MiniKrimi Adventskalender am 8. Dezember


Santa Lucia

„Wir reißen uns hier täglich den Ar… auf für die Sicherheit unserer Frauen und Mädchen. Und so ein paar verrückte Millionärsbabys kleben sich auf der Autobahn und am Flughafen fest. Irre, sowas, einfach irre! Wegen denen kommen wir dann nicht rechtzeitig, um zu verhindern, dass so ein Islamfanatiker wieder mal ein deutsches Kind absticht.“

Senta sitzt still am Tisch und schneidet konzentriert ihr Tofuschnitzel in sieben exakt gleich lange Streifen. Sie ist die Tiraden ihres Vaters gewöhnt. Und sie weiß, diskutieren bringt nichts, ihr Vater rückt kein Stück von seiner Position ab. Im Gegenteil: er versteigt sich nur zu immer absurderen Behauptungen. Einmal hat er sogar versucht, Sentas Telefon abhören zu lassen, mit der Begründung, sie werde von einem linksextremen Aktivisten gestalkt.

Senta hat keine Ahnung, ob ihre Mutter die Ansichten ihres Mannes teilt. Bei Tisch ist sie vollauf damit beschäftigt, Ehemann und Sohn zu bedienen, und nach dem Essen das Geschirr ab- und die Küche aufzuräumen. Ihre einzige Reaktion besteht darin, auf die aggressive Frage von Arne, Sentas Bruder, warum seine blöde Schwester kein richtiges Fleisch mehr isst, zu beschwichtigen: „Is‘ gut jetzt, Arne. Lass sie doch.“

Den Rest des Abends verbringen Arne und sein Vater entweder vor dem Fernseher oder in ihrem Stammlokal. Seit der Sohn in die Fußstapfen des Vaters getreten ist und nun schon im zweiten Jahr die Polizeischule besucht, sind die beiden noch enger zusammengewachsen. Sie sprechen dieselbe Sprache, sie spielen im gleichen Fußballclub, sie trainieren im gleichen Kampfsportverein, sie teilen die gleichen Überzeugungen und Einstellungen.

Senta ist so weit von ihnen entfernt wie der Mars von der Erde, Sie hockt im Lotussitz auf ihrem Bett, im Hintergrund läuft leiser Indiepop. Sie scrollt durch ihre Telegram-Gruppe. Andi fragt, was heute noch so läuft. „Nichts. Mir hat mein Vater wieder krass die Stimmung gekillt“, antwortet Senta. „Ich häng noch was hier in Telegram ab, dann hau ich mich in die Kiste.“

Sie ist todmüde, aber sie kann nicht einschlafen, wie so oft in letzter Zeit. Als sie mit den Fridays for future Protesten angefangen haben, waren sie meist zu zehnt, maximal. Aber jetzt ist die lokale Gruppe schon so groß, ,dass es ihr schwerfällt, alle Namen und Gesichter zu koordinieren. Sie nennen sich jetzt auch „Letzte Generation“, denn sie sind davon überzeugt, dass nach ihnen niemand mehr da sein wird, wenn es ihnen und ihren Gleihaltrigen auf der ganzen Welt nicht gelingt, den Konsumwahnsin, die Koloniale Ausbeutung und die Klimakrise zu stoppen. Sie sind international vernetzt. Sie predigen Wasser und trinken es auch. Keine Flugurlaube zu last minute Preisen, für sie. Sie fahren Fahrrad, ÖPNV oder gehen zu Fuß. Sie tragen nachhaltige Klamotten aus fairem Handel. Sie boykottieren die Modeindustrie. Sie ernähren sich fleischlos, nicht, weil sie kein Steak mögen, sondern weil das der Umwelt schadet und ein Privileg ist, auf das sie verzichten möchten. Sie lassen sich von den Eltern weder bringen noch abholen, auch nicht mit Elektroautos. Und sie üben sich in Gelassenheit, wenn alte weiße Männer und auch nicht so alte weiße Frauen, die sie nicht einmal kennen, ihnen Heuchelei vorwerfen.

Senta liegt im Bett, und ihre Gedanken fahren Karussell. Seit ein paar Wochen ist Farid in ihrer Gruppe. Er kommt aus Afghanistan und wohnt in einer Unterkunft für UMFs, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Farid hat ganz andere Sorgen als die Reduzierung von Auto- und Flugverkehr. In seinem Land herrschen WIllkür und Unterdrückung. Und trotzdem macht er mit, klebt sich aufs Rollfeld. „WIr haben alle nur eine Welt. Was wir hier machen, ist auch für die jungen Leute in Afghanistan wichtig“, sagt Farid. Er betet zu Allah um Einsicht für die Taliban und die Politiker*innen in Deutschland. Gewalt ist Gewalt. Gegen Menschen und gegen die Natur. Farid ist einer von denen, die Sentas Vater am liebsten postwendend zurückschicken würde. Mit nem kräftigen Tritt in den A… Sentas Bruder sagt, dass solche wie Farid Schuld daran sind, dass es mit Deutschland den Bach runtergeht, kulturell, wirtschaftlich und politisch.

Sie steht auf, um sich in der Küche ein Bier zu holen, als Absacker. Immerhin, dafür gilt noch das deutsche Reinheitsgebot. Aus dem Wohnzimmer hört sie Vater und Bruder laut ein WM-Fußballspiel kommentieren. Ach ja – dass „wir“ schon in der Vorrunde ausgeschieden sind, liegt natürlich auch an den Ausländern. Obwohl – offenbar nicht an denen, die in der Nationalmannschaft spielen…..

Arnes Handy auf dem Küchentisch vibriert. Eine neue Telegram-Mitteilung. Aus den Augenwinkeln liest Senta „Flashmob Adventskerzen“. Was ist das? Offenbar hat ihr Bruder eine Telegram-Gruppe gegründet, die einen Flashmob plant. Sie erkennt ein paar Namen aus seiner Polizeischule. „Tooooor“ brüllt es aus dem Wohnzimmer. Senta giibt Arnes Passwort ein – er ändert es regelmäßig, und reglmäßig knackt sie es – und nimmt sich mit dem Psedonym Deutschmädel18 in die Gruppe auf. Auf Telegram geht das ja anonym ohne Telefonnummer und SIM Card. In ihrem Zimmer trinkt sie das Bier aus und fällt in einen unruhigen Schlaf.

