MiniKrimi Adventskalender am 24.Dezember/Heiligabend


Und heute kommt der zweite Teil. Etwas früher, um euch das Warten auf das Christkind zu verkürzen. Oder Ihr lest die Geschichte komplett in den nächsten Tagen. Vielleicht eignen sich die Raunächte ja besonders dafür.

Euch allen eine GESEGNETE, FIREDOVLLE WEIHNACHT. Danke, dass Ihr mir und meinem Kalender gefolgt seid.

Molotow Madonna Teil 2

Kapitel 5

Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun. Molière

Frankfurt am Main, 21.6.2004, mittags

Der Kontrast zwischen dem schmalen Reihenmittelhaus in Eschersheim und Thomas luxuriöser Altbauwohnung könnte kaum größer sein. Und doch waren Thomas und Frank einmal unzertrennlich. Gleiche Ideen, gleiche Clique, gleiche Zigaretten, gleiche Frisur und gleiche Freundinnen. Wobei Thomas den Aufriss machte  und Frank den Tröster spielte. Bei Melanie war er hängengeblieben. Oder war sie seine große Liebe? Vielleicht, denkt Maria, denn in der Flüchtigkeit, mit der er seiner Frau einen Begrüßungskuss ins Haar haucht, auf den Scheitel zwischen weißer Haut und grauem Ansatz, liegt ein unendlich leiser Schatten alter Zärtlichkeit. Da sind sie schon über einen Haufen Turnschuhe gestiegen,  zwei zum Bersten volle Mülltüten und eine kläglich maunzende Perserkatze mit zerrissenem Ohr und coupiertem Schwanz.

Maria lehnt sich an den abgestoßenen Türrahmen, und die Katze schmiegt sich an ihr Bein. Wir stehen da wie Dominosteine, ein Wort von Frank, und wir kippen um, denkt sie. „Hättest du nicht mal den Müll raustragen können?“ Melanies Stimme ist hoch und spitz.  „Hier stinkt‘s wie im Scheißhaus. Und das Katzenklo macht auch keiner sauber. Ich hab seit fünf Uhr früh Regale eingeräumt, wenn ich heimkomme, kann ich wenigstens ein Minimum an Ordnung erwarten, oder? Und du hast wieder im Wohnzimmer geraucht!“ „Na und?  Das erste  was du machst, wenn du zur Tür rein kommst, ist meckern. Meckermeckermecker. Ja, hier stinkt’s nicht nur wie im Scheißhaus, das ist ein Scheißhaus. In einer Scheißstadt. Ich hab die Nase voll. Von hier, von dir, von diesem ganzen Scheißleben.“ Frank sieht eigentlich noch genauso aus wie vor 20 Jahren. Die Augen etwas aufgedunsen und die Haare nur unmerklich dünner, aber immer noch so leuchtend blond. Adonis, witzelte Justus. Und Frank wurde dann immer rot. Er wollte nicht wegen seines Aussehens beliebt sein oder geliebt werden. Er kam aus einer Arbeiterfamilie, sein Vater stand bei Opel in Rüsselsheim am Fließband. Grundschule, Gymnasium, Einserabitur. Frank war der Überflieger, und auch sein Jurastudium machte er mit Links. Das war es, was Thomas an ihm faszinierte. Justus schätzte Frank wegen seiner messerscharfen Urteilskraft. Als sie ihr Manifest  entwarfen, musste Frank jeden Satz lesen und freigeben. Nur, was vor Franks Urteil bestehen konnte, war gut genug für die Öffentlichkeit.

Melanie sonnte sich im Schatten ihres schönen klugen Freundes. Mit ihm heilten die Wunden, die Thomas in ihr Selbstbewusstsein gerissen hatte, als er ihr den Laufpass gab. Melanie, die Mitläuferin. Plapperte alles nach, Hauptsache, es klang nach Intelligentia und hatte mindestens drei Fremdwörter im Satz. Hatten sie ihre Rollen getauscht? Aber Frank war schon immer ein Denker gewesen, ein Träumer, ein Idealist mit einer Schwäche für Bücher und wissenschaftliche Theorien. Ohne diese Nacht säße er heute als Ordinarius für Jura an einer renommierten deutschen Uni. Stattdessen hockt er mit ausgebeulten Jeans, fettigen Haaren und Dreitagebart auf einem durchgesessenen Sofa. Und wartet auf Melanie, die abgelaufene Lebensmittel aus dem Supermarkt nach Hause bringt.

Auf dem Tisch stapeln sich Bücher. Juristische Fachliteratur. Zeitungsartikel über den Frankfurter Kessel 1984. Und über die spektakuläre Festnahme einer studentischen Terrorzelle unmittelbar vor einem Sprengstoffanschlag auf die Deutsche Bundesbank.

Frank scheint nicht im Mindesten überrascht, Maria zu sehen. Aber darüber wundert sie sich inzwischen nicht mehr.  Er begrüßt sie fast mit den gleichen Worten wie Peter. „Ach, Maria. Hallo. Du hast lange gebraucht. Sehr lange. Ich habe das kaum noch ausgehalten.“ „Hallo, Frank. Es …. tut mir leid. Ich wusste nicht…. Hast du auf mich gewartet?“ Maria bahnt sich ihren Weg zwischen Bergen von Illustrierten, schmutzigen Socken, einem Teller mit dem Rest eines Marmeladenbrötchens und einem Korb voll vergilbter Bügelwäsche. „Entschuldige das Chaos“, Frank wedelt mit der Hand von links nach rechts und betrachtet das kleine Reihenhauswohnzimmer, als sähe er es zum ersten Mal. „Ich muss mal wieder saubermachen. Weißt du, Melanie arbeitet viel, sie hat drei Jobs. Die Kinder sind ja nicht mehr klein, aber deshalb kosten sie nicht weniger, im Gegenteil. Es geht mir nicht gut, Maria. Ich habe Depressionen. Und keine Arbeit.“ „Es ist gut, Frank. Alles ist gut.“ Was für ein blöder Satz. Justus hätte ihn ihr um die Ohren gehauen. Nichts ist gut, fast nie im Leben. Für einen Moment flackert das alte Feuer in Franks Augen. „Nein. Ist es nicht“, zischt er. Greift unvermittelt nach einer Schachtel Zigaretten auf der Fensterbank, macht die Terrassentür auf und geht in den kleinen Garten. Maria folgt ihm.

Auf dem schmalen Streifen zwischen zwei verfallenen Gartenzaunreihen fristen verlorene Grasbüschel ein kümmerliches Dasein. Am hinteren Ende haben Efeu und Giersch ihren Eroberungsfeldzug begonnen, Forsythien, Flieder und Pfingstrosen haben bereits kapituliert und strecken nur noch vereinzelte Blüten aus der Unkrautumzingelung. Am bemoosten Ast eines krummen Apfelbäumchens lässt eine erschlaffte Hängematte ihre Fäden auf die Erde baumeln. „Schau dich ruhig um, Maria. Das ist mein Paradies. Meine Hölle. Mein Garten Eden. Mein Getsemani. Hier stehe ich jede Nacht, statt zu schlafen. Sehe das Blaulicht und die vermummten Polizisten, höre die Sirenen und die Stimme aus dem Lautsprecher. Und frage mich, wo wir uns verrannt haben. Und wann. Und ob. Dann gebe ich mir die Schuld. Wenn ich nicht mit Melanie rumgeknutscht hätte, statt ordentlich aufzupassen, hätte ich vielleicht was bemerkt. Hätte Justus warnen können. Vielleicht. Aber weißt du, Maria, das sind alles nur Schattengefechte. Die Entscheidung hat jemand anders getroffen, an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit. „Alea iacta est.“ In der Nacht da draußen vor der Deutschen Bundesbank war alles schon längst beschlossene Sache. Wir waren die Marionetten. Der Drahtzieher saß ganz woanders.“

Maria ist müde. Sie hat kaum geschlafen, unruhig auf jedes Geräusch reagiert und mit wachsender Panik auf das Schlüsselloch gestarrt in der Erwartung einer dieser typischen Hitchock-Szenen, in  denen sich der Schlüssel lautlos langsam zu drehen beginnt und du auf das Unausweichliche wartest, unfähig, es aufzuhalten. So trostlos dieser Garten auch ist, Maria hatte grade angefangen, sich fallen zu lassen in einem Abziehbild von Familienleben, so brüchig und verschlissen es auch sein mag. Aber jetzt dreht sie sich zu Frank, ist ganz wach und ganz bei dem, was er gesagt hat. „Der Drahtzieher? Dann stimmt es und ich hatte Recht. Die ganze Zeit hatte ich Recht?!“ „Womit hattest du Recht, Maria? Damit, dass du dich geweigert hast, in Justus einen Terroristen zu sehen? Oder mit deiner Behauptung, dass er sich nie und nimmer selbst umgebracht hätte?“ „Mit beidem, Frank. Mit beidem. Und jetzt erzähl mir, was du weißt. Bitte. Pack aus. Schlepp dein Wissen nicht länger allein mit dir herum.“

Frank hat sich auf die rissigen Waschbetonfliesen gehockt, wippt mit gespreizten Knien mechanisch auf und ab. „Mit jedem Tag, jedem Monat, jedem Jahr, in dem ich geschwiegen habe, wurde sie drückender, dieses Last. Wie oft habe ich dir geschrieben, in Gedanken und wirklich. Ich hab sogar deine Email-Adresse recherchiert, kürzlich. Aber dann….“ „Warum hast du so lange geschwiegen?“ „Ich weiß nicht. Ich rede mir ein, wegen Thomas. Weil ich ihn …. immer noch mag. Ihn nicht reinreiten will. Er ist doch der Einzige von uns, der es zu was gebracht hat. Der nicht kaputt gegangen ist, an der Nacht. Er ist unser Leuchtfeuer, sowas wie ein Wahrzeichen, der Beweis, dass unsere Ideen nicht umsetzbar waren, nichts als wirres Marihuanagewäsch. Er hat unseren Positionen den Rücken gekehrt und ist erfolgreich geworden.“ „Hast du dich denn nie gefragt, ob sein Erfolg auf eurem Scheitern aufbaut?“ „Doch. Aber das habe ich schnell wieder verdrängt. Das bringt doch nichts. Vorbei ist vorbei.“ „Nicht ganz. Du kannst für dich entscheiden, wie du leben willst, Frank. Aber du hast kein Recht, die Erinnerung an andere durch Lügen zu verfremden. Zu verdunkeln. Zu kriminalisieren. Du hast kein Recht, durch dein Schweigen das Leben anderer zu blockieren. Genau das hast du getan. Bis heute.“

„Komm, setz dich neben mich“. Misstrauisch folgt Maria ihm zur Hängematte. Nein, ein Sturz aus dieser Höhe kann nicht gefährlich sein, entscheidet sie. Aber die Fäden halten zusammen. Und die kleine Veränderung des Blickwinkels genügt, um sie beide in eine andere Dimension zu schaukeln.  In das Frankfurt der 1980er Jahre, den Hörsaal der Johann-Wolfgang-Goethe-Uni, die Altbau-WG. Die Taunusanlage vor der Deutschen Bundesbank. Während Frank erzählt, fallen die Jahre von ihm ab, er spricht wieder so wie damals, flüssig, überzeugend, moduliert, mitreißend.

Sie galten schnell als die Elitetruppe von Professor van Xanten. Als er ihnen seine große, interdisziplinäre Studie anvertraute, war klar: die vier sind zu ganz Hohem berufen. Die wandern direkt aus der Uni in die Chefetagen der Wirtschaft, der Gerichte, der Politik. Das Zeug dazu hatten sie. Vier hoch intelligente, extrem motivierte junge Männer und ein Groupie. Letztendlich war es ihre Kompetenz, ihre Gründlichkeit, die ihnen zum Verhängnis wurde. Denn je tiefer sie in die Materie eindrangen, desto klarer wurde ihnen, dass sie mit ihren empirischen Daten nicht weiter kamen. Tiefgreifendere Analysen, Feldstudien, vor allem Interviews mit Menschen, Erfahrungsberichte. Nur so konnten sie die Grundlagen schaffen für eine gesicherte Prognose über die Zukunft der Gesellschaft. Vor allem: Eine Beschreibung des Status Quo allein erschien ihnen nicht nur ungenügend und lächerlich, sondern geradezu kriminell. Sie waren jung, sie waren Genies. Sie wussten, was kommen würde. Sie mussten ein Konzept ausarbeiten zur Weichenstellung, um zu vermeiden, was sie empirisch gesichert voraussagen konnten. Ein grundlegender Wandel musste her, in Gesellschaft und Wirtschaft, gesteuert von der Politik und getragen von allen Bevölkerungsschichten. Als sie ihrem Professor ihr Manifest vorstellten, hatten sie mit allem gerechnet, Erstaunen, Skepsis, Enthusiasmus, Bewunderung. Aber: „nie wieder habe ich diesen Ausdruck gesehen, bei einem Menschen. Das war die nackte Angst, gepaart mit einem Schuss Wahnsinn“, sagt Frank. Ausgeschlossen, Sie haben sich verrannt. Ich entziehe Ihnen die Studie. Verbrennen Sie alles, was damit zusammenhängt. Oder kommen Sie zur Vernunft, meine Herren, meine Dame.

Der Schock, die Betäubung hatten eine ganze Woche angehalten. Dann hatten sie zu diskutieren begonnen. Thomas war dafür, den Rat des Professors zu befolgen. Die Studie nach Plan abzuschließen und den verdienten Erfolg einzufahren. Und dann, in einem weiteren Schritt, vielleicht vorsichtig zu versuchen, das Manifest in kleinen, akzeptablen Portionen an entscheidender Stelle anzubringen. Mit dem Renommée, das sie sich erworben hätten, wäre das leicht gewesen, und  dann hätte er versucht, über Vickys Familie Türen zu öffnen. Er hatte das Mädchen kürzlich auf einer Demo gegen Studiengebühren kennen gelernt, und es hatte ihn fasziniert, dass sie aus purer Solidarität mitging, obwohl ihr Vater ihr jede Privatuni hätte zahlen können.

Justus war strikt dagegen. Er nannte Thomas einen Heuchler. Peter pflichtete ihm bei. Melanie versuchte zu schlichten und schlug vor, sich erst mal den Starbahn West Demos anzuschließen und dort zu schauen, wie ihre Ideen bei „sozial engagierten“ Leuten ankämen.

Das machten sie dann auch, aber die Gruppe war schon gespalten. Als Professor van Xanten die Veröffentlichung der „revolutionärsten Gesellschaftsstudie seit Marcuse“ ankündigte, unter seinem Namen, natürlich, gab das allen neuen Auftrieb. Sogar Thomas war jetzt der Meinung, dass sie sich dagegen wehren müssten, wenn sich jemand mit ihren Federn schmücken wollte. Und so arbeiteten sie den Plan zur spektakulärsten Aktion seit Erfindung der Demos aus. Sie malten die Thesen ihres Manifestes auf ein Transparent – in Vickys gestochener Schrift. In der Mittsommernacht wollten sie das Dach der Deutschen Bundesbank erklimmen, den Gipfel der Finanzmanipulation, sozusagen, und von dort das Manifest entrollen. Kurz vorher sollten Melanie und Frank Flugblätter in allen Redaktionen und auf den Straßen verteilen, um auf die Aktion aufmerksam zu machen. Sie waren sich sicher, dass der Medienhype groß genug sein würde, um ihnen zumindest ein erstes Gehör zu verschaffen. An der Überzeugungskraft ihres Chefdenkers, Justus, zweifelten sie keinen Augenblick. Alles Weitere wäre dann wie ein Sonntagsspaziergang. „Ich glaube, an diesem Punkt unserer Planung waren wir alle ziemlich bekifft“, grinst Frank unwillkürlich. „Anders kann ich mir diese Selbstüberschätzung heute nicht erklären.“ „Und Thomas? Wieso war der plötzlich so umgeschwenkt?“ „Ja, diese Frage hätten wir uns damals mal stellen sollen“, sagt Frank.

„Und dann?“ „Ja, dann kam der Abend vor der Nacht. Kurz bevor es losgehen sollte, verschwand Justus. Und stieß erst vor der Deutschen Bundesbank wieder zu den anderen. Daraus wurde ihm dann der Strick gedreht. Im wörtlichen Sinn…. Der Polizeizugriff kam völlig überraschend. Aber noch unglaublicher war die Anschuldigung, wir hätten vorgehabt, die Bank in die Luft zu jagen.  Völlig absurd! Aber dann wurde Sprengstoff in einem Rucksack oben auch dem Dach gefunden. Molotowcocktails und Dynamit.“ „Woher kam das?“ „Keine Ahnung. Wir hatten das auf alle Fälle nicht eingepackt“. Der einzige, der schon oben war, war Thomas. Ihn musst du fragen. Seinen Teil der Geschichte muss er dir selbst erzählen“.

