstisch, vor sich eine Zeitung, die sie in ihrem Briefkasten gefunden hatten. „Hallo München“, ein Werbeblatt voller Anzeigen. Vom Bügelbrett über Häuser, Autos, Briefmarken bis zu erotischen Diensten wurde dort alles angeboten. Auch Hunde. „Schau mal, Arti, der sieht doch voll süß aus!“ Isi zeigte auf das Foto eines kleinen schwarzen Hundes mit einem weißen Fleck über dem rechten Auge. „Australian Shepherd Welpen, reinrassig. 3 Monate, 250 Euro.“ Genau soviel hatten die beiden bereits zusammengespart!

Art fand es schon seltsam, dass in der Anzeige kein Name stand, sondern nur eine Handynummer. Als er dort anrief, meldete sich eine Frau in gebrochenem Deutsch. Ja, genau dieser Welpe sei noch zu haben. Natürlich sei mit ihm alles in Ordnung. Er sei ein ganz besonders schöner Hund. Sie verlangte Arts Telefonnummer und sagte, sie würde anrufen, um den Übergabetermin festzumachen. „Ich weiß nicht, mir kommt das komisch vor,“ zweifelt der Junge nach dem Telefonat. „Wir sollten vielleicht doch liebe erst mit Papi…“ „Nein! Wir ziehen das jetzt durch!“ Isidora konnte für eine Dreizehnjährige sehr bestimmend sein. Und im Grunde wollte Artemis den Hund ja genauso gerne wie sie.

Die Tage vergingen, die Frau rief nicht an. Ihr Handy war ausgeschaltet. Endlich, am fünften Dezember – ein Anruf. „Hallo? Sind Sie noch interessiert? Dann kommen Sie morgen um 17 Uhr zum Busbahnhof Fröttmaning. Bringen Sie das Geld mit. Dann kriegen Sie den Hund!“

Vor Aufregung konnten Art und Isi in der darauffolgenden Nacht kaum schlafen. Beide halten im Grunde kein gutes Gefühl bei der Sache. Art hatte versucht, herauszufinden, wem die Nummer gehörte. Aber es war natürlich ein Prepaid-Handy gewesen. „Wir ziehen das jetzt durch,“ wiederholte Isi ihr Mantra, während sie am 6. Dezember zum Busbahnhof Fröttmaning fuhren. „Was kann uns schon passieren? Das ist ein riesen Busbahnhof mit vielen Leuten. Wenn sie uns überfallen, schreien wir einfach und laufen weg.“

Punkt 17 Uhr standen sie am Busbahnsteig. Überall fuhren Autos an und ab – der Busbahnhof ist ein zentraler Treffpunkt für Mitfahrgelegenheiten. Ein schwarzer Mercedes mit getönten Scheiben fuhr langsam die Reihe der Wartenden ab. Das Beifarerfenster wurde heruntergelassen, und eine Frau schaute zu Art und Isi herüber. „Haben Sie unseren Hund dabei?“ fragte Art schnell. Die Frau runzelte die Stirn, sagte etwas zum Fahrer des Wagens und dann: „Hund, jaja Hund. Kommen. Da vorne.“ Der Wagen fuhr weiter, bis ans Ende des Bahnsteiges, dort, wo keine Menschen mehr warteten. Art und Isi rannten hinterher. Atemlos standen sie dann neben dem Wagen. Der Fahrer stieg aus uns öffnete den Kofferraum. In einem mit falschem Leopardenfell ausgekleideten Karton purzelten fünf kleine Hunde durcheinander und fiepsten ängstlich. „Da, das ist er!“, rief Isi und wollte in den Karton greifen. „Halt! Zurück!“ befahl der Fahrer. „Gib Geld!“ Art holte die 250 Euro zwischen den Seiten seines Gesangbuches hervor („Wir haben noch Chor, Mami, sind in 2 Stunden zurück“, hatte er beim aus-dem-Haus-Gehen gelogen) und hielt sie in die Höhe. „Zuerst den Hund!“ Der Mann schnappte sich einen der Welpen und wollte ihn Isi in die Hand drücken. „Nein, das ist nicht unserer. Wir wollen den mit dem weißen Fleck.“ „Geht nicht. Der schon verkauft. Du nehmen diesen!“ Der Mann wurde ungeduldig. Aber er hatte nicht mit Isis Sturheit gerechnet. „Nein, wir wollen den anderen. Das war so abgemacht,“ rief sie, immer lauter. „Hallo, braucht Ihr Hilfe?“ rief jemand vom Bahnsteig, und jetzt schauten schon mehrere Leute in ihre Richtung. „Dann nix“, murmelte der Fahrer und wollte den Kofferraum zuklappen. Aber Arti griff blitzschnell hinein, nahm das kleine Fellündel in den Arm und rannte los, Isi hinterher. Sie hörten den Fahrer fluchen, denn inzwischen waren ein paar Personen in ihre Richtung gelaufen, um zu helfen, vielleicht auch aus Neugier, egal. Der Mercedes startete mit heulendem Motor und raste davon, aber Art hatte sich längst Autokennzeichen und Gesicht des Fahrers eingeprägt.

