Draußen vor den Fenstern des Klassenzimmers strahlt ein herrlicher Sommertag. Der Himmel azurblau ohne ein Wölkchen. Im Kirschbaum auf dem Schulhof zwitschern die Vögel. Der Lehrer, konservativ gekleidet in braunen Zwirn mit grüner Krawatte, doziert, durchaus passend zur Jahreszeit, über Shakespeares Sommernachtstraum. Aber die Schüler*innen der 11. Klasse sind nur halb bei der Sache. Sie tuscheln und planen den Nachmittag, sie flirten, sie träumen aus dem Fenster. Ein klassischer Vormittag!
Und da ertönt auch schon der Gong. Die Schüler*innen stehen auf, einer wirft ungestüm seine Bank mitsamt dem Stuhl um, ein anderer stolpert über seine Tasche. Drei Mädchen haben einem Jungen das Handy weggenommen und tun so, als würden sie es aus dem Fenster werfen. Der Lehrer packt seine Bücher ein und schüttelt den Kopf über das Chaos in seiner Klasse – allerdings ohne sonderlich überrascht zu erscheinen.
Schließlich haben alle Schüler*innen das Klassenzimmer verlassen. Der Lehrer wischt die Tafel ab. Da fällt von irgendwoher aus dem Schulgebäude ein Schuss. Und noch einer. Der Lehrer hebt den Kopf, als wolle er Witterung aufnehmen. Wieder ein Schuss, eine ganze Salve. Jetzt bricht die Hölle los. Schrille Schreie, Hilferufe, Schritte wie von einer Herde ausgebrochener Elefanten. Die Tür zum Klassenzimmer wird aufgerissen. Zwei Jungen stürmen hinein, hinter ihnen drei Mädchen, ein weiterer Junge. Noch zwei Schüsse, diesmal ganz in der Nähe. „Schnell, unter die Bänke!“, ruft der Junge mit dem Handy. Zum Lehrer: „Sie auch!“ Er kriecht unter eine Bank und hält das Handy ans Ohr. Da steht plötzlich eine schwarz gekleidete Gestalt in der Tür. Sturmhaube, Hoody, Funktionshose, Springerstiefel. In der Hand ein Maschinengewehr, um die Schultern einen Patronengürtel. Ohne zu zielen feuert er eine Salve von einer Ecke des Raumes zur anderen. Der Junge mit dem Handy wirft eine Schulbank um und schiebt sie als Barrikade vor sich. „Schützt Euch!“, ruft er den anderen zu. Der Lehrer ist am Pult zusammengesackt. Auf seinem Hemd breitet sich ein roter Fleck aus.
Der Junge schreit etwas ins Handy. „Amok“, und „Schule“, „Klassenzimmer 11 a, dritter Stock.“ Die Gestalt in der Sturmhaube sieht sich um, schießt noch einmal auf den Lehrer und geht. Wieder sind Schreie aus anderen Räumen zu hören. Dann – Stille. Langsam kriechen die Schüler*innen hinter ihren Verstecken hervor. „Ist er weg?“, fragt ein Mädchen. Schnelle Schritte, die Gestalt ist wieder da. Mit dem Gewehr im Anschlag, sie brüllt etwas Unverständliches, vielleicht ist es auch nur ein Verzweiflungsschrei. Lässt sich auf den Boden gleiten, hält den Lauf des Gewehres von unten ans Kinn. Wimmert. „Nein“, schreit ein Mädchen! „Nein, tu das nicht!“
Da taucht ein Mann aus dem Dunkel des Ganges auf. Kein Polizist. Kein Lehrer, denn die Lehrer*innen tragen während des Unterrichts keine Pistole. „Du Schuft, du Mörder!“, zischt er, hebt die Hand und tötet die am Boden liegende Gestalt mit einem gezielten Kopfschuss.
„Es ist vorbei“, sagt er dann zu den Schüler*innen, die panisch im Kreis um die schwarze Gestalt hocken. Keine Angst, der tut euch nichts mehr.“
„Nein. Es ist nie vorbei!“, sagt der Junge mit dem Handy. Er steht auf, die anderen folgen seinem Beispiel. Sie gehen nach vorne, in die Mitte des Klassenzimmers. Dort nehmen sie die schwarze Gestalt in ihre Mitte. Vom Pult kommt der Lehrer dazu. Das Mädchen zeigt auf den Mann mit der Pistole: „Auch du bist ein Mörder!“ „Es wird nie vorbei sein, solange es Waffen zu kaufen gibt!“ rufen alle im Chor.
