Fallobst oder „den Russen“ gibt es nicht


Ich könnte so viel schreiben. Ich hätte so viel zu sagen. Den Leuten, die „den Russen“ angreifen, denen, die „den Russen“ verteidigen- In den sozialen Netzwerken, mit echten oder falschen Fotos und Videos. Ich könnte meine Prognosen den endlosen Einschätzung auf allen Kanälen hinzufügen. Meinen Ängsten Ausdruck geben, meinem Mitleid.

Stattdessen poste ich heute eine Geschichte, die mir „durch Zufall“ – jedoch glaube ich nicht an Zufälle – eben wieder in die Hände gefallen ist. Sie entstand anlässlich eines Schreibworkshops 2014 im Rahmen eines Frauentages und basiert auf den Erinnerungen einer Teilnehmerin. Die Geschichte passt gut in die Gegenwart – und auch zum Weltgebetstag der Frauen, morgen.

Fallobst

Der kleine Hans stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Anrichte besser überblicken zu können. Vielleicht lag ja noch ein Kanten Brot auf dem Teller, oder ein Apfel. Aber nein, dort stand nur ein Krug mit klarem Wasser. „Mama, ich hab Hunger! Haben wir denn gar nichts mehr?“ Die Mutter kam aus der kleinen Kammer, die als Schlazimmer für sie und ihre drei Kinder diente. „So, Hunger hast du?“ „Ja. Aber Frieda auch“. Die Mutter drehte sich zu Frieda um, die, an den Türrahmen gelehnt, mit großen Augen zu ihr aufblickte. „Gut, dem können wir abhelfen. Heute ist ein sonniger Tag, wie geschaffen, um Fallobst aufzulesen“. Sie nahm die Hirtentasche vom Haken an der Tür und hing sie ihrer Tochter um. „Pass auf deinen kleinen Bruder auf und bleibt nicht zu lange weg. Es wird jetzt schon früh dunkel.“

„Komm“, sagte die siebenjährige Frieda zu ihrem Bruder, und die beiden machten sich auf den Weg. Sie gingen die Hauptstraße hinunter zu den Obstwiesen am Ortsende von Treffurt.

Treffurt war damals, im Jahr 1946, eine kleine Stadt mit 3000 Einwohnern. Sie lag in Thüringen unmittelbar an der Grenze zu Hessen. Frieda und Hans waren mit Mutter, Großvater und der jüngsten Schwester als Donauschwaben in das mittelalterliche Städtchen evakuiert worden. Die Familie hatte, wie alle Flüchtlinge, ein ganzes Leben hinter sich gelassen. Den Bauernhof, die Tiere, die Freunde. Jetzt lebten sie schon seit zwei Jahren in zwei Zimmern in einem alten Haus voller Flüchtlinge aus Polen, der Slowakei und anderen Gebieten. Das Essen war rationiert, und wenn die Lebensmittelkarten aufgebraucht waren, gab es nur zwei Möglichkeiten: hungern oder Obst und Gemüse klauben. Kartoffeln von den abgeernteten Feldern und Fallobst von den Obstwiesen.

Frieda mit ihren Holzssandalen und Hans, der barfuß ging, kam der Weg zu den Apfelbäumen unendlich lang vor. Aber schließlich standen sie auf der Wiese. Nur noch ein paar wenige schrumpelige Äpfel lagen auf dem Gras. „Guck, mal, sind ja überall Würmer drin“, beklagte sich Hans. „Es sind aber keine anderen da, also müssen wir halt mit denen Vorlieb nehmen“ antwortete Frieda, die vernünftige. „Und pflücken dürfen wir nicht, der gehört uns ja nicht.“ Die Kinder bückten sich und sammelten nach und nach die einsamen Apfel in die Hirtentasche. Frieda summte vor sich hin. Und Hans träumte vielleicht schon vom Apfelkompott.

„Stojats“, hörten sie plötzlich eine laute Stimme direkt hinter Ihnen. „Was ihr machen?“ Erschrocken drehten sich die Kinder um. Vor Ihnen stand ein riesiger Soldat. Breitbeinig und mit aufgepflanztem Bajonett. Hans und Frieda ließen die Äpfel fallen, die sie in der Hand hatten. Frieda nahm ihren ganzen Mut zusammen: „Wir nehmen nur die, die schon am Boden liegen“, sagte sie trotzig, während Hans hinter ihrem Rücken hervorlugte. 

„Ihr dumme Kinder!“, dröhnte der Russe. Ging zum Baum und schüttelte ihn kräftig. Ein wahrer Apfelregen prasselte auf die Kinder herunter. Im Handumdrehen lagen so viele Apfel am Boden, dass sie nicht nur die Hirtentasche damit füllten, sondern auch die Hosentasche und die Schürze vollstopften. „Choroschego appetito“, lachte der Soldat, drehte sich um und ging zurück zu seinem Wachhäuschen hinter der Wiese.

Noch heute  im September, wenn die Äpfel reifen, geht Frieda mit ihren Enkelkindern zu dem Apfelbaum am alten Kirchlein in dem Dorf, in das sie als Erwachsene mit ihrem Mann gezogen ist. Sie sammeln das Fallobst auf und backen daraus einen Apfelkuchen. Und dann erzählt sie ihren Enkelkindern die Geschichte von dem russischen Soldaten und den Äpfeln.

Europa Unita. Hommage an meine visionäre Demenzphilosophin.

Eine Hand lässt eine Friedenstaube fliegen

„La cosa più importante è che l’Europa rimanga unita. Per la pace, per il benessere, non solo nei paesi europei, ma bensí in tutto il mondo.”

Zu Deutsch: Der wichtigste Garant für Frieden und Wohlstand ist ein geeintes Europa. Nicht nur für die einzelnen europäischen Länder, sondern für die ganze Welt.