In den nächsten Tagen wächst die Telegram Gruppe Flashmob Adventskerzen immer weiter. Offenbar plant ihr Bruder einen Adventsbesuch im UMF-Wohnheim, „um den Fremdlingen hier ein Stück gute deutsche Kultur nahezubringen.“ Passend zum Advent sollen alle „Kerzen“ mitbringen, „für eine warme und gemütliche Stimmung.“ Arnes Freund und Zimmerkollege auf der Polizeischule, Karsten, erklärt sich bereit, die“Kerzen“ zu organisieren. Und Claudia, ebenfalls eine Polizeischülerin, will für die „Cocktails“ sorgen, zur Auflockerung.

Senta ist schnell klar,. dass er hier nicht um einen besinnlichen Adventsnachmittag geht. Für Kerzen liest sie Fackeln, die Cocktails sind Mollies, da ist sich Senta sicher.

Gar nicht sicher ist sie allerdings, wie sie das Ganze vereiteln kann. Der Polizei einen anonymen Tipp geben? Am Ende landet sie damit bei ihrem Vater, und der ist sicher einer der Hauptfackelträger. Ihre Freunde der Letzen Generation will sie ebenfalls nicht mit hineinziehen. Die würden wahrscheinlich, schwarz maskiert und mit Steinen bewaffnet, zum Straßenkampf antreten. Nein. Da muss eine andere Lösung her.

Am nächsten Tag trifft sie sich nach der Schule mit Farid. Er will Fackeln kaufen. „Fackeln? Im Enrst jetzt? Wofür???“ „Weißt du, ein paar von uns haben Familie in Schweden, also Onkeln und Tanten, die da schon länger leben, und zu denen sie eigentlich wollen, sobald die derutschen Behörden sie gehen lassen. Und da dachte ich, wir machen ein bisschen schwedische Stimmung am Luziafest, am 13. Dezember.“

Das ist dieLösung. „Super, Farid. Darf ich mitmachen? Ich könnte unseren Schulchor fragen, die kommen bestimmt sehr gerne und singen für euch das Luzialied! Komm, wir sprechen das gleich mit der Heimleitung ab.“

Wenn Senta etwas gelernt hat, bei ihren Aktionen, dann ist das Organisation. In kürzester Zeit steht ein wunderbar romantisches Luziafest. DIe Flashmob-Gruppe ist leicht vom 13. Dezember als Termin zu überzeugen. Denn das Deutschmädel weiß aus interner Quelle, dass am 14. Dezember die Häfte der jungen Flüchtlinge verlegt werden soll. Da ist für die Aktion natürlich Eile geboten.

Der Abend des 13. Dezembers ist da. Und Senta fühlt sich bodenlos. Wenn was schiefgeht? Sie hat keine Ahnung, wie viele Mobber tatsächlich zum Flash kommen werden – das ist ja der Witz dabei. Aber was, wenn die auf die süßen weißen Chormädchen losgehen? Dagegen könnten auch ihre Freunde*innen, die sie – natürlich ohne den Hintergrund zu erklären – eingeladen hat, nichts ausrichten.

Der Mob ist für 17.30 Uhr angesagt. Um 17.15 Uhr versammeln sich 50 Kinder in niedlichen weißen Klamotten mit Kränzen im Haar und Kerzen in den Händen vor der Unterkunft. Um 17.25 Uhr singen sie sich ein. Und um 17.30 Uhr singt ein Chor heller jubelnder Stimmen „Santa Lucia“, dass es nur so über den Platz schallt. Überall werden Fenster aufgerissen. Die jungen Flüchtlinge kommen mit ihren Betreuer*innen aus dem Haus, viele von ihnen haben Tränen in den Augen. Aus allen Straßen gesellen sich derweil immer mehr Menschen dazu. Sie tragen dunkle Kleidung, schwenken brennende Fackeln und rufen etwas, das im lauten Kindergesang untergeht, zumal die Anwohner alle kräftig mit einstimmen. Senta glaubt „Deutschland“ zu verstehen.

Aber warum auch nicht? Nach der letzten Strophe greift sie nach dem Mikrophon des Chorleiters: „Herzlich willkommen in Deutschland“, ruft sie. „Ihr seht, auch bei uns ist der Advent international, aber wie überall feiern wir die Hoffnung auf das Licht mit Fackeln und Kerzen. Ein besonderes Dankeschön auch euch“ – mit einer schwungvollen Armbewegung umfasst sie den dunklen Fackelmob – „wie toll, dass Ihr mitfeiert. Heute sind wir alle eine große Gemeinschaft. Meine Freund*innen von der letzten Generation, und da hinten steht mein Bruder. Arne, hast du dir diese Überraschung ausgedacht? WOW, danke. Ein Applaus für unsere Luzias und die Fackelträger*innen.“

Inzwischen haben die Flüchtlinge Teller mit Fladenbrot rausgetragen. Und aus den umliegfenden Häusern haben die Bewohner*innen beigesteuert, was sie in Küche und Kühlschrank hatten. Das Luziafest dauert bis weit in den Abend hinein. Und Senta wünscht sich, dass ein paar der Fackelleute, die ertaunlicherweise mitfeiern, vielleicht ins Nachdenken kommen.

Arne eher nicht. Davon ist Senta überzeugt.

MiniKrimi Adventskalender am 5. Dezember

Schlafendes Mädchen, hinter ihr eine Fabelwesen-Maske.

Wie bitte?