In der U-Bahn nach Schwabing besahen sich Art und Isi ihren Hund. Schwarz, zerzaust, mit verklebtem Fell und triefenden Augen. „Wir nennen dich Krampus,“ sagte Art. „Du schaust wirklich aus wie der Gehilfe vom Nikolaus, so finster und zerlumpt.“ Daheim schlichen sie gleich auf ihre Zimmer. Die Eltern waren zu einem Nikolausdinner eingeladen, und als sie nachts nach ihren schlafenden Kindern schauten, bemerkten sie den kleinen Krampus nicht, der unter Isis Bettdecke lag. Damit er nicht ins Bett machte, hatten die beiden ihm eine Windel angezogen, die sie sich von Jasmin aus dem dritten Stock geliehen hatten. Beziehungsweise von ihrer kleinen Schwester.

Als Isi am nächsten Morgen aufwachte, dache sie, Krampus sei tot. Stocksteif und still lag der kleine Hund im Bett. Auch Art sah sofort: das Tier war ernsthaft krank. Es wimmerte leise, und sein Bauch war ganz hart und geschwollen. „Wir müssen ihn zum Tierarzt bringen, und zwar, bevor Mami und Papi aufwachen.“ „Ich glaube, der muss ganz dringend und kann nicht. Wir machen ihm erst mal einen Einlauf.“ Das hatte Mami bei Isi gemacht, als sie mal zuviel Schokolade gegessen hatte. Da sie ohnehin Tierärztin werden wollte, dachte sie, sie könne genauso gut gleich mit einer Behandlung beginnen. Und tatsächlich: der Einlauf zeigte seine Wirkung. Bald war die Windel voll. Und mitten in dem weichen Haufen war eine kleine Tüte. Und darin glitzerte es verdächtig.

„Na, was wird denn das? Übt Ihr für die Weihnachtsgans? Das stinkt ja bestialisch.“ Ihr Vater stand in der Tür, angeekelt und fasziniert von dem, was da auf dem Parkettboden lag. Ein kleiner, völlig verwahrloster Welpe, ein Haufen Hundekot – und ein Säckchen mit Diamanten. Das stellte sich natürlich erst später heraus, nachdem Krampus in der Hundeklinik behandelt und die Windel samt Inhalt – ohne Tüte – entsorgt worden war.

Der Tierschutz-Journalist konnte zunächst nicht fassen, dass ausgerechnet seine Kinder mit illegalen Welpenhändlern ins Geschäft gekommen waren. Während er ihnen wieder und wieder erklärte, dass solche Leute die Tiere unter schlimmsten Bedingungen züchten, die meisten Welpen beim Verkauf todkrank sind und das Ganze nicht nur eine furchtbare Tierquälerei, sondern auch noch Geldverschwendung ist, saß Art schweigend an seinem Laptop.