Dann fällt der Vorhang. „Eine beeindruckende Art des Gedenkens an den Amoklauf vor 5 Jahren an dieser Schule. Und ein leidenschaftlicher Aufruf zur Gewaltlosigkeit“, schreibt die lokale Presse nach der Vorführung.
„Schau mal, die Kleine hat’s echt drauf. Ich glaub die steht auf SadoMaso.“
„Naja, war das SadoMaso, die Schultasche klauen?“
„Ne, aber das Begrabsche dabei.“
„Meinste?“
„Ist auch egal. Jedenfalls sieht’s doch so aus, als würde sie mehr davon wollen, oder warum rollt sie sonst so langsam vor uns her? Ist doch aufreizend, oder?“
„Total. Los, hinterher!“
Eine Woche zuvor.
„Mist, verdammter!“ Mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung schaut Anna dem Bus hinterher. Die Rücklichter färben den Nebel zuckerwattenrosa. Dann biegt er um die Ecke, und Anna starrt in das Winterdunkel der leeren Straße. Warum hat der Fahrer nicht auf sie gewartet? Er muss doch bemerkt haben, dass sie nicht da war. So ein Rollstuhl ist ja nicht zu übersehen. Und alles nur, weil nach dem Unterricht ihr Handy verschwunden war. Nicht verschwunden. Versteckt. Von Marvin und Flo. Beweisen kann sie es nicht, aber sie ist sich sicher. Die beiden lassen kaum eine Gelegenheit aus, um Anna zu mobben. Aber wer glaubt schon einem Rolli? „Bist du sicher, Anna? Vielleicht ist dir das Handy ja aus der Tasche gefallen,“ beschwichtigt die Lehrerin. „Heulsuse“, höhnen Jasmin und die Mädchenclique.
Als sie es schließlich findet, ist es schon spät. Zu spät, um den Bus zu erreichen. Jetzt hat sie die Wahl: eine halbe Stunde warten oder den Weg nach Hause im Rollstuhl wagen. Zum Glück hat sie ihre Handschuhe dabei. Sie zieht die Kapuze ihres blauen Parkas fester und fährt los. Im Winter ist es nach der 7. Unterrichtsstunde schon fast dunkel. Und bei diesem Wetter läuft niemand freiwillig auf der breiten, zugigen Allee. Dann hört Anna Schritte. Immer schneller. Immer näher. Sie hat keine Chance. Marvin und Flo holen sie ein. Schubsen ihren Rollstuhl hin und her. Anna schimpft. Anna schreit. Schließlich versucht Marvin, ihr die Schultasche vom Schoß zu reißen. Dabei berührt er ihre Arme, ihre Brust. Flo lacht. Marvin wirft ihm die Tasche zu. Flo fängt sie auf, wirft sie zu Boden, sie kicken sie eine Weile hin und her.
Da fährt eine dunkelblaue Limousine an ihnen vorbei, wird langsamer. „Hey, lasst sofort das Mädchen in Ruhe“, ruft eine Stimme durch die heruntergelassene Scheibe.“ Die zwei drehen sich um, starren den Fahrer an und rennen weg. „Alles ok?“, fragt die Stimme. Der Wagen hält an. Der Fahrer steigt aus. Anna schluckt. Er ist klein und drahtig, sieht aus, als wäre er ein Junge in ihrem Alter. Behände bückt er sich, hebt ihre Tasche auf, legt sie ihr in den Schoß und sagt: „Ich pass auf dich auf, Kleine. Die bist du los!“
Dann steigt er in den Wagen und fährt weg.
Anna rollt nach Hause. und grübelt über die Worte des Fremden nach.
„Los, Marvin, lauf ma schneller. Hey, die legt heute ein Tempo vor.“
„Ja, Wahnsinn. Aber gleich haben wir sie, da vorne, an der Ampel.“
Tatsächlich schaltet die Ampel gerade in dem Moment auf rot, als der Rollstuhl mit der schmalen Person im blauen Parka die Bordsteinkante erreicht. Ein hastiger Blick nach links, dann nach rechts: die Allee ist an diesem nebelgrauen Spätnachmittag wie leergefegt.