Ich öffne die Tür einen Spaltbreit, ohne ein zweites Klingeln abzuwarten. Als sie mir ihre Ausweise hinhalten, viel zu nah, als dass ich etwas erkennen könnte, nicke ich freundlich und lächle abwartend. Sekunden vergehen. Dann fragt der Ältere: „Haben Sie gehört, was ich Sie gefragt habe?“ Ich lächle weiter. Freundlich und vage. „Wie bitte?“ Ich kann Lippenlesen, aber das wissen die beiden nicht. Offenbar wissen sie auch nichts von meiner Hörschwäche. Das Wort Schwerhörigkeit mag ich nicht. Es trifft ja nicht eigentlich auf mich zu. Doch auch das weiß keiner. Mehr. Ich greife in die Tasche meiner Jeans, fische die Hörgeräte raus und setze sie ein, sorgfältig, fast ein wenig umständlich. Unverwandt lächelnd, ohne den Türspalt zu verbreitern, frage ich höflich: „Ja?“

Der Ältere schließt die Augen, so kurz, dass ich es mir auch eingebildet haben könnte. Das ist das einzige Zeichen seiner Ungeduld. Mit scheinfreundlicher Stimme wiederholt er, was ich schon beim ersten Mal verstanden habe. „Müller, Kriminalhauptkomissar. Das ist mein Kollege, Kriminalmeister Schmidt.“ Ehrlich jetzt? Müller und Schmidt? denke ich. Wie einfallsreich. Ich nicke. „Frau Brandt, es geht um Ihre Bekannte, Lisa Lemberg. Wir hätten da ein Paar Fragen und würden Sie bitten, uns zu unserer Dienststelle zu begleiten.“

Ich könnte fragen: „Warum?“, könnte sagen: „Nicht ohne meinen Anwalt.“ Oder: „Wie kommen Sie auf mich?“ Stattdessen murmele ich: „Moment, ich sag nur schnell meiner Katze Bescheid“, gehe ins Wohnzimmer und streichele Madame Pompadour über den Kopf. Sie thront teilnahmslos auf ihrem Kissen vor dem Kamin. Nicht einmal eine Katze nimmt Notiz von mir. Aber die Polizei. Fühle ich mich geschmeichelt?!

Ich ziehe mir Daunenjacke und Stiefel an. Dabei sehe ich, dass Kriminalhauptmüller seinen Fuß im Türspalt hat. Soviel unnötige Vorsorge. Ihr Wagen steht direkt vor dem Haus. Kriminalschmidt lenkt uns geschmeidig durch den Nachmittagsverkehr. Dann sitze ich in einem Verhörraum – wahrscheinlich nicht die richtige Bezeichnung, aber sie passt zu mir – mit einer Tasse Beuteltee und Kondensmilch.

„Frau Brandt: wie gut kennen Sie Frau Lemberg? Wann haben Sie sie zuletzt gesehen? Und wo waren Sie letzten Donnerstagnachmittag, so gegen 17.15 Uhr?“ Müller klingt lauernd, während Schmidt‘s Kuli den Takt zu einem Lied klopft, das ich nicht hören kann. Statt Müller zu erklären, dass seine Verhörtaktik erbärmlich ist, antworte ich auf seine Fragen. „Ich kenne Lisa, Frau Lemberg, von der Uni. Seit sie ihre Galerie eröffnet hat, habe ich für sie verschiedene Expertisen gemacht.“  Schmidt zieht die Augenbrauen hoch, und ich sage: „Mit meinen Augen ist alles in Ordnung. Auch mit meinem Gehirn.“ Das setze ich ganz bewusst hinzu.

„Frau Lemberg war eine erfolgreiche Galeristin. Sie haben keine feste Anstellung und leben von Gelegenheitsaufträgen. Waren Sie eifersüchtig?“ Kriminalmüller wieder. Er sollte unbedingt die goldenen Regeln der Vernehmungslehre auffrischen. „Ich arbeite freiberuflich als Expertin für zeitgenössische Kunst. Ich bin nicht so der Teamplayer. Zu großes Verhör-Risiko.“ Ich lächle als Einzige über meine Pointe. „Ich kann mich nicht erinnern, wo ich am Donnerstagnachmittag um fünf war. Die Realität ist kein Agatha-Christie-Roman. Wahrscheinlich war ich daheim und habe gelesen. Oder im Park. Oder im Café…“ „beim Lesen“, fällt Müller mir ins Wort.

„Um es abzukürzen, Frau Brandt. Ihre Freundin wurde zwischen 17 und 17.30 Uhr mit einer Skulptur von Kara Walker erschlagen, für die Sie eine Expertise erstellt haben. Eine falsche Expertise. Denn bei der Skulptur handelt es sich um eine Kopie. Gut gemacht, aber dennoch… Und“, fährt er fort, als ich zu einer Entgegnung ansetze, „Sie wurden um 17.15 am Tatort gesehen. Eine Zeugin hat sie zweifelsfrei identifiziert, als Sie hier vor dem Präsidium aus dem Auto gestiegen sind.“

Ich schaue Müller an. Der Mann überrascht mich. Nicht. „Wer ist die Zeugin?“ „Das darf ich Ihnen nicht sagen. Aber sie ist sich sicher. Ich muss sie leider hierbehalten. Frau Brandt, sie sollten Ihren Anwalt kontaktieren. Wir stellen Ihnen gerne einen Gebärdendolmetscher zur Seite.“

Natürlich. Sie ist schwerhörig, sie steht unter Mordverdacht. Aber sie ist eine Brandt. Da darf man sich als kleiner Beamter keinen Schnitzer erlauben. Unser Familienanwalt erscheint mit einer Dallmayr-Tüte: Pastrami-Sandwiches und eine eiskalten Flasche Haku-Vodka. Imposant. „Was kann ich für dich tun?“ Als er nach einer Viertelstunde zurückkommt, habe ich den Vodka nicht mal halb ausgetrunken.

„Frau Brandt. Sie können gehen.“ Müller würgt die Worte heraus, in einer Wolke aus Wut und Resignation. „Warum haben Sie uns verschwiegen, dass Sie zur Tatzeit im Café Wunderwelt waren, drei große Gin Tonic getrunken und auf dem Weg ins Bad den Weihnachtsbaum samt mundgeblasenen Kugeln umgeworfen haben?“ „Das war mir tatsächlich entfallen. Wissen Sie, unter Anspannung leide ich manchmal unter Blackouts. Aber jetzt ist ja alles geklärt. Es wird kaum eine zweite Person mit meinem Gesicht zeitgleich in Lisas Galerie gewesen sein. Schade. So eine besondere Galeristin. Adieu.“

Draußen schüttele ich dem Familienanwalt die Hand, nehme die Hörgeräte raus und genieße den Heimweg in wohltuender Stille.

