MiniKrimi Adventskalender am 20. Dezember


Heute: der MIniKrimi im Doppelpack. Denn ich kann mich nicht entscheiden. Also überlasse ich euch die Wahl. Welcher ist besser? Unter allen Antworten verlose ich ein Exemplar meines winterlichen Fünf-Seenland-Krimis „Miniataurus“, passend zur Jahreszeit.

  1. Saitenwechsel

Er kam unerwartet früher als geplant von der Dienstreise zurück und wurde von schrillen Dissonanzen empfangen. Seine Frau Gina hatte offensichtlich ein neues Hobby: sie übte Violine. „Diese Seite von dir kannte ich noch gar nicht,“ sagte er und ergriff  – bildlich gesprochen und wörtlich genommen – die einmalige Gelegenheit, eine andere Saite seines Lebens aufzuziehen, nachdem er die alte G-Saite runtergedreht, ausgefädelt, die neue Saite eingefädelt und einmal fest über das Ende ihres Halses gewickelt hatte.

2. Gestreift

„Wie süß, Schnucki, dass du mich doch noch mitgenommen hast, in deinen Skiurlaub. Eine Woche ohne dich, das hätte ich nicht ausgehalten. Ich will dich doch jede Sekunde bei mir haben.“

„Klar, mein Zuckerstückchen. Eine Woche Kitzbühel nur mit meinen Freunden – das wäre ja nicht zum Aushalten gewesen.“

Sie kichert. Und fragt: „Schnucki, hier steht Streif. Ist das auch ganz sicher eine Anfängerpiste?“

„Ganz sicher, mein Häschen. Da kommst du ohne zu schieben gar nicht voran. Deshalb habe ich deine Skier heute morgen extra nochmal gewachst. Und jetzt ab mit dir.“

„Ahhhhhhhhh!“

MiniKrimi Adventskalender am 10. Dezember


Liebe im Winter

Über Nacht war es Winter geworden. Die Natur hatte sich der Sehnsucht der Menschen gebeugt und spiegelte endlich die Lieder wieder, die seit drei Wochen in vieler Munde und aller Ohren schwangen und sangen. Zuckerwatte auf den Ästen, die Hecken und Mauern trugen glitzernde Decken und alle Pfosten spitze weiße Hüte.

Inka, die das Adventswochenende bei ihren Eltern verbrach hatte, damit der Pflicht genüge getan und sie über Weihnachten von Familientreffen befreit war, hatte nur eines im Sinn: sie wollte so schnell wie möglich nach Hause. Zu Hause, das war eine verträumte Maisonette in einem modernisierten Jugendstilhaus am Rande des Glockenbach-Viertels. Unten waren Küche, Lounge und Inkas Raum. Oben auf der schmalen Galerie, die die gesamte Wohnung umrundete, breitete sich Ellas Reich aus, so bunt und üppig wie ihre blumige Persönlichkeit. Beim Einzug war Inka sofort klargewesen, dass sie die Wohnung nur so aufteilen konnten. Ella brauchte ein Wolkenkuckucksheim, um ihren Gedanken Form zu geben. Sie brauchte Licht, um sie auf die Leinwand zu bannen. Wobei bannen das falsche Wort war. Sie brachte die Leinwand mit kraftvoll strahlenden Farben zum Leuchten, zum Vibrieren, und keiner, der ein Bild von Ella sah, konnte dem Impuls widerstehen, zu schweben. Trotzdem verkaufte sie selten ein Bild. Sie war keine Verhandlungskünstlerin. „Ich bin doch nur unteres Mittelmaß“, sagte sie, wenn wieder ein Austellungstraum geplatzt war. Aber Inka wusste es besser. Es musste nur der richtige Mensch kommen, einer mit einer ganz besonderen Seele. In der Zwischenzeit stapelten sich die Bilder an den Wänden der Galerie entlang.

„Ella, bin wieder daaaa!“, rief Inka, während sie den Schlüssel abzog und ihren Rollkoffer in den kleinen Flur schob. „Ella?“ Komisch. Um diese Zeit war ihre Mitbewohnerin eigentlich gerade erst aufgewacht und versuchte, mit einer großen Portion Koffein die Traumweben aus dem Kopf zu verscheuchen. Ah, wahrscheinlich saß sie oben im Wintergarten und genoss zum Frühstück den Ausblick auf den plätschernden Glockenbach und seine verschneiten, efeudurchfurchten Ufer. Durch die gotischen Fenster streute die Wintersonne breite Strahlen von der Galerie hinunter in die Lounge.