Schließlich bat er den erstaunten Vater, ihn zur Polizei zu begleiten. Er habe sachdienliche Hinweise, die zur Ergreifung der Täter in einer Serie von Juwelendiebstählen im bayerisch-tschechischen Grenzgebiet führen würden, und der Vater könne gleich in Sachen Tierschutz aktiv werden. Dann fragte er die Mutter nach ihrer Kontonummer, auf die die Belohnung später überwiesen werden sollte. „Damit haben wir dann Kost und Logis für Krampus für die nächsten Jahre gesichert. Hundeschule und -sitter inbegriffen“, grinste Art.. Die Eltern sahen sich an. Wer konnte solch genialen Kindern schon widerstehen?

Nachtrag: Seither sieht man abends einen Mann und eine Frau Arm in Arm – oder auch Hand in Hand – aus dem Altbau in Schwabing kommen und die Straße in Richtung Englischer Garten entlang bummeln, neben sich an der Leine einen immer größer werdenden, munteren Australian Shepherd. An jedem Baum bleibt er stehen, markiert, dreht sich zu dem Pärchen um, bellt einmal freudig und tänzelt weiter.

Adventskalender MiniKrimi am 10. Dezember


Mein Engel

Es war ein sonnig kalter Dezembertag. Morgenrot belegte die braungrauen Äste mit einem Frühlingslächeln und lud sie ein, sich in den oberen, reifbekränzten Fensterscheiben der Altstadthäuser zu spiegeln. Justus ließ den Motor laufen, während er das Taxi von Eis und Schnee befreite. Die Vollzeit-Kollegen durften neue Garagen-Autos fahren. Für ihn als Teilzeit-Taxler hatte die Zentrale nur die ältesten Modelle mit Laternenparkplatz übrig. Aber wenn Gabi die Aufträge verteilte, bekam er wenigstens Fahrten mit guten Stichen. So wie jetzt: Abholung am Nymphenburger Kanal, Ziel: die Dermatologische Klinik in der Innenstadt. Runde 30 Euro – ein guter Start in den Tag. 

Justus war schon ein paar Minuten vor der bestellten Abholzeit an der angegeben Adresse. Ein dreistöckiges Jugendstilhaus, dessen Balkone auf den gefrorenen Kanal mit den Eisstockbuden und Bahnen schauten. Bei laufendem Motor wartete er darauf, dass sein Fahrgast aus der hohen Tür trat. Da klopfte es an seine Scheibe. „Guten Morgen, ich habe ein Taxi bestellt.“ Die junge Frau war klein und zart, mit langen roten Locken, in denen glitzernde Eiskristalle nisteten. Ihre Haut hatte die Transparenz einer Teetasse, die Augen darin wie kräftiger Earl Grey, Nase und Mund unsichtbar hinter der schwarzen Maske, der Körper eingehüllt in ein schwarzes Cape.

Während der Fahrt unterhielten sie sich, und es fiel ihm erst hinterher auf, dass sie nicht eine einzige Belanglosigkeit ausgetauscht hatten. Dass dieses Wintermorgenlicht Mut in den Tag goss, bis man meinte, überzufließen vor Lebenslust. Dass die Krähen genau wussten, wer ihnen Futter bringen und wer sie mit Steinschleudern jagen würde, noch bevor ihnen jemand begegnete. Und, aber da waren sie schon fast an dem ehrwürdigen Klinikgebäude angekommen, dass sie beide studierten, er Kunst und Musik und sie Dramaturgie. „Es gibt keinen Zufall“, sagte sie durch die geöffnete Wagentür. „Bis……“. „Ja, bis…..“, antwortete Justus. Und sah zu, wie die kleine Gestalt, schwarz und rot, in dem großen Gebäude verschwand.