Im Wohnzimmer thront Madame Pompadour auf dem Kissen vor dem Kamin neben Esther, meiner besten, einzigen Freundin. Meinem Spiegelbild. „Hallo Du, hat‘s geklappt?“ fragt Esther, und ihre Augen glitzern mit denen der Siamkatze um die Wette.

„Perfekt,“ lächle ich. „Du kannst die Kontaktlinsen jetzt rausnehmen. Ich finde deine grauen Augen anziehender. Meine Haarfarbe steht dir allerdings besser als dein natürliches Mausgrau. Und…“ – ich bücke mich, um dem auf mich zufliegenden Kissen zu entgehen – „wir sollten die Latexmaske ganz schnell entsorgen. Sie hat ihre Schuldigkeit getan, und wir wollen doch nicht, dass sich jemand anders mit meinem Gesicht in der Wunderwelt mit Gin Tonic betrinkt. Gottseidank ist Müller nicht so schlau, wie er tut. Warum bist du nicht beim Haku geblieben? Als würde ich jemals Gin Tonic trinken.“

„Eben! So haben sich wenigstens alle an „deinen“ Auftritt erinnert. Und ich habe immer noch Kopfschmerzen.“

„Dann nimm eine Tablette. Wenn wir morgen die Statue verkaufen, müssen wir beide einen klaren Kopf behalten.“

„Warum hast du das gemacht? Lisa erschlagen? Ums Geld geht’s dir doch nicht.“

„Nein. Sie – wusste einfach zu viel. Über mich. Mein Gehör. Und mein – Gehirn.  Es war doch ein genialer Plan. Ich bin ein Genie. ODER?“ Ich weiß, Esther wird mir nie widersprechen.

Adventskalender MiniKrimi am 17. Dezember


Es ist nie vorbei!

Draußen vor den Fenstern des Klassenzimmers strahlt ein herrlicher Sommertag. Der Himmel azurblau ohne ein Wölkchen. Im Kirschbaum auf dem Schulhof zwitschern die Vögel. Der Lehrer, konservativ gekleidet in braunen Zwirn mit grüner Krawatte, doziert, durchaus passend zur Jahreszeit, über Shakespeares Sommernachtstraum. Aber die Schüler*innen der 11. Klasse sind nur halb bei der Sache. Sie tuscheln und planen den Nachmittag, sie flirten, sie träumen aus dem Fenster. Ein klassischer Vormittag!

Und da ertönt auch schon der Gong. Die Schüler*innen stehen auf, einer wirft ungestüm seine Bank mitsamt dem Stuhl um, ein anderer stolpert über seine Tasche. Drei Mädchen haben einem Jungen das Handy weggenommen und tun so, als würden sie es aus dem Fenster werfen. Der Lehrer packt seine Bücher ein und schüttelt den Kopf über das Chaos in seiner Klasse – allerdings ohne sonderlich überrascht zu erscheinen.

Schließlich haben alle Schüler*innen das Klassenzimmer verlassen. Der Lehrer wischt die Tafel ab. Da fällt von irgendwoher aus dem Schulgebäude ein Schuss. Und noch einer. Der Lehrer hebt den Kopf, als wolle er Witterung aufnehmen. Wieder ein Schuss, eine ganze Salve. Jetzt bricht die Hölle los. Schrille Schreie, Hilferufe, Schritte wie von einer Herde ausgebrochener Elefanten. Die Tür zum Klassenzimmer wird aufgerissen. Zwei Jungen stürmen hinein, hinter ihnen drei Mädchen, ein weiterer Junge. Noch zwei Schüsse, diesmal ganz in der Nähe. „Schnell, unter die Bänke!“, ruft der Junge mit dem Handy. Zum Lehrer: „Sie auch!“ Er kriecht unter eine Bank und hält das Handy ans Ohr. Da steht plötzlich eine schwarz gekleidete Gestalt in der Tür. Sturmhaube, Hoody, Funktionshose, Springerstiefel. In der Hand ein Maschinengewehr, um die Schultern einen Patronengürtel. Ohne zu zielen feuert er eine Salve von einer Ecke des Raumes zur anderen. Der Junge mit dem Handy wirft eine Schulbank um und schiebt sie als Barrikade vor sich. „Schützt Euch!“, ruft er den anderen zu. Der Lehrer ist am Pult zusammengesackt. Auf seinem Hemd breitet sich ein roter Fleck aus. 

Der Junge schreit etwas ins Handy. „Amok“, und „Schule“, „Klassenzimmer 11 a, dritter Stock.“ Die Gestalt in der Sturmhaube sieht sich um, schießt noch einmal auf den Lehrer und geht. Wieder sind Schreie aus anderen Räumen zu hören. Dann – Stille. Langsam kriechen die Schüler*innen hinter ihren Verstecken hervor. „Ist er weg?“, fragt ein Mädchen. Schnelle Schritte, die Gestalt ist wieder da. Mit dem Gewehr im Anschlag, sie brüllt etwas Unverständliches, vielleicht ist es auch nur ein Verzweiflungsschrei. Lässt sich auf den Boden gleiten, hält den Lauf des Gewehres von unten ans Kinn. Wimmert. „Nein“, schreit ein Mädchen! „Nein, tu das nicht!“

Da taucht ein Mann aus dem Dunkel des Ganges auf. Kein Polizist. Kein Lehrer, denn die Lehrer*innen tragen während des Unterrichts keine Pistole. „Du Schuft, du Mörder!“, zischt er, hebt die Hand und tötet die am Boden liegende Gestalt mit einem gezielten Kopfschuss. 