„Pech, Süße, diesmal kommt dein Autofahrer nicht angerauscht, um dich zu retten. Jetzt biste dran.“
Und mit lautem Gegröle stürzen sich Marvin und Flo auf den Rollstuhl. „Stimmt, keine Zeugen!“, zischt die Person im blauen Parka. Eine Klinge blitzt auf, kurz, als die Ampel auf gelb schaltet. Bei grün liegen zwei leblose Körper am Straßenrand. Am Bordstein geparkt, ein klappriger Rollstuhl. Leer. Ein Stück weiter hinten wartet eine dunkelblaue Limousine.
Am nächsten Morgen ist der brutale Mord an zwei Schülern der Gesamtschule an der Siegesstraße die Top-Schlagzeile in allen Medien. Annas Klasse hat zwei Mitschüler verloren. Annas Verlust ist größer: Zwei Verfolger – und ihr Vertrauen in das Gute im Menschen und die Verhältnismäßigkeit der Mittel.
Heute versuche ich mich an einer Variation zum gestrigen Thema der Vorlese-Oma. Wie findet Ihr die Idee, verschiedene Autorinnen über das gleiche Sujet schreiben zu lassen? Viel Spaß beim Lesen… ach ja, und Kommissar Schaller ermittelt in der TV-Serie „München Mord“. Mein Geheimtipp….
Rund 50 Weihnachtsmärkte gab es in der Stadt. Aber der verhältnismäßig kleine „Adventszauber“ war längst kein Geheimtipp mehr und erfreute sich jedes Jahr wachsender Beliebtheit. Das lag sicher an den mit großer Liebe dekorierten Hütten und den vielen Details, die die Besucher in ein winterliches Bergdorf in Après-Ski-Stimmung versetzten: mit Kunstschnee verzierte Holzdächer, mit roten, grünen und goldenen Kugeln und Lichtern beladene Schlitten, aufgestellte Skier und natürlich ein riesengroßer Schneemann. Dazu ein buntes Programm von besinnlichen Adventschören bis hin zu zünftigem Alpenrock.
Die Hauptattraktion war jedoch bereits seit einigen Jahren der Auftritt der Vorlese-Oma. An sich ein diskriminierender Name, aber Hedwig von Stetten hatte nichts dagegen einzuwenden, dass sie auf Plakaten im ganzen Stadtgebiet so angekündigt wurde. Sie hatte bis weit über das Pensionsalter hinaus eine bedeutende Mädchenoberschule mit Internat geleitet. Wenn sie die einstigen Schülerinnen als ihre „Töchter“ betrachtete, war sie heute mehr als hundertfache Oma – und sicher auch bereits Ur-Oma.
Als Lehrerin und Direktorin war von Stetten kühl, unnahbar, manche mochten sagen, hart erschienen. Als Vorlese-Oma entwickelte sie einen ganz eigenen Charme, der kleine und große Zuhörer und Zuhörerinnen verzauberte. Sie las nicht nur, sie lebte die Geschichten. Ihre Gesichtszüge veränderten sich, sie war in einem Moment das schüchterne Rotkäppchen, im nächsten die gebrechliche Großmutter und dann der furchteinflößende Wolf. Aber auch wenn ein Kind zuweilen sein Gesicht im Pullover der Mutter verbarg und sogar Erwachsene erschrocken zusammenzuckten – die Vorlese-Oma war so beliebt, dass die Leute vor der Lesehütte Schlange standen, lange, bevor es losgehen sollte.
So auch an diesem 13. Dezember. Einem Freitag. Hedwig von Stetten war in keiner Weise abergläubisch. Wäre sie es gewesen, hätte sie vielleicht auf dem vom nächtlichen Blitzeis noch gefrorenen Boden mehr Vorsicht walten lassen, wäre nicht ausgerutscht und hätte sich auch nicht den Knöchel gebrochen. Sie hätte – pflichtbewusst wie sie war – nicht aus dem übervollen Notaufnahme-Wartebereich des Krankenhauses ihre Freundin Senta Möbius angerufen – und Senta hätte demzufolge auch nicht an ihrer Stelle in dem roten Ohrensessel am künstlichen Hüttenkamin gesessen. Hätte, hätte, hätte.
Stattdessen fand sich die zuverlässige Senta um 15 Uhr in der Lesehütte ein, erklärte ihre Anwesenheit und nahm den Veranstaltern jeden etwaigen Zweifel an ihrer Qualifikation als Lese-Oma-Ersatz, in dem sie ihnen erklärte, dass sie von Beruf Sprecherin war und bereits unzählige Hörbücher aufgenommen hatte.