Sie alle seien drei Tage lang festgehalten worden, in getrennten Zellen. Am vierten Tag habe man sie entlassen und ihnen mitgeteilt, dass der „Rädelsführer“ Justus N. sich in seiner Zelle erhängt habe. Er habe ein ausführliches Geständnis hinterlassen. „Aber ich wusste, wo Justus war, an diesem Abend. Er misstraute Thomas und irgendwie auch mir. Er hatte einen persönlichen Kontakt zu einer Journalistin, Johanna. Er hat sich mit ihr getroffen und ihr von unserer Aktion berichtet. Exklusiv und vorab. Vielleicht hat er auch mit ihr geschlafen, ich glaube, sie war in ihn verliebt.“ „Und warum habe ich davon nichts in der Zeitung gelesen?“ „Johanna war zur Taunusanlage gekommen, und da hat sie den Polizeieingriff miterlebt. Sie hat versucht, zu fotografieren. Da hat ihr ein vermummter Polizist den Fotoapparat weggenommen und sie brutal zusammengeschlagen. Als sie aus dem Krankenhaus kam, war sie ihren Job bei der Rundschau los. Ich habe sie nur noch einmal gesehen, danach ist sie untergetaucht. Verstehst, du, Justus hat nie einen Terroranschlag geplant. Das hat ihm jemand untergeschoben. Um ihn zu vernichten. Uns zu vernichten. Ich wusste das. Aber ich habe einfach den Mund gehalten. Weißt du, Melanie war schwanger, damals“, fügt er dann noch hinzu, fast flüsternd.

Frank schweigt. Sein Mund ist ein schmaler Strich in einem grauen Gesicht. Jetzt sieht er aus wie ein alter Mann, vom Kummer gefaltet. Sie möchte ihm gerne etwas Freundliches sagen, aber ihr fällt nichts ein. Unsinnig, ihm Vorwürfe zu machen. Sie legt ihm die Hand auf den Arm, nur ganz kurz, spürt seine Kälte durch den dünnen Stoff des Hemdes. Dann schält sie sich aus der Hängematte und geht. Das Reihenhaus ist leer. Von Melanie und den Kindern keine Spur. Auch die Katze ist verschwunden.

Kapitel 6

Unglücklich das Land, das Helden nötig hat. Bert Brecht

Frankfurt am Main, 21. Juni 2004, nachmittags

„Was fange ich an mit diesem schrägen Tag?“ Wäre das eines dieser Computerspiele, das ihre Freundin Assunta immer spielt, würde sie einfach auf Neustart drücken. Und sich nur mit einem kontinentalen Frühstücksbüffet zufriedengeben, gefolgt von einer entspannenden Massage und einer Viertelstunde Baden im Meer. Um dann bei Herder das neue Nummer 1-Buch der Spiegel-Beststellerliste zu kaufen und den Rest des Tages damit zu verbringen, es daheim auf der Terrasse in einem Stück zu verschlingen. Aber so geht das nicht. Maria ist in Frankfurt. Es ist Juni, ein kalter Juni. Und sie hat eine Aufgabe  zu erfüllen, bevor sie überhaupt jemals wieder in Ruhe und Frieden ein Buch lesen kann. Vor allem will sie in den Fotoalben blättern, die den Weg ihres Sohnes säumen. Das Baby im Krankenhaus, der Kleine im Laufställchen, mit der mannshohen Schultüte, am Meer bis auf den Kopf eingegraben im Sand. Justus mit Zigarre und Zylinder auf der Abifeier. Justus vor den Toren der Uni. Mit seinen Freunden in der WG. Beim Pastaessen, alle aus einer Schüssel. Justus mit Brille vor dem riesigen Computerungetüm, das sie ihm besorgt hatte, eine echte Neuheit. Justus mit ihr, Maria, seiner Mutter. Gleiche Augen gleiches Lachen ungleiches Schicksal. Es ist nicht richtig, dass der Sohn vor der Mutter stirbt. Sie weiß plötzlich, worin der Fehler liegt in der Statue von Michelangelo in der Basilica di San Pietro in Rom. Wie bei einem Wimmelbild hat sie lange gebraucht, um ihn zu finden. Tief in sich. Die Anordnung der Figuren sollten umgekehrt sein. Der Sohn sollte die tote Mutter in seinen Armen halten!

Als Maria aus ihren Gedanken auftaucht, ist sie schon bis zur Eschenheimer Landstraße gelaufen. Sie sucht einen Taxistand und fährt in die Böhmerstraße hinter der Alten Oper. Sie hat es jetzt plötzlich eilig. Will alles erledigen, hinter sich lassen und dann zurück. Nach Rom. Zu den Bildern ihres Sohnes, die sie seit 20 Jahren nicht mehr angeschaut hat.

Sie blickt hinauf zu den Fenstern im zweiten Stock und nimmt eine leise Bewegung wahr, spürt sie mehr, als dass sie sie sieht. Noch bevor sie die Klingel berührt hat, hört sie den Summer. Sie geht in den kühldunklen Hauseingang, die getäfelten Wände riechen schon nach Sonne und Licht. Und nach Pfeifentabak. Maria zögert. Da fällt die Tür hinter ihr ins Schloss. Gut, dass einem manche Entscheidungen abgenommen werden, denkt sie.

Thomas erwartet sie an der Wohnungstür. „Ich hätte es wissen müssen, Maria. Vielmehr, ich wusste es ja. Aber gut, einen Versuch war es wert.“ „Für wen? Für dich oder van Xanten?“ Die Eile in ihr wird immer drängender. Kein Wort zuviel, keine Minute zu lang. „Ich kenne jetzt in groben Zügen die Wahrheit, Thomas. Wir brauchen uns nicht mehr mit Details aufzuhalten. Ich will von dir nur noch Bestätigungen. Und das Wissen um das gesamte Ausmaß deiner Schuld. Keine Sorge, ich nehme dieses Wissen mit mir mit und bewahre es auf. Falls mir dein Pfeife rauchender Freund dazu noch die Gelegenheit lässt.“

Thomas setzt einen bestürzten Gesichtsaufdruck auf. Vielleicht ist er ja sogar echt. Denn als Thomas sich im Wohnzimmer großzügig von seinem kostbaren Cognac bedient, zittern seine Hände, und etwas von der goldgelben Flüssigkeit fällt auf den  Tábriz unter seinen Füßen. Sofort verbreitet sich ein Aroma von Eiche und Tagetes im Raum und verflüchtigt sich wieder.

„Maria, also wirklich. Was denkst du von mir?“ „Nur das Schlechteste, Thomas. Nur das Schlechteste.“

„Also gut. Ich werde nicht versuchen, dich umzustimmen. Aber ich fürchte, du wirst selbst erkennen, dass du dich irrst.“ Irgendwo in den Tiefen der Wohnung fällt etwas um. Thomas zuckt zusammen. Geht zur Zimmertür, schaut auf den Flur, geht kurz hinaus, Stimmengemurmel, dann kommt er zurück, schließt die Tür hinter sich. Er setzt sich auf das breite Ledersofa und schlägt die Beine übereinander.

„Ich nehme an, Frank hat dir erzählt, dass er Beweise dafür hat, dass Justus in der Stunde vor unserer Aktion keinen Terroranschlag vorbereitet hat?“ Maria schaut ihn an und schweigt. „van Xanten mochte Justus. Er wollte ihn aufbauen, etwas aus ihm machen. Als seinen Protégé. Natürlich war eine gehörige Portion Eitelkeit mit im Spiel. Er wusste genau, in Puncto Genie konnte er Justus nicht das Wasser reichen. Aber ein Förderer, der die Vorzüge seines Schützlings erkennt, steht im gleichen Lichtkegel und kann ihn sogar lenken. Aber so war Justus nicht. Er war weder käuflich noch korrumpierbar.“

„Das war der größte Unterschied zwischen euch beiden“, wirft Maria ein. Ganz sachlich und ohne Betonung. „Du bist seine Mutter,“ sagt Thomas und seufzt. „Um dich habe ich Justus immer am meisten beneidet. Wenn du nicht gewesen wärst, du und deine Gespräche, deine Überzeugungen, hätte er sich vielleicht von van Xanten überreden lassen. Aber du, du, du….“ „Du gibst mir die Schuld? Ist es so schlimm, für dich?“ „Egal. Also, van Xanten war von Justus enttäuscht, ja. Aber vor allem hatte er Angst. Angst um sein Prestige. Angst um seine persönliche Stellung. Es ging nicht darum, dass er unsere Ideen für eine echte politische Gefahr hielt. Wir waren für ihn nicht mehr als ein Haufen in die ideologische Irre gelaufener Jungspunde. Was ihm Sorgen machte, große, existentielle Sorgen, war das Potential, das er in Justus erkannt hatte. Kombiniert mit der Tatsache, dass er sich nie würde benutzen lassen, umdrehen, integrieren, war das eine gefährliche Mischung.“ „Eine tödliche Mischung, ja?“ fragte Maria. „Ja“, Thomas nickte.

„Als van Xanten einmal den Entschluss gefasst hatte, Justus zu eliminieren, was alles weitere nur Routine. Den Sprengstoff organisieren und placieren, falsche Informationen an der richtigen Stelle streuen. Der Innenminister und der Polizeipräsident waren nicht nur mit ihm „per Du“, sie spielten im selben Golfclub.“ „Und in der gleichen Korruptionsliga“, unterbricht ihn Maria spöttisch. „Aber warum musste Justus sterben? Warum genügte es nicht, ihn festzunehmen und dann nach einiger Zeit wieder laufen zu lassen?“ „Das fragst du nicht wirklich, oder? Weil Justus nie klein beigegeben hätte. Keine Drohung der Welt hätte ihn davon abgehalten, die Wahrheit zu sagen. Oder zu versuchen, sie herauszufinden.“

„Und dann wäre es auch dir an den Kragen gegangen, stimmt‘s, Thomas?“ Marias Stimme schneidet den Raum in zwei scharf abgegrenzte Bereiche. Gut und Böse. Er steht auf der falschen Seite. „Wer hat den Sprengstoff auf‘s Dach geschmuggelt? Du als Fensterputzer. Mit Erlaubnis der  Bank. Deshalb konntet ihr eure Aktion überhaupt ungehindert starten. Ohne, dass euch ein Wachmann dabei gestört hat. Was war für dich drin, Thomas? Sag‘s mir!“

„Vicky und ich wollten heiraten. Ihr Vater und van Xanten kannten sich natürlich. Ich war ein No Name ohne Geld und Adel, sozusagen. Nicht gerade die Nummer 1 unter den Bewerbern um die Hand der Millionenerbin. Van Xanten versprach mir, meinen Namen wieder mit auf die Studie zu setzen.“

„Das ist alles? Für eine schnöde Erwähnung unter einem Haufen Papier hast du Justus verraten?“ „Ich habe ihn nicht verraten! Ich wollte ihn schützen! Van Xanten hatte mir erzählt, dass der Verfassungsschutz hinter Justus her sei, weil er  bei den Startbahn-West-Demos verdächtige Kontakte zur militanten Szene geknüpft hatte. Er hat mir versprochen, dass er sich dafür einsetzen würde, dass Justus trotzdem eine berufliche Karriere an der Uni machen könnte.“

„Und das hast du ihm geglaubt?“ „Ich wollte es glauben, ja.“ „Und dann?“ „Dann rastete Justus in der U-Haft völlig aus. Wir waren ja alle verhaftet worden. Nur pro Forma, wie mir van Xanten versichert hatte. Aber Justus schrie die ganze Zeit rum, beschimpfte mich als Verräter. Und er zog Vicky mit rein. Sie würde nichts mehr von mir wissen wollen, wenn sie erst wüsste, was für ein Judasschwein ich sei.“ „Und das war dann sein Todesurteil? Hast du ihn umgebracht, Thomas? Warst du das?“ „Wo denkst du hin, Maria! NEIN!“ Thomas schreit. Er steht auf, fängt an, auf und ab zu laufen. Stolpert über den Tàbriz. Tritt gegen die Bar. „Nein! So war das nicht! Ich war ja selbst total überrascht, als ein Polizist mich in ein Zimmer führte und ich van Xanten am Fenster stehen sah. Unser ursprünglicher Plan gehe nicht auf, sagte er mir. Unser Plan! Justus werde nie und nimmer auf sein Angebot eingehen. Er sei geradezu hysterisch. Und er würde mich gnadenlos mit hineinziehen, das hätte ich ja wohl selbst bemerkt. Ich versicherte ihm, dass Justus sich in der Zelle schon wieder beruhigen würde. Aber er glaubte mir nicht. Er wollte noch einen Versuch machen und ihm ganz offen andeuten, dass dir, seiner Mutter, etwas zustoßen könnte.  Da bat ich van Xanten, mich zu ihm zu lassen und zu versuchen, ihn umzustimmen. Er gab mir zehn Minuten.

Zuerst wollte Justus nichts von mir hören. Er hockte sich in eine Ecke und hielt sich Augen und Ohren zu. Er war völlig blutverschmiert. Mein Gott, die Polizisten hatten ihn richtig zusammen geschlagen. Terroristen, auch mutmaßliche, waren seit der RAF sowas wie das rote Tuch der Staatsmacht.

Dann fragte ich, ob er wüsste, wo du seiest. Und da schaute er mich an. Ich ging ganz dicht zu ihm hin und flüsterte ihm ins Ohr, ganz gleich, was irgendwer ihm auch immer sagen, womit auch immer man ihm drohen würde, dir würde nichts passieren. Ich schütze Maria, wenn‘s sein muss mit meinem Leben. So, als wäre sie meine Mutter. Habe ich gesagt. Dann hat der Polizist an der Tür mich am Arm gepackt und rausgeführt. Aber Justus letzter Blick hängt bis heute an mir. Ich habe Wort gehalten.“

„Oh, dann verdanke ich dir ja noch viel mehr, als ich dachte, Thomas. Nicht nur meine Freiheit, nein, mein Leben! Wann hast du denn entschieden, dich von deinem Versprechen zu entbinden? Immerhin hätte ich mir gestern Abend beinahe das Genick gebrochen beim Sturz in der Pension. Aber das weißt du ja alles.“

„Maria, das Versprechen das ich Justus gegeben habe, gilt, solange ich lebe. Glaube mir. Wir blieben zwei Tage in U-Haft. Am dritten Tag wurden wir entlassen. Und erfuhren, dass Justus sich in seiner Zelle erhängt hatte. Angeblich hatte er ein Bekennerschreiben hinterlassen. Ich ging gleich zu van Xanten, ich wollte mich vergewissern, dass es den Brief wirklich gab. Er war für mich nicht zu sprechen. Aber am Abend traf ich ihn im Haus bei Vickys Vater. Sie hatte mich heimlich reingelassen. Sie war erschüttert. Ich hatte nie bemerkt, wie sehr sie Justus verehrte. Wahrscheinlich bin ich auch für sie nur die zweite Wahl gewesen! Ich stellte van Xanten zur Rede, ich war schon ziemlich betrunken. Er packte mich am Arm, zerrte mich in die Bibliothek und zischte: Justus hat gekriegt, was er verdient hat. Du hast jetzt nur eine Wahl: entweder du hältst die Klappe, dann liegen vor dir eine glänzende Karriere und ein tolles Eheleben. Oder du endest wie Justus. Und jetzt hau ab und werd nüchtern.

„Ich bin nicht stolz auf mich, Maria. An diesem Abend hätte ich Vicky die Wahrheit sagen können. Und mit den Konsequenzen leben. Vielleicht allein, vielleicht nicht reich. Aber mit einem etwas reineren Gewissen. Ich war zu schwach. Das Einzige, was ich gemacht habe, war, dich aus dem Gefängnis abzuholen, wohin sie dich gebracht hatten, um Justus Leichnam zu identifizieren, pro Forma. Und dich nach Italien zu begleiten. Aber ob ich das ohne Vicky geschafft hätte, keine Ahnung. Jetzt weißt du alles. Mach, was du willst. Aber bitte geh hier durch die Hintertür raus. In der Ecke im Garten ist ein Loch im Zaun. Ich passe auf, dass dir niemand mehr folgt. Leb wohl, Maria. Schade. Ich wäre gerne dein Sohn gewesen.“

Kapitel 7

Was soll der fürchten, der den Tod nicht fürchtet? Friedrich Schiller, die Räuber

Frankfurt am Main, 21. Juni 2004, abends

Maria sitzt auf der Bank am Schaumainkai, direkt gegenüber spiegeln sich Abendwolken in den Fenstern der Deutschen Bundesbank. Peter ist nicht da. Aber sie spürt Justus so nah bei sich wie nie mehr seit dem Tag, als die Polizei sie im Streifenwagen abgeholt und ins Untersuchungsgefängnis gefahren hat, um ihren toten Sohn zu sehen. Stundenlang, so schien es, hatte sie da gesessen, in dieser unendlichen Stille, die entsteht, wenn die Grenzen der Welt durchlässig werden für die Ewigkeit. Hatte ihn in den Armen gehalten wie damals als Kind. Das war er immer noch. Ihr Kind. Aber so kalt. So nah und so unerreichbar weit weg. So sinnlos. So tot.