Standardsätze meiner Mutter, im Lauf der Jahre unzählige Male wiederholt, bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten. Den Wahlen zum Europaparlament. Den Berichten über EU-Gipfel, deutsch-französische Gespräche, die Einführung des Euro, natürlich, und die EU-Erweiterung. Dabei beugte sie sich in ihrem Sessel vor, sah dich direkt an, ihre Stimme war frisch, voller Überzeugung und Überzeugungskraft. Sogar als sie schon so dement war, dass sie zuweilen ihren Namen vergaß, rezitierte sie mehrfach am Tag dieses Credo. „L’Europa deve rimanere unita.“

Ich konnte es schließlich nicht mehr hören. 

Ja, diese Frau hatte einen Weltkrieg durchlebt, der Europa unter Trümmern begraben hatte. Seine Menschen, seine Ideale. Der Phoenix, der sich aus der Asche eines Kontinents herausgeschält hatte, mochte sie begeistern.

Und ja, zurecht. Einheit in Vielfalt, geballtes Wirtschaftswunder – von Amerikas Gnaden zwar und auf Kosten einer halben Heimat hinter dem eisernen Vorhang. Aber immerhin. Wie im Zeitraffer spulten sich vor den Augen ihrer Generation historische Veränderungen ab. Politisch, gesellschaftlich, sozial. (Eigentlich waren es keine Veränderungen, sondern Wiederholungen, aber die erlebte Geschichte ist für jede Generation natürlich einmalig). Flüchtlinge aus den Ostgebieten, Gastarbeiter, Binnenmigranten. Reisen, Konsum, sozialer Aufstieg, mehr Konsum. „Geh’n Se mit der Konjunktur, geh’n Se mit auf diese Tour“, schallte die Nachkriegshymne aus Autoradios und Frankfurter Küchen über die rasant dahinschmelzenden Schuttberge. 

Und das alles war nur möglich, weil Europa zusammenwuchs. Davon war meine Mutter überzeugt. Denn sie hatte es erlebt. 

„La cosa più importante è che l’Europa rimanga unita. Per la pace, per il benessere, non solo nei paesi europei, ma bensí in tutto il mondo.”

Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs kam nicht der Frieden – „wir haben keinen Friedensvertrag“, auch so ein Standardsatz meiner Mutter -, sondern der Kalter Krieg. Statt zu verhandeln, wurde erst einmal aufgerüstet. Frei nach dem Motto: ein potentiell möglicher Angriff ist die beste Verteidigung, O-Ton meine Mutter, bewaffneten sich West und Ost mit Waffen, die einen unendlichen Overkill ermöglichten.

Derweil wurde der Waffenstillstand an den Grenzen durch Kriege im Innern gesichert., Prager Frühling, RAF, Brigate Rosse. Und dann die Friedensbewegung. Atomkraft – nein danke, Gorleben, Wackersdorf und Startbahn West. 

Während der Osten Proteste niederpanzerte, wuchs im Westen eine neue Kriegsform, der Terrorismus. Von 1970 bis 2016 haben in Europa etwa 4.280 Anschläge stattgefunden. Mit etwa 9.200 Todesopfern In den dreißig Jahren vor der Jahrtausendwende. Nordirland, Spanien, Italien –   lange vor den islamistischen Terrorkommandos hatten ethno-nationalistische Gruppen diese Kriegsform für sich adoptiert. 

Wie konnte meine Mutter da von „Frieden“ sprechen? Weil Europa zum ersten Mal so sehr geeint war. Wirtschaftlich und politisch. Trotz ihrer Demenz erkannte meine Mutter im neuen Jahrtausend die Risse. Und warnte. 

Hat Putin den Zeitpunkt für seine Aggression gegenüber der Ukraine gewählt, als die Einheit Europas zu bröckeln begann? Ist die EU zu schnell gewachsen? Oder ist sie gewachsen, ohne dass die Länder genug einende, verbindende Strukturen, Konzepte, Visionen hatten? War die Hoffnung auf wirtschaftlichen Fortschritt und Sicherheit im Schatten der Nato nicht genug? War noch zu viel Warschauer Pakt in der DNA der neuen Staaten? Fakt ist, innerhalb Europas wuchsen die Unstimmigkeiten. Arbeits- und Armutsmigration, „Flüchtlingsansturm“, neu aufkeimender Rassismus, Grenzschließungen, Erstarken des Ethno-Nationalismus. Letzteres keineswegs nur in der Ost-EU, sondern ebenso in Frankreich, Italien, Deutschland etc. Brexit und Covid-19 schließlich versetzten Europa einen Stoß, der die Einheit in gefährliche Schieflage brachte. 

Das ist der ideale Moment, um damit zu beginnen, mit den Demokratiebestrebungen im Umfeld Russlands dauerhaft aufzuräumen. Denn Putin will vielleicht einen breiteren Zugang zum Schwarzen Meer, aber er will vor allem nicht von aufkeimenden Demokratien umgeben sein. Deshalb wird er seinen Feldzug nicht stoppen wollen. Er hat mit wachsendem Widerstand in seinem Land zu kämpfen. Er hat den Kontakt zur Jugend weitgehend verloren. Und zu vielen Bevölkerungsschichten ebenfalls. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist immens. Die Armen glauben der Regierung nicht. Sie lassen sich nicht impfen (Impfquote bei ca. 25%), weil sie vermuten, der Impfstoff sei vergiftet. Sie misstrauen sogar russischem Wodka, aus demselben Grund. Ein Heer von Arbeitsmigranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken haust unter unmenschlichen Bedingungen im Land, ausgebeutet und verachtet, Parias der Gesellschaft. Die Zahl der Straßenkinder wächst. Sie fliehen vor Missbrauch, Schlägen, unzumutbaren Wohnverhältnissen – oft 3 Generationen in einem Zimmer, alkoholisierte Eltern – auf die Straßen, nehmen Drogen, prostituieren sich, verkaufen ihre Organe. Nein, das ist keine Übertreibung. Leider. 