„Es ist vorbei“, sagt er dann zu den Schüler*innen, die panisch im Kreis um die schwarze Gestalt hocken. Keine Angst, der tut euch nichts mehr.“

„Nein. Es ist nie vorbei!“, sagt der Junge mit dem Handy. Er steht auf, die anderen folgen seinem Beispiel. Sie gehen nach vorne, in die Mitte des Klassenzimmers. Dort nehmen sie die schwarze Gestalt in ihre Mitte. Vom Pult kommt der Lehrer dazu. Das Mädchen zeigt auf den Mann mit der Pistole: „Auch du bist ein Mörder!“ „Es wird nie vorbei sein, solange es Waffen zu kaufen gibt!“ rufen alle im Chor. 

Dann fällt der Vorhang. „Eine beeindruckende Art des Gedenkens an den Amoklauf vor 5 Jahren an dieser Schule. Und ein leidenschaftlicher Aufruf zur Gewaltlosigkeit“, schreibt die lokale Presse nach der Vorführung. 

Adventskalender MiniKrimi am 12. Dezember


Aus Gründen

„Morgen.“ „Hi.“ „Uaahh – griaß Eich.“ Montagmorgen, sieben Uhr. Die Mitarbeitenden des kleinen Transportunternehmens Münchner Süden stehen zusammen in der engen Teeküche. Halten Tassen mit Tee oder Kaffee in der Hand. Gähnen. „Servus, Leute.“ Der Chef steht in der Küchentür. „Weiß einer von Euch, was mit dem Reza los ist?“ Allgemeines Kopfschütteln. „Muss krank sein, normal ist der doch immer als erster da…“ „Ihr habt’s aber nix von ihm gehört?“ „Na.“ Nee.“ „Nein.“

Als Reza im Laufe des Tages weder auftaucht noch anruft und auch niemand in seinem Auftrag eine Krankmeldung vorbeibringt, fängt der Chef an, sich Sorgen zu machen. Dieses Verhalten passt einfach nicht zu dem jungen Iraner. Reza arbeitet inzwischen seit 2 Jahren bei ihm, und noch nie hat er einen Tag gefehlt. Immer hat er alle Aufträge perfekt erledigt. Nie gab es eine Beanstandung, weder von Kunden noch von Kollegen. 

Die einzigen Probleme, die Reza hatte, haben mit seinem Aufenthalt zu tun. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, die Berufung ebenfalls. Nun besitzt er als einziges Ausweisdokument eine so genannte Duldung bzw. „Aussetzung der Abschiebung.“ Damit lebt Reza auf Messers Schneide, das Damoklesschwert der Abschiebung ständig über sich. „Wenn die mich zurückschicken, bin ich so gut wie tot,“ hat er manchmal, selten, im Gespräch mit seinen Kollegen gesagt. Und dabei gelacht. Um nicht zu weinen. Er ist Christ, und Christen werden im Iran ins Gefängnis gesteckt und nicht selten gefoltert. „Sie müssen ihren Glauben ja nicht offen ausüben. Wenn keiner weiß, dass sie Christ sind, passiert Ihnen auch nichts“, hat die Richterin als Erklärung der letzten Antragsablehnung gesagt. 

Aber selbst wenn Reza seinen Glauben verheimlichen würde, wären seine Überlebenschancen in der Heimat gering. Denn er leidet unter MS. Und auch, wenn ein iranischer Biologe vor kurzem ein Antigen zur Heilung der Krankheit entdeckt hat, fehlen in Rezas Heimatprovinz Mazandaran sogar die nötigsten Medikamente. 

Reza will nicht zurück. Es geht ihm gut, zum ersten Mal in seinem Leben muss er sich nicht verstecken. Er kann zur Kirche gehen, wann und so oft er will. Am helllichten Tag. Er übernimmt in der Gemeinde sogar kleine Aufgaben. Aus Dankbarkeit. Und aus Freude. Sein Neurologe hat ihn gut eingestellt, er kann trotz MS arbeiten. So viel, dass er sich ein kleines Appartement leisten kann. Er hat Freunde. Nicht viele, aber mehr als im Iran. Als das Militär den Gottesdienst sprengte und über die Hälfte der versammelten Menschen festnahm, stand Rezas Entschluss fest. In diesem Land konnte er nicht weiterleben. Nach Monaten im Gefängnis war sein Gesundheitszustand so bedenklich, dass er „zum Sterben“ nach Hause geschickt wurde. Seine Familie legte zusammen und finanzierte ihm die Flucht nach Europa. Eigentlich wollte er nach Schweden, zu seinem Onkel. Doch in Deutschland war Endstation. 

Inzwischen hat er sich nicht nur mit seinem neuen Wohnort arrangiert. Er fühlt sich zu Hause. Angekommen. Angenommen. Mittendrin. Und jetzt?

„Wo kann er nur sein?“, fragt sein Chef den Pfarrer der Gemeinde, die Reza regelmäßig besucht. Er hat ihn unterstützt, ihm dabei geholfen, einen guten Deutschkurs zu besuchen und noch einen, so lange, bis er sich gut verständigen konnte. Ist mit ihm die ersten Schritte gegangen und hat ihm Mut gemacht für sein neues, selbständiges Leben. Auch er hat keine Ahnung, aber eine Befürchtung. Gemeinsam fahren sie zu Rezas Wohnung. Klingeln. Nichts. Warten. Schließlich schaut eine Flurnachbarin aus ihrer Tür. „Der ist nicht da. Den haben sie heute Nacht abgeholt. Pack, ausländisches. Jeder von denen ist einer zuviel. Wir sind ja hier nicht….“ Die beiden Männer lassen die Frau stehen und laufen die Treppen hinunter. Es dauert mehrere Stunden, bis es ihnen gelingt, zu erfahren, was genau passiert ist. Und wo Reza sich jetzt befindet. Vermutlich.

Die Landespolizei hat Reza gegen Mitternacht in der Wohnung überrascht und mitgenommen. Am Flughafen wurde er der Landespolizei übergeben und nur zwei Stunden später in ein Flugzeug nach Teheran gesetzt.

Aktivisten von Amnesty International, die in der Iranischen Hauptstadt die Ankunft des Flugzeugs beobachtet haben, berichten später, dass mehrere junge Männer von bewaffneten Militärs abgeführt worden seien.

