MiniKrimi Adventskalender am 4. Dezember


Puh, was für ein Sonntag. Nebel hängt schwer über Wiesen und Straßen, tropft von kahlen Ästen und verdrängt jede Energie. Jetzt blß nicht nachgeben, sondern aufstehen und sich bewegen. Das dachte sich meine Prota schon vor 8 Jahren. Und die Story ist immer noch so real wie damals. Viel Spaß beim Neu – oder Wiederentdecken.

Mach es uns doch nicht so schwer, Baby!

Der Nebel hängt seit Tagen so tief, dass sich die Dunkelheit schon am frühen Nachmittag auf die Häuser senkt. Eigentlich hat sie gar keine Lust, nochmal raus zu gehen. Der Arbeitstag war anstrengend. Sie hat das Gefühl, dass Kunden und Kollegen immer ungeduldiger werden, Jahr für Jahr. Oder verliert nur sie selbst immer schneller die Geduld? Sie schält sich aus Schal, Mütze, Mantel und zieht die Schuhe aus. Jetzt ein Bad und dann vor den Fernseher legen. „Sport ist besser als jede Pille“, erzählt der Moderator gerade. Da packt sie das schlechte Gewissen. Sie wird nur eine kleine Runde laufen, denkt sie. Und springt Minuten später in ihrer Joggingkluft die Treppen runter.

Das Wäldchen liegt direkt gegenüber, auf der anderen Seite der kleinen Kopfsteinpflasterstraße. Ein paar Laternen gießen gelbes Licht auf die Konturen grauer Bäume, dazwischen lauern schwarze Löcher. Die Luft ist dick wie Zuckerwatte und dämpft die wenigen Geräusche. Um diese Zeit und bei diesem Wetter ist die Wohngegend wie ausgestorben. Sie schaltet ihren Pulszähler ein und läuft los. Taucht in den Wald ein, und die dunkle Stille schließt sich hinter ihr. Der Nebel zieht Fäden zwischen den Stämmen und Ästen, braunes Laub erstickt jeden Schritt. Einsamer als hier kannst du nicht sein, sagt sie sich, und der Gedanke kauert unangenehm auf ihrer Schulter.

Links hinter sich hört sie einen Laut, ein Rufen? Ein Bellen? Sie dreht sich im Laufen um, kann nichts erkennen, nur eine verdichtete Dunkelheit zwischen den Buchen. Sie läuft weiter. Da. Wieder. Jetzt schlägt sie einen Haken, biegt vom Hauptweg ab auf einen kleinen Pfad. Ein toter Stamm, von Efeuarmen umfangen, bietet ihr Schutz, sie bleibt stehen. Versucht, das wabernde Zwielicht zu durchdringen. Kühle Tropfen auf ihren Wimpern. Schweiß? Jetzt hört sie ganz deutlich das Knacken von Ästen. Ein unterdrückter Fluch. Sie atmet aus, pfeifend. Und fühlt, wie auch der andere stehen bleibt. Witterung aufnimmt. Von ihr. Sie stößt sich vom Baumstamm ab und rennt los. Füße suchen flüchtigen Halt, gleiten über Steine, bleiben an Wurzeln hängen. Und wie dumpfes Trommeln das Echo fremder Schritte auf ihrer Spur.

„Hey. Nicht weglaufen. Das bringt doch nichts. Bleib stehen. Verdammt nochmal. Ich erwisch dich trotzdem. Mach es uns beiden doch nicht so schwer, Baby.“

Davor haben ihre Freundinnen sie immer gewarnt. Ihre Mutter. Lauf bloß nicht im Dunkeln allein durch den Wald! Aber sie hat ja keine Angst. Was soll ihr schon passieren? Ja, was? Gleich wird sie es erleben. Die Schritte kommen näher, er ist schneller als sie. Scheint den Wald zu kennen wie seine Westentasche. Denn als sie über einen morschen Ast stolpert, der vor ihr aus dem Boden wächst, steht er vor ihr und greift hart nach ihrem Arm. Das war’s, denkt sie noch, als sie ins Unvermeidliche stürzt.

Etwas Schweres, Nasses wirft sich über sie. Ein modriges Fell, ein stinkender Sack? Der Geruch nach Fäulnis und Verwesung nimmt ihr die Luft. Und dann seine Stimme. Wütend. Erregt.

„Baby, sitz! Lass die Frau in Ruhe! Pfui, wo hast du dich denn wieder gewälzt? Das war das letzte Mal, das ich ich dich hab laufen lassen. Sitz, hab ich gesagt.“ Und dann, zu ihr gewandt,mit einer Mischung aus Erleichterung und Scham: „Seit einer Stunde such ich das Miststück schon hier im Wald. An Abenden wie diesem ist sie völlig von der Rolle. Sieht so aus, als hätten sie sie zufällig gefunden. Danke! Oh, sie hat sie ganz schmutzig gemacht! Tut mir leid! Ich zahle natürlich die Reinigung.“

Sie rappelt sich wortlos auf und rennt davon. Hinter ihr kämpft der  Besitzer noch eine Weile mit seiner störrischen Setterhündin.

Adventskalender MiniKrimi am 4. Dezember


Schatten der Nacht

„Das darf doch nicht wahr sein! Unser Weihnachtsessen können wir vergessen. Ab Mittwoch hat unser Landesdiktator 2G angeordnet. Das heißt, ich komme bei Luigi nicht mehr rein. Sag mal, merken die Leute nicht, was abgeht, in unserem Land? Und wir können NICHTS dagegen tun?!“

„Doch, Süße. Klar kannst du was dagegen tun. Lass dich impfen. Du weißt, ich habe eine Dosis Vakzin für dich im Kühlschrank. Und dann gönnen wir uns ein Menu vom Allerfeinsten!“ Astrid steht vom Sofa auf, geht die paar Schritte zum Esstisch, an dem Cora vor ihrem offenen Laptop sitzt, und legt die Arme um ihre Frau. Aber die Umarmung ist irgendwie steif, und Coras Oberkörper spannt sich bei der Berührung unwillkürlich an. 