Wir fragen uns: was hat Putin davon, der Mächtigste in einem Land der Machtlosen, der Hoffnungslosen zu sein? Ich habe keine Antwort darauf. Außer, dass er ein Mensch mit einer großen psychischen Verletzung ist, der sich „vom Westen“ missachtet fühlt und um sich schlägt, einfach, weil er es kann. Nur, dass seine Schläge tödlich sind. Für die Menschen in der Ukraine, für seine Soldaten, und, sollte er seine Waffen ändern, für weite Teile der Welt. 

Wir fragen uns: wie kann man diesen Wahnsinnigen stoppen? 

Ich habe keine Antwort darauf. Aber ich höre meine Mutter: „La cosa più importante è che l’Europa rimanga unita. Per la pace, per il benessere, non solo nei paesi europei, ma bensí in tutto il mondo.” Vielleicht ist das der Ansatz einer Antwort. Wenn nicht nur Europa, sondern weite Teile der Welt zusammenstehen, schrumpfen Kleptokraten wie Putin auf ein Maß, das bekämpft oder einfach unschädlich gemacht werden kann.

Dass China sich im UN-Sicherheitsrat bei der Resolution enthalten hat, ist meines Erachtens ein Zeichen dafür, dass die so genannte Volksrepublik nicht um jeden Preis hinter Putin steht. Einmal, weil sie in ihrer Nähe keinen – weiteren – Diktator braucht. Zum anderen aber, weil sie auf einen finanzstarken Westen angewiesen ist, denn Chinas Waffe ist der Handel. 

Ja – es stimmt. Im Grunde genommen hat die Aufregung, in die die Menschen in Europa sich seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine versetzt haben, durchaus eine zynische, sogar makabere Note. Denn die Welt brennt in vielen Teilen. Und fast täglich werden UN-Konventionen verletzt. Sterben Menschen. Fliehen, werden verfolgt. Oft haben „wir“ an den Ursachen einen Anteil. Der Balkankrieg wurde lange vom Westen nicht wahrgenommen. Was im Nahen Osten passiert, wird kommentiert, was sich in Afrika tut, erreicht oft nur die Randnotizen der Nachrichten. 

Nun hat der Krieg unsere Haustür erreicht. Gut, das wir aufwachen. Besser wäre es, wenn daraus Konsequenzen gezogen würden, und zwar das gesamte politische und wirtschaftliche Handeln. Krieg ist immer schrecklich, egal, wo er stattfindet. 

Das war es, was mich an der Äußerung meiner Mutter so störte. Dieses Betonen der EU. Aber – sie hatte Recht. Denn ein gerechtes, geeintes Europa sollte ein Zeichen sein und Zeichen setzen für eine gerechte Welt. 

Ein anderer Lieblingssatz meiner Mutter war: Change it, leave it or love it. Also, Mum: I had a dream. I have a dream. Let’s dream it all. Let it get real.

Barfuß auf Asche


Sie beißt in den Himmel. Er schmeckt nach Schwefel. Seine Asche verklebt ihren Mund wie türkischer Honig, nur bitter. Die Straße fließt und reißt ihre nackten Füße mit. Stiche von Scherben, Knirschen von Knochen, diese Finger, so weiß – bloß schnell weiter. Die Luft heult und brüllt. Fegefeuer Berlin. „Komm Mädchen fass an. Was stehst du da rum?“ Eine Hand, ein Eimer Wasser schwappt über. Sie geht wie auf Schienen, trägt den Eimer zum Haufen rauchender Balken. „Schnell Mädchen.  Gib her! Und hol einen neuen. Da hinten. Nun lauf schon!“ Sie geht wie auf Schienen. Der Himmel aus Asche, der Boden ein Meer aus gestrandeten Häusern. Die Menschen ertrunken im Feuer. Immer wieder muss sie hinsehen, sie ansehen. Die toten Augen greifen nach ihrem Blick. Saugen ihn auf. Dann wird alles schwarz.

„Mama? Mama? Was sitzt du denn hier im Dunkeln?“ Leise, mit abgewandtem Mund: „Also ich hab das Gefühl das wird immer schlimmer. Mit ihr.“ Überlaut: „Mama? Hast du nicht gehört, dass wir angerufen haben?“ Beleidigt: „Wir versuchen seit gestern, dich zu erreichen, MAMA.“ 

„Ach ja? Ich hab nichts gehört. Vielleicht hat das Telefon geklingelt, als ich im Bad war. Außerdem: woher soll ich wissen, wer anruft?“ 

„Also hast du es doch gehört?“ 

„Vielleicht?“ 

Warum bist du nicht rangegangen, Mama!  Keine Frage! „Wir machen uns doch SORGEN!“ 

„Ich bin kein kleines Kind. Ich bin eine alte Frau. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Im Bombenhagel hab ich Wasser geschleppt. Barfuß. Ich bin über Leichen geklettert. Ich brauche keine Aufpasser!“

Endlich sind sie weg. Ich kann sie nicht ertragen. Mama tu hier, Mama doch nicht so! Mama was MACHST du da schon wieder? Alles in vorwurfsvollen Großbuchstaben, in diesem pausen- und atemlosen Staccato der zur Mutter wider Willen gewordenen Tochter. Verkehrte Welt! 

Was denken die eigentlich, wie ich die letzten fünfundachtzig Jahre gelebt habe? Mich hat nie jemand in Watte gepackt. Allein in einer zerbombten Stadt, die ganze Welt ein Trümmerhaufen und ich mitten drin. Und ich hab überlebt. Ohne dass mir jemand ständig hinterhergelaufen ist.  Ohne dass sich jemand um mich gekümmert hat. Und jetzt soll ich plötzlich am Gängelband gehen, nur, weil ich älter bin? Die Menschen werden heute eben immer älter. Sagen sie jeden Tag im Fernsehen. Na und? Wenn man sie nicht töten will, muss man sie so nehmen, wie sie werden. 

Ist es schon acht? Wo hab ich nur meine Brille? Da muss doch die Fernsehzeitung….. Wie geht das Ding an? Ah. Na also. Was ist denn das schon wieder? Wo ist das Erste Programm? Natürlich. Das hat India verstellt, um mir dann in die Schuhe zu schieben, dass ich nicht mal mehr den Fernseher bedienen kann! 