Jedes Mal, wenn Inka die Wohnung betrat, fühlte sie sich so wohl, dass es schmerzte und sie befürchtete, es müsse gleich ein Unglück geschehen, weil so viel Freude zuviel Freude für einen einzigen Menschen war. Aber sie war ja nicht allein. Sie genossen dieses Glücksgefühl zu zweit. Auch ein Jahr nach ihrem Einzug konnte Inka die Verkettung von Zufällen nicht fassen, die sie und Ella in dieser WG zusammen gebracht hatte. Beide auf Wohnungssuche, beide verliebt in die Maisonette, beide realistisch genug, um zu wissen, dass sie den Preis dafür alleine nicht zahlen konnten. Bis der Makler beiläufg erklärte: „Sie müssen natürlich beide im Mietvertrag stehen, aber das ist ja selbstverständlich. “ Er hatte gedacht – ja, was?

Ein Jahr später waren Inka und Ella nicht nur Mitbewohnerinnen, sondern Freundinnen geworden. Gegensätze ziehen sich an, sagt der Volksmund, auf den weder Ella und noch Inka etwas gaben. Und trotzdem: die Malerin und die Bankerin harmonierten wie die zwei Seiten einer Medaille. Sie verstanden sich so gut, dass sogar ihre Freundeskreise zu einem einzigen verschmolzen.

„Ella, bist du im Bad?“ Inka meinte, Wasserrauschen zu hören. Eigentlich badete Ella meist am Abend. Aber wer weiß, vielleicht war sie gestern nach dem Termin zu müde gewesen. Ein wichtiger Termin mit einem jungen Galeristen, der Interesse an Ellas Bildern gezeigt hatte. Sie wollten Details einer Ausstellung im Frühjahr besprechen. In Wien! Inka hatte den ganzen Abend und die halbe Nacht hindurch immer wieder auf ihr Handy geschaut und auf eine Nachricht von Ella gewartet. Aber naja, wer weiß, vielleicht hatte sie keine Zeit zum Texten gehabt. Vielleicht war sie nicht alleine gewesen. Bei diesem Gedanken spürte Inka einen Stich dort, wo sie ihr Herz verortete. Sie waren gute Freundinnen. Beste, vielleicht sogar. Aber nicht mehr. Nein! Und dennoch: Inka wollte sich nicht vorstellen, was Ella mit dem Galeristen getan haben könnte. Basta.

„Ella!“ Inka lief die Treppe zur Galerie hinauf. Was war das? Die Stufen waren nass? Jetzt erst sah sie, dass der Teppich in der Lounge offenbar durchtränkt war. Sie eilte ins Bad. Das Wasser lief in die Wanne und über den Rand, die Fliesen entlang, in den Flur und die Treppe hinunter. Und in der Wanne lag Ella. Bleich und mit aufgeschnittenen Pulsadern. Längs.

Nach dem ersten Schock war Inka sofort klar, was passiert sein musste. Der Galerist! Irgend etwas musste bei dem Treffen gestern schiefgelaufen sein. Inka lief zum karmesinroten Sofa, das den Mittelpunkt der Galerie bildete. Beschattet von einem smaragdgrünen Baldachin und mit ungezählten Kissen in safran, orange, pink und blau. Aber statt mit einladenden Polstern war das Sofa jetzt mit Ellas Bildern übersät, mit verstümmelten, zerstörten Kunstwerken. Zerschnittene Leinwände hingen lose an zerbrochenen Rahmen. Einige davon waren sogar verkohlt. Verkohlt? Tatsächlich, in dem großen Glasaschenbecher, in dem Ella normalerweise Räucherkegel abbrante, lagen fünf Zigarettenstummel.

Und darunter, halb unter dem Sofa versteckt, ein goldener Manschettenknopf. Unfassbar! Es musste zum Streit gekommen sein, warum auch immer. Dann hatte der Mann Ella ermordet. Ob kaltblütig oder im Affekt, das sollte die Polizei herausfinden. Jedenfalls hatte er alles getan, um Ellas Tod wie Selbstmord aussehen zu lassen. Ella und Selbstmord! Inka wusste natürlich, dass allein die Vorstellung absurd war. Aber sie würde schon dafür sorgen, dass die Ermittlungen in die richtige Richtung liefen und zur Festnahme des Mörders führten.

Inka ging in ihr Zimmer. Bevor sie die Polizei rief, setzte sie sich auf ihr Bett und zwang sich, zur Ruhe zu kommen. Sie musste jetzt alle fünf oder besser noch sieben Sinne beisammen haben.