Sie setze sich probeweise in den Ohrensessel und bemerkte, dass dieser nur von einer üppigen Lichterkette beleuchtet wurde, die sich schlangengleich um einen Christbaum im Eck der Hütte wand. Ihre Bitten um „mehr Licht“ verhallten allerdings ungehört. Hätte sie ihre Bitte mit mehr Nachdruck geäußert, hätte der junge Mann an der Bar oder der Veranstalter ihr eine Lampe zur Seite gestellt und wäre ihr Gesicht deshalb nicht so im Schatten gewesen…… hätte, hätte, hätte.
So nahmen die Dinge an jenem 13. Dezember ungehindert ihren fatalen Lauf.
Senta hatte zur größten Freude ihrer Zuhörerschaft nach Andersens Märchen vom Christbaum gerade damit begonnen, aus der „Schneekönigin“ zu lesen, als ein leises aber deutliches Sirren die Stille zerriss. Senta spürte nur einen Stich im Herzen, dann war sie tot. In dem allgemeinen Durcheinander entkam der Blasrohschütze – oder war es eine Schützin?
Die umgehend eingeleiteten polizeilichen Ermittlungen gingen zunächst nur schleppend voran. Bis der Fall – wohl aufgrund seiner offenbaren Aussichtslosigkeit – Kommissar Schaller und seinem Team übertragen wurde. Wie nicht anders zu erwarten, kam Schaller mit seinen unkonventionellen Ermittlungsmethoden zu einer für die Öffentlichkeit überraschenden aber dennoch richtigen Lösung. Um den Minikrimi nicht über Mitternacht hinaus auszudehnen, sei hier nur das Ergebnis notiert:
Senta Möbius war am falschen Tag am falschen Ort, bzw. in der falschen Rolle gewesen. Eine frühere Schülerin des von Hedwig von Stetten geleiteten Internats hatte die Veranstaltungs-Plakate gesehen. Das Porträt ihrer Peinigerin, die jahrzehntelang der Misshandlung unzähliger Schülerinnen in Form von physischer und psychischer Gewalt Vorschub geleistet hatte, hatte ihre aufgestaute Wut entfesselt. Das Blasrohr gehörte ihr – Blasrohrschießen ist in bayerischen Schützenvereinen ein durchaus gängiger Sport. Die in langen Jahren verblasste Erinnerung und das schlechte Licht hatten dazu gefürt, dass die Täterin Senta für Hedwig gehalten hatte.
Zwei Opfer, zwei Täterinnen. Aber nur eine kam vor Gericht. Die andere war indes ins Ausland entkommen.
Sie ist wach, lange, bevor der Wecker klingelt. Früher hat sie sich nach dem ersten „Kikerikiiii“ nochmal tief in die Daunen geschmiegt, und wenn Mami um sieben mit einer Tasse Kakao ins Zimmer kam und gut gelaunt rief „Sofia, aufstehen, der Morgen lacht!“, lugte nur die Nasenspitze aus der Decke hervor. Früher. Da hatte Sofia nie verstanden, wie Mami es schaffte, immer gut drauf zu sein. Sogar, wenn es draußen noch dunkel war, oder wenn sie einen tierisch ekligen Tag vor sich hatte, mit lauter unangenehmen Meetings und so. Jetzt kommt Mami morgens nie in ihr Zimmer, sondern liegt in unruhigem Medikamentenschlaf bis mittags im Bett.
Sofia schält sich aus der Decke – die Daunen sind in der Waschmaschine verklebt und hängen in Klumpen im Bettbezug. „Aufstehen, Simon, der Morgen lacht“, flüstert sie ihrem kleinen Bruder ins Ohr. Eigentlich nervt es sie, dass er in ihrem Bett schläft, aber jetzt im Winter wärmen sie sich so wenigstens gegenseitig. Und Simon braucht alle Wärme, die er kriegen kann, denkt Sofia. Zärtlich streicht sie ihm das schlaffeuchte Haar aus der Stirn. Blonde Locken, wie Papa. Papa. Sofia schluckt etwas herunter, was wie Tränen schmeckt. Aber sowas kann sie sich nicht leisten. Nicht mehr. Sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen.
Sofia ist erst dreizehn, doch seit ihr Vater vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist – „hit and run“ – heißt das in Amerika, ist sie es, die den Familienalltag am Laufen hält. So gut sie es eben kann. Die Mutter ist chronisch depressiv, zu Zeiten sogar suizidal. Wenn du kein Einkommen hast und keines verdienen kannst, geht der soziale Abstieg ganz schnell. Vaters Geld war in einem halben Jahr verbraucht. Haus und Möbel wurden versteigert, dann der Umzug in die Sozialwohnung.