„Und was macht van Xanten heute?“, hatte Maria Thomas gefragt, schon an der Hintertür. „Wie, das weißt du nicht? Ach stimmt, du hast ihn ja nie selbst gesehen. Er hat geheiratet und den Namen seiner Frau angenommen. Echter Adel, weißt du. Er heißt jetzt von Ronneberg.“ „Der Ministerpräsident?“ „Genau der.“

Maria schaut sich um. Kein Mensch in der Nähe. Sie stellt die große Einkaufstüte neben sich. Darin liegen ein Kittel, ein Kopftuch, professionelles Reinigungsmaterial. Und eine Reihe chemischer Zutaten. Maria kann sich gut an das Rezept für ihren „Lieblingscocktail“ erinnern, auch, wenn das nie mehr als ein Running Gag zwischen Justus und ihr war. Justus hatte sich immer so sehr auf Weihnachten gefreut. Auch, als er eigentlich kein Kind mehr war. „Einmal werden wir noch wach…“ hatten sie gemeinsam gesungen, am Vorabend der Bescherung. Ja. Genau. Einmal werden Sie noch wach, Herr Ministerpräsident.

Kapitel 8

Ich hab zwei große Türen aufgemacht. Ludwig Hirsch

Frankfurt am Main, 22. Juni 2004, frühmorgens

Am nächsten Morgen geht Maria in aller Frühe zur Staatskanzlei. Hält dem Pförtner den Putzkolonnenausweis hin, den Thomas zwanzig Jahre lang aufbewahrt hat. Die Türen sind offen, wie versprochen. Im Putzwagen verborgen die Mollie mit Zeitzünder. Sie deponiert sie im Papierkorb des großen Büros, direkt unter dem Telefon. Pünktlich um neun wird Thomas den Ministerpräsidenten anrufen. Und dann. Schöne Bescherung!

Epilog

Es ist / Verwelkt der Lorbeer und das Saitenspiel verklungen! / Es war auf Erden ihre Heimat nicht. Sappho

Basilica di San Pietro, Rom.

Ich weiß, du hättest so etwas nie gemacht, sagt sie der trauernden Mutter aus Stein. Ich weiß, dein Sohn hätte das nicht erlaubt. Meiner auch nicht, weißt du. Justus war immer und absolut gegen jede Gewalt. Und er ist ja auch nicht wieder lebendig geworden, nur, weil ich ein Molotowcocktail ins Büro des hessischen Ministerpräsidenten gelegt habe. Ich schäme mich dafür. Und ich bitte dich, verzeih mir! Es war ja dann letztendlich doch nur eine kleine Bombe. Er ist nicht gestorben, wie Justus. Ich weiß selbst, dass es falsch ist, aber ich fühle mich irgendwie befreit. Und nicht nur ich. Auch Thomas. Er hat wirklich versucht, die Vergangenheit rückgängig zu machen. Und Frank sei verändert, erzählte mir Melanie. Kümmere sich mehr um die Kinder und suche sich eine Arbeit. Nur Peter ist verschwunden. Aber ich denke, vielleicht sehe ich ihn eines Morgens bei mir auf der Terrasse stehen. Dann biete ich ihm einen Kaffee an und ein Margarinebrot. Und wir blättern in Justus Fotoalbum. Du bist nicht allein, Maria aus Stein. Und ich bin es auch nicht mehr.

MiniKrimi Adventskalender am 23. Dezember


Heute und morgen präsentiere ich euch hier nochmal einen „Bibelkrimi“. Dazu muss ich nichts erläutern, er ist selbsterklärend. Viel Spaß heute beim ersten Teil.

Molotow Madonna

Prolog.

Denn alles, was entsteht, ist wert, dass es vergeht. Drum besser wär’s, wenn nichts entstünde. Johann Wolfgang von Goethe

Basilica di San Pietro, Rom. Wie lange steht sie schon  vor diesem Meisterwerk Michelangos, wie zu einem Gegenentwurf erstarrt?  In Marmor geschnittene Trauer, zur Unendlichkeit verdammt. „Signora? Lady? Itte ise closinge taime. Wire schlissene“. Der Custode steht jetzt dicht hinter ihr.  Sie riecht seinen Feierabenddunst nach Rasierwasser und Knoblauch an ihrer Schulter. Nicht unangenehm. Eher irdisch. Alltäglich. Es ist dieser Geruch mehr als seine Stimme, der sie erreicht und zurückholt aus der Erinnerung. Aus dem Traum. Eben noch hatte sie Justus Haut gespürt, kühl wie ein schattiger Stein, schweißfeucht und weich. Eben noch hatte er in ihren Armen gelegen. Und jetzt steht sie da, in der lebensleeren Kirche, und schaut auf die Pietà, diese ewige Mutter mit ihrem toten Sohn. Ausgeschlossen selbst von diesem einen großen Schmerz. Du bist wenigstens nicht allein, denkt sie, du hältst ihn fest. Ich bin einsamer als du. „Scusi. Adesso vado“,  sagt sie in die Tiefe der verlassenen Kirche hinein, geht schnell zur nächsten Tür hinaus und hinein in die Sonne, noch bevor das Echo ihrer Absätze auf dem Steinboden verhallt.

Kapitel 1

Parole, parole parole, Worte in den Wind gesprochen…… Dalida

Frankfurt am Main, 20. Juni 2004, mittags

„Gut siehst du aus! Ich hab oft an dich gedacht, wie es Dir wohl geht, was du wohl machst…“  „…ob ich wohl auch nicht zurück komme… Ob ich euch in Ruhe lasse…“ „Maria, bitte! Wie kannst du… Ahahaha, immer noch die gleiche scharfe Zunge! Daran muss ich mich erst wieder gewöhnen…“ „Willst du wirklich, dass ich so lange bleibe?“ Während Thomas zu weitschweifigen  Erklärungen ausholt, verbale Protuberanzen, wie Justus diese Art genannt hatte, mit der sich Thomas aus unangenehmen Situation herauszureden pflegte, schaute sie sich um. Eine geräumige Altbauwohnung, aufwendig und stilistischer saniert. „Was macht deine Frau denn beruflich?“, fragt sie und tastete sich Blick für Blick entlang an mokkabraunen Wänden, einem Kamin aus rotem Carraramarmor, Mahagonitischen mit exakt austarierten Bücherstapeln und üppigen Chrysanthemensträußen. „Innenarchitektin?“ „Woher weißt du das?“ Thomas klingt ehrlich besorgt. Vor allem das Ehrliche wundert sie. „Nur eine Vermutung. Du warst ja schon damals mehr an Inhalten interessiert als an der Verpackung.“ „Du erinnerst dich an unsere  nächtelangen Diskussionen? Das waren Zeiten!“

„Du und Justus, ihr konntet nichts einfach so stehen lassen. Jede These, jede Idee musste ausgereizt werden…“ „…zu Ende gedacht! Und dann entweder akzeptiert oder verworfen. Maria, dein Sohn und ich, wir hatten den Schlüssel zur idealen Gesellschaft in der Hand. Unser Plan war nicht einfach nur genial, er war der richtige! Wenn wir ihn damals umgesetzt hätten, sähe Europa heute anders aus. Keine Überalterung, kein Nord-Süd-Gefälle, keine Langzeitarbeitslosigkeit!“ „Und woran ist Euere Idee gescheitert, Thomas?“ „Keine Ahnung. Gesellschaft war noch nicht bereit? Vielleicht waren wir zu radikal? Justus  war absolut kompromisslos gegenüber dem Establishment…“ „…mit dem du ja schon geliebäugelt hast…Viktoria .. Die Bankierstochter … Ist sie das, da auf dem Foto?“

„Sie war mit dabei auf den Demos, damals. Ich hatte keine Ahnung von ihrem familiären Hintergrund. Außerdem…“ „Ja. Wo die Liebe hinfällt… Aber du hättet nicht ewig auf 2 Hochzeiten tanzen können. Morgens mit Justus und der Truppe die Weltrevolution ausrufen und abends zu Opernball und Champagnerempfang. Thomas, ich bin nicht zum Vergnügen hier. Ich habe nicht vergessen, dass du es warst, der mir geholfen hat. Geld, Papiere, eine neue Identität. Ohne Victorias Familie wäre das nicht möglich gewesen. Dass ich überlebt und den Schock nach Justus Tod überwunden habe, verdanke ich dir. Aber jetzt muss ich meinen Frieden finden. Du verstehst das doch, Thomas? Du musst das verstehen. Und du musst mir helfen“.

Thomas sitzt ganz still in seinem Sessel. Ist er eingeschlafen? Entschlafen, vielleicht? Nein. Er legt den Kopf zurück und beginnt einen verzweifelten Dialog mit der Stuckdecke. „Maria. Maria! Ich habe nie mehr etwas von dir gehört! Ich dachte, du hast ein neues Leben gefunden. Eine neue Familie, vielleicht sogar. Lass’ die Vergangenheit ruhen,  Maria. Und selbst wenn ich wollte, wie könnte ich dir helfen? Ich weiß doch auch nichts.  Ich habe zwanzig Jahre lang versucht, ein paar Stunden zu vergessen. Und es ist mir nicht einmal annähernd geglückt. Immer wieder holen sie mich ein, in diesem immer gleichen Albtraum. Und ich sehe Justus unten am Seil, wie er zu mir heraufschaut und mich anlacht. Und das Lachen wir lauter und lauter, und dann hängt er an einem anderen Seil, vom Fenster in der Gefängniszelle. Nein, Maria, ich will mich nicht erinnern! Keiner kann das von mir verlangen!“

Mit einem Ruck senkt Thomas den Kopf, reißt die Augen auf und flüstert: “bitte, geh.“ Sie sieht ihn an mit einem Blick, den er sofort erkennt, von Justus so gut kennt. Natürlich, sie ist ja seine Mutter. Und er versteht, dass sie die Wahrheit sucht. Aber er kann sie ihr nicht geben. „Versuchs doch mal bei Peter. Vielleicht kann der dir weiter helfen.“ „Peter? Und wo finde ich den? Hier in Frankfurt?“ „Jaaa. Eine Adresse hat er leider nicht. Er wohnt mal hier, mal da. Aber mittags und abends kannst du ihn in der Bahnhofsmission finden. Da holt er sich sein Margarinebrot.“ „Was? Peter? DER Peter? Euer  „Einsteinchen?“ „Was glaubst du denn, Maria? Dass Justus Tod nur dich zerstört hat? Wir waren alle total fertig, damals. Peter hat keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen. Studium geschmissen, Gelegenheitsjobs angenommen und soviel gesoffen, dass er die Probezeit nie überstanden hat. Ich helfe ihm von Zeit und Zeit und wo ich kann. Ich weiß genau, dass ich es nur Vicky zu verdanken habe, wenn ich heute nicht neben ihn am Mainkai übernachten muss“.

Thomas steht auf und geht zur Bar. Greift nach einem Cognacschwenker und einer aufwändig versilberten Karaffe. Schenkt sich großzügig ein. „Du auch einen Frapin Cuvé 1888?“ „Danke, mir ist schon schwindlig. Hoffentlich hast du Peter nichts davon angeboten, sonst kommt er noch auf den Gedanken, dass du genug Geld hättest, um ihm mehr als ein Margarinebrot zu spendieren.“ Thomas starrt in den honiggelben Branntwein. „Ja, ein Schluck hiervon würde ihn einen Monat lang ernähren. Das ist die Schmiede des Lebens. Du hast die Wahl. Bist du Hammer oder Amboss? Ich habe mich entschieden.“ Maria stützt sich mit beiden Händen auf den Sessellehnen ab. Ihre Beine sind schwer, ihre Füße geschwollen. „Ich finde hinaus“, sagt sie. Aber Thomas reagiert nicht einmal. Er steht unbeweglich am Fenster, eine schwarze, bauchige Silhouette vor einem rotvioletten Stadthimmel.

Kapitel 2

Was wollen wir trinken, sieben Tage lang, was wollen wir trinken, komm sag an! Bots

Frankfurt am Main, 20. Juni 2004, nachmittags, abends

Frankfurt Bankfurt. Das war einer der Sprüche, die auf den Transparenten standen, damals. Von wegen Occupy. In Frankfurt hatten die Studenten schon in den 1980er Jahren gewusst, welches Ende es nehmen würde, wenn die Banken nicht an die Kandarre kämen. Justus, Thomas, Frank und Peter hatten genaue Vorstellungen davon, was passieren würde, wenn die Märkte unkontrolliert wachsen und der Handel mit  Wertpapieren von Finanzjongleuren in ein Roulette verwandelt würden. Und sie hatten einen Plan entwickelt, um das zu verhindern. Politische Instrumente, die die Wirtschaft in den Dienst der Gesellschaft stellen würden. Und nicht umgekehrt. Ihre Ideen waren nicht wirklich neu. Und auch nicht revolutionär. Sie waren so logisch und leicht nachzuvollziehen, dass jeder, wirklich jeder davon überzeugt worden wäre. Wenn sie die Chance bekommen hätten, sie vorzustellen. Einer breiten Öffentlichkeit. Die Medien hätten sich darauf gestürzt, Talkshows und Interviews hätten die Truppe bekannt gemacht. Und das einfache Volk, der „deutsche Michel“, hätte zugehört. Und sich nicht weggedreht wie dieser Uniprofessor Franz Xaver von Xanten. Dabei war der Plan doch auf seinem Mist gewachsen, letztendlich. In seinen Seminaren  hatte er die Grundlagen dafür gelegt. Justus und Thomas hatten nur weiterentwickelt, was er als Grundriss skizziert hatte. Aber er? Wie Marcuse und Habermas hatte er offenbar keine Lust, mit anzusehen, wie seine Ideen Gestalt annahmen und Umsetzung….

Und heute? Zwanzig Jahre danach hat Bankfurt sein Profil geschärft. Die Skyline aus glitzernden Glasfassaden schmiegt sich an den Mainufern entlang, dazwischen Museen als sichtbares Zeichen der Allianz von Geld und Kunst. Sogar die Lokale im Bahnhofsviertel haben glänzende Schaufensterscheiben und sehen nicht annähernd so schäbig aus wie in den 80ern. Touristen und Busse, Fahrräder, dicke Autos und dazwischen dunkelhäutige Männer und Frauen mit Kopftüchern, alle in Eile, alles im Fluss. Auf der Hauptbahnhofsüdseite prallt der Lärm plötzlich von den renovierten Steinwänden ab. In der Baseler Straße riecht es nach Urin und altem Fett, und auf den Stufen der Bahnhofsmission sitzt eine Gruppe junger Japanerinnen mit mannshohen Rucksäcken und sonnenverbrannten Gesichtern.

Niemand nimmt von Maria Notiz, als sie an den Tischen und auf den Bänken nach Peter sucht. Sie ist sich sicher, dass sie ihn erkennen wird. Verwahrloster als damals kann er nicht aussehen. Schließlich fragt sie eine junge Praktikantin und nimmt ihr das Misstrauen mit der Erklärung, sie sei seine Tante und wolle ihn zum Essen einladen. „Ich fühle mich immer noch wie Mitte Dreißig, aber wenn ich mich für eine Sechzigjährige ausgebe, glaubt mir das jeder,“ merkt sie. Ihr Spiegelbild in dem blankgeputzten Fenster wirft ihr das Bild einer graumelierten, leicht untersetzten Frau mittleren Alters zurück. Mittleren Alters bei Annahme einer Lebenserwartung von 120. „Nein, tut mir leid, Herr Brenner ist heute noch nicht gekommen. Aber  schauen Sie doch mal ins Haus Windeck. Da hat er,  glaube ich, grade ein Zimmer. Er freut sich bestimmt, seine Tante zu sehen. Er hat ja so viel von Ihnen erzählt!“ Maria widersteht dem Bedürfnis, ein Missverständnis mehr in dieser Welt aufzuklären. Und geht hinaus in die Sonne der Baseler Straße, ein Margarinebrot in der Hand.

So lange war sie nicht in dieser Stadt. Sie hatte so gehofft, alle Brücken verbrannt zu haben, hinter sich. Aber während sie durch das Wirtschafts- Kultur- und Verwaltungsviertel wandert, kommen Erinnerungen geflogen wie Motten. Flattern ins Augenlicht. Justus am Römerberg. Verstecken spielen dort, wo heute die Schirn steht. Mama ein Eis, bitte! An der Kurt-Schumacher-Straße gibt sie den Kampf  gegen das Gestern auf und nimmt ein Taxi zur Windeckstraße. Die Dame am Empfang des Männerheims sieht aus wie eine Figur im Vorabendkrimi aus Hamburg.  Und sie will ihr partout nicht sagen, ob Peter hier wohnt oder nicht. „Seine Tante? Ach. Na dann lassen Sie mal ne Telefonnummer da, wenn er kommt, richte ich ihm aus, dass sie da waren“. Sie ist Majorin bei der Heilsarmee und spricht wie ein Feldwebel. Sie kennt keinen Widerspruch, und Maria wundert sich, dass die Männer hier im Wohnheim, immerhin allesamt an die rauen Stürme des Alltags gewöhnt und gewiss nicht zimperlich im Umgang mit Frauen, sich das gefallen lassen. Als wäre man ein kleines Kind. Genau, denkt sie dann. Und erinnert sich ganz unvermittelt im Gespräch an den „kleinen Peter“ und sein verschmitztes Glucksen, wenn er ihr die Augen zuhielt und fragte: „rate mal, wer das ist?“ Treffer. Mitten ins Mutterherz der Majorin. „Also für gewöhnlich sitzt er um diese Zeit auf einer Bank am Schaumainkai und betrachtet die Skyline,“ sagt sie. „Auf welcher Bank, kann ich Ihnen nicht sagen!“, schiebt sie noch hinterher, aber der Stahl in ihrer Stimme ist geschmolzen. „Natürlich, da hätte ich auch selbst drauf kommen können,“ kontert Maria, „Bänke und Banker waren schon immer seine Faszination“.