Monate vergehen. Dann liegt im Postkasten des Pfarramts ein Päckchen. Ein kleines Tagebuch. Auf Deutsch. Auf der letzten Seite steht:“ Lieber Pfarrer W., ich danke Ihnen und allen, die ich in München kennenlernen durfte. Sie haben mir die schönste Zeit meines Lebens geschenkt. Ich bin sicher, wir werden uns wiedersehen. In einem anderen, besseren Leben. Gott schütze Sie.“ 

Das Büchlein wurde dem Pfarrer über die Deutsche Botschaft geschickt. Es habe einem jungen Mann gehört, der in einem Teheraner Gefängnis gestorben sei. Unter natürlichen Umständen, hieß es.

Diese Geschichte ist nicht frei erfunden. Sie setzt sich zusammen aus vielen einzelnen Schicksalen. Einige habe ich in meiner Zeit als Asylberaterin selbst begleitet. Wenige erhielten eine Anerkennung und durften bleiben. Viele wurden abgeschoben. Einige sind nach ihrer Rückkehr verschwunden, andere wurden getötet. In diesen Tagen sind wieder einige iranische Christen in Gefahr, abgeschoben zu werden. Für manche von ihnen ist das ein Todesurteil. 

Adventskalender MiniKrimi am 22. Dezember


Freier Tod

„Herr P., Sie wissen, warum Sie hier sind?“

„Aber natürlich, Frau Kommissarin. Die Chefin des Betreuungsdienstes hat mich angezeigt, weil ich meine Frau umgebracht habe.“

„Genau. Und – was sagen Sie zu dieser Anschuldigung?“ Sie ist schon lange im Dienst, aber eine solche Situation ist für die Kommissarin neu. Der alte Mann, Herr, korrigiert sie sich unwillkürlich, denn diesen Eindruck macht er, sitzt ihr gegenüber und strahlt ein ruhige Würde aus. Glatt rasiert, Manschettenknöpfe aus Ultramarin mit Goldrand, das Hemd verschossen, die Ränder des dunkelblauen Blazers abgewetzt, auf der Hose vorne ein dunkler Fleck, wie sie beobachtet hat, als er in den Verhörraum geführt wurde. Und doch füllt er mit seinem Schweigen die Stille aus.

Jetzt schlägt Walter P. ein hageres Bein über das andere, stützt die Ellenbogen auf den Tisch und das Kinn auf die gestapelten Finger.

„Ja, was soll ich Ihnen dazu sagen? Sie hat schon Recht. Und wiederum auch nicht. Wenn sie nicht ausgerechnet heute gekommen wäre, um Silke zu kontrollieren, hätte alles geklappt wie geplant. Zunächst lief ja auch alles wie am Schnürchen.“

„Wie meinen Sie das? Sie sagen hier gerade, dass Sie Ihre Frau vorsätzlich getötet und das Ganze von langer Hand geplant haben?“

„Ja.“ Walter P. nickt und schaut der Kommissarin direkt in die Augen. Freundlich. Sein Blick erscheint ihr klar und in keiner Weise getrübt.

„Erzählen Sie mir einfach alles der Reihe nach.“ Es ist nicht einfach, sich dem Bann dieser Augen zu entziehen, die blau und tief in faltigen, sonnengegerbten Höhlen liegen.

„Bevor meine Frau dement wurde, haben wir besprochen, dass wir uns umbringen wollen, wenn uns das Leben zu beschwerlich werden sollte. Wir hatten ein tolles Leben, müssen Sie wissen. Ich war im Auswärtigen Dienst, wir haben die halbe Welt bereist, wir haben es uns wirklich gut gehen lassen. Meine Frau musste nie arbeiten, ich habe ihr immer alle Freiheiten gelassen. Vor zwei Jahren hatte sie einen Schlaganfall. Seitdem ist sie dement. Das ist kein Leben mehr. Deshalb habe ich beschlossen, dass wir unseren Plan jetzt umsetzen.“

„Und Ihre Frau? Was hat sie dazu gesagt?“

„Sie hat natürlich ja gesagt! Wir waren immer eine Meinung! Seit über 60 Jahren!“

„Aber Sie sagten doch, dass Ihre Frau dement ist. Also war. Wie konnte sie Ihnen dann zustimmen?“

Walter P. beugt sich leicht vor. Die Kommissarin merkt, dass er es nicht gewöhnt ist, dass jemand seine Aussagen in Zweifel zieht.

„Sie war einverstanden. Sie war immer einverstanden!“, erklärt Walter P. , so, als spräche er mit einem unverständigen Kind.

„Aber dann ist etwas schief gelaufen? Sie wollten sich beide umbringen, aber Sie leben noch. Und Ihre Frau ist tot.“

„Ja, das ist die Schuld von dieser Dame. Eine unmögliche Frau. So herrisch. Silke ist eine fantastische Betreuerin. Sie macht alles, worum ich sie bitte. Wir kommen wunderbar miteinander aus. Das passt der Chefin nicht. Sie ist wahrscheinlich eifersüchtig. Deshalb ist sie wohl gekommen, um Silke zu kontrollieren. Das konnte ich natürlich nicht wissen.“

„Und was ist genau passiert?“

„Ich hatte meiner Frau eine Tüte um den Kopf gebunden und Gas einströmen lassen. Das hatten wir so besprochen. Aber dann hatte meine Frau einen Reflex und hat versucht, sich die Tüte vom Kopf zu reißen.“

„Sie meinen, Ihre Frau wollte plötzlich nicht mehr sterben?“

„Nein, das meine ich nicht! Natürlich wollte sie sterben. Das hatte ich ja so mit ihr besprochen. Das war nur ein Reflex von ihr.“

„Und was haben Sie dann gemacht? Ihr die Tüte vom Kopf genommen?“

„Natürlich nicht! Wir hatten doch besprochen, dass wir uns umbringen würden! Da kann ich doch nicht plötzlich etwas anderen machen. Das wäre gegen die Abmachung gewesen.“

„Also?“ Die Kommissarin versenkt ihren Blick in das Blau ihres Gegenübers. Da müssen doch Untiefen sein, bei dieser Geschichte!