„Das hättest du wohl gerne? Du weißt genau, dass ich das NIE tun werde. Mir eine Substanz ins Blut jagen zu lassen, vor der ich nicht weiß, woraus sie besteht und was sie mit mir macht.“

„Ich habe dir schon so oft erklärt, woraus die Vakzine bestehen. Und ich jage dir nichts ins Blut, sondern spritze es dir in den Muskel.“

„Egal, wohin. Das Zeug verändert die DNA, macht sie kaputt, und dann kriegst du Turbotumore. Schau, hier, lies. Das hat eine schwedische Ärztin veröffentlicht.“ Cora dreht den Laptop so, dass Astrid den Artikel lesen kann. Aber Astrid geht wortlos in die Küche.

Sie lässt Leitungswasser in den Alessikocher laufen. „Willst du auch einen Tee?“ 

„Ja, aber bitte nimm das Filterwasser aus der Flasche mit den rosa Steinen. Du weißt doch, oder nein, wir wissen eben nicht, was da wirklich aus der Leitung kommt.“

„Oh Mann, wann haben die dir bloß so ins Hirn geschissen?“, murmelt Astrid. Ja, seit wann ist Cora so? So… misstrauisch. Ängstlich. Aluhutig. Wann hat Cora aufgehört, sich an Fakten zu orientieren? Ihr, Astrid, bei Inhalten Glauben zu schenken, die als Medizinerin zu ihrem Fachgebiet gehören, bei denen sie sich auskennt und immer auf dem Laufenden ist? ‚Seit wann können wir nicht mehr miteinander reden?‘


„Seit wann können wir eigentlich nicht mehr miteinander reden?“ Coras Stimme klingt brüchig, unsicher. Beinahe verzweifelt. 

Da ist sie doch noch, die alte Magie. Zwei Menschen ein Gedanke. ‚Ein Herz und eine Seele‘, haben sie früher gerufen, wenn sie beide im gleichen Moment das Gleiche gesagt haben. Und dann haben sie gelacht. Astrid lächelt. Hoffnungsvoll ordnet sie Tassen – eine mit Jiaogulan und eine mit Earl Gray – auf dem silbernen Tablett an, braunen Zucker und ein paar Haferkekse. „Doch, Liebes, das können wir noch. Wir müssen es nur wirklich wollen. Ein paar Schritte aufeinander zugehen, in Gedanken. Und auch so.“ Sie stellt das Tablett auf den Olivenholztisch und streift Coras blonden Kopf mit ihren Lippen, nur ganz leicht, bevor sie sich dazu setzt. 

„Ich bin so verzweifelt, Astrid“, flüstert Cora. 

„Das sehe ich doch. Wie kann ich helfen? Was kann ich tun, damit es dir besser geht? Du weißt, ich liebe dich.“

Coras kalte Finger legen sich auf Astrids Hand. Wie von ungefähr. „Nein, Astrid, bitte, nicht schon wieder. Nicht DU kannst mir helfen. Du musst dir von MIR helfen lassen. Mach die Augen auf. Mach Schluss mit der blinden Wissenschaftsgläubigkeit. Höre auf deine innere Kraft. Du musst dein Inneres Ich wieder stark machen. Nur so wirst du immun. Immer, wenn du abends aus der Praxis kommst, habe ich Angst. Um dich. Und um mich, dass du die Spike-Proteine an mich abgibst.“

„Cora, jetzt ist aber Schluss! Ich habe dir doch erklärt, dass das mit dem Impfstoff-Shedding totaler Blödsinn ist.“ „Ist es nicht. Warte – hier, gerade heute habe ich wieder darüber gelesen.“

Astrid nippt am Tee, verbrennt sich die Zunge, stellt die Tasse so abrupt auf den Tisch, dass der Inhalt überschwappt. „Cora – such‘ dir eine Beschäftigung! Geh raus. Ich kaufe uns einen Hund. Geh spazieren. Bring deine Internetseite auf Vordermann und verkaufe deine Sachen online, statt sie hinter geschlossenen Ladentüren zu stapeln. Aber hör auf zu brüten. DAS macht dich kaputt. Und mich. Und UNS!“

„Na klar – wenn dir die Argumente ausgehen, stellst du mich als dummen Depressivling hin. Als Loser. Aber das Gegenteil ist der Fall. Ich habe endlich Zeit, die Dinge zu hinterfragen. Unsere Gesellschaft. Die Politik. Das ganze kapitalgesteuerte System. Und ich bin sehr viel unterwegs. Im Internet UND draußen. Ich treffe sehr viele Menschen – und sie alle denken wie ich. Ich habe seit dem Lockdown sehr viel gelernt. Auch über dich, Astrid. Auch über dich. Du hast eine extrem negative Aura, gerade jetzt, wenn du mich so anstarrst.“ Sie zuckt zusammen. „Au! Da kriege ich gleich wieder diese Magenkrämpfe! Geh weg! Und lass mich bloß in Ruhe mit deiner Schulmedizin und deinen bescheuerten Tabletten.“

„Cora…“ Astrid seufzt. Schließt die Augen. Öffnet sie. Und sieht sich in einer Sackgasse stehen, mit dem Rücken zur Wand. „Ich geh joggen“, sagt sie.