Das Mainufer im Sommer ist ein beliebter Treffpunkt. Für Verliebte ebenso wie für Hundebesitzer,  Halbwüchsige mit gesteigertem Alkohol- und Nikotinbedarf und Drogengeschäfte. Die Polizei hatte diesen Ort des flüssigen Geschehens schon in den 1980ern abgeschrieben und den Strom seinem Treiben überlassen. Maria muss nicht lange suchen. Peter hat den idealen Beobachtungsposten gewählt. Wenn es denn etwas zu beobachten gäbe, jenseits der trägdunkel dahinschaukelnden Fluten. Direkt gegenüber reckt sich der Turm der Deutschen Bundesbank in die granitgrauen Wolken, die sich drohend am Sternenhimmel zusammengeschoben haben wie ein spontan anberaumter Flashmob.

Sie setzt sich neben ihn. Einfach so. Den ganzen Weg bis hierher hat sie Worte wie Puzzleteile umhergeschoben, auf der Suche nach der richtigen Kombination für einen Begrüßungssatz. Schweigen erscheint ihr am natürlichsten. Was sollen sie sich auch sagen? Die Mutter, deren Sohn in einer Nacht vor zwanzig Jahren an der Hochhauswand auf der anderen Seite des Mains festgenommen und kurze Zeit später tot in seiner Zelle gefunden wurde, und der Freund, der dabei war, damals, der das alles überlebt hat und jetzt hier sitzt, nach Alkohol stinkend zwar, ungekämmt und wahrscheinlich sogar verlaust, aber am Leben, immerhin. 

„Du bist zurück.“ „Ja.“ „Hast aber lange gebraucht, dafür.“ „Hm.“ „Ich komme jeden Tag hierher. War mein erster Weg, gleich als sie mich aus der Haft entlassen haben.“ „Ich wollte es wenigstens versuchen. Ich habe es versucht, Peter.“ „Was? Vergessen?“ „Verzeihen“. „Und du schaffst das nicht? Ausgerechnet du? Hahaha!“ Ein hohler Laut, heiser und höhnisch, eine Lache, kein Lachen, räkelt sich träge in seiner Kehle. So schwach, es bewegt nicht einmal seinen Adamsapfel. „Und jetzt willst du dich rächen. An mir!“ „Nein, Peter. Ich will nur die Wahrheit wissen. Ich habe ein Recht darauf. Als seine Mutter.“ „Seine Mutter und mehr. Sein Vorbild. An Mut, an Tatkraft. An Entschlossenheit. Kompromisslos und direkt.“ „Und ehrlich.“ Sie flüstert es, plötzlich zuversichtlich, ihn eingeschworen zu haben, auf die Sache, ihre gemeinsame Sache. „Ehrlich? Was ist denn ehrlich? Das frage ich mich seit der Nacht damals. Immer wieder.“

„Justus war ehrlich! So ehrlich, dass er am Ende sogar gestorben ist, daran.“ „Justus? War ehrlich? Das habe ich immer geglaubt. Aber war er das wirklich?“ Peter schüttelt den Kopf, langsam, er sieht aus wie Master Joda oder  eine animierte Schildkröte aus einem japanischen Zeichentrickfilm.  Dann fängt er übergangslos an zu erzählen, und Maria braucht selbst ein paar Sekunden, um zu verstehen, wovon er redet. Von der Nacht vor genau 2o Jahren.

„Wir haben uns den ganzen Tag ausgeruht, damit wir fit sind, richtig fit. Aber ich bin so müde, als hätte ich einen Marathonlauf durch den ganzen Taunus gemacht. Wir sollen nichts trinken, hat Justus gesagt. Und nicht einschlafen. Hellwach und nüchtern sollen wir sein, sonst kann die Aktion schnell lebensgefährlich werden. Hahaha!

Wir haben geübt, das ganze letzte Jahr. Sind im Taunus rumgeklettert. Naja, eigentlich sind wir erst dort auf die Idee zu der Aktion gekommen. Wir hängen da so am Felsen, an der Lorsbacher Wand, da ruft Justus plötzlich nach unten: Hey, stellt euch mal vor, das wäre die Fassade  der Deutschen Bundesbank. Da würden die Leute gucken, was?“ Erstmal war das nur sowas wie unser Running Gag. Aber irgendwann kam einer von darauf, dass so eine Aktion, genau so eine Aktion, uns mit einem Schlag bekannt machen würde. Was wir monatelang versucht hatten, in die Presse zu kommen, einen Termin beim Bürgermeister zu kriegen, in Bonn, im Wirtschaftsministerium. Keiner wollte was wissen von uns. Und Professor van Xanten war der Schlimmste von allen. Dabei hatte der uns doch erst darauf gebracht, dass wir eine neue Ordnung brauchen, wenn nicht alles vor die Hunde gehen soll, in Deutschland. In Europa. Auf der Welt. Ungebremstes Wachstum zerstört die Erfinder, das hat er uns immer wieder gesagt. Und „der Mensch ist des Menschen Wolf“. Aber dann, als wir zu ihm gekommen sind, mit unserem Plan? „Die Revolution frisst ihre Kinder“, hieß es dann plötzlich. Und: fangt erst mal mit eurem eigenen Leben an. Macht das Studium zu Ende. Findet ’nen Job. Ne Frau. Die ganze Cat Stewens-Leier. Scheiße, Mann. Darauf hatten wir keinen Bock, nee. Also ab in den Untergrund. Und da haben wir dann die Aktion geplant. 

Die Kletterseile und Karabiner haben wir in Darmstadt gekauft, um nicht aufzufallen. Die Helme in Mainz. Magnesia hätten wir beinah vergessen. Der Rest war Übung. Hahaha! Thomas hat sich bei ’ner Putzfirma anheuern lassen und die Fassade der Deutschen Bundesbank ausspioniert. Und Fotos gemacht. Ich hab ne Skizze angefertigt von der Route. Und auswendig gelernt. Kein Papier rumliegen lassen, im Zimmer. Oder sonstwo.  Thomas geht voraus, dann ich, Justus als letzter mit dem Transparent. So isses geplant. Also packen wir alles zusammen. Fangen um vier Uhr nachmittags an, viel zu früh. Wir haben einen Fahrradanhänger dabei, sowas neues, wo man die Kinder reinsetzt. Den können wir erst beladen, wenn es dämmert. Irgend so ein Depp schaut sonst bestimmt aus dem Küchenfenster raus in den Innenhof und fragt: „Hey was mache se denn mit dem Anhänger da, habbe se uff aamal Kinner?“

Wir gehen den Plan nochmal durch. Schritt für Schritt. Melanie und Frank sichern und machen einen auf Liebespaar, dabei. Haha. Weißt du, dass die jetzt verheiratet sind, Maria? Krank, was? Thomas geht als erster. Er kennt den Weg, und er hat ein paar Griffe montiert, beim Fensterputzen. Ich kapiere bis heute nicht, dass das keiner gemerkt hat! Haha, das kommt, weil die Banker zu sehr mit der Innensicht beschäftigt sind. Da kriegste nicht mit, was vor deinem Fenster passiert.“ „Ich habe gar nicht gewusst, dass ihr klettern konntet. Justus hat nie davon erzählt.“ „Justus hat viel nicht erzählt, Maria. Ganz viel, glaube ich.“ „Und dann?“ „Dann isses dunkel und wir wollen los. Packen alles in den Fahrradanhänger. Da sagt Justus, ich komme gleich nach. Muss noch schnell was erledigen. Wie, was? frage ich. Aber Thomas sagt nur ok, ok.

Ich kapier das nicht. Ich kann das nicht ab, wenn plötzlich was nicht nach Plan läuft. Pläne sind wichtig! Ich hab meinen Plan. Jeden Morgen ein Margarinebrot am Bahnhof. Mittags wieder. Am Abend ne Suppe bei der Majorin. Und dann ein Bier hier auf der Bank. Das ist mein Plan.“ „Ja, das ist dein Plan, Peter. Aber warum hat Justus euren Plan umgeworfen?“ Maria bemüht sich, ihre Stimme tief zu halten, sich nichts von ihrer Aufregung anmerken zu lassen. „Justus hat alles kaputt gemacht. Alles. Wir sind zur Deutschen Bundesbank gefahren. Melanie und Frank haben sich abgeknutscht und dabei die Straße im Auge behalten und das Transparent. Thomas ist losgeklettert, ich soll warten, bis Justus kommt. Aber er kommt nicht. Thomas macht von oben Zeichen mit der Taschenlampe. Dann endlich kommt Justus. Ganz blass und wortlos. Klappt das Transparent auseinander, schaut mich an und sagt: wenn du keine Lust mehr hast, dann geh. JETZT. Ich glaub ich spinn. Tickt er noch richtig? Ich starre ihn an. „Ok, Mann. Dann los jetzt!“, brüllt er. So laut, dass Melanie los schreit. Und ich klettere. Einen Meter, zwei. Drei. Ich höre Justus atmen, hinter mir. Und dann wird‘s plötzlich total hell. Überall Autos und eine Stimme, wahnsinnig laut: Hier spricht die Polizei. Kommen sie sofort da runter. Werfen Sie die Schusswaffen weg und nehmen Sie die Hände hoch. Ich schau runter. Schusswaffen? Was für Schusswaffen? Jemand reißt Justus auf den Boden. Er fällt hin. Ein Bulle tritt auf ihn ein. Ich schreie. Da sieht Justus mich an. Nur mich.“

Peter stützt seinen Kopf in die Hände, krümmt sich auf der Bank zusammen, als würde er die Schläge spüren, selbst, jetzt, nach zwanzig Jahren. „Er schaut mich an. Und der Plan? Justus? Was ist mit unserem Plan?

Ich habe einen Plan. Meinen Plan. Jeden Morgen ein Margarinebrot am Bahnhof. Mittags wieder. Am Abend ne Suppe….“ „Peter, ich weiß. Peter, hör mir zu. Was war passiert, Peter? Wer hat euch verraten?“ Aber Peter hört nicht mehr zu. „Justus, warum? Van Xanten war ein Arsch. Das wussten wir. Justus, warum? Wo ist dein Plan? Ich habe einen Plan, Justus. Ein Plan ist wichtig. Jeden Morgen ein Margarinebrot…“ „Peter. PETER! Was war mit van Xanten? Peter?“ Peter wiegt seinen schmächtigen, schlecht riechenden Körper hin und her. Murmelt: „Morgens ein Margarinebrot. Das ist mein Plan.“ Dann, plötzlich, hält er mitten in der Bewegung inne. Schaut Maria mit durchdringenden rot unterlaufenden Augen an. „Haste mal‘n Bier, Mädel?“  Maria steht auf und geht. Wortlos. So, wie sie gekommen ist.

Kapitel 3

Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realismus. Alfred Hitchcock

Frankfurt am Main, 20. Juni 2004, nachts

Plötzlich kommt Maria alles zu groß vor, zu laut. Das Knirschen der Kiesel unter ihren Schritten. Die von einer Windböe geschüttelten, nachtgrauen Kastanienblätter, die Umrisse des Bootshauses am Fuß der Treppe. Die schwarzen Wellen. Es riecht nach Wasser. Und nach Pfeifenrauch. Maria bleibt stehen. Nimmt Witterung auf und saugt die Nachtluft durch die  gekräuselte Nase. Der Raucher muss auf der Treppe stehen, auf der untersten Stufe. Er will nicht gesehen werden, aber doch bemerkt. Plötzlich ist der Schaumainkai wie ausgestorben. Keine Pärchen, keine Junkies. Keine Hunde und Besitzer. Geschweige denn eine Polizeistreife.

Sie zählt im Stillen bis fünf. Dann rennt sie los. An der Schweizer Straße hält sie ein Taxi an. Lässt sich atemlos auf die Rückbank fallen. Schweiß rieselt zwischen ihren Schulterblättern den Rücken hinunter. Zieht als dünnes Rinnsaal Streifen in das Makeup ihrer Stirn, klebt in den Augenfalten und bleibt in ihren Wimpern hängen. Sie ist noch nie gerne gejoggt. Mit sechzig ist sie dafür definitiv zu alt.

Der Nachtportier hebt nur kurz den Blick von seinem Buch, als Maria die Glastür aufschiebt. Ist sie so schwer oder bin ich so schwach? fragt sie sich. Zu alt! denkt sie wieder, als sie Sekunden braucht, um sich selbst in dem Spiegel an der Wand rechts neben der Rezeption zu erkennen. „Zimmer vierzehn, bitte. Hat jemand nach mir gefragt?“ „Wieder schaut der Nachtportier von seinem Buch auf, unwillig, wie ihr scheint. Er hält es aufgeschlagen in der linken Hand, während er im Sitzen den Oberkörper verdreht und mit der Rechten ihren Schlüssel vom Haken nimmt. Das Fach dahinter ist leer. „Nee, keiner“, brummt er. Maria hat plötzlich das unwiderstehliche Bedürfnis nach  einer Konversation mit einem normalen Menschen, einem ihr freundlich gesinnten. Und ein Leser ist doch ein freundlicher Mensch, oder? „Was lesen Sie denn da?“ fragt sie ihn mit, wie sie meint, genau austarierter stimmlicher Schwingung zwischen Interesse und Neugier. „Ein Rezept für Rippche mit Sauerkraut, mei Frau is im Krankehaus un da muss isch morsche koche. Bleibt einem abber auch nix erspaat. Wolle se sich noch was mit ruff nemme? Wasser und Bier is inner Minibar.“ „Danke, sehr freundlich. Nein. Ich bin müde. Bitte, wecken Sie mich morgen um acht. Gute Nacht.“

Kein Literat, aber freundlich. Maria steigt die mit abgewetztem rotem Teppich belegten Stufen hinauf, geht links einen Gang hinunter, ihr Zimmer ist das letzte hinten im Eck. Plötzlich geht mit einem dumpfen Klack das Deckenlicht aus. In der muffigen Finsternis tastet Maria nach der Wand, hebt  gleichzeitigen den rechten Fuß – und macht einen Schritt ins Leere. Sie verliert den Halt und fällt.

Eine Stufe, noch eine, eine dritte. Die Treppe ist hart und steil. Da fühlt sie eine Hand an ihrem linken Unterarm und eine an ihrer rechten Schulter. „Vorsicht, Stufe!“ sagt eine tiefe Stimme. „Ohne Licht ist das hier lebensgefährlich, gnädige Frau.“ Als sie wieder steht, lässt der Mann ihren Arm los. „Ist Ihnen nichts passiert? Soll ich Ihnen was zu trinken bringen? Oder …. wollen wir gemeinsam einen Absacker nehmen, auf den Schreck? Drüben in Sachsenhausen, vielleicht?“ Maria steht. Wacklig noch, aber sie steht. Langsam lockert der Schreck seinen Griff. und sie beginnt wieder, zu denken und zu fühlen. Immer noch fehlt das Licht. Vielleicht ist ihr Geruchssinn deshalb geschärfter als sonst. Fein aber ganz deutlich nimmt sie den Pfeifengeruch wahr. Pflaume und Whiskey. Der gleiche wie am Schaumainkai. Sie reißt ihre Augen auf, sicher sieht er das Weiße in ihnen im Dunkeln leuchten. Sie macht sich steif, lehnt sich so weit wie möglich nach hinten. Stille. Sekundenlang nur. „Sie sollten sich in Acht nehmen, wissen Sie“, flüstert es plötzlich heiser an ihrem Ohr. So dicht, dass sie bei jedem „t“ die Spucketröpfchen spürt, auf ihrem Hals. „Vielleicht ist Frankfurt einfach nicht das richtige Pflaster für Sie. In Italien ist es doch auch viel wärmer. Gehen Sie zurück. Bevor es zu spät ist.“ Mit einem Mal ist das Licht wieder an, und hastige Schritte eilen die Treppe hinauf. „Da bin ich aber beruhigt, dass Ihnen nichts passiert ist, gnädige Frau“, ruft der Pfeifenraucher überlaut in Richtung Gang. „Gute Nacht“ Und, leise: „Denken Sie an meinen Rat“.

„Iss Ihne werklisch nix bassiert?“ fragt der Nachtportier. Er ist ehrlich besorgt. „Das is in dreissich Jahre noch ned vorkomme. Da is einfach die Sischerung rausgefalle. Isch hab se grad widder reigedreht“.

„Danke, alles ist gut“, sagt Maria. „Nichts ist gut“, denkt sie und schließt die Tür ihres Zimmers zweimal ab.