Diese blöden Kopfschmerzen. Du musst mehr trinken, Mamaaaaa, würde India jetzt sagen. Dabei habe ich noch nie viel getrunken. Und bin trotzdem so alt geworden. Hab ich Hunger? Eigentlich schon. Oh – keine Spaghetti im Kühlschrank. Ach, dann ess‘ ich eine Banane. Mit einem Glas Wein. Mama, du sollst nicht so viel Wein trinken, würde India jetzt sagen. Gott sei Dank lebe ich alleine hier in meiner Wohnung!

Gott sei Dank lebe ich ALLEIN! Alleinallein. Alleallein. Wenn India mich jetzt hören würde, würde sie den Mund verziehen zu ihrem falschfreundlichen Alligatorlächeln. Alligator, so werd‘ ich sie nennen, ab heute. Wenn ich mich morgen noch daran erinnere. 

Wenn sie jetzt hier wäre, würde sie zwischen den Zähnen schräg nach hinten zu diesem Unmann zischeln, den sie sich herangezogen hat wie einen Schoßhund.  „Siehst du. Ulrich. Ich sage es dir doch. Sie ist verrückt!“ 

Es rauscht. Die Nacht ist ein Rauschen, sie bauscht sich um sie herum, hüllt sie ein. In einer Blase aus Schall schwebt sie die kreischenden Straßen entlang. Federt die Stöße ab, die Tritte, die reißenden Hände. Blitze gleiten an ihr hinunter, schwarzer Regen an ihr vorbei. „Di quì Signorina“ ruft eine Stimme, „hier entlang, schnell, es geht gleich los“. Sie klettert auf die Lore, gezogen von starkbraunen Armen. „Su prendi, los, nimm und verkleide dich!“ Eine gesichtslose Stimme reicht ihr das grellbunte Kopftuch. Sie knotet es fest in ihr Haar, dieses neue zufällige Leben. Drei Tage vier Nächte, und die Zwangsarbeiter sind wieder daheim, irgendwo in Italien. Sie, die verkleidete Fremde, mitten unter ihnen. Alle verabschieden sich lachend und zum Leben erschöpft. Da steht sie allein auf der Piazza in einer unbekannten Heimat. Geflohen gelandet gestrandet. „Ehi Signorina!“, ruft die Zukunft verheißungsvoll, und sie geht ihr schnell hinterher, durch die alten Arkaden.

„India, du schon wieder? Möchtest du einen caffé? Ich hab grade frischen gemacht. Heiße Milch? Setz dich doch.“

Ah, dieser Blick. Du kommst nicht als Gast, sondern als Aufpasser! Wie war das gestern? Alligator! Kannst gleich wieder gehen! 

„Mama! Deine Nachbarin hat angerufen. Erst kamen Rauchschwaden aus deiner Wohnung, dann lief das Wasser den Balkon hinunter. Mama? Mamaaaaaaa? Um Gottes Willen! Was MACHST du da? Ach, ich bitte dich! Natürlich hab ich auch schon mal die Milch anbrennen lassen. Aber dieser Topf ist durchgeschmort. Und wie viele Eimer voll Wasser hast du ausgegossen, über dem Herd? Wie bitte? Du wolltest bei der Gelegenheit gleich den Fußboden waschen? Ach…“ 

Der nasse Lappen klatscht auf den Boden. Tränen verwackeln den Ton. „Oh, Mama!!! 

Nein. DU hörst mir jetzt zu. Das ist NICHT normal, Mama. Das passiert NICHT jeden Tag und NICHT jedem. Mama! Bitte. Sei doch vernünftig. So geht das nicht weiter. Ich will dir doch nur helfen. Nein. Du bist nicht verrückt. Nein, ich will dich nicht einweisen lassen. So einfach geht das auch gar nicht.“ Leise, zu sich: „Leider.“

Mama bleib da. Mama wo rennst du hin? Mama es ist kalt draußen! Ich WILL sie nicht mehr hören. Diese Bevormundung! Ich bin im Aschenregen durch das qualmende Berlin gelaufen. Barfuß. Und dann in einem offenen Viehwagon über die Alpen gefahren, mit Wildlederpumps an den Füßen und einem Strickjäckchen über dem Seidenkleid. Kälte? Die Kälte, die mich hier verbrennt, kommt aus Indias Augen. So leblos. So lieblos. Mein Kind? Wahrscheinlich wurde sie im Krankenhaus vertauscht, gleich nach der Geburt. Wir haben uns eigentlich nie verstanden. 

Diese kommunistischen Ideen von Umverteilung und Gütergemeinschaft! Wegnehmen will sie mir alles, was ich habe. Meine Wohnung, mein Geld. Und mein Leben! Aber das kriegt sie nicht. MICH kriegt sie nicht. Ich bin zu schnell für sie, auch noch mit fünfundachtzig. Sie findet mich nicht. 

Aber jetzt ist mir kalt. Ob ich schon zurück kann? Wo genau muss ich hin? Hier war ich noch nie! 