Nach zwei Stunden im Wald fühlt sie sich frisch. Und hoffnungsvoll. Es muss eine Möglichkeit geben, ihre Beziehung zu retten. Sie muss es nur nochmal ernsthaft versuchen. Mit viel Sachlichkeit, Logik – und Liebe.

Die Wohnung ist dunkel. Cora liegt auf der Couch. ‚Sie schläft‘, denkt Astrid. Dann hört sie ein leises Stöhnen. „Cora!“ Die Haut der jungen Frau ist fahl, auf der Stirn steht kalter Schweiß. Cora atmet schwer, ihr Herz rast. „Liebes“, was ist passiert? Cora starrt sie aus weit aufgerissenen Augen an. Ihr Körper bäumt sich auf, Tee und Schaum fließen ihr aus dem Mund, darin eine Handvoll kleiner schwarzer Beeren. Mechanisch tastet Astrid die Couch unter Coras Körper ab. Und findet eine braune Tüte. „Schwarzer Nachtschatten – Heilung aus der Natur“, steht in geschwungener Handschrift darauf. Darunter: „Nur Gutes zu dir. Johann, Transhumanistische Gesellschaft.“

Astrid steht auf. Geht zum Telefon. Wählt die 112. Während sie mit ihrer Frau im Arm auf den Rettungswagen wartet, ertappt sie sich dabei, wie sie, die Naturwissenschaftlerin, leise betet, ohne zu wissen, zu wem. Aber sie ist mit ihrer Weisheit am Ende. 

Adventskalender MiniKrimi vom 21. Dezember 2018


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Schwarze Schwingen

„Papa, ist es noch weit? Papa, ich mag nicht mehr laufen…“

Sie war sein Ein und Alles. Gewesen. Nur wegen ihr war Andreas mit Anna zusammen geblieben. So lange. Er hatte ihr alle Wünsche von den Augen abgelesen, sogar die, von denen sie noch gar nichts wusste. Das Prinzessinnenkleid mit Swarowskisteinen. Den Wuschelhund. Das Zimmer mit Rutsche und Himmelbett.

Es war ihm nicht leicht gefallen, die Wohnung in der Minervastraße zu kaufen. Dann hatte Anna aufgehört zu arbeiten, einfach so. Keine Lust mehr. Von heute auf morgen. Sie wollte Emma lieber selbst ins Bett bringen. Dabei war die Nachtschicht im Krankenhaus gut bezahlt. Er hatte mehr Projekte übernommen – und weniger Zeit für seine Prinzessin gehabt.

Aber nach einer Weile war ihr sogar das nicht genug. Als er am Abend des 21. Dezembers nach Hause kam, stand Emma im Kinderzimmer, neben sich einen prallen Koffer, im Arm ihr Schlummerle.

„Was ist los?“ hatte er gefragt. „Wir gehen. Hat Mama gesagt. Sie bringt nur noch den Wuschel ins Tierheim.“ Er hatte die weinende Emma auf den Arm genommen, die Treppe runter, ins Auto. Und los. Bis zum Waldrand. Dann weiter zu Fuß. Wenn Anna ihm Emma wegnehmen wollte – dann sollte auch sie ihre Tochter nicht mehr haben.

„Papa, fahr nicht so schnell, mir wird schlecht….“

Ich fahre nicht schnell, ich fahre nur zügig, hatte Oliver gedacht. Zügig, um nicht zu spät nach Hause zu kommen. Um zu vermeiden, dass Lea wieder Stress machte. Wie immer, wenn er mit Yannick bei seinen Eltern war. Dabei war sie nur eifersüchtig, weil sie dort nicht willkommen war. Nicht standesgemäß. Stimmte ja auch.

Olivers Fuß drückte aufs Gaspedal. Der neue Chayenne ging ab wie Schmidts Katze. Dunkel war es an diesem 21.Dezember. Und neblig. Der Schnee wollte sich nicht einstellen, dafür stieg zähe Feuchtigkeit aus den Wiesen entlang der Landstraße.

Noch so ein Thema. Warum können Deine Eltern nicht hier in der Stadt wohnen? In der Minervastraße ist sicher noch was frei. Wenn das nicht edel genug ist, weiß ich auch nicht, sagte Lea immer wieder. Und sie mochte es nicht, wenn er so lange in Huglfing blieb. Die Strecke sei so kurvig, und er trinke zu viel, weil er nicht nein sagen könne, bei seinen Eltern.

So ein Schmarrn!, dachte Oliver noch. Dann sah er die Lichter des entgegenkommenden Autos. Er wich aus und prallte gegen einen Baum am Straßenrand. Weder er noch der Chayenne nahmen großen Schaden. Oliver konnte sich wirklich nicht mehr daran erinnern, ob er Yannick zu Fahrtbeginn angeschnallt hatte……..

 

„Mama, die Bonbons sehen lustig aus, darf ich sie essen?“

Sunny antwortete nicht. Das tat sie selten, wenn es Abend wurde. Und heute, am 21. Dezember, war es ganz besonders schnell dunkel geworden. Wenn sie morgens aufwachte, war Sunny der Meinung, dass sie den Tag ganz gut hinbekommen würde. Oft schaffte sie es, aufzustehen, bevor Tante Isi Selina-Michelle zum Kindergarten abholte. Selina nannte sie so, obwohl sie nicht ihre Tante war, sondern die Sozialarbeiterin.

Wenn es ihr besonders gut ging, setzte Sunny ihre Tochter sogar in den Hochstuhl und schob ihr eine Schüssel Cocopops hin. Sollte die Tante ruhig sehen, wie gut sie für ihre Tochter sorgen konnte!