Kapitel 4

In der Armut liegt ein Glanz verborgen, der Glanz des Authentischen. Ernesto Cardenal

Frankfurt am Main, 21. Juni 2004, am späten Vormittag

Alles sieht ganz anders aus und trotzdem genau wie früher. Die Fressgass war in den Achtzigern die Gourmetmeile Frankfurts, wo alle, die es sich leisten konnten oder so tun wollten, als ob sie das könnten, sich mit Lebens- und Genussmitteln eindeckten. Gänseleberpastete, Champagner, erlesene Parfums, feine Zigarren. Heute sind noch ein paar Läden mit biologischen Spezialitäten hinzu gekommen und einem Gütesiegel, dass die Verdoppelung eines überteuerten Preises rechtfertigt. Aber auch hier das für Frankfurt so typische Gedränge aus Menschen aller Haut-, Haar- und Augenfarben. Frauen in High Heels und Miniröcken, Frauen in Burkas, Frauen mit Pekinesen und Frauen mit Kinderwagen. Männer in Anzügen und Manschettenknöpfen, Männer mit Jelaba. Blonde Kinder mit heller Haut und dunkle Kinder mit Mandelaugen. Dazwischen Asiaten in Söckchen und Gruppen mit Fotoapparaten vor dem Bauch. Jetzt im Sommer  fallen sie wieder in Scharen ein. Touristen aus Amerika, aus Japan, sogar aus Russland. Vor der Konditorei Lochner bleibt sie stehen, plötzlich gepackt von der Lust auf Bethmännchen. Sieben Euro verlangt die Verkäuferin. Sie ist barsch und spricht sächsisch. Beides ist neu in der Fressgass, stellt Maria fest. Die Zeiten haben sich eben geändert. Mit der Bethmännchentüte in der Hand geht sie weiter zum Kornmarkt.

Um Wackers Kaffeegeschäft scheint die Zeit einen Bogen gemacht zu haben. Drinnen sieht es noch genauso aus wie in den Achtzigern. Die blank blitzenden Kaffeeschütten, die hohe Theke, auf der sich Schokoladen, Plätzchen und allerlei kleine Geschenke einladend türmen. Die kleinen wackeligen Tischchen und an jedem mindestens eine Person zu viel. Alle lachend, alle redend, Kaffee trinkend. Nur die Luft ist anders, heute, bemerkt Maria. Früher hatte jeder eine Zigarette in der Hand. Das gehörte dazu, zum Sehen und Gesehen werden. Wie oft hatte sie sich mit Justus hier verabredet. Sie kam aus dem Verlag und er aus der Uni. Sie wollte ihm nicht nachspionieren. Erwachsene Kinder sind zwar immer noch deine Kinder, aber sie sind eben auch erwachsen. Deshalb respektiere ihre Privatsphäre, so, wie du es dir von ihnen und von jedem anderen Menschen für dich wünschst. Das war Marias Maxime gewesen. Und je deutlicher sie diese geäußert und vor allem gelebt hatte, um so lieber hatte sich Justus mit ihr getroffen.

Und nicht nur er. Auch seine Freunde liebten es, mit Maria zu diskutieren. Über das Habermas-Interview in der taz, über den Washington-Consensus in der Wirtschaftstheorie und über den Club of Rome. Sie mochten ihre „anarchistischen Anschauungen“, wie Thomas sie nannte. Der Tisch ganz hinten am Fenster war ihr Stammplatz gewesen. Unwillkürlich geht Maria in den Laden. Hinter der Theke fremde Gesichter. Ihr Platz ist besetzt. Natürlich. Es duftet nach frisch gemahlenem Kaffee und Brötchen. Maria schließt die Augen. Für einen Moment erwecken diese vertrauten Düfte die Vergangenheit wieder zum Leben. Und sie sieht sich dort sitzen, eine dynamische, noch junge Frau mit braunen Locken, großer Brille und feinen Falten um Mund und Augen, Lachfalten, Glücksfalten. Um sie herum junge Studentinnen und Studenten. Lebenshungrig. Wissensdurstig. Voller Tatendrang und dem Wunsch, die Welt zu verändern. Zu verbessern.

Und? Was haben sie erreicht? Nichts! Die Welt dreht sich weiter, aber Justus ist tot. Nein. Das ist nicht seine Schuld und nicht die Konsequenz seiner Ideen, seiner Überzeugung. Das ist die Schuld eines anderen. Eines Menschen mit bösen Hintergedanken und ausreichender Macht, um sie auszuführen. Wenn Justus Tod nicht umsonst sein soll, dann muss Maria diesen Mann finden. Und zu Ende bringen, was Justus nicht anfangen konnte. „Was kann ich für Sie tun? Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Wir haben eine ganz neue Mischung! Wollen Sie sich einen Moment setzen? Da hinten wird grade ein Tisch frei“. Maria lächelt. Sie lächelt, als sie sich auf ihren alten Platz setzt. Lächelt mit der Kaffeetasse am Mund. Lächelt die Leute am Nebentisch an. Sie weiß jetzt, was sie tun muss. Wie Michelangelos Pietà in der Basilica von San Pietro wird sie die Erinnerung an ihren Sohn bewahren und halten.

„Entschuldigung, ist hier noch frei?“ Die Frau ist nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht alt. Mitte vierzig, schätzt Maria. So wie sie damals. Irgendetwas an ihr wirkt vertraut. Die Stimme mit ihrem Klang nach leicht gesprungenem Glas? Die prüfend unter gesenkten Wimpern hervorstechenden Blicke? Die zärtliche unbewusste Bewegung, mit der ihr linker Mittelfinger über den rechten Handrücken streicht? Damals waren die Hände weicher, heller, nicht so rissig, und auch die Adern kamen nicht so deutlich hervor. „Melanie. Melanie Wenzel!“ Die Frau beugt sich mit einem Ruck nach vorne. Schießt einen Blick auf Maria ab, der sich in ihren Augen verhakt. „MARIA! Was machst du denn hier in Frankfurt? Warst du immer hier? Die ganzen Jahre?“ Maria liest die Sorgen aus Melanies  Fältchen, kleine Alltagsnöte, zuviel Monat übrig und kein Geld mehr da, Schulprobleme. Und große Lasten. Kein Job in Aussicht, kein Argument gegen Franks Alkoholkonsum. Und immer wieder die Erinnerung an damals. Natürlich, warum wäre sie sonst hier, heute Mittag? Sorgfältig faltet Maria Melanies Kummer in die Papierserviette vor sich. Schiebt sie unter die Kaffeetasse und sagt: „Zwanzig Jahre lang habe ich meinen Mut gehäufelt. Jetzt bin ich hier. Wegen Justus. Wegen mir. Und wegen dir. Und Frank und Peter. Ich will wissen, was passiert ist. Ich bin stark genug für die Wahrheit und entschlossen genug, um sie herauszufinden. Und dann, wenn alles klar ist, können wir einen Schlussstrich ziehen  und ein zweites Mal anfangen zu leben. Zu denken. Zu planen. Das bin ich euch schuldig.“ Melanie rührt mit dem Löffel in ihrem Kaffee. Kleine kreisende Bewegungen, die immer schneller werden. Bis braune Tropfen auf die weiße Tischdecke schwappen. „Ohne aufzuschauen, Maria anzuschauen, sagt sie, und sie betont dabei jedes einzelne Wort: „Komm. Wir gehen zu Frank.“

MiniKrimi Adventskalender am 22. Dezember


Kein richtiger Krimi, schlussendlich. Stimmt. Aber – was würdet Ihr sagen, wenn Euch das passieren würde? Keine Sorge, lehnt Euch entspannt zurück, in der Gewissheit, dass Euer Heiligabend ganz sicher weniger aufregend ablaufen wird.

Die Weihnachtserbin

Heiligabend: Frida hat ihren Mann Jan und die Kinder auf den Weihnachtsmarkt geschickt, um in Ruhe die letzten Vorbereitungen für das Weihnachtsfest zu treffen. Alles wie jedes Jahr, sie erwarten Oma Anita, Opa Bernd und Jans arroganten Bruder David. Sie gilt als perfekte Gastgeberin. Aber heute fragt sie sich, ob sie in den letzten Jahren, seit sie in das Haus am Stadtrand von Berlin gezogen sind, nicht zu oft nachgegeben und zu wenig an sich gedacht hat. Ihr Blick fällt auf die rote Küchenuhr, die ihre besten Tage hinter sich hat. Vielleicht geht es mir genauso, denkt Frida. Und sie spürt, wie so etwas wie Unmut in ihr aufsteigt und Unzufriedenheit. Da klingelt es an der Tür. Wer kann das sein?

„Ja, bitte?“, fragt sie in das Schneegestöber. Vor ihr steht ein Mann mit roter Mütze. Nein, nicht der Weihnachtsmann, das erkennt Frida an der grimmigen Miene, mit der er ihr einen aufgeweichten Umschlag entgegenstreckt. „Frida Rosenzweig?“, schnauzt er sie an. „Ja. Haben Sie was gegen meinen Namen?“ „Ist mir egal, solange er auf dem Briefkasten steht.“ „Aber das tut er doch nicht!“ „Eben. Deshalb musste ich so lange suchen. Eilauftrag vom Kunden. Und das an Heiligabend. Hier, unterschreiben!“ Natürlich passt ihr ganzer Name, Kahler-Rosenzweig, nicht auf das Signaturpad. Ebenso wenig wie auf den Briefkasten. „K. Rosenzweig“ krakelt Frida auf das Pad, dann stürmt der Mann zurück auf die Straße.  „Frohe Weihachten“, ruft sie ihm hinterher, um ihrem perfekten Image noch irgendwie gerecht zu werden.

Dann setzt sie sich mit dem Brief in die Küche. Dr. Ernst R. Schreck, Notar, steht auf dem Umschlag. Er enthält die Einladung zur „Testamentseröffnung im Erbfall Pepita Rosenzweig“ am 24.12.2015, 13 Uhr, in der Straße zum Löwen 12 in Wannsee. Frida schaut auf die Küchenuhr. Fünf vor zwölf. Wie passend, denkt sie. Was mache ich jetzt? Du kannst da unmöglich hin, sagt die perfekte Gastgeberin in ihr. Die Vorbereitungen! Na und, antwortet  eine Stimme, die Frida nicht mehr gehört hat, seit sie hier eingezogen ist. Denk an dich! Pepita muss Oma Anitas totgeschwiegene Zwillingsschwester sein. Bestimmt hat sie dir was vererbt, sonst hätte dich dieser Schreck nicht eingeladen.

Frida  schaut sich in der Küche um, sieht die abblätternde Farbe an den Fensterrahmen, die angeschlagenen Kacheln. „Willst du  so weitermachen? Das Haus muss dringend renoviert werden. Aber dafür fehlt euch das Geld. Jan ist lieb und nett, aber er verdient nicht genug. Nimm die Sache selbst in die Hand. Zieh den Mantel an und geh.“

Und das tut Frida. Der Weg nach Wannsee über leergefegte Straßen ist kürzer als gedacht. Das Anwesen Nummer 12 entpuppt sich als majestätische Gründerzeit-Villa mit Auffahrt und Freitreppe. Frida parkt den alten Familienvolvo direkt neben einem grün funkelnden Jaguar XJ. Sie  wird erwartet, in der Tür steht ein untersetzter Mann mit Kugelbauch und schütterem Haar. Auch kein Weihnachtsmann, konstatiert Frida mechanisch. „Frau Rosenzweig, schön, dass Sie da sind. Schreck“, sagt er mit öliger Stimme.

Die nächste Stunde vergeht wie im Traum. Das getäfelte Arbeitszimmer, die hohen Stühle. Das Video, in dem eine Frau wie ein Rabe im schwarzen Kleid mit funkelnden Knopfaugen sagt, dass sie Haus, Auto und Bankkonten ihrer Großnichte Frida vererben will. „Die einzige Bedingung, die du erfüllen musst“, krächzt ihre brüchige Stimme aus den Lautsprechern, „ist, zu beweisen, dass du nicht so verlogen bist wie der Rest meiner Familie.“ „Und wie?“ fragt Frida. „Ganz einfach“, erklärt der Notar, „Sie müssen vollkommen ehrlich sein. Und zwar alle.“ „Das sind wir doch immer“, strahlt Frida. Wenn’s weiter nichts ist. In Gedanken zieht sie schon in die prachtvolle Villa ein. Das Treppengeländer ist eine prima Skater-Rail für Finn, und im Garten könnte Annas Pony stehen. „Gehen wir?“ Dr. Schreck sieht sie auffordernd an. „Wir? Wohin?“ „Zu Ihnen nach Hause. Ihre Großtante hat mich mit der Überprüfung Ihrer Ehrlichkeit betraut“. 

Die Rückfahrt verläuft schweigsam. Bestimmt würde Dr. Schreck den Heiligen Abend lieber woanders verbringen. „Mein Gänsebraten ist vorzüglich“, flötet Frida und öffnet die Tür. Rauchschwaden vernebeln die Sicht, ein beißender Geruch nach verbranntem Fleisch straft ihre Behauptung Lügen. Mit einem Schrei stürzt Frida in die Küche. Sie hantiert immer noch hektisch mit Töpfen und Pfannen, als Jan und die Kinder nach Hause kommen. „Was ist denn hier passiert?“ Anna rümpft die Nase. „Das stinkt.“ „Kinder, riecht doch lecker.“ Jan will die Stimmung retten. Da sieht er den rundlichen Mann, der Frida ein spöttisches Lächeln zuwirft. „Das gilt noch nicht“, sagt sie hastig. „Erst muss ich alles erklären.“

Jan runzelt kritisch die Stirn. Aber die Kinder sind begeistert. „Zum Glück ist die dumme Gans angebrannt“, ruft Finn. „Jetzt gibt’s Spaghetti mit Tomatenketchup, ok?“ „Das fängt ja gut an“, wispert Frida ihrem Mann zu. „Das wir noch viel besser“, antwortet er.

Statt eines „Du wirst immer jünger, wie machst du das bloß?“ hilft Jan Oma Anita mit der Bemerkung aus dem Mantel: „Du hast ganz schön zugenommen!“ Und Finn brüllt: „Pelz ist Mord! Freiheit für alle Tiere jetzt sofort!“ Opa Bernd erlangt nach Fridas Erklärung zu diesem „etwas anderen“ Heiligabend als erster die Fassung wieder. „Wir können endlich aufhören mit dem Theater, Anita.“ Dann fragt er: „Frida, darf mein Mann dazukommen?“ Denn Bernd und Anita gehen schon lange getrennte Wege. Sie unterhält einen Swingerclub auf Malle, und er hat seine heimliche Liebe Adam geheiratet. „Glaubt bloß nicht, dass ihr den Sommerurlaub bei mir verbringen könnt“, warnt Anita vorsorglich. “Ihr seid viel zu spießig für meine Gäste.“ Frida wundert sich, warum Anita und Pepita sich nicht vertragen haben. Wo sie sich so ähnlich sind. Zwillinge eben.

Als David kommt, macht es ihr sogar richtig Spaß, ehrlich zu sein. „Du bist viel zu spät. Wie immer. Gut, so haben wir wenigstens ohne deine Anzüglichkeiten essen können“, wirft sie ihm an den Kopf. Und setzt noch eins drauf: „Wir haben kein Geschenk für dich. Du bringst ja auch nie was mit.“ „Stimmt nicht“, antwortet David, zieht ein zerknülltes Päckchen aus der Manteltasche und beweist seine Anpassungsfähigkeit an die besonderen Umstände mit der Bemerkung: „Beim Ausmisten habe ich deine alten Topflappen gefunden, die musst du bei mir vergessen haben, als du zu Jan gezogen bist. Hier – stehen dir ganz wunderbar“.

Da stößt Finn einen Wutschrei aus. Anna und er haben ihre Geschenke ausgepackt. Der Junge hält einen Chemiebaukasten in die Höhe. „Papa. Was soll das? Wo ist mein neues Skateboard?“ „Kannst du mir mal sagen, warum dieses Kind sich für nichts von alledem interessiert, was mir als Kind Spaß gemach hat?“, fragt Jan leise seine Frau. „Das liegt vielleicht daran, dass er gar nicht dein Sohn ist, sondern der deines Bruders“, flüstert Frida zurück. Was für ein Albtraum, denkt sie. Und: hätte ich bloß diesen Brief nie bekommen!

Der Rest des Abends versinkt im Chaos. Bernd hat sich von Adam abholen lassen. David haben die beiden gleich mitgenommen, mitsamt dem Veilchen, das ihm Jan verpasst hat. Anita sitzt mit Dr. Schreck auf der Terrasse und raucht einen Joint. „Das habe ich mir auf Malle angewöhnt. Hilft super gegen Arthrose“. Jan hat die Kinder ins Bett gebracht. Jetzt steht er im Schlafzimmer und packt seinen Koffer. „Mensch Jan, bitte. Es tut mir so leid. Das war einfach alles zu viel für mich“, sagt Frida und macht eine ausladende Armbewegung. „Alles“ meint dieses Leben. „Wollen wir es nicht noch mal versuchen? In Tante Pepitas Haus? Ohne Sorgen?“ „Und wie bringen wir Dr. Schreck dazu, in uns eine ehrliche Familie zu sehen?“, fragt ihr Mann. „Hm, wir geben ihm einfach so viel zu trinken, dass er sich morgen an nichts mehr erinnert!“

Am 25. sitzen alle beim Frühstück. Frida und Jan, Finn, Anna und Oma Anita, als Dr. Schreck die Treppe hinunter kommt. Sein Aussehen macht seinem Namen alle Ehre. „Guten Morgen“, ruft Frida gut gelaunt. „Schauen Sie, die perfekte ehrliche Familie!“ „Von wegen“, sagt Schreck. „Sie sind verlogen! Sie haben mich gestern betrunken gemacht, damit ich mich an nichts erinnere. Aber hier, ich habe alles aufgenommen“, und er zeigt auf sein Handy. Da klingelt es an der Tür. „Das ist mein Taxi. Auf Nimmerwiedersehen, Familie Kahler-Rosenzweig,“ „Halt, Sie können uns doch nicht so einfach sitzen lassen, nach allem, was wir wegen Ihnen durchgemacht haben“, ruft Frida verzweifelt und versucht, ihn festzuhalten. Es klingelt ein zweites Mal. „Lassen Sie mich los“, faucht Dr. Schreck. Aber Frida ist mit ihren Nerven völlig am Ende. Soll Dr. Schreck ihrenTraum von einer rosigen Zukunft zum Platzen bringen? Sie greift nach dem schweren Klöppel, der am Eingang neben dem alten Gong hängt. Und schlägt zu.