Freundlich bestimmend zu einer Graublonden mit Einkaufskorb: „Entschuldigung? Können Sie mir den Heimweg zeigen? Sie kennen mich doch? Ach, tut mir leid. Ich habe Sie verwechselt. Neineinein, alles ok. Nein, ich sage Ihnen doch…. ich… suche nur meinen… (lass dir was einfallen!)… meinen Hund!“ 

Beruhigend zu dem kopfroten Jogger: „Ja, meinen Hund. Wie er aussieht? Na, wie ein Hund, eben. Dort drüben? Danke! Ja, er ist mir weggelaufen. Nein, er darf keine Jogger anbellen. Da IST er ja! Na komm, du Schöner! Komm her zu mir.“ 

Beschwörend geflüstert zu dem großen stillen Hund: „Komm, wir müssen jetzt beide so tun, als seien wir alte Bekannte. Das SIND wir doch auch! Jetzt erkenne ich dich! Wir sitzen im selben Boot. Du bist Argo, mein schwarzer Freund. “

Buonasera, signorina, buonasera….. Jukeboxkitsch, transozeanischer. Flattert in den Südensonnenuntergang, wispert in ihr Sommerohr. Bella vita in maßgeschneiderten Kleidern, und die Männerwelt rollt ihr die Teppiche aus zwischen Bari und Napoli. Das Blondhaar, die Goldhaut – „ma che angelo, was für ein Engel!“ Sie flirtet und bleibt ganz bei sich. Hebt sich auf. Hebt den Blick: „Buonasera!“ Diamantenes Meer, vergossener Himmel, Mittagslichtstaub streift das kühle Parkett. Als Verlobungsgeschenk keine Kette, kein Ring – ein schwarzes Fellbündel legt er ihr ins lustweiche Bett. Sie lieben sie schlafen sie schlagen. Dann, irgendwann, ist es Winter geworden, aus dem Schrank gähnt nur das Holz, dunkelleer. Daneben zwei Koffer, abfahrtbereit. Weiße Laken auf Sesseln und Betten, vor den Fenstern die Läden auf Monate verschlossen. Und sie spult ihre Reise zurück, erst den Apennin dann die Alpen und schließlich die graue Stadt. Trümmerentleert, existenzenbefüllt. Sie ertastet die Straßen am Ende des Traums. Einsam vielleicht, aber nicht mehr allein. An der linken Hand India, in der rechten die Leine. 

„Mama, jetzt sei doch vernünftig! Du hättest tot sein können. Wenn sie Ulrich nicht in der Kanzlei erreicht hätten, wenn er dich nicht abgeholt hätte, dann wärst du inzwischen wahrscheinlich erfroren! Wo wolltest du überhaupt hin?“ 

Leise, seitwärts: „Ulrich, jetzt sag doch auch mal was! Mama, bitte. Das ist Wahnsinn! Du kannst doch nicht im Ernst glauben, dieser Hund hier sei Argo! Argo ist seit Jahrzehnten tot! Genau wie mein Vater! Tot. Nicht abgereist. Nicht verschollen. Tot. Überfahren. Alle beide. In Italien. Das weißt du doch, Mama. Mama! Komm, trink eine Tasse Tee. Du hast ganz kalte Hände. Ach, Mama. Ich will dich nicht schlagen, ich will dich nur streicheln. 

Ganz leise: Mama, ich liebe Dich!

Ganz laut: Au! Mama, bitte! Jetzt sei doch VERNÜNFTIG. Du kannst den Hund nicht behalten. Wir müssen ihn abgeben. Im Tierheim. 

Ulrich! Jetzt hör doch mal auf, du machst ihr nur Angst! 

NEIN Mama. Ulrich hat das nicht so gemeint. Wir geben dich nicht im Irrenhaus ab. Das gibt es nicht mehr. Und selbst wenn. Mama, ich liebe dich doch. Ich will dir nur helfen. Und Ulrich auch. Ulrich? Ulrich!“ 

Hinter dem Türknall her: „Ulrich, du Idiot! Warte! Mensch, fährt der einfach weg. Na egal. Besser isses. So, Mama, jetzt noch mal ganz in Ruhe. Der Hund muss weg. Und du solltest dir vielleicht mal eine Auszeit nehmen. Es gibt doch so schöne Kurorte. In Ungarn, zum Beispiel. Ganz günstig! Mama? Mama!“ 

Leise. Verzweifelt. Fragend. „Wo BIST du?“

Komm, Argo. Das hat alles keinen Zweck. India ist eigentlich ein liebes Mädchen, weißt du? Aber sie vermisst ihren Vater. Er hätte nicht wegfahren dürfen, Hals über Kopf. Sie war noch so klein. Sie ist ihm so ähnlich. Wir haben uns nie wirklich verstanden. Wie schade! Aber du, Argo, du bist etwas ganz Besonderes. Wir zwei verstehen uns prächtig. Jetzt machen wir es uns richtig schön. 

Zum Taxifahrer: „Wir wollen in ein feines Hotel mit einem guten Restaurant. Eines mit Seeblick, in dem auch Hunde erlaubt sind. Sie kennen sich ja aus. Wir vertrauen Ihnen.“ Stimmt’s, Argo?

Oben ist unten und unten ist weit. Endlos weit. Sie zieht ihre Kreise aus blauem Samt. Schwimmt ohne Netz, schmeckt das Sonnengeflirr, riecht die Wärme, hört die Wolken reisen. Argo schwimmt neben ihr, weichschnäuzig, schwarz. Unbesorgt unumsorgt atmet sie leicht in die Zukunft. Und hinten ganz hinten am Himbeerhorizont steht ER und zieht sacht an der Linie. Da stülpt sich der Himmel nach innen.

Ostern. Unfassbar?


Die Auferstehung ist für den menschlichen Geist unfassbar. Aber Ostern macht das Unmögliche wahr. Und ich meine nicht den sprechenden tanzenden Osterhasen, der während der Fastenzeit über die Bildschirme grünt, türkist und lilat. Es ist leicht, sich über das Leben zu freuen, wenn wir es in leuchtenden Farben genießen. Aber wie steht es um unsere  Frühlingsgefühle, wenn wir sie in Relation setzen zur Vergänglichkeit? Wenn um uns herum mitten im Aufblühen der Natur das Leben welkt?

Wenn uns angesichts eines fröhlich gedeckten Ostertisches die Galle hochkommt, weil über den Fernseher statt eines „Frohe Ostern“-Rufes aus Rom in X Sprachen Bilder von Giftgasopfern flimmern, von Mutterbomben, Mittelmeerleichen und dem Entstehen einer neuen Demokratur vor der europäischen Haustür?