Die Kriminalbeamten waren sehr nett. Sie hörten Inka aufmerksam zu, nahmen die Beweismittel – Zigarettenstummel und Manschettenknopf – an sich und versicherten Inka, alles Nötige zu tun, um den Fall schnell abzuschließen. Ella war jetzt kein Mensch mehr, kein pulsierendes, vibrierendes lebendiges Wesen. Sie war ein Falll. Das war alles SEINE Schuld. Und das sollte er büßen!

Eine Woche lang hörte Inka nichts von der Polizei. Sie rief täglich an, doch die „Kollegen“ waren nie für sie zu sprechen.

Eines Abends, Inka saß mit hochgezogenen Knien auf Ellas Sofa und starrte in die immer noch magisch weiße Winterwelt, klingelte es an der Tür.

„Frau Behrens, dürfen wir reinkommen?“ „Ja, natürlich! Endlich! Sie haben „den Fall“ abgeschlossen? Hat er gestanden?“

Frau Behrens, leider müssen wir sie bitten, mit aufs Kommissariat zu kommen.“ „Wie bitte? Ich? Warum?“ „Das erklären wir Ihnen dann alles genau. Möchten Sie einen Anwalt oder eine Anwältin hinzuziehen?“

Wie eine Marionette ließ Inka sich von den Beamten aus der Wohnung begleiten, in den Fahrstuhl, auf die Straße und in ihr wartendes Auto. Im Kommissariat saßen sie an einem Metalltisch, um sie herum Technik und grelles Licht.

„Frau Behrens, haben Sie Ihre Freundin ermordet?“ „WAS?“ Schlagartig war Inkas Lethargie verflogen. „Was fällt Ihnen ein? Ich soll Ella ermordet haben? Was für ein Schwachsinn. ich habe sie geliebt! Wir haben uns geliebt!“ So. Jetzt hatte sie es gesagt. Zum ersten Mal. Aber zu spät.

„Frau Behrens, die Sache kann sich nicht so abgespielt haben, wie Sie sie uns geschildert haben. Zum Zeitpunkt, als Frau Bach starb, war Herr Walter, der Galerist, nicht mehr in ihrer Wohnung, sondern bei seinem Freund, wo er übrigens auch übernachtet hat. Er kann es also nicht gewesen sein. Aber Sie haben Beweismittel unterschlagen.

„Ich habe was?“ Der Kommissar öffnete die Akte auf dem Tisch und entnahm ihr eine Plastikhülle. Darin lag ein Stück Papier. Löschpapier.

„Ihre Freundin hat mit Tinte auf Papier geschrieben, eine Seltenheit, heutzutage. Und dann hat sie das Geschriebene auch noch mit Löschpapier getrocknet. Unseren Spezialisten ist es gelungen, den Inhalt des Briefes wiederherzustellen. Er war für sie. Ich denke mal, Sie haben ihn in Ihrem Zimmer gefunden. Und in Ihrer Trauer und Ihrer Wut haben Sie beschlossen. sich an Walter zu rächen und ihm den Selbstmord Ihrer Freundin als Mord in die Schule zu schieben.

Soll ich Ihnen den Brief vorlesen?“

„Nicht nötig,“ flüsterte Inka unter Tränen. „Aber er hat sie umgebracht. Indirekt. Er ist Schuld an ihrem Tod. Er hat mir Ella weggenommen. Mir und der ganzen Welt. Ich wollte, dass er leidet. Es geschieht ihm Recht.“

Ellas Abschiedsbrief:

Liebste Inka,
bitte, du darfst nicht erschrecken, wenn ich dich so nenne. Ich habe das nie gemacht. Aber du bist für mich viel mehr als „nur“ eine Freundin. Ich…. liebe dich. Und ich hoffe, ich spüre, du liebst mich auch. Wie traurig das Leben ist! Was hätten wir beide zusammen alles erleben können. Aber ich kann nicht mehr. Die Ausstellung im Frühjahr war meine letzte Hoffnung. Die Brücke zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Aber als Walter meine Bilder sah, sagte er, das sei gefällge Kunst.Schön und bunt. Aber in seiner Galerie stellt er nur große Talente aus. Meine Bilder seien gutes Handwerk, aber nicht genial. Und als ob er mich damit nicht schon genug gedemütigt hätte, bot er mir einen „Deal“ an. Weil er mich nett fand. Ich sollte mit ihm ins Bett gehen. Eigentlich bevorzugt er Männer, aber bei mir würde er gerne eine Ausnahme machen. Und dann könnten wir nochmal über die Ausstellung sprechen.

