Adventskalender Minikrimi am 2. Dezember


Der Beste seines Fachs

Er ist der Beste. Das weiß er. Und das sagen ihm auch immer wieder alle anderen. Kolleg*innen, Patient*innen. Und vor allem das Pflegepersonal. Die heimliche Leitung der Klinik, wie er lachend sagt, damit niemand merkt, wie ernst ihm diese Behauptung ist. Stell dich mit den Pflegekräften gut, und du bist der uneingeschränkte King der Abteilung. 

Deshalb stellt er sich bei jeder neuen Stelle erst einmal im Pflegestützpunkt vor. Mit gutem Kaffee und einem Korb, prall gefüllt mit all den Sachen, die sie dort wirklich mögen. Keine Schokolade oder Kuchen. Dafür Nüsse, Obst und Nervennahrung. Nach einer Woche fressen sie ihm aus der Hand. Und das ist wichtig! Sie schirmen ihn ab und stehen hinter ihm. Erlauben keine unnötigen Fragen.

So war es bislang immer. Und so ist es auch hier. Seit kaum drei Wochen arbeitet er als Assistenzarzt in der Anästhesie. Inzwischen kennt er sich überall aus, die Handgriffe während einer OP sitzen. Mit schlafwandlerischer Sicherheit überwacht er die Patienten, greift bei Bedarf sicher und routiniert ein. Schwester Lilly wirft ihm bewundernde Blicke zu, und mehr als einmal hat sie ihm schon einen Espresso gebracht – ungefragt. Er kann nicht sagen, dass ihm das missfällt. Auch Lilly selbst gefällt ihm gut, mit ihren langen schwarzen Haaren und den großen grünen Augen. Aber er hält sich zurück. Ist auf der Hut. Persönliche Kontakte kann er sich nicht leisten. Leider.

Es kommen immer mehr Corona-Patienten ins Krankenhaus. Es macht ihm nichts aus, sich im Schutzanzug um sie zu kümmern. Das ist kein wirklich schwerer Job. Leider erwischt das Virus immer mehr Pflegekräfte und Kolleg*innen. Er ist der Meinung, dass sie sich nach ihrem Dienst nicht wirklich in Acht nehmen, sondern den Stress in der Klinik wegfeiern. Und das ist in dieser Situation fatal.


Er tut das nicht. Er lebt zurückgezogen, beinahe mönchisch. Das muss er auch. 

Dann kommt der Tag, an dem Professor T. ihn in sein Büro ruft. Es geht um die junge Luise, eine Covid-19-Patientin. Er kennt das Mädchen, hat es seit der Einlieferung mit Atemproblemen betreut. Sie ist Asthmatikerin. Ihr Zustand schien stabil. Doch in der Nacht hat sich die Situation so sehr verschlechtert, dass eine Operation umgehend notwendig ist. „Und jetzt kommen Sie ins Spiel, Kollege. Kollege F. ist seit heute ebenfalls erkrankt. In Ihren Unterlagen habe ich gelesen, dass Sie bereits mehrere erfolgreiche Lungen-OPs durchgeführt haben, sogar eine Transplantation. Sie übernehmen also. Machen Sie sich fertig, die OP ist für 9 Uhr angesetzt.“

Schweiß tritt ihm auf die Stirn. „Ich, ich…“, setzt er an, doch in diesem Moment geht die Tür auf, Luises Mutter stürmt herein, umfasst seine beiden Hände und bittet ihn unter Tränen, ihre Tochter zu retten. Diesmal ist es eine schlafwandlerische Unsicherheit, mit der er sich vorbereitet. Er sieht alles nur durch einen Schleier. Schwester Lilly hilft ihm beim Ankleiden. „Sie sehen blass aus, ist alles ok?“, fragt sie ihn. „Nein!“ will er rufen. „Nichts ist ok!“ Aber er kann nur nicken. Und dann steht er im Operationssaal. Hält Instrumente in der Hand, die er bislang nur von weitem gesehen hat. Alle warten darauf, dass er anfängt. Er macht einen Schnitt, noch einen – alles ist voller Blut, Luise reißt die Augen auf, schreit ihn an: „Wie können Sie es wagen! Sie Scharlatan. Sie Hochstapler!“ Dann sinkt sie zurück. Tot. 