Manchmal wusch sie dann noch etwas Wäsche, machte die Betten und ging in den Supermarkt. Tomaten, O-Saft und Nudeln. Kein Alk. Aber gegen Monatsende war das Geld wieder alle. Wie sollte sie ihre Tochter gesund ernähren, ohne Geld und ohne einen vernünftigen Job? Teufelskreis.

Jetzt hatte im Briefkasten wieder eine Absage gelegen. Sie hätte einen unzuverlässigen Eindruck gemacht, das passe nicht zum Spirit des Unternehmens. Ha! Sie hätte nur Päckchen einpacken sollen. Sunny war wütend. Und traurig. Der Griff zu den Antidepressiva war ein Reflex, und weil sie immer weniger wirkten, spülte sie sie mit Wodka runter.

Sie hörte Selina-Michelles Frage nicht. Sie sah nicht, wie viele Tabletten die Kleine in den Mund nahm und runterschluckte. Sie wurde erst wach, als Tante Isi sie am Morgen packte und schüttelte, hysterisch schreiend, das passte irgendwie gar nicht zu einer Sozialarbeiterin. Da war ihre Tochter schon ganz weiß und kalt.

 

Nach dem Abendkreis haben Andreas, Sunny und Oliver ihre Jacken übergezogen und sind in den Anstaltspark gegangen. Natürlich heißt die Klinik für forensische Psychiatrie, in der sie untergebracht sind, nicht Anstalt. Aber die drei machen sich über die anderen „Insassen“ lustig. Immerhin sind sie „anders“. Auch, wenn sie das nur dann zeigen können, wenn sie unter sich sind. Wie heute Abend. Es ist der 21. Dezember. Ein Datum, das sie verbindet. Sie gehen an der Mauer entlang. Unüberwindbar. Aber was sie gefangen hält, sind ihre eigenen Ängste und Schuldgefühle.

„Glaubt ihr, es gibt einen Platz, von wo aus sie uns sehen können?“ Sunny klingt besorgt und hoffnungsvoll zugleich. „Sicher. Vielleicht.“ „Und von wo aus sie mit uns Kontakt aufnehmen? Und wann?“ „Wenn, dann nur heute.“ Nebel zieht in schweren Fetzen um die Bäume. Er kauert sich auf die Mauer und kriecht langsam hinunter ins welke Laub. „Mamaaaa“. Sunny erstarrt. „Meine Kleine!“ „Ein Käuzchen!“ „Wuuschel, Wuuschel!“ „Der Wind!“ „Halt annn, halt annn!“ „Was für ein blöder Streich! Wir gehen ins Haus!“

Drei Schatten lösen sich von den verwitterten Steinen, sammeln die Dunkelheit um sich herum und streichen mit schwebenden Schwingen den Fliehenden hinterher. Umgreifen, umgeben sie. Saugen den Atem auf und verwandeln ihn in pechschwarze Angst.

Die Lokalzeitung berichtet als Aufmacher von der kollektiven Selbsttötung dreier Kindsmörder. Der Bundestag befasst sich mit der Problematik des Maßregelvollzugs bei Tätern mit angenommener psychischer Schädigung. Und der EuGH rügt Deutschland wegen zu laxer Handhabung der Sorgfaltspflicht.

Adventskalender MiniKrimi vom 6. Dezember 2018


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Von drauß‘ vom Walde…….

„Du weißt, was du tun musst Schließ die Tür ab und mach auf keinen Fall auf, wenn du alleine bist, kapiert?“ „Ich bin doch kein Baby. Ich bin schon fünf. Und ich bin auch nicht dumm. Ich weiß genau, was ich machen muss, wenn ich allein bin. Und wenn ein Einbrecher kommt und die Tür mit einer Bombe aufmacht, dann nehme ich mein Jedi-Schwert und mache so! Und zack ist er tot, der EInbrecher.““

„Ja. Schon klar. Du nimmst dein Jedi-Schwert. Aber trotzdem, für den Fall, dass ein Einbrecher kommt – es kommt ja vielleicht gar keiner, also ganz sicher, glaube ich. Aber für den Fall dass doch einer kommt, und wenn dann dein Jedischwert nicht funktioniert“ 

„Mein Jedischwert funktioniert immer!“

„Schon klar. Aber wenn es plötzlich doch nicht funktioniert, dann schau her, dann nimmst du das hier.“

„Aber das ist doch das Messer aus der Küche, das wir nicht nehmen dürfen. Das japanische, das vom Papa.“

“Genau. Es ist japanisch, das ist wie von Master Yoda. Ok?“

„Ela, ich will nicht, dass du weggehst. Die Mama hat gesagt, wir sollen beide daheim bleiben, bis sie von der Arbeit kommt. Du sollst mich nicht allein lassen, hat die Mama gesagt. Und später kommt der Nikolaus.“

„Ach mach kein Aufstand. Ich bin nur kurz drüben bei der Lara. Oder hast du Angst? Du bist ja doch noch ein Baby!“

„Nein bin ich nicht. Geh weg!“

„Ok. Ciao, Kleiner.“

Max setzt sich in seinem Zimmer auf den Boden. Die Kartons sind noch nicht alle ausgepackt. Er fühlt sich gar nicht zu Hause, hier in der Wohnung in der Minervastraße. Er wäre lieber in Schwabing geblieben. Aber er weiß, dass das nicht geht. Mama und Papa sind zwar noch seine Eltern, und Elas. Aber sie sind nicht mehr zusammen. Deshalb kann Mama nicht mehr in Schwabing wohnen, und er und Ela auch nicht. Mama will das so. Jetzt wohnen sie in einer ganz neuen Wohnung. Er hat ein eigenes Zimmer, nicht mehr mit Ela zusammen. Und Mama hat auch ein Zimmer. Mit Frank. Frank ist der neue Papa. Aber Max weiß nicht, was er davon halten soll. Er hat doch schon einen Papa. Vom Fenster aus kann er die Berge sehen, wenn der Himmel klar ist. Ob er den Nikolaus sehen kann, wie er durch die Wolken fliegt? Oder machst das nur der Weihnachtsmann? Es wird dunkel, und Max hat Angst. Die Wohnung ist voller Geräusche, nichts ist vertraut. Draußen kann er den Aufzug hören. Manchmal knallt eine Tür. Dann ist alles still. Wann kommt Ela? Und Mama? Und der Nikolaus?