„Also habe ich fester gezogen. Und dann war es auch gleich vorbei. Meine Frau war ja durch die Demenz schon geschwächt. In dem Moment ging die Tür auf. ich dachte, es sei Silke. Sie sollte ja kommen, das war geplant. Und wenn es alles glatt gelaufen wäre, hätte sie uns beide tot im Wohnzimmer gefunden. Dann hätte sie die Tüte und das Gas entsorgt, noch eine Weile gewartet, zur Sicherheit, und dann den Rettungsdienst gerufen. Aber stattdessen kam ihre Chefin. Und ich war noch nicht fertig. Den Rest kennen Sie.“

Die Kommissarin weiß nicht, was sie tun soll. Walter P. sieht aus wie ein Mann im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Einerseits. Andererseits ist er 95 Jahre alt, und es ist durchaus möglich, dass es sich hier nicht um einen kaltblütigen Mord, sondern um einen gescheiterten Doppelsuizid handelt. Klarheit würde nur eine genaue Kenntnis der Ehefrau bringen. Aber es gibt keine Angehörigen, die sie dazu befragen könnte. Herr P. ist jetzt ganz allein. Wenn man von der Betreuerin absieht. Aber die zählt in diesem Fall ja nicht.

Die Kommissarin hat Mitleid mit dem alten Herrn. Sein ganzes Leben hat er mit dieser Frau geteilt, nun hatte er mit ihr in den Freitod gehen wollen. Und war daran letztendlich gehindert worden. Mit welchem Recht hatte die Chefin des Betreuungsdienstes hier eigentlich Schicksal gespielt?

„Herr P., ich rufe jetzt einen Krankenwagen, der bringt sie in ein Krankenhaus. Nur zur Überwachung. Sie haben einen schlimmen Schock erlitten. Das war wirklich ein tragischer Unfall. Ich werde keine Anklage gegen Sie erheben. Ich wünsche Ihnen, dass Sie Frieden finden.“

„Danke.“ Walter P. sagt es leise und klar und schaut ihr dabei wieder direkt ins Gesicht. Diese Augen können nicht lügen. Die Kommissarin hat das gute Gefühl, das Richtige getan zu haben.

Nachtrag. Es heißt, dass man einen alten Baum nicht verpflanzt. Aber Walter P. geht es in der Finca, die er an der Algarve gekauft hat, sehr gut. Silke kümmert sich aufopfernd um ihn, aber schließlich profitiert sie auch von der Situation. Win-Win. Für den Fall, dass Silke seiner müde werden und ihre Koffer packen oder, im schlimmsten Fall, Kontakt zu der Kommissarin in Deutschland aufnehmen möchte, hat er eine reißfeste Plastiktüte und das Gas griffbereit. Er weiß ja jetzt, wie es geht.

Adventskalender MiniKrimi vom 24. Dezember 2018


So schnell sind alle Türchen aufgegangen. Ich wünsche Euch eine gesegnete Weihnacht! Der MiniKrimi geht in unregelmäßigen Abständen weiter, vielleicht bis Maria Lichtmess, wenn Ihr wollt….

Heute Abend präsentiere ich froh und dankbar den Krimi von Bettina Reimann. Herzlichen Dank dafür!

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Leuchtende Sterne

Er roch es, gleich nachdem er die Tür aufgehebelt hatte. Hier hatte doch jemand Kekse gebacken!

Man sollte keinen Einbruch begehen, wenn man Hunger hat, dachte er. Leise schlich er durch die Küche, deren Außentür jetzt offen stand. Das Licht der Taschenlampe fiel auf ein großes Blech mit Keksen. Es roch nach Zimt und wunderbar süß.

Er konnte ja mal einen probieren. Ein zweiter ging auch noch.

Das Haus hatten seine Freunde ausgespät. Er wusste genau, wohin er jetzt gehen musste. Die Besitzer waren nicht im Haus, das hatten seine Kumpels herausgefunden und warteten vor dem Restaurant, in dem die Hausbewohner speisten, um ihn gegebenfalls zu warnen.

Im Wohnzimmerschrank, linke Tür, untere Schublade, da waren sie, die Werte, auf die er es abgesehen hatte. Er lachte auf dem Weg in das Wohnzimmer. Und drehte plötzlich um, denn er wollte auf jeden Fall noch so einen Keks. Mann, waren die lecker.

Er stopfte die Kekse gierig in sich rein und konnte schon bald ein glückliches Lachen nicht mehr unterdrücken. Auch kam ihm das Haus jetzt gar nicht mehr so dunkel und leer vor, es schien sogar zu leuchten. Und der Himmel da draussen, in der kalten Nacht, er strahlte auf einmal – alle Sternen schienen zu leuchten und ihn anzuziehen.

Ohne nachzudenken verließ er das Haus wieder, er wollte diesen Sternen nah sein. Er ging immer weiter, bis er am Fluss angekommen war. Die Weihnachtslichter der Gebäude am anderen Ufer strahlten so herrlich! Er stellte die Tasche mit dem Einbruchswerkzeug ab und lief eine ganze Weile lang auf dem Uferweg. Dann setzte er sich auf eine Bank, immer noch lachend, ganz allein in frostiger klarer Luft.

Als sie nach Haus kamen, merkten sie gleich, dass etwas nicht stimmt. Der kalte Luftzug aus der Küche….

Der Polizei sagten sie später, es fehle nichts. Das stimmte ja auch – und von den frisch gebackenen Haschkeksen mussten die Freunde und Helfer wirklich nichts wissen.

Die Spur des Einbrechers endete an der Straße – da war nichts zu machen. Er konnte überall sein.

Er konnte das Handyklingeln nicht hören – seine verlassene Tasche stand weit entfernt, achtlos am Wegesrand. Seine Freunde fuhren noch ein paar Mal die Gegend ab, um ihn zu finden und verließen die Stadt vor dem Morgengrauen.