Sofia hatte kein Problem damit, in eine neue Schule zu gehen, eine Gesamtschule, was anderes gibt es nicht in der Nähe. Die Freundschaften aus dem Mädchengymnasium hatte sie da bereits hinter sich gelassen. Du wirst uninteressant, wenn du nichts mitmachen kannst. Kein Shopping, keine Clubs, und nach den Ferien hast du keine Urlaubsabenteuer zu berichten, weder von den Seychellen noch vom Sprachkurs in England. Nein. Ganz so stimmte das nicht. Es gab da schon ein paar Mädchen, die nicht so waren. Die gerne weiter mit ihr befreundet gewesen wären, weil sie sich mochten. Aber Sofia hatte einen Schlussstrich unter ihr altes Leben gezogen. Und alle und alles hinter sich gelassen. Außerdem hat sie gar keine Zeit mehr für Freundschaften.
Schließlich muss sie sich nicht nur um Simon kümmern, sondern auch um ihre Mutter. „Mami, Simon braucht neue Schuhe“, hat sie erst gestern gesagt und versucht, die dicke Mauer aus Tabletten und Gleichgültigkeit zu durchdringen. „Mir geht’s grade nicht so gut, frag Papa“, war die Antwort.
Frag Papa. Was würde er machen? Er würde sich kümmern, eine Lösung finden. In diesem Fall wohl vor allem: Geld verdienen. Sofia ist dreizehn und geht noch zur Schule! Aber sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen.
In den letzten Wochen hat sie angefangen, in der Pause mit ein paar Typen aus ihrer Klasse rumzuhängen. Eigentlich, nachdem Mandy, sowas wie die Anführerin der Mädchen, versucht hatte, sie fertig zu machen. „Du glaubst wohl, du bist was besseres?“ „Du wohnst in genau so ner dreckigen Sozialwohnung wie wir, ich hab dich heimgehen sehen, du Lauch. Du Bitch, du bist so wack….“ Sofia hatte zwar nicht den Wortlaut verstanden, aber wohl die Absicht. Früher, da hatte Papa sie zum Muay Thai-Training gefahren („Ich fände Ballett ja besser, aber vielleicht musst du dich mal verteidigen können“). Genau. danke Papa. Mandy war zu Boden gegangen. Und Sofia hatte eine neue Clique.
Sie wollte es sich nicht eingestehen, aber die Bewunderung der Jungs tat ihr gut. Sie lernte, Zigaretten zu drehen und Shisha zu rauchen. Eines Tages schenkte ihr Ben einen Minirock aus Kunstleder und sagte: „Den hab ich für Dich gefunden. Mach dich schön, wir gehen zu ner Party, die is lit af.“ Sofia verstand, dass sie nicht nein sagen konnte. Schweren Herzens löste sie ein mini Stück von Mamis Schlaftabletten in Simons Saft auf, legte ihn ins Bett und ging. Ben hatte nicht zu viel versprochen. Die Party war „echt cool“, wie Sofia sich ausdrückte. Es gab Bier und Wodka und Red Bull und Tabletten. Alles umsonst. Zum ersten Mal nach Papas Tod fühlte sie sich frei. Und gut.
Das ist jetzt vier Wochen her. Inzwischen hat sie kein schlechtes Gewissen mehr, wenn sie Simon die aufgelösten Schlaftabletten gibt. Der Kindergärtnerin hat sie gesagt, er hätte eine verschleppte Erkältung und sei deshalb tagsüber so teilnahmslos. Die Schule bringt sie irgendwie hinter sich. Sie ist immer noch besser als der Rest der Klasse, auch, wenn sie nicht lernt und keine Hausaufgaben macht. Der Lehrer lässt sie in Ruhe, denn sie hebt den Durchschnitt. Mandy macht einen Bogen um sie. Sie gilt als Bens Girlfriend. Er kauft ihr Klamotten, was zu essen, genug für sie und Mami und Simon, am Abend die Drinks und die Tabletten. Mehr als knutschen war bislang nicht drin, aber Sofia weiß, irgendwann wird sie sich revanchieren müssen.