Als es zum dritten Mal klingelt, fährt Frida zusammen. Ist sie doch glatt am Küchentisch eingenickt! Es riecht nach verbranntem Braten, und durch dicke Rauschschwaden fällt ihr Blick auf die rote Uhr. So spät! Sie rennt zur Tür. „Schatz, wir haben die Zeit vergessen, nicht böse sein!“ Jan legt ihr mit beschwichtigender Mine den Arm und die Schultern. „Macht nichts!“ Frida strahlt ihre Familie an. „Ich bin auch noch nicht fertig. Hatte wichtigeres zu tun. Was haltet ihr davon, wenn wir Heiligabend heute mal anders feiern? Nicht perfekt, aber dafür so, dass alle Spaß haben?“ „Au ja“, ruft Anna. „Können wir statt dem Gänsebraten Spaghetti essen?“ Und Finn ergänzt hoffnungsvoll: „Mit Tomatenketchup?“

MiniKrimi Adventskalender am 21. Dezember


Diesen MiniKrimi hat die wunderbare Birgit Schiche geschrieben – Ihr erinnert euch sicher an sie, sie hat schon letztes Jahr den Kalender mit ihren bezaubernden, amüsanten und tiefgründigen Geschichten bereichert. Ihr könnt sie direkt besuchen auf www.planb-schiche.de.

Viel Spaß mit ihrem MiniKrimi.

Advent des Schreckens

Diana wohnte noch nicht lange in der kleinen Reihenhaussiedlung. Sie war hierhergezogen, nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte. Sie hatten sich immer mehr auseinandergelebt, nicht mehr am Leben des jeweils anderen teilgenommen, sich gestritten und angeschrien – bis ihr Mann schließlich sogar gewalttätig wurde. Die Scheidung war sehr unschön gewesen, Ralf hatte sie partout nicht gehen lassen wollen. Diana war seitdem ängstlich und sehnte sich nach Ruhe und einem Neuanfang. Hier, in der kleinen Stadt, wo sie niemand kannte, wollte sie sich ein neues, unbeschwertes Leben aufbauen. Ihre Nachbarn hatte sie bisher nur flüchtig kennengelernt, man grüßte sich freundlich. Doch jetzt in der Adventszeit hatten offenbar alle zu viel zu tun, gingen zu Familientreffen, besorgten Geschenke, erledigten bei der Arbeit schnell noch die letzten wichtigen Aufgaben zum Jahresabschluss. Da blieb keine Zeit für nachbarschaftliche Treffen.

Diana war allein, ohne Angehörige und in der neuen Stadt auch noch ohne Freunde. Auf weihnachtlichen Schmuck hatte sie weitgehend verzichtet, ihr war gerade nicht nach besinnlicher Stimmung zumute. Die sonst so geliebten Lichterketten und Christbaumkugeln blieben im Umzugskarton, in ihrer Wohnung war es eher dunkel und trist, ebenso draußen auf der Terrasse und im Garten. Sie fand es gruselig, aus dem Fenster nur in tiefe Dunkelheit zu starren. Die Treppen im schon etwas betagten Reihenhaus knarrten hin und wieder einfach so, als hätte das Haus ein eigenes Leben, es war unheimlich. Manchmal schien es ihr auch, als raschelte etwas in den Wänden. Am liebsten verzog sich Diana abends schnell ins Schlafzimmer und ins Bett. Dort fühlte sie sich sicher.

Zum wiederholten Mal bemerkte sie, dass Kleinigkeiten von ihrer Terrasse verschwunden waren. Einer von ihren Garten-Clogs aus Plastik, nacheinander beide Gartenhandschuhe. Sie hatte die Dinge zuletzt gebraucht, als sie ihre Beete am Rande der Terrasse mit Tannenzweigen abgedeckt und so winterfest gemacht hatte. Ihre Mütze, die sie auf der kleinen Terrassenbank vergessen hatte, war ebenfalls verschwunden. An der Vorderseite des Hauses fehlte plötzlich der kleine Weihnachtsmann, den sie vorne als einzigen Adventsschmuck in das Mini-Bäumchen im Blumenkübel gehängt hatte. Und dann diese unheimlichen Geräusche, als würde jemand heimlich in der Dunkelheit durch den Garten schleichen. Leider lag kein Schnee, sonst hätte sie nach Fußspuren gucken können. So malte sie sich in ihrer Fantasie einiges aus und wurde langsam immer panischer. Als eines Abends das Telefon klingelte und gleich, nachdem sie sich gemeldet hatte, wieder aufgelegt wurde, überschlugen sich ihre Gedanken.

Wer machte denn sowas? Die gestohlenen Dinge hatten doch keinen materiellen Wert, höchstens einen persönlichen. Und dann dieser Anruf gerade. Langsam wuchs der Verdacht in ihr: Sie hatte einen Stalker. Ob ihr Ex-Mann ihre neue Adresse herausbekommen hatte? Sie erneut bedrängen und ihr drohen wollte? Oder hatte er einen seiner unsympathischen Kumpel dafür angeheuert? Diana fröstelte. Angst stieg in ihr auf und ließ sie nicht mehr los. Tag für Tag kreisten ihre Gedanken um die neue Bedrohung, jeden Tag neue Horrorfantasien, das war ihr ganz persönlicher Adventskalender. Inzwischen war der vierte Advent bereits vergangen.

Diana war allein mit ihren angsterfüllten Gedanken und inzwischen ein schreckhaftes Nervenbündel. Es war erneut etwas verschwunden – die kleine Kunststoffschaufel, mit der sie jeden Tag Vogelfutter aus dem großen Eimer ins Vogelhäuschen an der Terrasse füllte. Wer stahl so eine billige kleine Schaufel? Doch nur jemand, der sie nervös machen wollte. Ihr sagen wollte: „Ich bin hier, fühle dich ja nicht zu sicher!“

Inzwischen hatte sie sich billige dunkle Vorhänge fürs Wohnzimmer gekauft. Sie fand sie absolut nicht schön, konnte sich aber abends dahinter verstecken und die Welt vor dem Wohnzimmerfenster und der Terrassentür ausschließen. Doch die Geräusche, leises Rascheln wie von Schritten im Garten, drangen dennoch zu ihr durch und ließen sie aufschrecken. Der eisige Wind, der abends ums Haus blies und an den Baumkronen rüttelte, machte es noch unheimlicher.

„Advent, das lateinische Wort für Ankunft“, dachte sie. Ob Ralf ein perfides Spiel damit trieb? Das würde zu ihm passen. Sie schauderte und bemerkte, dass ihre Hände ständig ein wenig zitterten.

An den letzten Tagen vor Weihnachten wollte es gar nicht richtig hell werden. Morgens war es noch stockdunkel, wenn Diana nach der abonnierten Tageszeitung schaute. Als dem Nachbarn nebenan der Schlüssel klirrend aus der Hand fiel, schrie Diana leise vor Schreck auf. Der Nachbar, ein Mann in den Fünfzigern, immer noch ganz gutaussehend, sah besorgt zu ihr rüber und machte einen Schritt auf sie zu.

„Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“

„Ja, ja“, winkte sie ab und verschwand schnell wieder im Haus.

Am Abend sah sie den Nachbarn nach Hause kommen, bepackt mit mehreren Einkaufstaschen und einer großen Packung Katzenstreu. Eine Katze hatte sie hier noch gar nicht gesehen. Eigentlich mochte sie Tiere. Damit hatte der Nachbar zumindest einen Pluspunkt bei ihr.

Am nächsten Morgen passte sie ihn ab, als er das Haus verlassen wollte. Natürlich ließ sie es möglichst zufällig aussehen. Sie entschuldigte sich für ihren ängstlichen Schrei vom Vortag und stellte sich als neue Nachbarin vor. Er hieß Martin und wohnte auch erst seit einem knappen Jahr hier.

Sie verabredeten sich zum Abend auf ein Glas Wein. Es tat Diana gut, endlich mal nicht allein zu sein und von ihren ängstlichen Gedanken an Ralf und den Stalker abgelenkt zu werden.

Martin erzählte gerade, dass er eigentlich gar kein Haustier haben wollte. Doch der pechschwarze, etwa acht Jahre alte Kater gehörte quasi zum Haus.

„Katzen sind sehr territorial, sie verlassen manchmal lieber ihre Menschen als ihre gewohnte Umgebung. So bin ich nun Katzenbesitzer geworden“, meinte er leise lachend. „Und das Lustigste ist dabei“, sagte er und legte eine spannungsfördernde Kunstpause ein, „dass Baghira mir ständig Geschenke nach Hause bringt und auf die Fußmatte legt. Nicht etwa erjagte Mäuse, die hier in den alten Häusern durchaus vorhanden sind – man kann sie manchmal in den Wänden rascheln hören. Nein, dieser dusselige Kater schleppt mir ständig Sachen an, die er irgendwo findet oder klaut. Schuhe, Gartenhandschuhe, Kinderspielsachen, Tücher, kleine Schäufelchen, letztens sogar einen kleinen Plüschweihnachtsmann!“, zählte er nun laut lachend auf. Für einen Moment war Diana wie versteinert, doch dann brach es auch aus ihr heraus, ein fröhliches, ungebremstes Lachen über Baghira, den samtpfötigen Stalker und Dieb, und über Mäuse, die in den Wänden und im Garten raschelten.

Sie hatte einen Freund gefunden. Nein, eigentlich zwei: Martin und Baghira. Diana war angekommen in ihrem neuen Leben, und Weihnachten konnte ein unbeschwertes Fest werden. Hallelujah.

MiniKrimi Adventskalender am 20. Dezember


Heute: der MIniKrimi im Doppelpack. Denn ich kann mich nicht entscheiden. Also überlasse ich euch die Wahl. Welcher ist besser? Unter allen Antworten verlose ich ein Exemplar meines winterlichen Fünf-Seenland-Krimis „Miniataurus“, passend zur Jahreszeit.

  1. Saitenwechsel

Er kam unerwartet früher als geplant von der Dienstreise zurück und wurde von schrillen Dissonanzen empfangen. Seine Frau Gina hatte offensichtlich ein neues Hobby: sie übte Violine. „Diese Seite von dir kannte ich noch gar nicht,“ sagte er und ergriff  – bildlich gesprochen und wörtlich genommen – die einmalige Gelegenheit, eine andere Saite seines Lebens aufzuziehen, nachdem er die alte G-Saite runtergedreht, ausgefädelt, die neue Saite eingefädelt und einmal fest über das Ende ihres Halses gewickelt hatte.

2. Gestreift

„Wie süß, Schnucki, dass du mich doch noch mitgenommen hast, in deinen Skiurlaub. Eine Woche ohne dich, das hätte ich nicht ausgehalten. Ich will dich doch jede Sekunde bei mir haben.“

„Klar, mein Zuckerstückchen. Eine Woche Kitzbühel nur mit meinen Freunden – das wäre ja nicht zum Aushalten gewesen.“

Sie kichert. Und fragt: „Schnucki, hier steht Streif. Ist das auch ganz sicher eine Anfängerpiste?“

„Ganz sicher, mein Häschen. Da kommst du ohne zu schieben gar nicht voran. Deshalb habe ich deine Skier heute morgen extra nochmal gewachst. Und jetzt ab mit dir.“

„Ahhhhhhhhh!“

MiniKrimi Adventskalender am 19. Dezember


In der Kürze liegt die Würze. Oder Mut zur Lücke? Vielleicht möchte ich aber auch nur einmal einen MiniKrimi OHNE Tippfehler veröffentlichen?

Alles und nichts von alledem. Heute Morgen las ich auf einer FB-Gruppe (für Krimi Autor*innen), deren Mitglied ich bin, folgende Tagesaufgabe: Minikrimi mit Handycap: max 30 Worte und keines darf 2x vorkommen.

Gesagt, getan. Ja, ich kann auch kurz und kürzer. Und Ihr freut Euch vielleicht, dass Ihr heute nicht so lange auf das Krimi Türchen warten müsst und schneller ins Bett kommt. Oder zu den noch nicht erledigten Vorweihnachtsaufgaben.

Et voilà. Der Titel wird übrigens nicht mitgezählt. Ebensowenig wie die Anführungszeichen.

Date à la carte

„Schatzi, wir ham nur noch eine Keule inner Truhe. Du musst wieder in die Dating App. Such diesmal aber bitte was mit mehr Fleisch auf den Rippen aus.“

MIniKrimi Adventskalender am 18. Dezember


Schneekönigin

Draußen fallen weiße Flocken dicht an dicht. Der Wind treibt sie gegen das Fenster, sie gleiten am Glas herunter, kleine weiße Kometen mit einem Schweif aus glitzernden Wasserkristallen. „Josh, komm weg vom Fenster, da ist es so zugig, du erkältest dich noch.“ „Mama“, antwortet der Junge, „nein, vielleicht kommt jetzt gerade in diesem allereinzigen Moment die Schneekönigin zu mir geflogen. Wenn ich sie dann nicht sehe, nur, weil unsere Fenster undicht sind, dann….“ „Was dann, Josh? Du weißt schon, dass die Schneekönigin nur in der Fantasie von Hans Christian Andersen existiert hat? Und in den Filmen, die daraus entstanden sind?“ „Nein, Mama, das stimmt nicht. Andersen hat sie vielleicht ENTDECKT. Und die Filme haben seine Geschichte wiederholt. Aber das ändert nullkommanix daran, dass es sie gibt. Beweis: die Schneeflocken.“

„Komm her, Kind“, die Mutter zieht den Kopf des Jungen zu sich und nimmt ihren Sohn kurz und fest in den Arm, bevor er ihr die Zusammensetzung eines Schneekristalls erklären kann. Da ist es wieder, das leise Nagen, das sich vom Kopf über das Herz in ihren Magen windet. Josh ist leicht autistisch und außerdem hochbegabt. Mit all den Problemen, die das mit sich zieht. Wenn er in eine besondere Schule gehen, intensive Förderung und Motivation bekommen könnte. Vielleicht wäre er ein Computer-Genie, oder ein Weltklasse-Pianist. Sportler. Was auch immer. Aber sie kann ihm das alles nicht bieten. Die psychologische Betreuung, die die Schule organisiert hat, hat ihm bis jetzt nicht sichtbar geholfen. Josh ist ein aufsäßiger Außenseiter, der immer mehr in seine Traumwelt abgleitet.

Irgendwann, denkt die Mutter manchmal, wache ich auf, schaue in die Nacht und erkenne meinen Sohn draußen im Universum. Major Tom. Ohne Weg zurück.

Sie ist alleinerziehend. Vor der Pandemie hatte sie eine kleine Musikschule für Kinder und Erwachsene. Das ließ sich online nicht durchziehen. Jetzt arbeitet sie als Aushilfe in einem Café und in einem Supermarkt. Das Geld reicht trotzdem kaum für Miete, Essen und das Allernötigste für Josh. Extras, Schulen, Kurse, eine Reise – nicht drin.

An Abenden wie diesem ist sie der Verzweiflung besonders nahe. Weihnachten steht vor der Tür. Wie gerne würde sie ihrem Sohn all seine Wünsche erfüllen. Nicht, dass er ihr auch nur einen verraten hätte. Aber sie würde ihm so gerne einen rundum glücklichen Weihnachtsabend schenken. Mit einem schönen großen Baum, einem festlich gedeckten Tisch, etwas Besonderem zu essen. Scampi, vielleicht. Von denen hatte er noch lange nach der Sommerwoche mit seiner Patentante in Kroatien geschwärmt. Stattdessen muss sie am 24. bis Ultimo arbeiten. Wenn nicht, wird eben eine andere eingestellt. An Interessentinnen mangelt es nicht. Das hat die Chefin ihr unverblümt gesagt. „Und kommen Sie mir nicht mit der Gewerkschaft. Sonst sind sie gleich draußen.“

„Ach, Josh“, seufzt sie, geht in den kleinen Flur, holt ihren dicken Schal und legt ihn dem Jungen um die Schultern. Der ist so auf das Schneegestöber draußen konzentriert, dass er davon gar nichts mitbekommt.

