Adventskalender MiniKrimi am 9. Dezember


Heute kommt also eine kürzere Geschichte. Und sie ist auch kein ganz richtiger Krimi. Obwohl darin ein Selbstmord und sogar ein Mord verhindert werden. Viel Spaß beim Lesen! Und ich freue mich auf und über Euer Feedback.

Übrigens: seit gestern habe ich eine neue Brille. So ganz klappt das mit der Gleitsicht noch nicht. Wie Ihr vielleicht merken werdet 🙂

Wie besiege ich einen Drachen?

„Mama, ich kann nicht in die Schule. Mir ist schlecht.“ Aslans Stimme klingt leise und brüchig. Aber so schnell kann er seine Mutter nicht überzeugen. „Was, schon wieder? Du warst doch erst letzte Woche einen Tag daheim. Du verpasst viel zu viel Unterrichtsstoff.“ „Mama, ehrlich, ich hab so Bauchschmerzen.“ Der Junge hockt sich auf die Bettkante, die Lippen zusammengekniffen, die Augen leidend. Er presst beide Hände auf den Magen und krümmt sich.

„Na gut. Ich rufe in der Schule an. Und dann auch gleich bei Doktor Klebe. Das passiert einfach zu oft. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen.“

Die Aussicht, zum Kinderarzt zu müssen. ist für Aslan beinahe genauso schrecklich wie die auf einen ganzen Tag in der neuen Klasse. Aber nur beinahe. „Ok, danke, Mom“, sagt er leise und denkt: Bis wir bei Doktor Klebe einen Termin kriegen, lassen sich Mia und ich was einfallen, damit ich nicht hin muss.

Mia ist Aslans Siamkatze. Sie saß eines Tages auf der Terrasse und ließ sich von niemandem anfassen. Außer von Aslan. Zu diesem Zeitpunkt war sie weder gechipt noch kastriert, und alle Versuche, überTierschutz, Polizei und Soziale Medien ihre Besitzer ausfindig zu machen, blieben erfolglos. Seitdem sind Mia und Aslan unzertrennlich. Man sagt Siamkatzen ja eine hohe Intelligenz nach, gepaart mit einer gehörigen Portion Durchsetzungskraft. Alles Eigenschaften, die Aslan an sich selbst noch nicht entdecken konnte.

Wenn er, wie so oft seit dem Wechsel in die 5. Klasse und die neue Schule, nachmittags müde und mutlos nach Hause kommt, geht er als erstes in sein Zimmer und wirft sich auf’s Bett. Dort liegt Mia auf seinem Kopfkissen und schaut ihn wissend aus einem Paar stechend blauer Augen an. „Na, war’s wieder so schlimm, heute? Erzähl“, sagt ihr Blick. Und Aslan redet sich den Frust von der Seele. Alex hat sich sein Federmäppchen geschnappt, und dann haben er, Mike und Dani damit Volleyball gespielt, solange, bis der Reißverschluss kaputtgegangen ist und der Inhalt im ganzen Klassenzimmer rumflog. Oder Dani hat die Brotbox aus dem Ranzen geklaut, sie aufgemacht und gespielt verduzt gerufen: „Hey, der Aslan wird sogar von Apfelschnitzen fett. Oder geht er in der Pause heimlich zur Pommesbude? Hä, Aslan, gib’s zu, du Fettsack!“

In letzter Zeit machen sogar ein paar Mädchen mit. Egal, was sie selbst für Fehler haben. Aslan ist immer der willkommene Prellbock. „Natürlich. Während sie über dich lachen, sind sie vor dem Spott der anderen sicher“, hat Mia ihm erklärt. Aber das ist ein schwacher Trost, denn Aslan fällt nichts ein, womit er die anderen bloßstellen könnte. Das ist einfach nicht seine Art. Und dass er gut in Deutsch und Kunst ist, bringt ihm in der Klasse auch keine Pluspunkte. Im Gegenteil. „Aslan wird später mal so ein dicker, fauler Lehrersack wie Herr Müller“, hat Denise gestern erst erklärt. Herr Müller ist der meistgehasste Lehrer in der Schule, massiv übergewichtig, glatzköpfig, ungepflegt und hinterhältig. Seine Fächerkombination ist Kunst und Deutsch.