Irgendwann war vor drei Tagen. „Süße“, hatte Ben ihr ins Ohr geflüstert und dabei immer wieder daran genagt. „Süße, meine kleine Bitch. Es wird Zeit, dass du mir zeigst, wie lieb du mich hast.“ Sofia hatte genug Wodka und Tabletten intus, um ihm als Antwort die Zunge ganz tief in den Hals zu stecken und sich rhythmisch an seinem Köper zu reiben. Aber das war es gar nicht, was Ben wollte. Er schob sie ein Stück von sich weg auf der abgewetzten, fleckigen Kunstledercouch und sagte, plötzlich ganz Businessmann: „Siehst du die drei Betties da drüben? Die sind echt Boyfriend-Material. Aber sie müssen noch auftauen. Mach mal.“ Und er legte ihr ein paar von den blauen Pillen in die Hand. „Nein, mach ich nicht“, hatte Sofia gesagt. Denn sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen. Sie zieht andere nicht mit runter.
Erstaunlicherweise hatte Ben sie nicht gezwungen. Aber am nächsten Tag auf dem Schulhof hat er sie am Arm gepackt und zum Zaun gezogen. Da standen zwei Männer, schwarz gekleidet, solche, die ihr Muay Thai-Trainer immer mit ganz harten Augen weggeschickt hatte. „Süße, wenn du keinen Stoff verticken willst, dann musst du was anderes machen. Ich hab wegen dir so viel Schulden bei den beiden hier gemacht, da musst du jetzt bezahlen helfen….“, sagte Ben.
Sofia hatte sich losgerissen und war in das Schulgebäude gerannt. Hatte ihre Tasche geholt, dem Lehrer gesagt, ihr sei schlecht, und war nach Hause gegangen, immer mit dem Gefühl, verfolgt zu werden. Zuhause hatte Mami Spaghetti gekocht, und sie saßen sich am Küchentisch gegenüber, es war fast wie früher. „Mami, ich hab da ein Problem“, hatte Sofia begonnen, ihr Herz auszuschütten. Aber ihre Mutter hatte schon wieder versonnen in die Pasta geschaut, nichts gegessen und nur abwesend gemurmelt: „Schatz, frag Papa.“
Als sie Simon vom Kindergarten abholte, fuhr ein schwarzes Auto hinter ihnen her, ganz langsam. In der Wohnung schloss Sofia die Haustür ab, zog die Vorhänge zu und legte sich mit Simon ins Bett.
Gestern Morgen hatte sie in der Schule angerufen und gesagt, „meine Tochter ist krank.“ Das gleiche hatte sie mit dem Kindergarten gemacht. Sie rührte sich nicht aus der Wohnung. Simon protestierte, ihm war langweilig, und den blöden Saft wollte er plötzlich auch nicht mehr trinken. „Der schmeckt so bitter, und dann ist mein Kopf immer soooo schwer.“ Sofia schaute den Schatten zu, wie sie sich über die Wände legten, und den Ameisen, die Simons verschmähtes Marmeladenbrot in unzählige Transportbrocken zerlegten und durch die Küche schleppten, wer weiß wohin.
Gestern Abend, Sofia war grade im Bad, hatte es an der Tür geklingelt, und Simon war schneller gewesen. Als Sofia dazukam, stand Ben da. Nur Ben. Er kam nicht rein, gab ihr ein kleines Päckchen und sagte: morgen holen sie dich ab. Tu, was sie dir sagen. Du hast deinen Bruder doch lieb. „Simon?“ fragte Sofia. „Simon!“ rief sie. Aber Simon war verschwunden.
Später, als sie auf dem Bett saß und ungläubig auf die Waffe starrte, die sie ausgepackt hatte, klingelte ihr Handy. „Hast du es dir überlegt? ja? Dann komm runter. Dein Bruder wartet im Auto. Wenn wir dir erklärt haben, was du zu tun hast, kannst du ihn mit rauf nehmen. Aber wenn du es dir morgen anders überlegst, ist er für immer weg. Wir wissen, wo er spielt….Klar?“
Jetzt bringt Sofia Simon zum Kindergarten. Wie jeden Morgen. Gibt ihm einen Kuss. Wie jeden Morgen. Um die Ecke wartet der schwarze Wagen. Sie steigt ein. Die Männer fahren mit ihr zu einer Garage, dort muss sie die Waffe abfeuern. Zur Übung. Es ist gar nicht schwer. Sie wird aus nächster Nähe schießen und braucht nicht wirklich zu zielen. Sie ist ein großes Mädchen.