Es fällt schwer, dem Osterruf der tatsächlichen Auferstehung keinen zynischen Klang zu geben. Im besten Fall werde ich belächelt von Mitmenschen, die mutmaßen, der Umgang mit einer Demenzkranken habe auf mein Urteilsvermögen auf ein spekulatives Maß reduziert.

Aber gerade zu Ostern sollten wir allen zurufen: hört auf, den Tod anzubeten! Kein Mensch wird als Mörder, Attentäter, Rassist geboren. Lasst die Osterbotschaft in Euer Herz. Wir sollten uns zurufen: Lasst uns aufhören, zu denken, dass wir zu wenige sind, um gehört zu werden. Unsere Liebe verändert die Welt. Denn der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden!

Dazu gehört Mut. Mehr Mut jedenfalls, als im Garten bunte Plastikeier aufzuhängen und Kindern beizubringen, im Gras nach prall gefüllten Osternestern zu suchen. Jenseits der Frühlingsriten und Blütenmythen ist für Christen das Osterfest die Erfüllung dessen, was uns zu Weihnachten verheißen wurde. Nein, nicht das Iphone, das wegen eines Lieferengpasses – oder war es ein Kontotiefstand – nicht unterm Gabentisch lag. Die Gewissheit einer Hoffnung – dass nämlich der Himmel kein undurchdringlicher Horizont unserer irdischen Genüsse – und Leiden! – ist, sondern eine Welt, die ganz nah an der unseren ist, spürbar sogar, und zu der wir gelangen können. Nicht mehr und nicht weniger als die Aufhebung der Endlichkeit…..

…zumindest für uns Menschen. Das Iphone wird leider auf der Erde bleiben müssen. Und ich bin mir nicht sicher, ob angesichts dieser Trauerbotschaft nicht viele Menschen lieber auf den Himmel verzichten möchten…… Halleluja.

Silvester


Gute Vorsätze? Geschenkt. Ich verlege mich an diesem Jahreswechsel mal auf’s Hoffen. Und Bitten……

 

stern-von-bethlehem-3Gedanken zum Ökumenischen Silvestersegen.

Siehe, wie fein und lieblich ist’s, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen! Denn dort verheißt der HERR den Segen und Leben bis in Ewigkeit. (Psalm 133,1.3)

Einträchtig beieinander wohnen – davon haben wir im heute zu Ende gehenden Jahr nicht allzu viel bemerkt, oder? In Syrien, im Nahen Osten, in vielen Ländern Afrikas herrschen Krieg und Verfolgung, nicht Eintracht. Und in Europa, in Deutschland? Allzu oft wird Zwietracht postuliert, und immer sind die anderen Schuld. Die zu vielen Ausländer. Die EU.

Ein neuer Geist? Viele alte Geister sind von uns gegangen, 2016, in der Politik – Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher, Hildegard Hamm-Brücher. In der Kunst – Schimanski, Manfred Krug, Umberto Eco, Dario Fo. In der Musik: Prince, David Bowie, Leonhard Cohen. Und dann die vielen nur uns selbst Bekannten.

Ein neuer Geist? Der Geist, der uns entgegenweht, politisch, macht vielen Angst, ist er doch von der Sorte, die wir, nachdem wir sie gerufen haben, nicht mehr los werden. Und welcher Geist im neuen Jahr aus Amerika auf uns zu „wehen“ wird….?

Wir können eh nichts machen. Wir können die Welt nicht verbessern. Wann ist „Weltverbesserer“ eigentlich zum Schimpfwort verkommen?

Ist es so? Wir alle, jeder von uns und überall, können die Welt um uns herum zwar eindeutig jedes Jahr, jeden Tag, jede Minute noch ein bisschen schlechter machen – negativ verändern, da von sind wir doch überzeugt, das erleben wir doch. Warum aber dann nicht auch besser?

Vielleicht können wir das wirklich nicht. Allein. Aber mit dem neuem Herz und dem neuen Geist, den Gott uns verspricht, können wir das schon. Jeden Tag. Morgens beim Aufstehen, auf dem Weg zur Arbeit, im Gespräch mit Kollegen, Freunden und Verwandten. Mit den Menschen, die uns begegnen. Wie ein warmer Atemhauch ein Fleckchen Schnee zum Schmelzen bringt, so kann unser warmes Herz, so kann unser neuer Geist die Welt verändern. Besser machen. Friedlicher. Wer, wenn nicht wir? Mit Gottes Hilfe!

Der Apostel Paulus schreibt im 2. Korintherbrief: Habt einerlei Sinn, haltet Frieden! So wird der Gott der Liebe und des Friedens mit euch sein. Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!

Krisenhelfer in Not


DSCN2976Heute Morgen rief mich eine Freundin an. Eine sehr liebe Freundin. Eine „patente Frau“, so hätte man sie früher genannt. Steht mit beiden Beinen mitten im Leben, beruflich erfolgreich,  tough, mit Herz und Verstand. Sie war aufgewühlt und bat mich um Unterstützung bei einer Frage, die sie umtreibe: wie könne es sein, dass im bayerischen Grenzland kleine Kinder stundenlang in der Kälte warten müssten, um weiter verteilt zu werden. Warum die Staatsregierung nicht einfach mehr Busse zur Verfügung stelle. Warum in München die Helfer arbeitslos da stünden, bereit, und die Unterkünfte leer seien. Es könne doch nicht angehen, dass kleine Kinder frieren müssten, hier bei uns.