Da klopft es an der Tür. „Ich bin der Nikolaus. Bist du der Max?“

„Ich darf die Tür nicht aufmachen, hat Ela gesagt. Geh weg und komm zurück, wenn Mama und Ela wieder da sind!“

„Aber Max, ich bin der Nikolaus. Vor mir brauchst du doch keine Angst zu haben!“

Doch, denkt Max. Und zur Sicherheit holt sein Jedischwert. Und das japanische Messer, so, wie Ela es ihm gesagt hat. Der Nikolaus kann warten, aber wenn da draußen ein Einbrecher ist, wird Max sich wehren.

Da hört er, wie sich etwas am Türschloss bewegt. Der Einbrecher, denkt Max. Jetzt bricht er die Tür auf, wie in den Filmen, die er nicht sehen darf.

Da, jetzt wird die Wohnungstür langsam geöffnet. Draußen im Flur ist es genauso dunkel wie in der Wohnung. Max sieht nur Umrisse, ein großer schwarzer Mann in einem langen Kampfumhang. Der Feind der Jediritter! Max umklammert das Messer mit beiden Händen und rammt es dem Mann in den Bauch. Max ist stark.

Frank stirbt auf dem Weg zum Krankenhaus. Er sollte Max und Ela als Nikolaus die Geschenke bringen. So war es ausgemacht. Aber Ela hatte ihr Gründe, sich nicht daran zu halten. Das Problem Frank war gelöst.

c0109 oder warum ich nicht nach Chemnitz fahre. Heute.


Bei uns daheim herrscht dicke Luft. In der Familie wurde gestern Abend heiß darüber diskutiert, wie und mit wem wir heute nach Chemnitz fahren sollten. Ob – das stand zunächst nicht zur Debatte. Bis ich das Gespräch darauf brachte. Seitdem bin ich Persona non grata im Hause.

Damit kann ich leben. Schlecht. Daher, und auch für mich selbst, damit ich meine Gedanken mal klar auf Linie bringe, hier der Versuch einer Argumentation. Ich hoffe, dass die Kette nicht reißt, zwischen den Zeilen. Und ich bin gespannt, ob es anderen da draußen ähnlich geht, ob ich einen Shitstorm auslöse, bedauerndes Kopfschütteln oder, und das wäre mir am liebsten, klare Kante Gegenargumente. Oder Pro. Oder so.

Ehrlich gesagt, hatte ich vorher nur ein leises Unbehagen, wenn es darum ging, sich zu Demos an entfernten Orten aufzumachen. Noch ehrlicher gesagt, habe ich dieses Unbehagen erst, seitdem ich die Teens+ hinter mir gelassen habe. Vorher, diese Erinnerungen will ich nicht der selektiven Amnesie anheim fallen lassen, vorher also waren Fahrten nach Wackersdorf, La Hague, Dannenberg Ehrensache. Nein, Fukushima nicht. Mehr.

Gestern dann las ich einen Thread auf Instagram, Kommentare zum Post von FeineSahneFischFilet über das Konzert am Montag in Chemnitz. Da äußerten junge AntiFaschisten aus Sachsen ihren Unmut über das Konzert. Da kämen Tausende aus ganz Deutschland wegen der Musik und/oder weil sie Flagge zeigen wollten, gegen die Rechten. „Und am Dienstag sind sie wieder weg, und wir haben hier bei uns niemanden dazu gewonnen, aber die Stimmung ist noch aufgeheizter“, so klagten sie.

Und da begann der Unmut in mir Worte zu finden. Klar, es ist wichtig, zu zeigen: #wirsindmehr! Ebenso klar ist es, dass wir tatsächlich mehr sind. Mehr Demokraten, mehr Leute, die nie wieder Faschismus haben wollen, in Deutschland. Mehr, die nichts gegen Flüchtlinge haben (statistisch gesehen sogar rund 70%, das besagen alle Umfragen).

ABER die Frage, die sich mir stellt, lautet: wie bekommen wir die Lage in Ostdeutschland in den Griff? Als Krimitautorin habe ich schon einen Plot im Kopf, der im Deutschland nach dem Wiederaufbau der Mauer spielt. Aber das ist Autorenfiktion. Wie kriegen wir die Ostdeutschen (also diejenigen von ihnen, die bei Mahnwachen blank ziehen, den Hitlergruß zeigen und „absaufen“ skandieren, wenn es um Flüchtlinge im Mittelmeer gehr) dazu, daran zu glauben, dass Demokratie etwas gutes ist, dass sie weiter ihre Klöße und Rostbratwürste essen können, auch, wenn nebenan eine Dönerbude steht. Ehm – aber das tut sie doch schon, und da gehen sie sogar hin, und gerne….. letztendlich reduziert sich die Frage dann so: wie kriegen wir die rechten Demonstranten dauerhaft von der Straße, in Chemnitz, Dresden und anderswo? Und dann, in der Erweiterung: wie verhindern wir rechte Parolen, Angriffe auf Ausländer und, ja, auch die AfD? Aber diese Frage ist dann schon nicht mehr auf den Osten Deutschlands begrenzt! Tja, so ist das!