Diese Episode wiederholte sich an den darauffolgenden Tagen. Er wartete mit seinem Taxi vor dem Jugendstilhaus, nie gelang es ihm, zu sehen, wie sie aus der Tür trat. Immer klopfte sie unvermittelt an die Scheibe. Nie waren es Belanglosigkeiten, über die sie während der Fahrt sprachen. Stattdessen entdeckten sie immer mehr Gemeinsames. Theatergeschmack, Musik, Literatur. Ja, auch in ihrer Vergangenheit hatten sie oft das Gleiche gesucht, gewollt oder gemacht. Hatten Stunden damit verbracht, Fledermäuse zu zeichnen, waren zu Fuß von Bozen nach Venedig gewandert und hatten sich über Nacht in einer Kirche einschließen lassen, heimlich, um nach unterirdischen Geheimgängen zu suchen. 

Nur den Grund für ihre täglichen Besuche in der Klinik verschwieg sie ihm. Und Justus fragte ebenso wenig danach wie nach ihrem Namen. „Sie wird mir alles sagen, dann, wenn sie soweit ist,“ dachte er. Und er wusste: sie war der Grund, warum er seit Jahren Taxi fuhr, mit geringem Verdienst und großer Anstrengung. „Es gibt keinen Zufall.“

Dann kam ein Morgen, an dem die Schneewolken tief in den Himmel hingen. Der Tag wollte nicht aufwachen und sich das wenige Licht lieber schenken, denn es war Wintersonnwende und ohnehin in wenigen Stunden schon wieder ganz dunkel. „Hol mich heute Nachmittag wieder ab. Ich warte auf der anderen Straßenseite, vor dem Friedhof. Um fünf.“

Eigentlich hatte Justus an diesem Abend gar keine Schicht. Und kein Taxi. Den halben Tag verbrachte er damit, sich das Auto eines Freundes zu organisieren. Die andere Hälfte entpuppte sich als Folge kleiner Ewigkeiten, endlos aneinander gereihte Minuten.

Um fünf stand er vor dem Friedhof. Längst lag ein schwarzer Mantel über den Dächern, das Krankenhaus gegenüber trug ein graues Nebelgewand, durchbrochen von gelben Rechtecken, in denen Figuren sich bewegten wie in einem magischen Theater. Das Friedhofstor schien ins Nichts zu führen, oder direkt in das dunkle Herz derallerlängsten Nacht.

„Justus, da bist du ja. Komm.“ Aus dem Nebel hinter dem einen Spalt breit geöffneten Friedhofstor griffen kalte Finger nach seiner Hand. „Komm, oder hast du Angst? Ich will dir was zeigen. Das musst du sehen.“

Ihre Stimme war heiser, und ihre feuchten Locken verdeckten halb ihr Gesicht, in dem er ihre Augen erahnen konnte, die Farbe von starkem Earl Grey. Und ihren Mund. Groß und rot. Sie trug keine Maske. „Ist dir noch nie aufgefallen, dass wir die gleichen Haare haben? Und Augen?“, fragte sie. Und ja, es stimmte. Und nein, es war ihm noch nie aufgefallen. Justus betrachtete sich selten im Spiegel. Zu oft hatte er gehört, er sähe aus wie ein Mädchen. „Komm, Justus. Komm weiter.“ Und sie zog ihn tiefer und tiefer hinein zwischen die verwitterten Grabsteine, die efeuumrankten Statuen, Kreuze und Grabmale. Vor einem Engel blieb sie stehen. „Hier sind wir, Justus. Schau nur.“

Der Name auf dem Grabstein war der seiner Familie. Von Wagner. „Na und? Es gibt viele, die so heißen.“ „Ja. Ich auch.“ „Wie, du auch?“ „Ich heiße so wie du, Justus. Du bist mein Bruder. Ich bin deine Schwester. Und das ist das Grab unserer Urgroßeltern.“ „So ein Quatsch“, murmelte Justus, der als Student zwar Romantiker war, aber jetzt von dem pragmatischen Taxifahrer übertönt wurde. Dieser fühlte sich vor der Kulisse nachtdunkler Gräber plötzlich äußerst unwohl.