Liebe Inka,. du kannst dir das wahrscheinlich nicht vorstellen, aber da bin ich ausgerastet. Ich habe ihn an seinem Ärmel vom Sofa hochgerissen und praktisch die Treppe runtergestoßen.

Als die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel, bin ich ins Bad gegangen. Die Wanne ist jetzt voll. Ich lege mich hinein. Bitte verzeih mir, aber ohne meine Kunst kann ich nicht leben. Und ohne dich auch nicht.

Leb wohl.

Adventskalender MiniKrimi am 7. Dezember


Eine schöne Bescherung 

In der Vorweihnachtszeit ist es immer am schlimmsten. Wenn draußen die Lichtgirlanden, in den Fenstern die Jakobsleitern und am Adventskranz die Kerzen leuchten, wenn die Luft nach Glühwein duftet und gebrannten Mandeln, wenn sich im Keller die Dosen mit frisch gebackenen Plätzchen stapeln und das Radio „Last Christmas“ in Dauerschleife dudelt, packen die Erinnerungen Erika jedes Mal mit aller Macht. Denn genau in dieser magischen, wunschprallen, nach Vergebung und Liebe suchenden Zeit ist Erika die schlimmste Kränkung ihres Lebens widerfahren. 

In der Vorweihnachtszeit ist es immer am besten. Wenn draußen ein eisiger Ostwind den Schnee vor sich hertreibt und drinnen vor dem munter flackernden Kaminfeuer Whiskey und Pfeife auf ihn warten, genießt Eduard die Erinnerungen am meisten. Und während das Holz in den Flammen knistert, ergreift die Genugtuung wieder Besitz von jeder Faser seines Körpers, prickelnd und über die Maßen erregend.

Erika hatte nie ein besonders gutes Verhältnis zu ihrer Mutter. Die Erstgeborene, ein Mädchen statt des ersehnten Stammhalters, schmal und schmächtig. Aus der konnte nichts „Gescheites“ werden, das hatte die Mutter gleich beim Anblick der Neugeborenen prophezeit. Im Laufe ihres Lebens hat Erika diese Erwartungen voll und ganz erfüllt. Von einer scheuen Schülerin, die sich statt in Freizeitaktivitäten lieber in Bücherwelten stürzte, entwickelte sie sich zur einer musikbesessenen Medizinstudentin. Natürlich gaben ihr die Eltern keinen Pfennig dazu, und Erika verdiente sich Studium, Bücher, Unterkunft und Essen durch Klavierunterricht. Dass sie ihr überhaupt erlaubten, die Universität zu besuchen, lag ganz einfach daran, dass sie dadurch früh „aus dem Haus, dem Auge und dem Sinn“ der Mutter verschwand.

Eduard interessierte sich schon im Kinderwagenalter für Geschwindigkeit: er stellte sich kerzengerade in seinem Buggy auf und hieb mit einem langen Schnürsenkel auf die Schwester ein, die ihn, wie ein eingespanntes Pferd, in Windeseile über den Hof ziehen musste. Mit fünf zerschnitt er die Bremsen ihres Fahrrads, woraufhin sie wie ein Pfeil die Straße bergab und gegen den Baum an der ersten Kreuzung sauste. Selbstverständlich trat er nach dem Realschulabschluss in das elterliche Autohaus ein und verdrängte den Vater, so schnell es ging, aus dem Geschäft. Sein rasanter Lebensstil kostete im Laufe der Zeit allerdings mehr, als ihm seine diesbezügliche Expertise einbrachte. Schließlich stand das Autohaus – das Lebenswerk des Vaters – kurz vor dem Konkurs. Dann starb die Mutter, und nur mit ihrem Geld konnte er die geschäftliche „Kurve kriegen“. Allerdings war dazu mehr als sein eigener Erbanteil nötig...

Erika, inzwischen längst Landärztin mit eigener Praxis, Ehemann und zwei Kindern, saß bei der Testamentseröffnung kerzengerade auf dem Ledersofa. Sie musste gegen die ungehindert durch die großen Fenster in den Raum hineinstürzende Sonne blinzeln und nahm den Anwalt, den die Mutter offenbar kurz vor ihrem Tod mit ihren Angelegenheiten betraut hatte, – übrigens ein Kunde und Duzfreund ihres Bruders – nur als Scherenschnitt war.  Im Nachhinein hat sie versucht, das Testament anzufechten, um zumindest einen Pflichttei des Erbes zu erhalten. Vergeblich. Nachdem sie alle Instanzen durchlaufen hatte, nahm der Richter, der ihr in der letzten Verhandlung die allerletzte Hoffnung genommen hatte, sie beiseite. Ob ihr bewusst sei, dass ihr Anwalt zur Clique von Eduard gehöre? Er habe es wirklich geschickt angestellt, so dass ihm, dem Richter, bei dieser lückenlosen Vorgehensweise tatsächlich die Hände gebunden gewesen seien.