Warum also fahre ich nicht nach Chemnitz? Weil ich glaube, dass ich den Chemnitzern, die keine rechten Parolen schreien oder denken, die nichts gegen Geflüchtete haben, die sich noch gut an den zweiten Teil des Rufes „Wir sind das Volk“ erinnern („keine Gewalt“), die sich für die Bilder der nazigrüßenden deutschen Randalierer schämen, die derzeit durch die internationalen Medien kreisen – dass ich diesen Chemnitzern mit meiner Anwesenheit nicht helfe. Nicht wirklich und auch nicht ideell.

Weil ich davon überzeugt sind, dass sie wissen: wirsindmehr! Weil ich nicht davon überzeugt bin, dass, weil ich auf ihre Straßen gehe, sie das auch tun werden. Weil meine von Bundespolizisten geschützte Anwesenheit sie nicht davor bewahren wird, morgen, wenn ich weg bin, von sächsischen Polizisten, die „im Umgang mit demokratischen Mitteln wie Demonstrationen“ geschult sind, angegriffen zu werden. Oder vom Nachbarn angepöbelt, ausgebuht, im Job gemobbt oder schlimmeres zu werden.

Weil ich denke, dass zu beweisen, dass wir mehr sind, bedeutet, Eulen nach Athen zu tragen, wenn „wir“ aus allen Ecken Deutschlands anreisen. Weil das „wir“ aus den Menschen im Osten heraus kommen muss, um einen Zusammenhalt zu schmieden, um einen Sinneswandel anzustoßen.

Auf meine Frage, warum so viele Menschen im Osten so fremdenfeindlich seien, so demokratieverdrossen nach so kurzer Zeit, so unheimlich hasserfüllt, antwortete mir eine junge Studentin, die als Kind in Dresden gelebt und später nach München zurück gekommen ist. Ihre Antwort gibt mir zu denken:

Die Menschen im Osten haben Angst. Es leben kaum Ausländer dort, aber sie haben Angst, dass in der Zukunft viele Geflüchtete dorthin kommen könnten. Weil so viele Häuser leer stehen, weil im Osten mehr Platz ist als im Westen. Sie haben Angst, dass die ihnen dann was wegnehmen von dem wenigen, was sie haben. Weil sie das Gefühl haben, von der Wende übervorteilt worden zu sein. Weil sie unzufrieden sind und jemanden suchen, dem sie dafür die Schuld geben können. Weil sie mit der großen Freiheit, der Meinungen, der Wahl, der Freiheit zu gewinnen – aber auch zu verileren, nichts anfangen können. Weil es ihnen Angst macht, dass keiner mehr für sie entscheidet. Weil sie selbst nicht entscheiden können, sondern nur fordern und dann erwarten, dass sie alles kriegen.

Boah, starker Tobak. Ist das so? Ich habe selbst Verwandte „drüben“. Und ich kann eines beisteuern, hier. Ich habe erlebt, dass die Abgrenzung zum Westen in den Köpfen der Menschen dort erfolgt. Dass sie, nachdem sie „eins“ geworden sind mit den Geschwistern im Westen, einen Identitätsverlust erlebt haben, den sie mit DDR- Reminiszenzen kompensieren. Von der Spreewaldgurken über die Datsche bis hin zu Redewendungen. Wir haben das DDR-Sandmännchen schon immer schöner gefunden und freuen uns, es jetzt deutschlandweit zu haben. Sie sagen, wir haben es geklaut. Wie die Ampelmännchen.

Und singen das Deutschlandlied und brüllen den Hitlerruf – und vergessen, dass er es war, der „unsere Heimat“ in Schutt und Asche gelegt hat und letztendlich daran Schuld ist, dass sie 40 Jahre in der DDR gefangen waren. In die sie jetzt zurück möchten, oder? Mensch, was wollen die eigentlich???

Vielleicht ist das die Kernfrage, die wir uns alle stellen müssen. Vielleicht wäre die Antwort darauf die Lösung des Problems. Denn dass es ein Problem ist, ist unbestritten. Die auf der Straße haben ein Problem, und die hinter den Vorhängen auch, und wir ebenfalls.

„Unsere Frauen haben Angst, auf die Straße zu gehen. Wegen der Ausländer.“ Das mag sein, aber das Problem existiert nur in den Köpfen. Statistisch gesehen verüben viel weniger Ausländer Straftaten als Deutsche. In Westdeutschland, und allemal in Ostdeutschland, denn dort gibt es praktisch keine Ausländer. Aber wie geht man mit einer Fake Reality um, die sich ausbreitet wie Masern in den Köpfen der Leute?

Ich fahre nicht nach Chemnitz. Aber ich möchte dazu beitragen, dass rechte Gedankengut aus den Köpfen der Menschen zu vertreiben. In Dresden, in Karl-Marx-Stadt und überall. Ich glaube, das geht nur durch Erziehung. Durch kulturelle Begegnungen. Von Kindern. Und Eltern. Nur so geht das!

Wenn ich doch nach Chemnitz gehen würde, dann im Rahmen eines Projektes, dass gezielt Familien verbindet. Deutsche und ausländische. Wenn ich denn solche fände, dort. Und ich glaube, auch in Dresden sollten alle, die rechtes Denken bekämpfen wollen, sich solche Projekte suchen, sie aufbauen, sich vernetzen mit Kirchen, ja, mit Kirchen. Mit sozialen Organisationen. Mit linken Strukturen. Mit Studenten. Ich glaube, Veränderung braucht Zeit und muss in die Herzen der Kinder gepflanzt werden.

Wenn oben auf dem Podium bei einer Demo Kinder stünden, blonde Kinder mit großen blauen Augen, schwarze Kinder mit großen braunen Augen, wenn Kinder durch die Reihen der Demonstranten gehen würden, mit offenen Armen. Würde ein Rechter ein solches Kind schlagen?