„Ach, Justus. Du spürst es doch auch! Wehr dich nicht dagegen. Es gibt keine Zufälle. Ich brauche dich. Nur du kannst mir helfen, nur du kannst mich retten.“ Und sie drehte ihm ihr Gesicht zu, dessen untere Hälfte von einem tiefdunklen Feuermal entstellt war. „Ich brauche dein Blut, deine zarte, weiße Haut. “ 

Aus der Manteltasche zog sie ein Skalpell, und mit raschen Schnitten trennte sie seine Haut von der Wange. So schnell, dass Justus kaum schreien konnte, bevor er ohnmächtig vor Schmerz am Fuß des Engels zusammenbrach.

Justus überlebte, allerdings nur, weil ihn ein paar angetrunkene Burschenschafter auf Mutprobentour entdeckten und ohne zu zögern ins Krankenhaus gegenüber brachten. Während seines Klinikaufenthaltes recherchierte er viel und fand ein paar Zeitungsartikel, die von einer wunderschönen, psychisch kranken Frau berichteten, die davon besessen sei, ihren Naevus flammeus durch Transplantation heilen zu können und dazu junge, mädchenhaft aussehende Männer stalkte. Ihr fehlte offenbar das Geld für eine aufwändige Lasertherapie.

Adventskalender MiniKrimi am 3. Dezember


Voll das Leben

„S2 Richtung Ostbahnhof. Vorsicht bei der Einfahrt.“

Die Türen gleiten auf, ein Strom kleinäugiger Menschen mit schlafverhangenen Blicken über weißen Einheitsmasken ergießt sich auf den Bahnsteig, vermischt sich kurz mit dem Strom der Einsteigenden, ebenso kleinäugig und maskenbewehrt, dann trennen sich die beiden Ströme, der eine fließt die Rolltreppe hinauf, der andere verteilt sich auf die Plätze in der S-Bahn.

Er setzt sich ans Fenster. Gegen die Fahrtrichtung. Kehrt dem Tag schon am Morgen den Rücken zu. Weiß, dass eh nichts Besonderes passieren wird, nichts, was diese 24 Stunden von denen davor und denen danach unterscheiden wird.

Er klebt die Stirn an die Scheibe, draußen rast der Winter vorbei, blauer Himmel, weißer Zucker auf Dächern, Ästen, Wiesen. Sein Telefon vibriert in der Jackentasche. Er holt es raus: kein Anruf. Aber etwas vibriert neben ihm. Er tastet in der Ritze zwischen Sitz und Wand: ein zerkratztes Smartphone, kein neues Modell. Eine lange Reihe abgehackter Nachrichten. „Suse, ich kann dich nicht erreichen! Hilfe!!“ „Suse, ich halte das echt nicht mehr aus! Was soll ich machen?“ „Jetzt kommt er schon wieder an. Und wie er stinkt! Ekelhaft! Widerlich! Er oder ich. Ich glaube, ich bringe ihn um.“ „Suseeee???? Wo bist du?“

Plötzlich steht er nicht mehr neben seinem Leben. Er steckt mittendrin. Einen Wimpernschlag lang ist er versucht, das Smartphone einfach wieder neben den Sitz zu stecken. Nicht seine Welt. Nicht sein Problem. Aber dann steckt er es ein. Am Sendlinger Tor nimmt er nicht wie üblich den Ausgang Richtung Nussbaumstraße. Er schlendert in den Park an der St. Matthäuskirche. Kopiert die Nummer, von der die Nachrichten stammen. Schließlich schreibt er. „Hey, ich habe Suses Handy in der S-Bahn gefunden. Kann ich helfen? Ich bin Marc.“