Eduard sitzt vor seinem Kamin. Verträumt betrachtet er die Glut. Um ihn herum nur die Stille einer sternenklaren Nacht. Er hat den Brief zweimal gelesen. Wort für Wort. Aber er kann keinen Fallstrick erkennen. Nur eine tiefe Traurigkeit. Erika war schon immer melancholisch veranlagt. Sie schreibt, dass ihr Mann gestorben sei. Ein Unfall, der die gesamte Familie in arge Bedrängnis gebracht habe. Sie könne die Praxis nicht mehr halten und werde wohl auch aus dem Haus ausziehen müssen. Das wenige Geld, das ihr bleibe, sei für die letzten Studienjahre ihre Kinder bestimmt. Nach so viel Leid habe sie das dringende Bedürfnis, in ihrem Leben Ordnung zu schaffen. Sie wolle den Zwist mit ihrem Bruder beilegen. „Lassen wir den Schnee von gestern doch einfach tauen“, schrieb sie. „Und endlich wieder wie Geschwister zueinander sein.“

Der dem Brief beigelegte Versöhnungstropfen muss noch aus dem Weinkeller seines Schwagers stammen. Ein vorzüglicher Chateau Lafitte. „Santé, Schwester“, sagt Eduard und hebt das Glas.

Dank seiner Selbstgerechtigkeit ist er kaum überrascht, als sie trotz vorgerückter Stunde vor seiner Tür steht, und es gelingt ihm gerade noch, ihr das Glas in die Hand zu drücken, als die Welt um ihn herum sich zu drehen beginnt. Sekunden später liegt er leblos auf dem Terracottaboden.

Frau Dr. Erika Monhaupt ist untröstlich, den Bruder so unmittelbar nach ihrem Wiedersehen verloren zu haben. Dabei verschweigt die Ärztin natürlich sowohl ihren Brief samt Versöhnungsgeschenk als auch ihre Kenntnis bezüglich der Ursache für den plötzlichen Tod ihres Bruders. 

Die Vorweihnachtszeit, denkt sie, während draußen dichte Schneeflocken tanzen und im Kamin ein lustiges Feuer prasselt, ist doch gar nicht so übel. Morgen kommen die Kinder. Ist das nicht eine schöne Bescherung?

Adventskalender MiniKrimi am 2. Dezember


Herr Qualkowitzer

An trüben Winternachmittagen besetzen die Schatten schon früh ihr kleines Zimmer. Sie nehmen von allem Besitz, was nicht aus sich heraus leuchten kann. Der Sekretär, die Kommode, das Klavier. Die einzelne Kerze auf dem kleinen Tisch kann nichts ausrichten gegen sie. Mara kauert mit hochgezogenen Knien im Ohrensessel. 

An Tagen wie diesem vermisst sie ihr Leben ganz besonders. Damals. Als ihr Vater ihr die Welt zu Füßen legte. Täglich von neuem. Als ihre Wünsche wahr wurden, kaum, dass sie sie ausgesprochen hatte. Damals gab es keine Schatten in ihrem Reich. Der Sekretär, die Kommode, das Klavier – sie leuchteten, und in ihrem Holz spiegelten sich die tanzenden Kerzen. 

Herr Qualkowitzer kam einmal im Monat. Aus seinem verbeulten, verkratzen geheimnisvollen Koffer holte er allerlei „Medizin“ für Maras Möbel heraus. Schellack in einer braunen Flasche, Bienenwachs in einer rostigen Dose, Rosenöl in einer kleinen Phiole. Er tränkte einen Lappen mit Schellack und rieb den Sekretär wie Aladins Wunderlampe. Kreisrunde Bewegungen, wieder und wieder. Bis das Holz glänzte und strahlte. Einmal klemmte die mittlere Schublade. Herr Qualkowitzer nahm ein dünnes Messer mit einer spitzen, scharfen Klinge und befreite eine braune Locke, die aus dem Geheimfach herauslugte und die Schublade verklemmt hatte. Mara schaute ihm aufmerksam zu und ahmte hinter seinem Rücken die kreisförmigen Bewegungen nach. Wieder und wieder. Als er auch die Kommode und das Klavier poliert hatte, packte Herr Qualkowitzer Lappen, Flaschen und Dosen wieder ein. Und ging.