Der Saal ist plötzlich voller Menschen, Luises Mutter, die Kolleg*innen, Lilly, die Prüfer, die ihn damals haben durchs Examen fallen lassen. Seine Eltern, die ihn seitdem als Versager betrachtet und jeden Kontakt abgebrochen haben. Und noch viele andere, an denen er sich seitdem rächt, indem er das tut, was er wegen ihnen nicht tun darf. Luises Mutter, die ihn anstarrt und immer wieder flüstert: „Warum nur? Warum?“Er will sich umdrehen, weglaufen. Aber er klebt fest. In diesem Raum. In diesem Albtraum.

Schließlich wacht er doch noch auf, schweißgebadet. Es ist vier Uhr morgens, die Stadt schlummert im Winterdunkel. Er schüttelt sich. Was für ein Traum. Er steht auf und geht zum Schreibtisch. Dort liegt er, der Beweis, dass das alles wirklich nur ein Albtraum war: seine Approbation!   

Adventskalender Minikrimi am 3. Dezember


Image by Stefan Keller from Pixabay
Rapunzel, lass dein Haar herunter
München, die Singlehauptstadt. Andreas hätte es schlechter treffen können mit dem Ort seiner Facharztausbildung. Da würde er neben einem netten Job und einer schönen Wohnung auch bald eine hübsche Freundin sein Eigen nennen. Das hatte er zumindest gedacht. Doch heute, gut zwei Jahre nach seinem Umzug aus dem unter medizinischen und landschaftlichen Aspekten sicher reizvollen, aber für einen Endzwanziger mit entsprechender Testosteronlast nur bedingt aufreizenden Städtchen war in Sachen Beziehung enttäuschend wenig gelaufen. Im Gegensatz zu Samson, seinem roten Kater, hatte Andreas bisher nicht einmal so etwas wie eine leidenschaftliche Affäre gehabt. Auch Krankenschwestern waren heute offensichtlich nicht mehr unbedingt auf charmanten Ärztenachwuchs aus. 
 
Aber dann geschah es: eines Morgens klingelte jemand an seiner Wohnungstür im ersten Stock eines renovierten Altbaus im Münchner Stadtteil Bogenhausen. Sturm. Eine Frau stand vor ihm, mit schulterlangen blonden Locken, wutsprühenden grünen Augen und einem Scharlachmund, dem wunderbar modulierte Alttöne entsprangen. Im ersten Moment dachte er tatsächlich, sie sänge. Dann hörte sie abrupt auf und starrte ihn erwartungsvoll an. Er schwieg fasziniert. „Haben Sie mich nicht verstanden? Das ist Katzenkot“, und sie hielt ihm einen offenen Gefrierbeutel vor die Nase. Der Geruch war eindeutig. „Soeben auf frischer Tat ertappt! Wenn Ihr elender Kater noch einmal in meine Rosen scheißt, bringe ich Sie um. Haben Sie mich jetzt verstanden?“ 
„Warum mich?“ fragte Andreas, als er sich von seinem Stupor erholt hatte. Aber die Worte rieselten von den Wänden, ohne sie zu erreichen. Sie war schon den Gang entlang und die Treppe hinabstolziert. Auf 10 cm Absätzen.
 
Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Zumindest von seiner Seite aus. Nach einer Woche wusste er genau, wann sie die Wohnung verließ und  wann sie wieder nach Hause kam. Sie musste im medizinischen Bereich tätig sein, vielleicht war sie Ärztin, genau wie er. Wenn das kein Zeichen war. Wie gut, dass er seinen romantischen Traum von der großen Liebe nicht aufgegeben und sich irgendeiner Patientin an den Hals geworfen hatte. Er hatte sich für sie aufgehoben. Das musste ihr gefallen.
Wenn er ihr morgens „rein zufällig“ an der Haustür begegnete, hielt er ihr diese galant auf. Hatte sie eine Tüte mit Abfällen in der Hand, ging er ihr voraus zum Müllhäuschen und hob den Deckel der Restmülltonne für sie hoch. Sie bedankte sich mit einem Lächeln, noch knapper als ihr Lederrock. Andreas fand es absolut in Ordnung, dass sie reserviert war. Er hätte nichts anderes von ihr erwartet. 
 