Nichts passiert. Er geht an seinen Arbeitsplatz. Gegen Mittag schaut er zum x-sten Mal ins Mikroskop, ohne etwas zu erkennen. Sein Handy vibriert. „Hi Marc. Voll cool von dir. Aber du kannst mir nicht helfen. Niemand kann das. Suse auch nicht. Vergiss mich einfach.“

Er wählt die Nummer. Wartet, bis die Stimme ihm mitteilt, dass der Gesprächspartner nicht erreichbar ist. Er schreibt: „Warte! Es gibt immer eine Lösung. Heute morgen dachte ich noch, die Welt kommt gut ohne mich aus. Und dann du. Glaub mir, da geht noch was. Egal was los ist. Gib nicht auf. Bitte.“

Diesmal kommt die Antwort so schnell, als hätte sie – oder er? – auf Marcs Nachricht gewartet. „Voll süß von dir. Aber nein. Ich kann nicht anders. Er quält mich einfach schon zu lange. Mich. Und sich. Irgendwann ist Schluss. Irgendwann ist JETZT!“ 

„Nein! Warte! Wo bist du? Ich komme zu dir, ok?“

„Nein!“ Und dann, nach 10 Minuten: „Es ist vorbei.“

Ihm wird kalt. Ihm wird heiß. Angst packt ihn im Genick. Dann Panik. Er gleitet an der Wand des Labors zu Boden. Zittert. Weint. Ist das das Leben? Ist es das wert? Sein Handy vibriert. Auf dem Bildschirm erscheint ein Foto. Eine junge Frau mit roten Haaren und roten Augen umklammert etwas, das er auf den dritten Blick als ziemlich räudige, kahle, graue Ratte erkennt. „RIP Artur. Alter Kerl. Und auch all deine Flöhe,“ steht unter dem Bild.

FallTäglichkeiten


Ich stehe in der Pizzeria, die Münchens beste Holzofenpizza macht. Nein, nicht die, die Sie meinen. Und nein, auch nicht Ihre. Nicht die im Lehel, nicht die auf der Leo und nein, ich bin sicher, auch die andere nicht.

Die Pizzeria, die dem Urteil meiner italienischen Geschmacksknospen nach die beste Pizza der Stadt zubereitet, liegt im Münchner Westen. Sie gehört zu einem aktiven Sportverein, weshalb Gastraum und Garten immer sehr gut frequentiert sind. „Der Laden brummt“, mit einfachen Worten. Also stehe ich zweimal in der Schlange, einmal, um die sagenhafte Pizza zu bestellen, die mein Abendbrot zum Highlight des Tages werden lassen wird. Und dann, um sie abzuholen. „Quasi pronte“, sagt der Kellner, was wörtlich übersetzt bedeutet: „fast fertig“, tatsächlich aber meint: „Der Pizzabäcker wird die Pizze in den nächsten 10 Minuten belegen, nach weiteren 10 Minuten holt er sie aus dem Ofen, und dann brauchen wir noch maximal 5 Minuten, um sie einzupacken. Sie können ja schon mal zahlen“. Sie glauben mir nicht? Der Beweis: der Barista stellt mir lächelnd ein Glas Prosecco auf den Tresen, um mir das Warten zu versüßen.

Über den Glasrand schaue ich auf die Gäste. Eine bunte, nicht unbedingt absolut sportfanatische Mischung. Das bauchige Ehepaar mit den Lasagne kam ganz sicher nicht direkt von der Aschenbahn. Der rotbackige Junge im Trainingsanzug schon eher. Da geht die Terrassentür auf – und herein kommt das Protopaar des bourgeoisen Stadtteils. Zwei Jungyuppies wie aus dem Münchner Bilderbuch. Weidenrutenschlanke Stengelbeine, eingehüllt in Designerjeans, darüber Markenstrick und ein dünn gezeichnetes Lächeln. Der Gang zwischen den Tischen ist schmal, aber es ist offensichtlich, dass die beiden nicht  – nur – deshalb aneinander kleben, als ihn wie einen Laufsteg Richtung Tresen entlangschweben. Ein strahlendes Blickpaar in die Runde, gefolgt von einem Kuss mit geschürzten Lippen. Unwillkürlich suche ich nach der versteckten Kamera. Das kann nicht authentisch sein. Da kommt der Kellner aus der Küche, gekonnt balanciert er meine drei Pizzakartons auf den Fingerspitzen der rechten Hand. Er streckt sie mir entgegen, und ich greife danach,  hungrigfröhlich lächelnd.