Das Messer hatte Mara in ihrer Rocktasche verborgen. Falls sie mal etwas im Geheimfach verstecken wollte.

Der Vater starb und Mara heiratete Alexander. Doch schon bald nannte er sie nicht mehr „meine Prinzessin“, und er trug sie weder auf Händen noch legte er ihr eine Welt zu Füßen. Stattdessen setzte er sie ein paar Jahre nach der Hochzeit mit einem Koffer vor die Tür. Angeblich hatte er ihr gesamtes Vermögen verspekuliert. Sie kam in einem Mansardenzimmer unter, mitsamt dem Sekretär, der Kommode und dem Klavier. Mehr holte ihr Anwalt nicht aus Alexander heraus. 

Als Mara aus der psychiatrischen Klinik entlassen wurde, riet ihr Arzt ihr zu einer kleinen, leichten Beschäftigung, um wieder Fuß zu fassen. Das war das letzte, was Mara wollte. Aber sie fing an, im Villenviertel der Stadt Möbel zu polieren, mit kreisrunden Bewegungen. In den meisten Häusern wohnen inzwischen Fremde. Nur in der Villa ihres Vaters lebt jetzt Alexander. Die junge blonde Frau an der Tür ist begeistert. Dass es das heute noch gibt, wundert sie sich, während Maras Hände auf den modernen Holzmöbeln kreisen, wieder und wieder, wie die Krähen im bleiernen Himmel über den Bäumen im Park vor dem Haus. Alexanders neue Frau steht am Fenster und schaut hinaus. 

Herrn Qualkowitzers Messer ist scharf. Mara ist schnell. Die Frau sagt kein Wort. 

Bevor sie geht, schneidet Mara ihr eine blonde Locke ab. Sie weiß ein gutes Versteck dafür.

Auf ein gesegnetes 2020!


Es kommt nicht auf die Minute an, nicht auf die Jahreszahl und nicht darauf, was wir bis heute 24 Uhr alles erreicht haben oder auch nicht. Der Zeiger rückt ein Stückchen weiter, und wir haben wieder die Chance, etwas besser zu machen als in der vergangenen Minute oder Woche. Im vergangenen Monat oder Jahr.

Ich nehme mir vor, morgen möglichst gut zu sein. Gut, in dem, was ich denke, sage und tue. Gut zu anderen. Gut zu mir. Wenn ich das morgen schaffe, ist das ein wunderbarer Anfang eines neuen Tages, Monats, Jahres. Wenn ich nicht mit mir zufrieden bin, habe ich übermorgen eine neue Chance.

Es sind die kleinen Schritte, die unseren Weg ausmachen. Sie sind überdies auch leichter zu planen und zu überdenken.

Ich glaube – hilf meinem Unglauben, so lautet die Jahreslosung 2020. Wie gut, dass ich immer unsicher sein darf, ungläubig, und stets einen neuen Versuch habe. Wie gut, dass mein Leben nicht passwortgesichert ist und dass ich so viele Fehler machen kann, wie nötig sind, ohne gesperrt zu werden. Was für Aussichten auf ein hoffnungsvolles neues Jahr.

Ich wünsche Euch allen ein gesegnetes, gesundes 2020. Mit Erwartungen, die so klein sind, dass ihr sie groß erfüllen könnt. Und mit Träumen, die so groß sind, dass sie euch treiben und leiten und begleiten. Vor allem aber mit Menschen, die Euch freundlich oder liebevoll zur Seite stehen. Und mit solchen, die Ihr hilfreich oder liebevoll begleitet.

Adventskalender Minikrimi vom 16. Dezember


Foto: kerplode

Heute gibt es hier noch einmal einen weihnachtlichen Krimi von Birgit Schiche. Viel Freude beim Lesen!

Schneemannschicksal

Er räkelte sich wohlig in seinem warmen Bett. Durchs Fenster drängelte helles Tageslicht – er hatte verschlafen! Es war so ungewohnt still. Absatzklackern, Autogeräusche, Fahrradklingeln, murmelnde Stimmen drangen nur gedämpft herein. Verdammt, es hatte geschneit! Er fluchte leise. Im Gegensatz zu den meisten Menschen wünschte er sich keine weiße Weihnachtszeit. Mildes, graues Nuschelwetter war ihm lieber. Denn bei Kälte konnte er seine Arbeit kaum verrichten, und dabei war jetzt Hochsaison. 