Das Auto hält vor einem riesigen Gebäude, Stahl und Glas. Sie steigt aus. In der einen Hand hält sie ein Foto, in der anderen, in einem Beutel versteckt, die entsicherte Waffe. Sie wartet, und als der Mann auf dem Foto die Treppe hinunter kommt, steht sie vor ihm, sagt „Hallo“. Er lächelt sie freundlich an: „Hallo, Kleine!“ Und Sofia drückt ab.
„Nur wenige Minuten nach seinem Freispruch ist „Ali G. das Oberhaupt eines von zwei konkurrierenden Drogenclans, auf den Stufen des Gerichtsgebäudes erschossen worden. Tatverdächtig ist ein Kind, zwölf bis dreizehn Jahre alt. Die Polizei sucht nach dem Mädchen, das allerdings noch nicht strafmündig ist.“
„Ich habe dir ja immer gesagt, dass du einen Fehler gemacht hast, als du dich mit diesem Magier eingelassen hast! Mephisto! Das sagt doch schon alles. Teuflischer Typ!“
„Uwe ist kein Magier, Mutti. Er ist ein Zauberer.“
„Als ob da ein Unterschied wäre!“
„Und ob. Zauberei ist ein Handwerk, und Uwe ist Handwerker. Er lässt Kaninchen im Zylinder verschwinden und holt stattdessen Seidentücher daraus hervor. Mephisto ist sein Künstlername. Er heißt UWE. Nenn ihn bitte auch so.“
„Ach ja. Nur, dass Max aus UWEs Auto verschwunden ist und er nicht einmal ein Kaninchen auf dem Kindersitz hatte, als er zu Hause ankam. Wo bitte ist dein Kind? Machst du dir gar keine Sorgen?“
„Natürlich mache ich mir Sorgen. Meph – Uwe auch. Aber wenn du ständig auf ihm herumhackst, hilft uns das auch nicht weiter. Lass dir lieber was einfallen, um Max zu finden.“
Mit einem Ruck schiebt Yvonne den Stuhl nach hinten und greift im Aufstehen nach der Zigarettenpackung, die neben einem übervollen Aschenbecher auf dem Küchentisch liegt.
„Hör auf zu rauchen! Man sieht ja schon nicht mehr die Hand vor Augen in diesem Qualm. Wenn Max jetzt heimkommt, kriegt er keine Luft, das weißt du doch!“
„WENN er heimkommt…“ Yvonne zündet die Zigarette an. Ihre Hände zittern, immer wieder geht die Flamme aus. Endlich brennt die Zigarette, sie nimmt einen tiefen Zug und geht durch die Küchentür hinaus in den Garten. Auf und ab, auf und ab. von einer Ecke des schmalen Reihenhauses zur anderen. Beugt sich über den Jägerzaun, bis sie aus den Augenwinkeln die Straße sehen kann. Ein Kind hüpft den Bürgersteig entlang, in der einen Hand eine Schultasche, in der anderen einen Hasen. Einen Hasen? Yvonne reißt das Gartentor auf, ist mit zwei Sätzen auf der Straße. Leer. Kein Kind zu sehen. Sie wirft die Zigarette in den Rinnstein. Ihre Augen brennen, tränenlos. Wo ist Max?
„Wo ist Max? Hast Du ihn gefunden?“, flüstert sie ins Telefon, als Uwe anruft. „Nein, Schatz. Nein. Leider.“
„Dann gehe ich jetzt zur Polizei“, sagt Yvonne.
„Warte noch, Schatz. Vielleicht hat er irgendwas Spannendes gesehen, du weißt ja, wie er ist. Wenn die Polizei erst mal ermittelt, sind immer die Eltern Schuld. Am Ende nehmen sie dir Max sogar weg……Schatz, lass uns noch warten. Bis heute Abend. Ich suche den Park nach ihm ab. Dann den Bahnhof. Du bleibst zu Hause und wartest auf ihn.“
„Gut. Melde Dich.“
In der Küche hat Yvonnes Mutter die Tarotkartenj ausgelegt. „Wenn Mephisto glaubt, dass er der einzige Magier ist, hat er sich verrechnet“, murmelt sie.
„Mutti, lass das! Überleg lieber, warum Max aus dem Auto gestiegen ist. Irgendwas muss er gesehen oder gehört haben.“
„Ich glaube nicht, dass er von alleine ausgestiegen ist. Und die Karten helfen mir dabei, ihn zu finden.“ Während sie spricht, dreht sie die Karten um, eine nach der anderen. „So. Ja, klar. Der Hierophant. Der Narr. Der Magier. Und jetzt..:“ Sie lässt die letzte Karte fallen, als habe sie sich verbrannt. „Nein.“
„Mutti? Hör endlich auf damit. Mutti? Was ist?“
Yvonnes Mutter starrt auf den Küchentisch. Auf dem blanken Holz liegt die 13. Karte. Der Tod.