Schließlich schlief er ein – auf der einsamen Bank am Flussufer in eisiger Nacht. Seine letzten Gedanken galten den Sternen, die in dieser Nacht so viel schöner geleuchtet hatten als je zuvor.

Ein erfrorener Mann auf einer Parkbank, nur eine kleine Meldung wert in einer Stadt, in der es in jedem Winter Obdachlose erwischte.

Wieder jemand, der nicht vermisst wurde – ohne Ausweis und viel zu dünn angezogen, um draußen zu übernachten. Traurig.

Adventskalender MiniKrimi vom 12. Dezember 2018


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Was ist nur aus Deutschland geworden?

„Soweit sind wir jetzt schon. Weihnachten haben die uns komplett kaputt gemacht.“ Kopfschüttelnd betrachtet Elfriede das Video, das ihre Freundin Alma ihr auf WhatsApp geschickt hat. Zu den Klängen von Stille Nacht spulen sich Bilder von 60er Jahre Weihnachtsmärkten ab, Kinder in schwarzweiß strahlen Zuckerwatte an, der Kölner Dom leuchtet. Dann Szenenwechsel, Flammen und Heavy Metal, während ein LKW in den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz rast. „Raus mit dem Pack!“, murmelt Elfriede vor sich hin, während sie ihre ganze Wut auf den Vorwerk VT 300 überträgt und dabei die Schiekraftregulierung des Saugwischers durcheinanderbringt. 

„Hallo, Elfriede, bin wieder da! Möchten Sie einen Kaffee?“ „Hallo Karim, nee. Nen Latte.“ Elfriede reinigt zweimal die Woche die Maisonette-Wohnung des Herzchirurgen Dr. Karim Abdelkader im Dachgeschoss der Minervastraße 89. Für 20 Euro die Stunde, schwarz. Das kollidiert mit ihrem Hass auf „die Ausländer“ ebensowenig wie der italienische Latte Macchiato, den Karim ihr auf einem Silbertablett serviert, mit zwei Stück Würfelzucker und vier Giottokugeln. Während der Kaffeepause erzählt Elfriede, was sie sich von ihrem Mann zu Weihnachten wünscht: einen Urlaub auf Ibiza nächstes Jahr, und was sie ihrem pubertierenden Sohn schenken wird: das neue Egoshooter Computerspiel (eigentlich ab 18)  und einen Paintball-Nachmittag mit Freunden. 

Karim hört zu und lächelt. Er ist höflich, und Elfriede putzt gut und will nichts Privates von ihm wissen. Jedenfalls nicht im Gespräch.

Auf dem Weg nach Hause macht Elfriede einen großen Bogen um den Weihnachtsmarkt am Rotkreuzplatz. Obwohl ihr schon auf der U-Bahn-Treppe ein verführerischer Duft nach gebrannten Mandeln entgegenweht und ihr Bus erst in zehn Minuten kommt. An der Haltestelle rempelt sie eine junge Frau mit Kopftuch und Kinderwagen an, aus Versehen, aber sie entschuldigt sich nicht. Murmelt stattdessen wieder: „Raus mit dem Pack.“ 

Daheim schreibt sie in die Timeline ihres Sozialen Netzwerks, dass sie heute nicht auf den Weihnachtsmarkt gegangen ist, weil „eine verdächtige arabische Frau mit Kopftuch und Kinderwagen“ ihr Angst gemacht hat. „In dem Wagen hätte ne Bombe sein können, man weiß ja nie, heutzutage. Was ist nur aus Deutschland geworden. Kein Verlass mehr auf die Polizei. Früher hätten die solche Leute sofort verhaftet und postwendend über die Grenze geschickt.“

Einer der vielen zustimmenden Kommentare auf ihren Post lautet: „Früher, da herrschte noch Recht und Ordnung bei der Polizei. Da ham die mit Ausreisepflichtigen kurzen Prozess gemacht.“ „Ja genau, Scheiß Polizei. Alles Merkels Schuld“, pflichtet ein anderer bei. Elfriede fühlt sich bestätigt. Es wird Zeit, dass Deutschland wieder ein Rechtsstaat wird. Die Ausländer müssen raus. Oder ins Gefängnis. Solange, bis sie ausgewiesen werden.

Am nächsten Morgen klingelt es Sturm. Draußen ist es noch dunkel. Elfriedes Mann brummt unwirsch: „Geh nachschauen, das hört sonst nie auf.“ Im Morgenmantel öffnet sie die Tür. Und steht dem funktionierenden Rechtstaat gegenüber, der sie vorschriftsmäßig in Handschellen abführt. Im Vernehmungsraum des Polizeipräsidiums wird ihr Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Sie soll einen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt auf dem Rotkreuzplatz geplant haben. Und den Mord an der internationalen Herz-Koryphäe Dr. Abdelkader. 

Elfriede verneint. Elfriede schreit. Elfriede weint. Schließlich beschimpft sie die Polizei. Den Rechtsstaat. Ihr Pflichtverteidiger sieht die Polizeiakten ein – alles bestätigt, mit Zeugenaussagen und allem drum und dran, sogar mit konspirativen Fotos. „Am besten, sie geben alles zu. Das macht dann vor Gericht einen guten Eindruck.“

Inzwischen hat in den sozialen Netzwerken der Shitstorm gegen Elfriede schon begonnen. Nestbeschmutzerin ist noch das netteste, womit ihre Freunde vom rechten Rand sie beschimpfen. 

Erst nach Monaten in U-Haft klärt sich die Sache. Ihr Sohn hatte die Nase voll von EgoShootern und wollte sich mal als Hacker ausprobieren. Seine Mutter nervte ihn, und ein paar Monate ohne sie stellte er sich richtig cool vor. Als er keine Wäsche mehr hat, Kühlschrank und Tiefkühltruhe lange leer sind und der Vater zur Nachbarin gezogen ist, geht Kevin missmutig zur Polizei und gesteht die selbst gebastelten „Fake News.“   

Elfriedes Glaube in den Rechtsstaat und seine Exekutive ist wiederhergestellt. Irgendwie. Oder so. 

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