„Nein, sagte ich. Das kann nicht angehen. Ich finde es aber auch unverantwortlich, sich mit kleinen Kindern auf den Weg zu machen, in die Ungewissheit. Außer, man ist vom Tode bedroht.“ Fast hätte sie aufgelegt, und ich fühlte mich instinktiv schuldig ob meiner in der kurzen Form roh und feindlich klingenden Antwort. Ich habe sie weiter verwiesen an eine Fachpolitikerin. Und ihr einen Artikel in der SZ von heute nachgeschickt, der sehr gut erklärt, was da gerade wie, wo und warum geschieht, flüchtlingspolitisch, in Bayern und München. Hier ist der Link

Und dann habe ich ihr eine E-Mail geschrieben:

Meine Liebe, ein Grund für die aktuelle Situation ist,  dass der Umgang mit den ankommenden Flüchtlingsströmen inzwischen – wie in Deutschland gen-immanent –  professionalisiert worden ist. Das ist vielleicht gar nicht so sinnvoll, bzw. müssten die in den Sommermonaten „wild“ erstellten und dann erprobten Strukturen einfach etwas angepasst und verändert werden – aber das ist das Problem mit Strukturen, „einfach“ geht gar nicht, denn sie sind per definitionem schwerfällig. Das ist keine Entschuldigung, nur eine Erklärung, die tatsächlich auch mit der soziologischen Sichtweise übereinstimmt.

Aber darunter leiden Menschen, und das ist schrecklich! Das muss behoben werden, da bin ich ganz bei dir!

Die Flüchtlingskrise kann nicht mit einer Stellschraube beendet werden. Es müssen parallel viele Aktivitäten greifen, mehrere tragende Säulen aufgestellt werden. Die eine ist die Hilfe für die Menschen, die unterwegs sind. Und da sind, das hat sich erwiesen, Ehrenamtliche die Schlüsselfiguren, eben, weil sie keinen bürokratischen Strukturen unterworfen sind. Das hat natürlich wieder ganz spezifische Nachteile, denn es sind immer auch psychisch schwierige Menschen darunter, für die Helfen ein Selbstzweck ist und die damit ihre innere Leere füllen. Aber unterm Strich ist das grade mal egal, denn sie sind unverzichtbar. Aber diese improvisierte Unterstützung  ist und darf nichts anderes sein als Akuthilfe, schnell, effizient und punktuell. Sie kann keine offiziellen Strukturen ersetzen und sich deshalb auch nicht institutionalisieren. Auch auf die Gefahr hin, dass den Helfern plötzlich ihre eigene Tagesstruktur entgleitet und sie selbst „hilflos“ im Wortsinn werden.

(Allerdings werfen genau diese Menschen dann, wenn die Hilfe strukturiert wird, riesige Probleme auf, denn solche Psychopathen sind Egomanen, die an einem bestimmten Punkt viel Schaden anrichten, weil sie uneinsichtig sind und kritikresistent, weil sie meinen, am besten zu wissen, was den Hilfebedürftigen fehlt, weil diese für sie zu „Hilfeopfern“ werden, im schlimmsten Fall).

Die andere – und die ist immens wichtig und gerät leider hier oft aus dem Blick – ist die optimale Ausstattung der Füchtlingslager in den an die Kriegsgebiete angrenzenden Orten. Wenige wollen weiter weg als notwendig! Viele würden nicht nach Deutschland wollen, wenn sie mit Nahrung, Arbeit, Bildung ausgestattet nahe der Heimat auf ein Kriegsende warten könnten. „Would you like leaving home?“, so die Gegenfrage eines jungen Syrers, von dem ich wissen wollte, ob es ihm leicht gefallen sei, das zerbombte Damaskus zu verlassen. Leider ist es so, dass das viele Geld, das ehrenamtlich für die Flüchtlingshilfe unterwegs längs den Routen aufgebracht wird, dort unten immens helfen könnte. Klar, UNCHR für ein Camp im Nordirak zu spenden ist so, wie einen Baum in Brasilien zu kaufen. Das ist für viele nicht so sexy, wie Geld für einen WiFI-Hotspot in Presevo zu sammeln, oder Decken nach Kroatien zu fahren, über Nacht im geliehenen LKW.  Es tut mir leid, wenn das jetzt brutal klingt, aber ich habe in den letzten Monaten aufgrund meines Engagements für den Keleti-Bahnhof und in dessen Folge unendlich viele Ehrenamtliche kennengelernt, die genau so denken und handeln. Alternativlösung also: Geld sammeln, in größtem Stil, für die grenznahen Lager. Und, an alle Katastrophen-Touristen gerichtet: Fahrt Eure Geldbomben meinetwegen höchstpersönlich in die Türkei. Hier ist ein Link dazu

Und die dritte Lösungssäule entzieht sich auch nur scheinbar unseren Möglichkeiten. Die Politik muss am Frieden interessiert sein! USA, Russland, Iran, Saudi-Arabien, Europa, Syrien, Irak, Israel, Afghanistan, Pakistan. Solange wirtschaftliche und Machtinteressen den Friedenswillen blockieren, wird in der Levante und Nordafrika kein Frieden einziehen (Afrika ist ein differenziertes Problem, der Westbalkan hat sich der Wanderbewegung aus wirschaftlichen Gründen angeschlossen, das ist ein EU-Thema, das leider auch sehr langsam in Angriff genommen wird. Und die Sinti und Roma will keiner haben, das ist eine entsetzliche Wahrheit). Aber auch die Politik kann von den Bürgern beeinflusst werden. Durch Petitionen, durch Demonstrationen.

Schließlich muss Deutschland sich ganz offiziell zu dem bekennen, was es faktisch schon lange ist: ein Einwanderungsland. Wir können und dürfen nicht mehr unterscheiden zwischen Asylsuchenden und Wirtschaftsflüchtlingen. Höchstens zwischen Bleibewilligen und temporär sich hier Aufhaltenden. Natürlich ist es verrückt, zu glauben, dass sich Heerscharen auf den Weg machen, nur, weil „Mama Merkel“ gesagt hat, Flüchtlinge seien willkommen. Aber, und das berichten die Angekommenen immer wieder, es existiert in den Köpfen dieser leidenden Menschen das Bild eines Landes, in dem JEDER sei Glück machen kann und darf. Ganz ehrlich: es wäre SCHÖN, wenn dies so wäre! Denn wir brauchen sie, die jungen, die tatkräftigen, die ehrgeizigen Leute aus aller Welt. Und vergessen wir nicht, eine prosperierende Wirtschaft – wie wir sie haben – ist die allerbeste Voraussetzung für gelingende Integration. Deshalb braucht man nicht mal als Flüchtling zu kommen, sondern als Einwanderungswilliger. Und wir müssen diese Menschen mit offenen Armen empfangen. Als Einwanderer in unsere überalternde Gesellschaft. Das sind nämlich keine Almosenempfänger, die wir mit Geschenken überhäufen oder mit Fußtritten verjagen wollen. Das sind unsere Zukunftsträger. Es gibt bereits erste zaghafte Versuche, in einigen Ländern Hotspots einzurichten, in denen sie Ausreisewillige registrieren lassen können, Vorstufen einer Green Card, sozusagen. Das würde dann auch die menschenunwürdigen Odysseen der Flucht unterbinden, den Kindern das Frieren ersparen, das Hungern, das Ausharren in engen Unterkünften – und den Schleppern den Geldhahn zudrehen.