Eine Freundin von mir, die ich seitdem nicht mehr treffe, erklärte auf einem Fest, es sei jetzt endlich genug mit den Asylanten. Bei uns gäbe es genug Arme. Darauf gehe ich jetzt nicht ein, dazu schreibe ich ein andermal. Auf diesem Fest waren auch Menschen aus Indien, aus afrikanischen Ländern. Zwei kleine Mädchen tanzten zusammen. Ein blondes und ein schwarzgelocktes. „Guck mal, wie süß!“, sagte meine Freundin. „Das Mädchen ist aber eine Asylantin“, sagte ich. „Trotzdem. Die muss natürlich bleiben“, erklärte meine Freundin hingerissen. Vielleicht sollten wir viel mehr auf dieser Logikebene spielen……

Adventskalender-MiniKrimi am 12. Dezember


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Liebe Adventskalender-MiniKrimi-Freunde,

heute habe ich für Euch ein ganz besonderes „Schmankerl“: Das Krimi-Debut meiner lieben Autorenkollegin Gabriele Auth. Ich finde, der Text hat alles, was ein echter Krimi braucht. Aber lest selbst!

Schritte

Schritte. Hinter mir. Im gleichen Takt wie meine eigenen. Die ganze Zeit.
Warum sind die verdammten Laternen so trübe? Oder liegt das am Nebel? In den Fenstern der Häuser brennt kein Licht. Dunkel ist es. Stockdunkel. Ein seltsames Wort.

Die Schritte hinter mir werden schneller, wenn ich schneller werde.
Mein Atem will ausbrechen. Die Lunge sprengen. Fast schon hechelnd.
Bloß nicht umdrehen. Nicht über die Schulter sehen.

Schritte, die näher kommen.
Schneller, ich muss schneller gehen. Die verfluchten

Stiefel haben so hohe Absätze. Ich wollte ja heute unbedingt sexy sein. Mein Atem steht in weißen Wolken in der Winterluft,
geht schnell. Viel zu schnell. Wie die Schritte.

Cool bleiben oder losrennen?

Der Typ in der Kneipe, der mich die ganze Zeit so angestarrt hat. Als ich raus ging, streifte seine Hand meinen Rücken.
Dem möchte ich nicht im Dunklen begegnen, dachte ich.
Es ist dunkel. Ob er…?

Ich laufe schneller. Mein Atem keucht. Oh Gott. Ich will nicht… ich renne.

Die fremden Schritte rennen mit. Die Stiefel ausziehen. Auf Strümpfen wäre ich schneller.
Nein.
Ich müsste dazu kurz stehen bleiben.
Auf. Gar. Keinen. Fall.

In meinem Magen wabert eine dunkle amorphe Masse. In meinem Mund ein Geschmack wie schwarzes Silber.
Woher weiß ich wie das schmeckt?

Die Schritte kommen näher.
Da vorne. Die Kreuzung. Auf der anderen Straßenseite sind Geschäfte. Hell erleuchtet. Nur noch über die Straße.
Rennen.
Keuchen.
Rennen.

Keucht es hinter mir auch?
Ist das Atemluft, die kühl auf meinen Nacken trifft?
Die kleinen Härchen richten sich auf.

Endspurt.

Rennen.

Die Straße. Schnell. Schneller. Ich. Das Auto. Ein  Mercedes.

Verdammt. Bremsen kreischen.
Im Fallen geht mein Blick zurück.

Da ist niemand. Niemand.

Ich…

Schwarz.

MiniKrimi am 3. Dezember


Darum geht es nicht.

„Mist, Mist, Mist. Verdammter Mist!“ Manfred spürt, wie ihm die Hitze in die Stirn steigt. Schweißperlen tropfen vom Rand der Skimaske auf seine Wimpern. „Verdammt, Harry, wo bleibst du?“ Er schüttelt sein Handy. Eine reine Übersprungshandlung. Das Display bleibt dunkel. Harry ruft nicht an. Bis jetzt ist alles perfekt nach Plan verlaufen.  Von dem Moment an, wo Manfred in den Schalterraum gesprungen ist und gebrüllt hat (etwas zu laut, aber daran waren die vielen US-Serien schuld, die er sich als Trainingsvideos reingezogen hatte) „Das ist ein Überfall“, bis jetzt, wo er mit einem Rucksack und zwei Plastiktüten voller Geld an der Tür steht. Die Leute in der Bank haben mitgemacht, als hätten sie ihre Rollen auswendig gelernt. Die Kunden haben sich auf den Boden gelegt, die Angestellten unter die Bänke. Keiner hat gewagt, den Alarm auszulösen, nachdem Manfred dem Filialleiter rein prophylaktisch die Hand zerschossen hat, mit seiner alten, vor Jahren geklauten Walther PPK. Die Männer haben sich vor Angst in die Hosen gemacht! Und die Frauen haben gewimmert. „Bitte, tun Sie mir nichts!“ Und es hat fast so geklungen, als wären sie bereit, sogar die Beine breit zu machen, für ihn, wenn er es ihnen befehlen würde. Eine Sekunde lang spielt Manfred mit dem Gedanken. Wenn er sowieso auf Harry warten muss….. Aber das ist natürlich nur ein Trick, den ihm das Adrenalin spielt. Er weiß genau, er hat noch höchstens fünf Minuten, dann kriegen die Bullen Wind von dem Überfall. Schon stehen die ersten Passanten vor der Bank, einer zückt sein Handy. „Verdammt, Harry, warum kommst du nicht?“

Manfred weiß es nicht, aber Harry kann nicht kommen. Auf dem Weg zur Bankfiliale ist ihm einer reingefahren, während er in seinem gestohlenen Wagen brav an der roten Ampel hielt. In diesem Moment klebt Harry am Airbag, sieht tausend Sterne und wird von Passanten so aufmerksam umsorgt, dass er nicht mal abhauen kann, bevor die Polizei auftaucht.