„Halr“ ruft da eine erstaunlich feste Stimme. Passt gar nicht zu dem zarten Mädchen mit dem casual hochgesteckten Blondhaar. „Das sind unsere Pizzen! Oder, Schatz?“ Unsere! Pizzen! PizzEN! Offenbar gehören die beiden nicht zur Lago di Monaco-Fraktion. Ich bin so platt, ich sage nur: „Ich hab die vor ner halben Stunde bestellt.“ „Wir auch! Das sind ganz sicher unsere“, keift  das Mädchen gesittet und schnappt dem verwirrten Kellner die Kartons einfach aus der Hand. „Wir können ja reinschauen“, schlage ich vor, und könnte mich gleichzeitig in den Hintern treten. Mein Gutmenschentum sollte wenigstens vor einer heißen Pizza kapitulieren – zumal ich sie kalt einfach nicht essen kann. Der Freund zieht die dunklen Augenbrauen in die Höhe und die ganz offenbar permanent behandelten Lippen nach unten. Seine Freundin zögert kurz, um dann huldvoll zu nicken. Der Kellner lüftet den obersten Deckel. Pizza Parma. „Meine“, sage das junge Mädchen und ich gleichzeitig. Also die nächste. „Monte Bianco“. „Sowas hatten wir aber nicht bestellt, Schatz“, flötet es neben mir. Aber ich höre schon nicht mehr hin, packe die Pizze und marschiere zur Tür. Dort drehe ich mich noch ein letztes Mal um. „Wenn die jetzt kalt sind, wegen Euch, dann geht die nächste auf Eure Rechnung“, zische ich. Und gehe, ohne die Reaktion auf meinen zugegeben schwachen Abgang auch noch abzuwarten.

DAS ist München. Während ich daheim mit vielen ausschmückenden Adjektiven erzähle, warum sich die Pizza-Auslieferung verzögert hat, wird meine Monte Bianco noch kälter, der Käse gummiweich und der Rand zäh und labbrig.

Nächstes Mal esse ich die Pizza wieder vor Ort. Oder ich wechsle die Pizzeria. Wie war noch mal die Adresse von Ihrer Lieblingspizzeria?

 

Hat Sankt Florian versagt?


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„Heiliger Sankt Florian, verschon‘ mein Haus, zünd‘ and’re an“. Das „and’re“ steht heute Abend in München. Ich habe immer wieder gesagt, dass wir hier keinen Bonus haben, weder einen touristischen noch einen humanitären. Und jetzt hat es in München eine Schießerei gegeben. Zufällig sogar ganz in meiner Nähe. Ganz zufällig bin ich heute Abend nicht ins „OEZ“ gefahren, nicht, weil ich eine Vorahnung gehabt hätte, sondern weil ich zu müde war. Alhamdulillah!

Ich finde, es ist nicht die Zeit für Mutmaßungen, für Spekulationen, Hypothesen oder Beschwichtigungen. Ich will kein Öl auf’s Feuer gießen und kein Wasser. Es ist das erste Mal, das ich mich in vermutet sicherer Nähe – vermutet, da die Täter flüchtig sind und sich theoretisch überall aufhalten können – eines Terroranschlags befinde. Denn ein Terroranschlag ist es ganz sicher. Wenn jemand mit einer Langwaffe wahllos um sich schießt, ist das Terror. Mit völlig unbekanntem Hintergrund, derzeit. Es könnten Islamisten sein oder Rechtsradikale, Psychopathen oder Mafiosi. Lediglich die extreme Linke schließe ich mal a priori aus – die Besucher des OEZ sind weder geldig noch einflussreich, sie sind zu 70% und mehr Ausländer, also nicht die klassische Zielgruppe der Linksterroristen….