Mehr als einmal ist Aslan seitdem auf dem Heimweg lange auf der Brücke stehengeblieben und hat in den Fluss geschaut. Ob man gleich stirbt, wenn man aus dieser Höhe runterspringt? Oder ob man warten muss, bis unten ein Kahn vorbeifährt, und versuchen, auf dem Deck zu landen? Dann ist man sicher Matsch. In den letzten Tagen spürt er, wie das Wasser ihn magisch anzieht. Immer stärker.

Nein, es ist kein Wunder, dass Aslan nicht mehr gern zur Schule geht. Die Bauchschmerzen muss er gar nicht vortäuschen. Es genügt, dass er sich vorstellt, wie die anderen lachen, wenn er zur Tür reinkommt, und schon verkrampft sich sein Magen und fängt an, zu brennen. Ungefähr so, als würde ein Drache in ihm hocken und Feuer spucken.

Als er heute nach der letzten Stunde auf den Schulhof kommt – als letzter, weil Alex ihm in der Pause das Handy abgenommen und dann im Unterricht hat klingeln lassen, woraufhin Frau Dietz es kassiert und Aslan eine Straferbeit aufgebrummt hat – natürlich ohne sich für den Hergang zu interessieren – steht das Auto seiner Mutter vor dem Tor. „Du hast ja wieder mal furchtbar getrödelt, Aslan. Schnell, steig ein, wir haben gleich einen Termin beim Kinderarzt.“ „Mist“, denkt Aslan. Auf die Schnelle fällt ihm keine Ausrede ein, und auf Mia kann er jetzt auch nicht zurückgreifen. Aber eins weiß er genau: dem alten Mann mit den grauen Locken und dem strengen Blick wird er bestimmt nicht erzählen, woher seine Bauchschmerzen kommen. Dann hält er ihn womöglich für verrückt und steckt ihn in die Kinderpsychiatrie, so wie Marie von gegenüber. Die hatte immer Albträume, und dann war sie plötzlich für lange Zeit verschwunden. Und als sie zurückkam, war sie ganz still. Sie hat ihm nie wieder von schlimmen Träumen erzählt, aber auch von nichts anderem. Und dann ist sie mit ihrer Mutter weggezogen. Ohne den Vater. Nein, das will Aslan nicht riskieren.

Aber dann kommt alles anders. Doktor Klebe ist nicht da. Seine Vertretung ist viel jünger, hat lange braune Haare und redet nur mit ihm, nicht mit seiner Mutter. Sie hört seinen Bauch ab, schaut ihm in den Hals, die Augen und die Ohren. Und dann sagt sie tatsächlich: „Frau Beck, ist es für Sie ok, wenn ich einen Moment alleine mit Aslan spreche? Er ist doch auch nicht dabei, wenn Sie zum Arezt gehen, oder?“

Die Mutter ist verblüfft und schaut erstmal skeptisch. Aber als Aslan nicht protestiert, geht sie mit einem Achselzucken aus dem Sprechzimmer.

„Aslan, dein Bauch ist ok. Und auch sonst fehlt dir nichts. Körperlich. Aber kann es sein, dass dich was bedrückt?“ Als er nicht antwortet, spricht sie weiter: „Als ich so alt war wie du, bin ich in eine andere Schule gekommen. Du weißt schon, aufs Gymnasium. Da habe ich lange keine Freunde gefunden. Ich war noch nie so alleine wie damals. Und ich wollte am liebsten nicht mehr zur Schule gehen. Kennst du das?“

Aslan schaut sie an. Dann bricht es aus ihm heraus: „Mit der Einsamkeit würde ich schon zurecht kommen. Aber die lassen mich einfach nicht in Ruhe. Fettklops, nennen sie mich. Stimmt ja auch. Aber wenn sie mich ständen fertig machen, Mobbing heißt das, ich weß das schon, dann kriege ich nur noch mehr Hunger. Ja, ich kenn das, ich will auch nie mehr in diese Schule. Können Sie da was machen?“