Das ist ein weiter Weg. Aber auch er beginnt mit dem ersten Schritt.


	

Kein Friedensengel


Als Barack Obama 2009  – verfrüht und unverdient, wie viele urteilten – den Friedensnobelpreis erhielt, sagte er in seiner Dankesede, „die Instrumente des Krieges müssen eine Rolle spielen bei der Bewahrung des Friedens. Alle verantwortungsbewussten Nationen müssen den Beitrag nutzen, den Militärs mit klarem Auftrag zur Erhaltung des Friedens beitragen können.“ Ob dieser unfriedlichen Offenheit schaute das Publikum damals „ernst. Oder versteinert“, schrieb die „Welt“. Und heute? Heute sieht die Weltöffentlichkeit, wie weit ein amerikanischer Präsident geht, um diese sich zwar selbst erteilte, von ihr allerdings im Vorfeld sanktionierte, Mission zu erfüllen.

In der Tat. Spätestens seit dem Befehl, der zur Ermordung Osama Bin Ladens führte, wird auch dem letzten Zweifler klar, wie der jüngste amerikanische Friedensengel seinen Auftrag zur Unterstützung des Weltfriedens versteht. Und dass dieser immer einer singulären Prämisse unterstellt ist: dem Wohlergehen seines, des amerikanischen, Volkes. Das muss so sein. Er ist Präsident der letzten Weltmacht klassischen Gepräges. Die Enttäuschung, die sich heute breit macht, vor allem in pazifistischen Verehrerkreisen, fußt daher auf einer Fehlinterpretation der Person Obamas. „Wie kann es sein, dass ein Friedensnobelpreisträger eine Bande von Angreifern und Eroberern anführt?“, fragte der linksgerichtete bolivianische Staatschef Morales am Montag und verlangte die Aberkennung des Nobelpreises an das amerikanische Staatsoberhaupt. Nun mag es sein, dass aus Morales auch die nachhaltige Enttäuschung über die für ihn zu hoch gehängten Trauben spricht, war er doch selbst zeitgleich mit Obama für den Preis nominiert. Dennoch. Was er sagt, entbehrt nicht einer gewissen Logik.

Und wenn es vor drei Jahren noch als heldenhafte Ehrlichkeit erscheinen konnte, dass Obama nicht einmal den Versuch machte, sich einzureihen in die Riege von Mutter Theresa bis Nelson Mandela – heute fragen wir uns, ob diese Kommissionsentscheidung nicht ähnlich bedenklich war wie die für, sagen wir, das Trio Arafat, Peres,Rabin, Henry Kissinger oder Kim Dae-jung. Ach, die Liste der Friedensnobelpreisträger, die sicherlich im Laufe ihrer langen politischen Karrieren das eine oder andere Mal für den Frieden Partei ergriffen hatten, aber auch dem Krieg als zweckgeheiligten Mittel nicht unbedingt widersprochen hatten, ist lang.

Der Weg zum Frieden führe eben zuweilen durch Kriegsgebiete. Sagte Obama ja offen. Vielleicht ist die Nobel-Jury einfach realistischer, als wir annehmen?

Dennoch. In meinen Augen besteht ein gravierender Unterschied zwischen den kriegs- und friedenspolitischen Aktionen der Vergangenheit und dem Geschehen der letzten Jahre und besonders Monate in der arabischen Welt, in Pakistan, dem Irak und in Afghanistan. Das Wort der globalen Friedensverteidigung mit den Mitteln des Kriegs hat eine neue Dimension gewonnen, indem sie mühsam erkämpfte Völkerrechte zunichte macht, in einer partisanischen Art, die schleichend daherkommt uns friedliche Aufbauarbeit zu unterminieren droht.

Weshalb auch ich im Grunde der Meinung bin, dass Barack Obama den Friedensnobelpreis zurückgeben sollte. Nicht, weil diese Auszeichung einem weltfremden Ideal gewidmet sei, dem er nicht nachkommen könne. Sondern, weil durchaus berechtigterweise die für sein Land und seine Karriere nötige Politik betreiben muss – dafür aber nicht einen Preis hochhalten sollte, der seine Träger nicht an den kriegspolitischen Anforderungen, sondern an friedensstiftenden Bemühungen misst.

Und was meint Ihr?

Auszug aus Arabien


„Der Krieg dauerte sieben Jahre, kostete 4400 US-Soldaten das Leben und den amerikanischen Steuerzahler eine Billion Dollar: Jetzt hat die US-Armee ihre Kampftruppen aus dem Irak abgezogen“ – so titelt der Stern heute zum Abzug der letzten US-amerikanischen Kampfeinheit aus dem Irak.

Drei Fragen stellen sich mir beim Lesen: 1. Ist es präzise, das, was da heute zu Ende geht, als „Krieg“ zu bezeichnen? 2. Wie hoch waren die Verluste auf Seiten der anderen Kampfbeteiligten? und schließlich: 3. Wenn jedem Ende ein neuer Anfang innewohnt: was beginnt ab heute? Im Irak? Oder auf den Kriegsschauplätzen, auf die sich die Auseinandersetzung verstärkt verlagern wird? Weiterlesen „Auszug aus Arabien“

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