Ich habe die Rollläden heruntergelassen, im Erdgeschoss. Ich habe Garten- und Haustüren abgeschlossen und den Dachstrahler angemacht, um die Terrassen taghell zu beleuchten. Ich bringe die Hunde nicht zu ihrer Abendrunde und sitze in einer selbstgebauten Falle. Und dennoch fühle ich mich sicher nicht im Ansatz so wie viele meiner Freunde und Bekannte. Ich habe niemanden verloren, heute Abend. Ich bin nicht direkt bedroht worden. Mein Haus wurde nicht beschossen. Ich habe maximal Angst vor drei flüchtigen Mördern und muss weder ein mörderisches Regime noch hochgerüstete Terrormilizen fürchten.

Ich bin entsetzt. Über die Tat. Über mich und meine Reaktion. Ich bin überrascht. Über die Nachfragen aus aller Welt, binnen Stundenfrist. Erleichterung, dass es mir gut geht. Entsetzen über das, was geschah. Ausgerechnet in München. Ausgerechnet? Ich bin unendlich traurig und sehr besorgt. München hat mit beispielloser Herzlichkeit Platz geschaffen für Tausende von Flüchtlingen, im vergangenen Jahr. Räumlich, aber auch in den Köpfen und Herzen der Menschen. München hat Pegida die Stirn geboten und rassistischem Gedankengut eine bunte Mauer entgegengestellt. Eine Mauer aus Bürgern, Politikern, Vertretern von Kirchen und allen relevanten Institutionen der Stadt.

Und jetzt? Noch ist nicht klar, wer den Anschlag auf das belebte und beliebte Einkaufszentrum geplant und ausgeführt hat. Aber ich habe Angst, dass, ganz unabhängig vom Fortgang der Ermittlungen, das Klima der Offenheit, der Hilfsbereitschaft, der Barmherzigkeit gegenüber Menschen auf der Flucht dieser Terrortat zum Opfer fallen wird. Menschen, die vor Tod und Verfolgung zu uns kommen und nicht verdient haben, auch hier unter Generalverdacht gestellt und verfolgt zu werden. Damit wirft der Horror einen Schatten, dessen Länge noch nicht einzuschätzen ist.

München ist eine Stadt mit vielen dunklen Vergangenheitsflecken, angefangen bei ihrer Rolle als Hauptstadt der  Bewegung, über die Attentate während der Olympischen Spiele 1972 und des Oktoberfests 1980 bis hin zum laufenden NSU-Prozess. Ich hoffe, dass die Menschen in dieser Stadt aufgrund ihrer kulturellen, religiösen und emotionalen Vielfalt resilient ist und dem Anschlag auf das OEZ mit großer Menschlichkeit begegnet, mit tiefer Trauer und echtem Mitgefühl. Aber nicht mit Hass. Heute jährt sich der beispiellose Amoklauf des Anders Breivik. Norwegen hat mit seiner Reaktion darauf einen Meilenstein gesetzt im Umgang mit solchen Taten. Es ist schrecklich, wieviel Leid einzelne Individuen binnen Sekunden zufügen können. Physisches Leid. Seelisches Leid.

Wir wollen diesem Leid nicht auch noch die Genugtuung der Täter hinzufügen, Grundwerte unserer Gesellschaft getroffen und außer Kraft gesetzt zu haben.

Wir sind nicht München. Wir sind Münchner. Wir sind Menschen. Das wollen wir bleiben. Mit allem, was uns ausmacht. Mit.Menschlichkeit. Vorverurteilung und Fremdenhass gehören nicht dazu.

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