Ohne nachzudenken greift Yvonne zum Telefon. Die Polizei nimmt ihren Anruf ernst. Die Suche nach dem 7-jährigen Max wird umgehend eingeleitet. Sie finden das Kind schließlich im ICE von Frankfurt nach Paris in einem Koffer mit doppeltem Boden. Erstickt. Der Koffer gehört Uwe Reber, Künstlername Mephisto. Reber lässt sich ohne Gegenwehr festnehmen und gesteht sofort, schuld am Tod seines Stiefsohnes zu sein.
„Es war ein Unfall. Max träumte davon, ein großer Zauberer zu werden. Ich sollte ihm immer Tricks beibringen. Wenn eine Schulstunde ausfiel, rief er mich an, ich holte ihn ab und wir fuhren in meinen Probenraum, um zu „üben“. Wie heute. Er wollte unbedingt den Trick mit dem doppelten Boden ausprobieren. Also habe ich ihn da „verschwinden“ lassen. Natürlich wollte ich ihn gleich wieder rausholen. Aber dann stand plötzlich Yvonne in der Tür. Sie war „zufällig“ vorbeigekommen und wollte die Zeit, bis ich Max von der Schule abholen sollte, mit mir allein genießen, ohne Kind, ohne Oma…
Als sie gegangen war, befreite ich Max sofort aus dem Koffer. Es war zu spät!“
Ihr Liebhaber gepflegter Adventskriminalistik: heute mal was Preisgekröntes. Mit dieser explosiven Adventstragödie habe ich mal den Krimipreis Goldbroiler gewonnen. Viel „Spaß“ beim Lesen….
Der Tod eines Traums. Adventstragödie in vier Akten.
1.
„Dicke rote Kerzen, Tannenzapfenduft..“ „Marie, leise, Papa schläft. War so viel los in der Schule!“. Sie legte sich aufs Bett, stöpselte das Lied ins Ohr. Die Wohnung duftete nach Zimt und Plätzchen. Marie liebte den Advent, die gemütliche Heimlichzeit.
Sieht aus wie eine dicke rote Kerze. Passt perfekt in den Adventskranz. Keiner bemerkt, wer sich vor dem Blumenladen eine Zigarette anzündet und den Docht dazu. Jetzt schnell weg und weiter, ein sichtlich unsichtbarer Schatten in der Menge wogender Mäntel. Der Kirchturm wird zum Logenplatz, die Straße zur Arena. Ein Knall, klirrendes Glas von zerberstenden Scheiben. Schreie. Schreie und Blut.
2.
„…Man begegnet hin und wieder schon dem Nikolaus“ Er hatte immer was Süßes im Sack. Anziehend und unheimlich zugleich. Ein geheimnisvoller Fremder. Bis er ihr zu nahe kam.
Bunt und laut und weihnachtsdurstig wimmelt die Samstagsmenge in der jubelbeschallten Einkaufsmeile. Alle freuen sich und viele nehmen gern den Glühwein, den ihnen der dick vermummte Nikolaus freundlich lächelnd anbietet. Sie kommen nicht weit. Rattengift wirkt schnell.
3.
„Lieb verpackte Päckchen, überall versteckt“. Am letzten Schultag wurde gewichtelt. Marie hatte Jo ein Schokoherz gekauft. Und er? Als sie ihr Päckchen auspackte, grölte die ganze Klasse. Ein kaputter Vibrator für „Lehrers Liebling“!
Am letzten Schultag strömen alle in die Aula. Neunhundert Schüler bestaunen die Riesentanne mit den Paketen für arme Kinder darunter. Halleluja singt der Chor der Ehemaligen. Ritual und Tradition. Diesmal mit Feuerwerk. Ein Handy klingelt, und schon wirbeln Sänger, Äste, Kerzen durch die Luft. Wie vorgezogenes Silvester.
4.
„Alte Lieder, Dunkelheit, Bald ist es so weit!“ Es war so einfach. Internet sei Dank. Erst der Flirt, dann die Kalaschnikow. Ein volles Magazin. Drei Treppen und ein Flur. „Schöne Bescherung, Papa, jetzt ist Schluss mit Weihnachtsmann“, und sie entsichert die Waffe.