Nur sein Kater machte ihm zu schaffen. Der Kerl war ein Despot. Schon immer gewesen, seit er ihn vor 20 Jahren von der Straße gekratzt und zum Entsetzen seiner Mutter ins Haus geschleppt hatte. Ohne besondere Pflege hatte sich das Tier erholt,  bis auf den Verlust eines Auges und ein leichtes Humpeln hatte es keinen Schaden davongetragen. Zumindest körperlich. Psychisch, davon war Andreas überzeugt, war der Kater seither ziemlich abgestumpft. Bzw. war er ein Menschenhasser geworden. Auch Andreas wurde von ihm nur geduldet. Er ließ sich nie streicheln. Aber nachts lag er auf einem eigenen Kopfkissen in dem optimistischen Kingsize-Bett. Obgleich sie einander keinerlei Liebe eingestanden, waren die beiden unzertrennlich. Allerdings hatte Andreas keine Macht über den Kater, der über die Katzentreppe vom ersten Stock in die Gärten ging und wieder kam, wie er wollte. Seltsamerweise aber machte er sein Geschäft nie wieder in den Garten von Dr. Verena Mießtal – den Namen hatte das Klingelschild preisgegeben.
 
Nach einem Monat intensiven Werbens zwischen Haustür und Müllhäuschen ging Andreas zum Angriff über. An einem Sommerabend um 20 Uhr stand er vor ihrer Tür. Während des Heimwegs auf dem Rennrad von der Klinik und dann unter der Dusche hatte er sich den Verlauf des Abends ausgemalt. Nein, vorgestellt. Er wusste genau, was passieren würde. Und hatte sicherheitshalber das Fenster, an dem die Katzentreppe montiert war, geschlossen, um jedwede Störung ihrer ersten gemeinsamen Nacht auszusperren.
 
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihm die Tür öffnete. Aber dann wurden seine kühnsten Erwartungen übertroffen.Da stand sie vor ihm, mit tropfenden Haaren, nur in ein Badehandtuch gehüllt. „Ja`?“ fragte sie, während sich um ihre Füße eine kleine Wasserlache bildete, aus der der Duft von Jasmin aufstieg.“Da bin ich“, sagte er, hielt ihr die roten Rosen entgegen, beugte sich ein wenig zu ihr herab – sie war etwas kleiner als er, nicht zu viel, nicht zu wenig – und küsste sie innig auf die halb geöffneten Lippen, am Ziel seiner Träume, endlich.
 
Aber dann: Filmriss! 
„Sag mal spinnst du? Du tickst ja wohl nicht richtig“ „Aber – ich dachte…“ „Du dachtest WAS? Nein, danke. Ich bin nicht interessiert!“
Während Andreas noch versuchte, ein paar passende Worte zu sammeln, passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Aus der Tiefe der Wohnung rief eine Stimme – hell, weiblich – „Was ist, Vreni? Soll ich die Polizei rufen?“ Und eine Frau, jünger als Verena, mit kurzem braunem Haar und ebenfalls nur in ein Badetuch gehüllt, trat aus dem Schatten des Flures. Eine rote Kugel flog mit markerschütterndem Gekreische an Andreas vorbei, landete im Gesicht der jungen Frau und durchpflügte es mit scharfen Krallen, bevor sie pfeilschnell in den ersten Stock hinauf verschwand.
 
Als Andreas am nächsten Abend nach Hause kam, lag der rote Kater tot auf dem Kopfkissen, äußerlich unverletzt.
 
Dr. Verena Mießtal konnte nicht ahnen, dass ihr Verehrer kürzlich am Rande einer Fortbildung aufgeschnappt hatte, dass der Wirkstoff Minoxidil, der in einem äußerst beliebten Haarwuchsmittel enthalten ist, schon in geringsten Dosen für Katzen tödlich ist, und dass Tierärzte das sehr wohl wissen, ihren humanmedizinischen Kollegen aber nicht sagen. Warum auch. Und wann. Sie hatte außerdem keinen Gedanken daran verschwendet, dass Andreas beim Erforschen ihres Lebens auch Kenntnis von ihrem Beruf als Veterinärin erhalten hatte. 
 