Er eilte zur U-Bahn und fuhr zum Weihnachtsmarkt. Menschen schoben sich dichtgedrängt an kleinen Buden mit heißen Getränken und duftenden Leckereien, kitschigem Weihnachtsschmuck, vorgetäuschtem Kunsthandwerk und überteuertem Schnickschnack entlang. Ein kleines Karussel ließ Kinderaugen leuchten, während die Erwachsenen ein paar Runden lang frierend davor ausharrten. Er stellte sich unauffällig neben die Wartenden, rempelte wie zufällig bummelnde Weihnachtsmarktgäste an, mischte sich unter die glühweintrinkenden, bratwurstessenden Menschen, und schon nach kurzer Zeit hatten jede Menge Geldbörsen, Handys und Kreditkarten ihre Besitzer gewechselt. So viele, dass er sie irgendwo bunkern musste, bevor er weiter seinem Job nachgehen konnte.

Er sah sich um. Ein verliebtes Pärchen bewarf sich neckend mit Schneebällen. Zwei Kinder bauten am Rande des Weihnachtsmarktes an einem Schneemann. 

„Mia, Luis – kommt, wir müssen nach Hause!“

Nachdem der Vater mehrmals gerufen hatte, brachen die Kinder ihr Spiel missmutig ab und trotteten protestierend neben ihren mit Einkaufstüten beladenen Eltern davon. Das brachte ihn auf eine Idee: Er würde seine Diebesbeute im Schneemann verstecken! 

„Genial!“, lobte er sich selbst und grub unauffällig eine Höhlung in die große Schneekugel, die den Körper des Schneemannes bilden sollte. Wasserdicht in einer Plastiktüte verpackt wanderte seine Beute hinein und wurde mit Schnee bedeckt. Zur besseren Tarnung baute er den Schneemann fertig. Ohne dass er selbst es merkte, fingen seine Augen an zu leuchten und er war in seine Aufgabe ebenso versunken wie vorher die Kinder. Er spürte gar nicht, dass seine Finger – das wichtigste Werkzeug eines erfolgreichen Taschendiebes – eiskalt wurden, so war er darin vertieft, den Schneemann auszuschmücken, mit einer verloren gegangenen Wollmütze, Augen, Mund und Nase aus bunten Spielsteinen, die er an einem Sand stibitzt hatte, und einem dicker, roter Wollschal. Am Schluss betrachtete er stolz sein Werk – und seine vor Kälte tauben Finger. Mehrere Polizisten flanierten paarweise über den Weihnachtsmarkt. Er war in all den Jahren noch nie geschnappt worden und wollte auch jetzt nicht damit anfangen. Für heute konnte er seinen Job vergessen. Er trottete zur U-Bahn – nicht ohne noch einen stolzen Blick auf seinen verschmitzt lächelnden Schneemann zu werfen. Der war ihm wirklich gut gelungen. 

Zufrieden mit Decke und heißem Tee auf dem Sofa sitzend schaute er sich die Meldungen des Tages im Regionalprogramm an und traute seinen Augen nicht: Ein Kamerateam hatte ihn gefilmt, sein Gesicht in Großaufnahme, und von allen Seiten den besonders gelungenen Schneemann. Mehrere Minuten berichtete die Journalistin über den „Zauber, den der Schnee und die Weihnachtsstimmung auch auf einen „einsamen Mann im fortgeschrittenen Alter“ ausübte. Man bezeichnete ihn als „Weihnachtself“ und startete einen Suchaufruf, um ihn in die Sendung einzuladen. Sie wussten nicht, was sie damit anrichteten. Er seufzte.

Sein Telefon klingelte, er ging gar nicht erst ran, ahnte er doch schon, worauf es hinauslief. Morgen würde er gleich wieder hingehen, seine Beute aus dem Schneemann holen und verschwinden.