Die Ärztin schaut ihn sehr freundlich an. Beinahe liebevoll. „Ja und nein. Ich kann dir kein Attest schreiben, das dich für immer vom Unterricht befreit.“ Aslan presst enttäuscht die Lippen aufeinander. „Warte! Aber ich kann dir dabei helfen, dass das Mobbing aufhört.“

„Das glaub ich nicht“, sagt Aslan. „Wart’s ab, Du wirst schon sehen. Erzähl mir mal, was du so richtig gerne machst und ganz gut kannst. Nicht in der Schule.“

Aslan muss lange nachdenken. Was kann er? „In den Ferien habe ich einen Zirkus-Workshop besucht. Da habe ich gelernt, zu jonglieren und sogar Feuer zu schlucken. Das war toll. Aber was hat das mit dem Mobbing zu tun?“

„GIbt es in deiner Schule etwa keine Weihnachtsaufführung?“ „Doch, naklar. Aber…“

„Kein aber. Sprich mit denen, die das organisieren. Und überzeuge sie, dass das Ganze nur mit einem Jongleur und Feuerschlucker Erfolg haben kann. Und nach den Weihnachtsferien kommst du wieder und erzählst, wie es dir geht. Ok?“

Die Mutter ist zwar erstaunt, dass Aslan keine Medikamente verschrieben bekommt. Aber gleichzeitig ist sie erleichtert, dass er nichts Schlimmes zu haben scheint.

Daheim redet Aslan lange mit Mia. Er kann sich überhaupt nicht vorstellen, woher er den Mut nehmen soll, Frau Dietz anzusprechen. Ausgerechnet die! „Dann spring ich doch lieber von der Brücke“, vertraut er Mia an. „Das wirst du gefälligst bleiben lassen. Oder schieb es wenigstens bis nach Weihnachten auf. Sonst haben wir hier so ne miese Stimmung, dass ich meinen neuen Kratzbaum bestimmt nicht kriege.“ Typisch Siamkatze, Ist sich selbt am nächsten.

Und dann geschieht noch etwas Unerwartetes. Frau Dietz hört sich seinen Vorschlag in Ruhe an, und statt ihn entrüstet oder, schlimmer, lachend rauszuschicken, nickt sie, schaut ihn lange an und sagt langsam: „Das ist eine richtig tolle Idee! Ich wusste gar nicht, dass du sowas kannst! Wir wollen um die Krippe herum eine Art Jahrmarkt aufbauen. Und der wirkt natürlich erst mit einem Jongleur so richtig. Aber ich braucbe eine Einverständniserklärung von deinen Eltern, dass du wirklich Feuer schlucken darfst.“

Gleich nach der ersten Probe verändert sich etwas im Verhalten von Aslans Mitschülern. Die Kids aus der 7. Klasse, die Musik machen und die größeren Sprechrollen haben, sind sofort begeistert von Aslans Können. Sie fragen ihn ganz viele Sachen und wollen, dass er ihnen seine Tricks beibringt. Alex, Dani und die anderen stehen dabei und staunen. Als erste kommt Alice auf Aslan zu und fragt, ob sie zusammen heimgehen wollen.

„Na, wie geht’s dir?“, fragt die Ärztin, als sie sich im Januar wiedersehen. „Och, ganz gut“, antwortet Aslan. Meine Mutter hat mich in einer Zirkusschule angemeldet, zweimal die Woche ist Training. Alice geht auch hin. Sie macht Akrobatik.“

„Und sonst?“ „Ach ja, noch was. Ich hatte ja geplant, bei der Vorführung den Alex in eine lebende Fackel zu verwandeln. Aber dann habe ich mich in letzter Sekunde doch dagegen entschieden. Mobbing ist eine Sache, aber Mord wäre noch schlimmer gewesen, oder?“

3 Antworten auf “Adventskalender MiniKrimi am 9. Dezember”

  1. Hallo Frau Bastid,
    Ihren Kurzkrimi finde ich wunderbar gelungen! Er spiegelt ein sehr wichtiges Thema und gibt einen fantastischen Lösungsvorschlag. Auch das Ende Ihrer Geschichte ist realistisch, leider. Alles Gute weiterhin und beste Grüsse von Karin Gercke

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