Manfred muss sich entscheiden. Er fuchtelt ein letztes Mal mit der Walther in der Luft herum, schießt eine Neonröhre von der Decke und schreit: „Keiner rührt sich, bis ich weg bin, ich knall euch auch durch die Scheibe ab, wenn’s sein muss!“ Dann geht er auf die Straße und hält das rote Auto an, das gerade vor der Bank einparkt. Er springt auf die Straße, reißt die Fahrertür einen Spalt weit auf und zischt: „Los, aussteigen, aber’n bisschen pronto.“ Dabei hält er der Fahrerin die Pistole direkt vors Gesicht. Sie schaut ihn an. Aus großen, braunen, mit schwarzem Kajal ummalten Augen. Sagt kein Wort. Und bewegt sich nicht. „Hey, du Schlampe. Wird’s bald?“ Keine Reaktion. Sie schaut ihn nur an aus ihren großen braunen Augen. Schweigend. Und Manfred schaut zurück. Das hat er noch nie erlebt. Sie gehorcht ihm einfach nicht. Gehorcht. Ihm. Nicht. Hat sie keine Angst? Was mach ich jetzt?, schießt es ihm durch den Kopf. Seine Verwirrung dauert nur ein, zwei Sekunden. Doch das genügt. Sie packt den Griff der Autotür von innen und schlägt sie ihm, so fest sie kann, gegen den zu ihr gebeugten Kopf.

Manfred fällt zu Boden. Und dann, endlich, kommen zwei, drei, vier Personen, entreißen ihm die Waffe. Die Polizei ist da. Als sie ihm Handschellen anlegen, dreht er den Kopf und schaut herüber zu der Frau im Auto. Auf der Scheibe klebt ein großes Rollstuhlfahrerzeichen. „Warum haben Sie das nicht gesagt?“ hört er sich rufen.

„Darum ging es nicht“, ruft sie zurück. Und schaut ihn an. Aus großen, braunen, schwarz ummalten Augen.

Frau ohne Gefühle IV


„Liebe, sehr verehrte Frau von Kühl, ich muss Ihnen schreiben, weil ich gerade Ihren Roman Schneckenhaut gelesen habe. Ich bin ganz ehrlich – noch nie zuvor habe ich ein Buch so sehr mit allen Sinnen, ja, verschlungen. Es lässt mich nicht mehr los. Es verfolgt mich in meinen Träumen. Nachts wache ich auf und trage den Geschmack Ihrer Worte auf der Zungenspitze. Ach was, das schreibt Ihnen sicher jeder zweite Verehrer. Aber ich, ich schmecke nicht nur Ihre Sätze, ich koste ihren geheimen Hintersinn. Ich weiß, was sie nicht geschrieben haben. Ich kenne den dunkelsten Ursprung jeder Silbe, die Sie verschwiegen haben. Ich muss Sie  – nein, nicht kennenlernen. Ich weiß bereits, wer Sie sind. Aber Sie. Sie müssen mich treffen. Haben Sie Geduld. Auch, wenn es Ihnen schwer fällt. Ich werde Sie zu finden wissen. Im geeigneten Moment. Warten Sie. Auf mich.“

Marisa C. – nachdem sie das erste Mal die Bestsellerliste im Spiegel angeführt hatte, ersetzte sie den Rest ihres Nachnamens durch einen schlichten Punkt – kräuselte die Stirn. Sie bekam im Durchschnitt zehn Leserbriefe pro Tag. Drei wollten ihr Buch signiert haben, vier wollten mit ihr Kaffee trinken, einer wollte sie ermorden – aus Eifersucht. Und zwei wollten ihre genaue Adresse, um ihr eine Torte oder einen selbstgehäkelten, mit Arsen getränkten Pullover zu schicken. Oder so. Sie zerknüllte das blassblaue Papier, hob träge die Hand und zielte mit spitzen Fingern auf den Papierkorb. Aber dann hielt sie ihre Bewegung an. Wie in Zeitlupe zog sie den ausgestreckten Arm wieder an. Ließ das Papierbällchen in ihren Schoß fallen. Und schloss die Augen.

„Ich muss nachdenken. Ich muss……“ Etwas in diesem Brief machte ihr Angst. Sie fühlte es. Sie wusste es. Aber es gelang ihr nicht, es zu benennen. Noch nicht. „Ich muss nachdenken….“

Und heute mal ein Nano-Fast-Liebesroman: Panik


Dienstagmorgen in der vollen U-Bahn: Zwei junge Leute stehen nebeneinander im Gedränge.  In einer Kurve rempelt sie ihn aus Versehen an. Ihre Blicke treffen sich. „Nettes Mädel“, denkt er und lächelt. Sie schaut ihm in die Augen. Ihre Lippen verziehen sich zu einem breiten Strich. Dann guckt sie weg. „Schade“, denkt er. „Ich gefalle ihr nicht. Sonst hätte sie zurückgelächelt“. Beim nächsten Halt steigt sie aus, dreht sich am Bahnsteig nochmal um und sieht ihn an, ohne ein Lachen. „Mist“, denkt sie auf der Rolltreppe, „immer das gleiche. So ein süßer Typ. Bestimmt denkt er, ich fand ihn doof. Scheißangst! Morgen geh ich zum Zahnarzt. Zum ersten Mal in meinem Leben…. Oder übermorgen….oder…“

 

 

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