Nachdem er den leisen Geruch im Fell seines Katers identifiziert hatte, wartete er, still, gefühllos, geduldig, so lange abends am Müllhäuschen, bis Verena schließlich mit einer Abfalltüte in der Hand auftauchte. Der Messerangriff, der nur dank Verenas Gegenwehr nicht tödlich ausging, wurde als versuchter Raub behandelt, der Täter nie gefasst.
 
Sowohl Verena als auch Andreas verließen den wunderschönen Altbau in Bogenhausen. Hoffentlich in entgegengesetzte Richtungen.

AdventsKalender MiniKrimi vom 17. Dezember


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Saudumm.

Wie oft hatten sie es ihm gesagt? Morgens, mittags, abends – und zwischendurch, immer dann, wenn er wieder etwas falsch gemacht hatte, in dieser Welt, die nicht mehr seine war, von der er nicht wusste, wie er hineingeraten und noch weniger, wie er wieder herausfinden konnte. „Der linke Schuh kommt an den linken Fuß, nicht an den rechten.“ „Du musst die Hose runterziehen, BEVOR du dich aufs Klo setzt.“ „Erst abbeißen, dann kauen, dann schlucken. Schlucken, nicht SPUCKEN.“ „Ich habe wieder alles falsch gemacht, tut mir leid“, sagte er meistens schon, wenn er sah, wie sich die Zornesfalte auf der Pflegerstirn aufbaute. Obwohl er natürlich nicht wusste, wo der Fehler diesmal lag. „Mit meinem Kopf stimmt etwas nicht“, entschuldigte er sich. Und dann kam er, der Standardsatz. „Klar. Du bist eben dement.“ Und auch, wenn die Stationsärztin ihm jedesmal bei der Visite erklärte, dass es sich dabei um eine Krankheit handelte, sagten die Pflegerinnen und die Pfleger das doch so, als meinten sie: „du bist dumm. Saudumm.“

So fühlte er sich. Saudumm und absolut unnütz. Es gelang ihm nicht einmal mehr, den Salzstreuer auf dem Tisch zu finden, geschweige denn den Weg vom Speisesaal in sein Zimmer. Deshalb hatten sie ihm diese lächerliche Trillerpfeife um den Hals gehängt. So konnte er wenigstens auf sich aufmerksam machen, wenn er sich wieder verlaufen hatte.  Dabei hatte er früher alles gefunden – vor allem Mörder, Diebe und Tatmotive. Kein falsches Alibi war vor dem Kriminalkommissar sicher gewesen. Zum Glück erinnerte er sich nicht mehr an seine berufliche Vergangenheit.

Aber dann war plötzlich alles wieder da. Er stand im dunklen Flur und sah eine schwarz gekleidete Gestalt die Treppe hinauf schleichen. Unbemerkt – beinahe. Er hielt den Atem an und drückte sich in den Türrahmen. Braunländer. Auf dem Weg ins Zimmer von Dr. Wolf. Genau, wie er es vorhergesehen hatte. Der Mörder kehrt immer an den Ort des Verbrechens zurück. Vielleicht wollte Braunländer den Moment noch einmal auskosten, als er das Bündel Banknoten aus den Händen des toten Arztes nahm. Oder er wollte einfach sicher sein, dass er am Tatort nichts Kompromittierendes verloren hatte. Egal. Er war da, und für ihn war es nun an der Zeit, Verstärkung zu holen. Mit aller Kraft blies er in die Trillerpfeife.

Dann passierte alles gleichzeitig. Helles Licht flutete den Korridor. Die Stationsärztin öffnete die Zimmertür so abrupt, dass sie gegen den hoch erhobenen Arm des schwarzen Mannes stieß. Seine Waffe flog in hohem Bogen durch die Luft, der Pfleger Martin fing sie geschickt auf, während der Pfleger Florian sich auf den überrumpelten Eindringling warf.

„Und ich dachte, Sie sind dumm“, murmelte Schwester Sina bewundernd, während sie ihn am Arm nahm und in sein Zimmer begleitete.

„Egal, wen oder was Sie gesehen haben, Sie haben mir das Leben gerettet. Der Einbrecher war tatsächlich auf die Kasse aus, die der Geldtransport noch nicht geholt hatte“, sagte die Stationsärztin, als sie ihn ganz außer der Reihe besuchte. „Danke!“

 

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