Am nächsten Tag ist im Supermarkt der Magen-Darm-Virus ausgebrochen. Die Hälfte der Mitarbeitenden hat sich krank gemeldet. Die Mutter schickt Josh eine Nachricht aufs Handy: Schatz, ich kann heute nicht vor 21 Uhr heimkommen. Kriegst du das hin, alleine? Sonst klingele bei Piet.“ Sekunden später antwortet der Sohn: „Mama, echt jetzt? Ich bin doch gerne allein. Nein, Piet ist immer so anstrengend. Soll ich dir was zu Essen machen?“ „So lieb von dir, aber nein. Danke! Ich bring uns was Abgelaufenes mit, was Leckeres, versprochen!“ Sie zerdrückt eine Träne und hastet wieder an die Kasse.

Josh holt seinen Teller aus dem Kühlschrank, stellt ihn in die Mikrowelle, 5 MInuten. Er deckt den Tisch mit Serviette und Glas. Setzt sich und isst langsam und bedächtig. So wie jeden Tag. Danach macht er seine Hausaufgaben. Er ist leicht irritiert, weil er heute fünf Muniten länger braucht als sonst. Er ist abgelenkt. Denn draußen hat es wieder zu schneien begonnen.

Bald ist der kürzeste Tag des Jahres. Um vier fällt die Dämmerung über Häuser und Straßen. Josh schaut dem Schneeflockentanz eine Weile vom Fenster aus zu. Da fegt ihm der Wind eine besonders große Flocke entgegen. Er schließt die Augen, sie ist so nah, er meint, sie zu spüren. Die Scheekönigin, denkt er.

In Windeseile zieht er Jacke, Mütze, Handschuhe an und rennt aus der Wohnung. Als die Tür ins Schloss fällt, merkt er, dass er seinen Schlüssel auf der Kommode vergessen hat. Egal. Er rennt die Treppen hinunter, 5 Stockwerke, reißt die Haustür auf und blickt sich suchend um. Menschen hasten mit hochgezogenen Krägen durch das Schneegestöber, viele balancieren Tüten und Pakete in den Händen. Autos stecken fest, hupen. Josch schaut nach links. Nach rechts. Wo ist sie nur?

„Auf wen wartest du denn?“, fragt eine brüchige Stimme. Sie gehört zu einem Wesen in einem langen dunkelblauen Mantel, der über und über mit Sternen übersäht ist. Die Beine stecken in pelzbesetzten schwarzen Stiefeln, die Hände in einem plüschigen hellblauen Muff. Auf dem Kopf trägt es eine riesige hellblaue Fellmütze, unter der dichte weiße Locken hervorschauen. Es ist sehr blass, mit blauen Augen und riesig langen Wimpern. „Hallo, du bist also die Schneekönigin. Gut., dass du kommst. Ich habe schon auf dich gewartet.“

Das Wesen zuckt zusammen. „Psst! Ich bin inkognito. Weißt du, was das heißt?“ „Klar. Ich verrate dich nicht. Wohin bringst du mich?“

„Hm, mal sehen.“ Das Wesen nimmt Joshs Hand und geht einfach die Straße hinunter. „Was ist mit deiner Mutter? Deinem Vater?“ „Meine Mutter kommt heute erst spät von der Arbeit. Aber ich habe ihr ja schon gestern gesagt, dass ich auf dich warte.“

„Ok. Gut. Pass auf: wir gehen zum Hafen. Bist du schon mal mit einem Schiff gefahren?“ „Ich dachte, du hast deinen Schlitten dabei.“ „Blödsinn. WIe könnte ich denn mit dem Schlitten durch diesen Verkehr kommen? Nein, heute fahre ich lieber mit dem Schiff. Pass auf, wir nehmen ein richtig großes, eines mit Autos im Bauch.“ „Du meinst eine Fähre? Komisch, das hätte ich nicht von dir gedacht.“

„Tja, man lernt eben nie aus. Märchen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.“

Die nächsten Stunden erlebt Josh wie einen Traum. Einen zuckersüßen voll gebrannter Mandeln, Kinderpunsch und Makronen. Auf der Fähre ist ein richtiger Weihnachtsmarkt aufgebaut, mit einem richtigen Karussell, und die Schneekönigin kauft ihm, was immer er will. Sogar einen silbernen Luftballon. „Fliegen wir mit dem in dein Schloss?“ „Hm, mal sehen.“ Also fliegen sie erst mal mit dem Karussell, Runde um Runde. Ist das toll!

Die Schneekönigin scheint nicht so durchgeplant zu sein wie Josh. „Mal sehen“ ist einer ihrer Lieblingssätze. Das Meer ist ruhig, die Bewegung der Fähre monoton. Viele Leute lächeln über Josh und die Schneekönigin. „Wie lieb sich die Oma um den Kleinen kümmert,“ sagen sie. Josh grinst die Schneekönigin an und legt den Finger auf die Lippen. Von ihm erfahren sie nichts. Sie essen einen Riesen Berg Pommes, trinken noch mal Punsch, und dann spielen sie Flipper. „Das habe ich mit meiner Mama alles noch nie gemacht“, stellt Josh fest. Und hat ein kleines Bisschen Sehnsucht. Inzwischen ist sie bestimmt zu Hause und wundert sich, wo ihr Sohn ist. Vor allem, weil er ohne Handy und Schlüssel weggegangen ist.

„Du, ich muss meine Mama anrufen.“ „Später. Hier auf See geht das nicht. Wir machen das gleich, wenn wir an Land gehen. Also bevor wir in meinen Rentierschlitten steigen.“

„Ok“, sagt der Junge und merkt, dass ihm die Augen zufallen.

Am nächsten Morgen entdecken Reinigungskäfte im Hafen von Trelleborg in Südschweden ein schlafendes Kind in einer Nische der Fähre, mit einem zusammengefallenen silbernen Luftballon fest in der kleinen Faust. Die Polizei bringt ihn ins nächste Krankenhaus, aber auf dem Weg dorthin wird Josh schon wach. „Wo? Was? Wer? Wo ist die Schneekönigin?“ Es dauert nicht lange, bis die Mutter des Kindes in Travemünde ausfindig gemacht wird. Sie ist natürlich halbtot vor Sorge und verspricht, sofort nach Trelleborg zu kommen. Die deutsche Polizei begleitet die Frau.

Noch im Krankenhaus erzählt Josh seine Geschichte. Aber niemand glaubt ihm. Die Schneekönigin, also wirklich!

Erst viel später gelingt es den Beamten in Deutschland und Schweden, Licht in die „Andersen-Entführung“, wie die Medien Joshs Abenteuer betiteln, zu bringen.

Ein Räuber erbeutete in Hamburg 500 Tausend Euro in kleinen Scheinen. Auf der Flucht brach er in den Wohnwagen eines Kindertheaters ein, das auf einem der Weihnachtsmärkte die Schneekönigin aufführte. So verkleidet gelangte er unerkannt nach Travemünde. Als Josh ihn ansprach, wurde ihm klar, dass dieses Kind die allerbeste Tarnung für die Überfahrt nach Schweden war. In dem Punsch war ein mildes Beruhigungsmittel, das Josh lediglich einen tiefen Schlaf beschert hatte.

Die ganze Zeit in Trelleborg hatte Josh sich geweigert, den Luftballon losszulassen. Das war doch sein Ticket zur Schneekönigin! Zuhause angekommen, verkroch er sich in sein Zimmer. Erst am übernächsten Tag kam er heraus, umarmte seine Mutter und flüsterte: „Ich weiß, du glaubst mir nicht und bist mir böse. Und vielleicht war das wirklich eine andere Schneekönigin. Aber sie war nett. Schau mal, was sie mir in den Luftballon geklebt hat.“

Er hält der Mutter mehrere 500 Euro Scheine hin.

Was denkt Ihr, geben die beiden die Scheine ab?

MiniKrimi Adventskalender am 17. Dezember


Krieg der Schneesterne

Es gibt Kriege, die dauern Jahre an. Jahrzehnte, sogar. Der längste über ein Vierteljahrhundert, ungefähr von 1618 bis 1648, der Vietnamkrieg wütete von 1955 bis 1975. Dagegen ist die Auseinandersetzung, die Christiane seit ihrem Einzug in das Eckhaus im ruhigen Villenvorort vor 10 Jahren mit der Firma führt, die von der Stadtverwaltung mit der Reinigung ihrer kleinen Seitenstraße betraut wurde, rein zeitlich gesehen eine Lappalie.

Aber emotional gleicht der Kampf einem Atomkrieg. Zumindest, was Christiane betrifft. Im Laufe des Konfliktes ist sie von einer erhöhten Reizbarkeit über nervös bedingte Unruhezustände mit Schlafstörungen in eine handfeste Depression hinübergeglitten, die sie, vor allem in den Wintermonaten, nur mit starken Psychopharmaka in den Griff bekommt.

Und das kam so: Christiane und ihre Familie konnten ihr Glück kaum fassen, als sie aus einer Schar von über 100 Beweber*innen ausgewählt wurden und in die frisch renovierte kleine Eckvilla an der putzigen Spielstraße einziehen durften. „Bitte achten Sie vor allem darauf, dass Ihr Straßenanteil immer sauber und gepflegt ist. Das ist hier ein elegantes Viertel“, hatte die Vermieterin ihnen noch vor der Unterzeichnung des Mietvertrags nahegelegt. Woraufhin Christianes Mann nach einem langen Blick aus dem Fenster gemurmelt hatte: das ist ein Eckgrundstück. Gefühlt müssen wir mehrere hundert Meter Straßenrand ‚pflegen‘!

Christiane hatte in ihrer Begeisterung über den positiven Ausgang ihrer Überzeugungstaktik („Wir sind die idealen Mieter: fast erwachsene Kinder, eine Gärtnerin als Großmutter, keine Haustiere – und wir sind so oft unterwegs, wir haben gar keine Möglichkeit, das Haus zu ver-, ehm zu bewohnen.“ Was natürlich – fast – alles nicht wirklich stimmte. Die Kinder waren kaum aus der Pubertät heraus und gerade in dem Alter, in dem Parties in Haus und Garten, laute Rockmusik zu jeder Tages- und Nachtzeit und eine permanente Durchflutung des Hauses mit Gleichaltrigen gang und gäbe sind. Die Oma praktizierte Ikebana und lebte 500 Kilometer weit weg. Und auch wenn Asta, Rex, Kugel und Mäuschen von Christiane wie Menschen behandelt wurden, waren sie für Außenstehende Dobermann, Afghane, Siam und Kartäuser) nur beiläufig geantwortet: „Naja, das müssen wir ja nicht allein machen, dafür gibt es ja die Straßenreinigung.“

Beim süffisanten Lächeln der Vermieterin hätte sie eigentlich Verdacht schöpfen müssen. Tat Christiane aber nicht. Denn es war Sommer. Sommer in der Stadt. Die Straße war und blieb sauber, und das Thema Straßenreinigung geriet in Vergessenheit. Bis im September die ersten Blätter zu fallen begannen. „Hallo Frau Müller, ich bin vorhin zufällig bei Ihnen vorbeigefahren. Also, da liegen immens viele Blätter auf der Straße. Die müssen Sie entsorgen. Das hatten wir doch besprochen! Und außerdem – kann es sein, dass ich einen Hund bellen gehört habe? Und ich hätte beinahe eine Katze überfahren, die dann auf Ihrem Grundstück verschwunden ist….“ Die Vermieterin klingt gereizt.

„Alles gut, Frau Huber. Da müssen sich mich wohl in dem Moment verpasst haben, als ich im Baumarkt einen Laubbläser geholt habe. Hundegebell? Ich habe noch nie was gehört. Tja, die Nachbarskatzen fühlen sich bei uns sehr wohl, offensichtlich…. Ja, tschüss dann, Frau Huber! Ach, Moment, Frau Huber?“

Aber da hatte die Vermieterin schon aufgelegt. Minuten später hörte Christiane ein Geräusch, an das sie sich dunkel aus ihrer Schwabinger Wohnung erinnerte. Eine Straßenreinigungsmaschine. Christiane rannte vor die Tür, riss das Gartentörchen auf – und sah die Maschine gerade noch um die Straßenecke verschwinden. Sie hastete hinterher. „Moment!“, rief sie. „Sie haben vergessen, unsere Straßenseite zu kehren.“ Tatsächlich war die gegenüberliegende Seite, die an einen kleinen öffentlichen Park grenzte, blankgeleckt, kein Blättlein lag mehr auf dem Asphalt. Während entlang ihres Gartenzauns ein bunter Blätterhaufen vor sich hingammelte. „Halt, warten Sie!“ Endlich hörte der Mann in der Kabine Christianes Rufen. Er kurbelte die Scheibe runter und erklärte unwirsch: „Das ist ne Spielstraße hier. Da müssen die Bewohner ihre Seite selber kehren. Nur im Winter nicht.“ Sprachs und ward nicht mehr gsehen.

Also nahm Christiane den Laubbläser in Betrieb und die Blätterhaufen in Angriff. Doch bereits nach zwei Minuten klopfte ihr die erboste Nachbarin aus Nummer 7 auf die Schulter. Christiane, ganz berauscht von der Macht der Maschine, verstand zunächst nichts. Als die Frau immer wilder gestikulerte, schaltets sie den Bläser ab. „Nicht in der Mittagszeit zwischen zwölf und drei“, brüllte die Nachbarin in die plötzliche Stille.

„Ach so, das wusste ich nicht, entschuldigte sich Christiane. „Aber am Nachmittag habe ich einen Kundentermin…..“ „Egal. Gesetz ist Gesetz“, sagte die Frau und kehrte in ihre Jägerzaunburg zurück. Um 17.30 Uhr war Christianes Termin vorbei, und sie ging, mit Laubbläser bewaffnet, wieder auf die Straße. Dort traf sie ihre Tochter Isabella, die aus der Schule zurückkam. Sie riss der Mutter wortlos das Gerät aus der Hand, schaltete es aus und dozierte erbost: „Sag mal, bist du total übergeschnappt? Weißt du nicht, dass diese Dinger GIFT für die Tiere sind? Und übrigens auch für alle Menschen unter 50, bei denen das Gehör noch funktioniert. Nimm gefälligst den Besen, Mama.“

„Na hör mal, damit dauert das ja ewig. Gut, dann machst du das eben, Madame Umweltbewusst.“ „Das könnte dir so passen. Ich muss bis morgen die Seminararbeit fertigschreiben. Ne, ne, das machst du gefällgst selbst, wenn du deinen Putzfimmel jetzt schon auf die Straße ausweiten musst.“

Um es kurz zu machen: Christiane konnte weder Mann noch Kinder von der Notwendigkeit des Straßenreinigens überzeugen. Auch das Argument „Vermieterin“ zog nicht, weil nur sie von zuhause aus arbeitete und die Anrufe von Frau Huber entgegennahm. Also kehrte und blies (wenn isabella nicht daheim war) Christiane den ganzen Herbst über im Schweiße ihres Angesichts über 50 Straßenmeter – gefühlt waren es 5000. EInmal die Woche kam das von der Stadt beauftragte Reinigungsiunternehmen, putzte die gegenüberliegende, an einen kleinen Park angrenzende Straßenseite- und blies die Blätter gegelmäßig gegen Christianes Gartenzaun. Sie beschwerte sich per Mail. Sie rief in der Stadtverwaltung an. Sie rannte auf die Straße udn stellte sich von das Gefährt. Alles umsonst. Im Gegenteil. Alle schienen sich gegen sie verschworen zu haben. Der Sachbearbeiter in der Stadtverwaltung, die Straßenreinigungsfahrer – und sogar die Blätter, die vermehrt dann runtersegelten, wenn sie gerade ihren Straßenanteil reingefegt hatte. „Nimm dir das noch nicht so Herzen. Du wirst ja regelrecht hysterisch“, sagte ihr Mann, statt sie zu trösten oder, besser noch, zu unterstützen.

Christiane wachte jeden Mittwoch, dem Tag der Straßenreinigung, mit Bauchschmerzen auf. SIe hastete vor die Tür, fegte alle über Nacht gefallenen Blätter auf die andere Straßenseite – und erlebte mit, wie der Fahrer diese mit einem höhnischen Grinsen wieder zu ihr hinüberschob.

Egal. Christiane ertrug all dies und tröstete sich damit, dass sie im Winter wenigstens keinen Schnee schippen musste.

Im ersten Winter war das auch so. Denn die paar wenigen Flöckchen, die zwischen Dezember und März vom Himmel rieselten, waren getaut, noch bevor sie das Wort Schneeschippen auch nur angedacht hatte.

Doch dann kam der vierte Winter in der Spielstraße. Püntklich zu Weihnachten schneite es, als hätte Frau Holle das ganze dänische Bettenlager ausgeschlagen. 3 Tage und Nächte. Der Schneeräumer kam – nicht. Auf der kleinen Straße häuften sich Schneemassen. Ein Nachbar klingelte und erklärte der erstaunten Familie Müller, dass sie für das Straßenstück an ihrem Haus verantwortlich seien, wie alle hier. Nur, dass die anderen kaum 10 Meter hatten, jeweils. Während das Eckgrundstück….. „Ich wusste es!“, schimpfte Christianes Mann. „Aber nein! Im Winter räumt die Firma. Das haben die mir so versichert“, wandte Christane ein. „Ja, theoretisch schon. Aber Spielstraßen liegen in der Priorität an letzter Stelle. Erst kommen die Haupt-, dann die Nebenstraßen. Und dann wir. Das kann bei so ’nem Wetter eine Woche dauern. Und bis dahin sind wir, also SIE verantwortlich.“

Schließlich schippten alle Männer der Straße – ganz ausnahmsweise – gemeinsam, und Christianes Mann baute aus dem aufgetürmten Schnee eine Bar, an der sie dann bis in die Nacht standen und Bier tranken.

Inzwischen begann es zu tauen, und nach 7 Tagen erschien die Straßenreinigungsfirma und streute tonnenweise Split in die Pfützen.

Im darauffolgenden Herbst startete Chrtiane, gestärkt durch die Einnahme eines Nerventonikums, einen erneuten Anlauf, um sich gegen die blättrigen Übergriffe der Firma zu wehren. Inzwischen begegnete ihr der Fahrer mit blankem Hass, denn sie hatte sich „ganz oben“ über ihn beschwert und angeregt, dass die Spielstraße einer anderen Firma übergeben würde. Doch damit hatte sie in ein Wespennest gestochen. „Der Sachbearbeiter kassiert gutes Geld für den Auftrag, vom Firmenchef“, erklärte ihr eine andere Nachbarin, die offenbar über alles informiert war – woher, das gab sie nicht preis. Jedenfalls erhielt Familie Müller daraufhin mehrere Bußgeldbescheide im vierstelligen Bereich, weil angeblich ihre Bäume über das zulässige Maß in die Straße hineinragten. Nur, weil ihr Mann zufällig früher als üblich nach Hause kam, entging Christiane einer Verhaftung wegen tätlichen Angriffs auf einen städtischen Beamten, der ihr den letzten Bescheid zustellen wollte.

In den folgenden Wintern tobte der Krieg der Schneesterne immer heftiger, beide Seiten fuhren immer schärfere Geschütze auf. Der Reinigungsdienst schob die Schneemassen aus der gesamten Spielstraße zunächst an den Müllerschen Zaun, der unter der Last zusammenbrach. Frau Huber verlangte Schadenersatz von den Mietern. „Schnee ist höhere Gewalt, die damit verbundenen Risiken müssen von Ihnen getragen werden.“

Daraufhin vereiste Christiane die Fahrbahn, so dass der Schneeräumer auf der Spiegelfäche ins Schleudern kam, gegen eine Garagenwand prallte (nicht die Müllersche!) und der Fahrer eine leichte Gehirnerschütterung erlitt – angeblich.

Beim nächsten Schneefall stand Herr Müller morgens beim Öffnen der Gartentür vor einer zwei Meter hohen Schneemauer. Er konnte gottseidank über die Garage ausweichen.

Christiane machte Fotos und mobiliserte die Presse. Der Artikel mit der Überschrift „Familie unter Schneeterror, Reinigunsmafia am Werk?“ kostete den Fahrer, den stellvertretenden Firmenchef und den Sachbearbeiter ihren Posten.

Und dann ging im kommenden Winter alles gut. Eine andere Firma reinigte die kleine Spielstraße, und Christiane brachte dem Fahrer frühmorgens einen heißen Espresso ans Fenster.

Woraufhin ihr Mann anonyme Schreiben erhielt, die seiner Frau eine Affäre mit einem Straßenreininger andichtete. Das gleiche Schreiben fand seinen Weg auch in die Stadtverwaltung und wurde dort, im Gegensatz zum Hause Müller., ernst genommen. Der Mann musst gehen. Und die alte Firma wurde wieder beauftragt.

Wir schreiben das Schneesternenjahr 2022. Vor Weihnachten hüllt ein Tiefdruckgebiet ganz Deutschland fest in eine dicke weiße Umarmung. Auch die kleine Spielstraße ist schneebedeckt.

Christiane kennt den Tagesablauf der Straßenreinigung auswendig. SIe schreckt um 4 Uhr früh aus einem unruhigen Schlaf, zieht sich an, bewaffnet sich mit Schneeschaufel und Besen und wartet am Gartentor auf den Schneeräumer. Da kommt er auch schon. Mit seiner mächtigen Schaufel nimmt er eine Riesenladung gefrorenen Schnee auf und schiebt ihn gegen Christianes Gartenzaun. Rollt zurück. nimmt die nächste Ladung auf, gibt Gas und rammt das ganze an den Holzzaun. Die dahinter liegende Eibe knirscht, knackt und bricht unter der Last zusammen. „Halt“ schreit Christiane. „Halt, SIe, Sie, Sie…. MÖRDER“! SIe reißt das Gartentürchen auf und rennt dem Schneeräumer entgegen, der mit einer neuen Schneemasse auf sie zurast. Die Schaufel schleift am eisigen Boden entlang, nimmt Schnee und etwas Schwrzes, Gestikulierendes auf, fährt in die Höhe – und schleudert alles über den Zaun direkt in Müllers Garten.

Später wird der Fahrer beteuern, er hätte Christiane nicht gesehen. „Die Frau war ja rabenschwarz angezogen. Keine Warnweste und nichts. Und draußen war’s stockdunkel.“

Als Christiane das Krankenhaus nach drei Monaten verlässt, ist ihre Hüfte noch nicht ganz geheilt. Der Schädelbruch verursacht ihr immer wieder höllische Kpfschmerzen. Im Sommer zieht Familie Müller um. In eine Dachterrassenwohnung am anderen Ende der Stadt.

„“Bitte achten Sie vor allem darauf, dass Ihr Straßenanteil immer sauber und gepflegt ist. Das ist hier ein elegantes Viertel“, legt die Vermieterin Christianes Nachmietern noch vor der Unterzeichnung des Mietvertrags nahe. Mal sehen, wie lange die hier bleiben, denkt sie, und fügt hinzu: „Ein gutes Verhältnis zur Straßenreinigung kann Vorteile haben.“

MiniKrimi Adventskalender am 16. Dezember


Nach einem tollen „Not only Christmas“ Jazzkonzert mit dem zaberhaften Damen-Quartett Jeann d’Azz bleibt, um den heutigen MiniKrimi zu veröffentlichen, nur noch Zeit für den Griff in die Vergangenheit. Aber ich hoffe, dabei kommen auch meine hessischen Leser*innen auf ihre Kosten. Womit wir schon beim Thema wären:

Todeshappen

Alf trug sein Moleskin immer griffbereit entweder in der Jackentasche oder, falls er auf Reisen war, im Rollkoffer bei sich. Denn die besten Einfälle kommen unbemerkt und schleichen sie auf leisen Sohlen schnell wieder davon, wie professionelle Einbrecher, davon war er überzeugt. Eigentlich hatte er nur seinem Ärger über den Service und das kalte Essen Luft machen wollen. Vielleicht – oder vor allem – auch seinem Frust über das verpatzte Wiedersehen mit Carla unmittelbar vor diesem schicksalhaften Restaurantbesuch. Wie auch immer: aus den Notizen, die er zwischen versalzenen Horsd’oeuvres und dem, von einer schlecht gelaunten und noch schlechter ausgebildeten Bedienung auf den Tisch geknallten, lauwarmen Hauptgang auf eine Moleskin-Seite gekritzelt hatte, wurde ein Beststeller. Sein ganz großer Wurf. Ein Gourmet-Krimi, der Alf von den untersten Regalen billiger Bahnhofs-Büchermarktketten in die Primezone renommierter Buchläden katapultierte.

Alf signierte, Alf las, Alf dinierte – auf Kosten von Verlegern und Restaurateuren, die sich im Schatten seines Romans etwas Ruhm erhofften. „Alf P. hat bei uns gespeist, es hat ihm vortrefflich gemundet, sein Moleskin lag die ganze Zeit geschlossen neben seinem Teller.“ Nachdem auch die dritte Auflage von „Mord aus kulinarischen Motiven“ vergriffen war, arbeitete Alf an einer Fortsetzung mit dem Arbeitstitel „Rache ist Blutwurst“. Dafür schlug er sich durch die Imbissbuden der Nation. Warum, das wusste er selbst nicht so genau. Vielleicht war er die vielen Sternemenüs leid, die er, wenn auch kostenfrei, hatte verdauen müssen. Vielleicht hoffte er aber auch, bei seinen Streifzügen durch die Stehgastronomie Carla wieder zu treffen, die als Kommissarin sicher an irgendeinem dieser Stände irgendwo in Deutschland ihre mittägliche Currywurst verzehrte – denn diese Essgewohnheit hatte Alf aus den unzähligen Krimiserien im deutschen Fernsehen verinnerlicht.

Und so stand er nun an einem regnerischen Wintertag am Mainkai unter einem triefenden Sonnenschirm mit „Binding-Bier“-Werbung, starrte auf die Frankfurter „Mainhatten-Skyline“ und sinnierte darüber, wie er seinen Buchtitel mit der Standard-Speisekarte einer Imbissbude in Einklang bringen konnte. Denn leider hatte er bislang keine gefunden, die außer Curry- und Rot-, Thüringer und grober, ja sogar Veggie Bratwurst auch Blutwurst im Angebot hatte.

Zu blöd, dachte Alf. Zückte sein Moleskin und schickte sich an, die Imbissbude am Mainkai in bösen Stichworten zu verewigen. Matschige Pommes, ein Haar im Curryketchup. Dass es sein eigenes war, kümmert ihn wenig. „Alles gut, der Herr?“, säuselte die ölige Stimme des Budenbesitzers zu ihm herüber. „Wolle Se ’n Schnäppsche zum Runnerspüle?“

Alf dreht sich halb zu dem dreisten Mann um. Offenbar wusste der nicht, wen er da vor sich hatte. Oder doch? „Komme Se, Herr P.“, sagte der Mann doch jetzt und kam mit einem Schnapsglas in der Hand aus seinem Wagen zu Alf an den Stehtisch. „Den werde Se brauche, dann tut des net gar so weh, in Ihre letzte Minute“. Gerade als Alf anfangen wollte, sich zu fragen, was der Mann mit diesem kryptischen Satz wohl meinen könnte, traf die erste Schmerzwelle seinen Magen wie eine Attacke mit japanischen Küchenmessern.

Alf zuckte zusammen, krümmte sich und sackte schließlich am Tisch hinab in den schlammigen Boden. Regen fiel kühl auf seinen plötzlich glühend heißen Nacken. „Nur damit Se wisse, warum Se jetzt den Löffel abgebbe“, fuhr der Imbissbuden-Besitzer in freundlichem Plauderton fort. „Nach Ihrem Bestseller-Buch hat bei mir keiner mehr esse wolle. Nach em halbe Jahr war isch pleite. Die Imbissbude is alles, was isch noch hab, als Existenz. Und jetzt wolle Sie mir die aanoch wegnemme? Ebbe reischts.“

Das letzte, was Alf aus seinem Autorenleben mitnahm, war der Geschmack nach ranzigem, mit Blausäure vermischtem Fett im Gaumen.

MiniKrimi Adventskalender am 15. Dezember


Stein um Stein

Ich habe Pläne, große Pläne, ich baue dir ein Haus. Jeder Stein ist eine Träne, und du ziehst nie wieder aus

Der Bass dröhnt, die monotone Stimme von Till Lindemann prallt von den Kellerwänden ab wie ein Squashball. „Jeder Stein ist eine Träne“, murmelt er, schreit er, dann. „Träne, jawohl. Was bist du bloß für eine Träne!“ Er kauert sich auf den Boden, wirft die Hacke neben sich und schluchzt.

„Warum? Wir hatten doch so ne tolle Zeit zusammen. Und jetzt? Auf einmal?“

Er starrt auf die Kellerwand, sein Blick gleitet hinaus, in den Garten. Er auf einer Decke im Gras, sie neben ihm. Seine Hand in ihrem seidenweichen, langen Haar. „Ach Mensch, Cora!“ 

Er stemmt sich hoch, mit Mühe. Greift nach der Bierflasche. Leer. Aber der Wodka ist noch halb voll. Das wird reichen, bis er hier fertig ist. 

„Ja, ich bau ein Häuschen dir. Hat keine Fenster keine Tür. Innen wird es dunkel sein, dringt überhaupt kein Licht hinein“

Was hatten sie sich gefreut, über ihr kleines Häuschen. Endlich raus aus der engen Wohnung mit den ganzen Spießern. „Herr Wollke, gestern war es aber wieder viel zu laut, bei Ihnen. Man kann auch LEISE spielen, wenn Sie wissen, was ich meine. Und ein bisschen Erziehung hat noch niemandem geschadet.“ Ha, es hat sich augewollket. Wir haben jetzt ein ganzes Haus für uns. Da können wir Lärm machen, solange wir wollen. Und das hatten sie. Und wie! Cora war ganz außer Rand und Band und konnte es gar nicht fassen. Soviel Platz! Morgens vor dem Aufstehen hüpften sie manchmal wie wild auf dem Bett herum, vor lauter Freude.

„Ach Cora, ich hab dich doch geliebt. Das weißt du! Ich liebe dich immer noch. Aber du?“

Entschlossen holt er aus, hebt die Hacke und lässt sie auf die Kellerwand niedersausen. Ziegel splittern. Ein Ruck, noch einer, dann reißt er die ersten beiden Ziegel raus. Aber das Loch ist noch viel zu klein.

„Du weißt, ich hätte alles gegeben, um das zu verhindern, Cora. Aber du lässt mir ja keine Wahl. Weißt du noch, damals, als wir zusammen nach Jesolo gefahren sind, nur du und ich? Wie die rumgezickt haben, auf dem ersten Campingplatz. Nein, nein, so können Sie unmöglich zum Strand. Gut, dann eben nicht. Und dann haben wir einen gefunden, der fand uns beide ok. War das schön! Sich im Sand wälzen, bis die Haare komplett verklebt waren, und runter in die Wellen. Wer fängt den Ball zuerst? Und das Eis! Schkolade mochtest du am liebsten. Ach, Cora. Meine Cora.“

Wann hat sich alles verändert? Warum hat er nichts gemerkt? Er legt seine ganze Wut über sich selbst, seine Blindheit, in die Arbeit. Holt mit kraftvollen Stößen einen Ziegelstein nach dem anderen aus der Mauer. Wir. Hätten. Zusammen. Alt. Werden. Sollen!

Das ist der Vorteil von alten Häusern. Sie sind zwar eiskalt, aber die Mauern sind zwei Ziegelsteine dick. Haust du einen raus, hast du ne prima Lücke. Eine Höhle. Eine Kammer. Luftdicht. 

„Ja, ich schaffe dir ein Heim, und du sollst Teil des Ganzen sein

„Und dann dieser blöse Typ. Ich soll dich gehen lassen, hat er gesagt. Und dass du schon gar nicht mehr bei mir bist. Ich soll dich in meinem Herzen behalten, so, wie du warst, als wir zsuammen glücklich waren. Der spinnt doch. Nein, ich lass dich nicht gehen. Ich geb dich NIE mehr her!“

„Ohne Kleider, ohne Schuh, siehst du mir bei der Arbeit zu. Mit den Füßen im Zement verschönerst du das Fundament. Stein um Stein, ich werde immer bei dir sein“

Jetzt ist die Kammer groß genug. Er nimmt einen kräftigen Schluck aus der Wodkaflasche. Er muss sich Mut antrinken, bevor er sie anschaut. Anfasst! 

Cora, mein Liebling. Bitte, schau mich noch einmal an. Sei mir nicht böse. Ich kann nicht anders. Ich kann mich nicht von dir trennen. Ich MUSS immer bei dir sein. 

Welch ein Klopfen, welch ein Hämmern, draußen fängt es an zu dämmern“

Schließlich kniet er sich auf den steinigen Kellerboden. Streicht ihr noch einmal voll Zärtlichkeit über das lange schwarze Haar. Dann hebt er sie vom Boden auf, legt sie vorsichtig auf die Plastikplane und wickelt sie liebevoll darin ein, während die Tränen ihm übers Gesicht laufen. Da geht plötzlich ein Zittern durch ihren Körper. Ungläubig starrt er in die braunen Augen, die ihn, deutlich verwirrt, aber zunehmend klarer, anschauen.

Sein Handy klingelt. „Her Wollke, gut, dass ich sie erreiche. Ich habe die ganze Nacht recherchiert. Cora hat eine Art allergischen Schock erlitten – vermutlich haben Sie ihr zuviel Schokolade gegeben. Das dürfen Sie nie mehr tun. Aber gut, dass Sie nicht auf mich gehört und sie wieder mitgenommen haben. Also, was ich sagen will: es besteht die Chance, dass Ihr Hund wieder gesund wird.“

Er lässt das Handy auf den Boden fallen und schmiegt sein Gesicht an Coras Bauch. Sie liegt ganz still, aber ihre raue Zunge schleckt ihm sanft übers Gesicht. Sie wird wohl noch eine Weile bei ihm sein. Und wenn es dann soweit ist, wer weiß, vielleicht mauert er sie beide gemeinsam ein. 

Sorry, ich weiß, das Ende hat einen Bruch. Aber, ganz ehrlich: ich habe kein Problem damit, menschliche Protas auf die verschiedensten Weisen sterben zu lassen. Aber bei einem Hund kriege ich das nicht übers Herz. Verzeiht!

Ach ja, noch was – ich höre zuweilen gerne Rammstein.

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