Doch als er am nächsten Tag, es war der 4. Advent, zum Weihnachtsmarkt kam, stand bereits eine Menschentraube vor seinem Schneemann. Schülerinnen, Touristen, ein Liebespaar – alle wollte ein Selfie mit dem Schneemann. Er nutzte die Gelegenheit, ihnen ein paar Sachen aus den Taschen zu fischen. Und dann geschah es: „Das ist er!“ rief jemand aus der Menge und zeigte auf ihn. Ein Horrormoment für jeden Taschendieb. Alle Köpfe drehten sich zu ihm um, Handys wurden für Aufnahmen in die Höhe gestreckt. Wildfremde Menschen zupften an seiner Kleidung, wollte ihm die Hand schütteln und nun auch Selfies mit ihm machen. „Der Weihnachtself!“, kicherten ein paar Mädchen und schmiegten sich für ein paar Fotos an seine Jacke. Die Menschen lieben eben kitschige Geschichten zur Weihnachtszeit, und es braucht heutzutage nicht viel, um plötzlich berühmt zu werden. Den Clip vom Vortag hatte längst jemand auf Youtube gestellt und durch die Social Media gejagt. Er war bekannt wie ein bunter Hund. Er flüchtete zur U-Bahn, raus aus der Menschenmasse, seine Mütze tief ins Gesicht gezogen. 

„Die Fahrkarten, bitte!“, damit konnte man ihn nicht schocken, er hatte ein Abo … aber wo war sein Portemonnaie? „So ein Mistkerl hat mich beklaut, mich!“, wurde ihm klar. Und es fehlte nicht nur seine eigene Geldbörse, sondern auch alles, was er heute erbeutet hatte. Er hatte es nicht einmal bemerkt, wie er mit seinen eigenen Tricks beklaut wurde. Das nagte heftig an seiner Taschendieb-Ehre – und hätte ihn beinahe 60 Euro fürs Schwarzfahren gekostet. Aber der Kontrolleur erkannte ihn, bedauerte den „Weihnachtself“ ob seine Verlustes und ließ ihn kostenfrei weiterfahren – im Gegenzug wünschte er sich nur ein gemeinsames Selfie. Na prima – soweit war es schon gekommen. In tiefschwarzer Stimmung erreichte er seine Wohnung.

Am nächsten, ziemlich grauen Morgen weckten ihn die gewohnten Großstadtgeräusche. Tauwetter! Es schien gar nicht richtig hell zu werden. Wie von der Tarantel gestochen sprang er aus dem Bett, um noch vor den Menschenmassen zu seinem Schneemann zu kommen und die Beute zu holen. In der nass-grauen Pampe, zu der der Schnee in der Nacht bereits geschmolzen war, rutschte er mehrmals aus und wäre beinahe gefallen. Der Tag fing ja gut an. Streufahrzeuge waren unterwegs, und die Stadtreinigung mühte sich damit ab, die nassen Massen beiseite zu räumen, damit die Leute sicher von A nach B kommen konnten. Am Weihnachtsmarkt angekommen sah er, dass die Budenbesitzer bereits mit dem Abbau begonnen hatten. Gestern war der letzte Tag des Weihnachtsmarktes gewesen! Er schaute sich suchend um. Wo war sein Schneemann? Und noch viel wichtiger: Wo war seine Beute? Schneeschieber kratzten über Gehwegplatten, auch hier war die Stadtreinigung bereits bei der Arbeit. Seinen halb geschmolzenen Schneemann hatten sie schon weg geschaufelt. Von der Beute keine Spur. 

„Hallo, Weihnachtself!“

„Nicht schon wieder“, dachte er und wollte schnell verschwinden. Doch die Journalistin hielt ihn am Ärmel fest. Nach einem kurzem Gespräch lächelten beide. Er würde für mehrere TV-Auftritte als Weihnachtself ein nettes Sümmchen bekommen, ehrlich verdient. Er musste sich nun ohnehin einen neuen Job suchen, sonst würde er noch im Knast enden. Oder in der Gosse, wie der alte Mann in abgetragener Kleidung, der bettelnd zwischen den Buden herum schlurfte, auf der Suche nach ein wenig Geld oder etwas zu essen.Schließlich ging der Alte weiter, mit hängenden Schultern, herabgezogen vom Gewicht seinerPlastiktüten. Erst viel später, In der Sicherheit eines windgeschützten Ladeneingang, öffnete er staunend die Tüte, die er in letzter Minute vor der Stadtreinigung aus den matschigen Überresten des Schneemannes gerettet und schnell eingesteckt hatte. Das war eine schöne Bescherung!

Wenn ich Dich suche.


Wenn der Schmerz verebbt, kann die Trauer aufsteigen.
Sie legt sich wie ein weiches Tuch um meinen Hals und riecht nach Dir.
Ich gehe ins Gästezimmer, diesen Raum, den Du nur als Gast bewohnen wolltest, und der Dich doch gefangen hielt, in Deinen letzten Jahren.

Ich suche Dich. Hinter geöffneten Schranktüren hängen Deine letzten Lieblingskleider. Ich vergrabe mein Gesicht zwischen den paar Röcken und Pullovern. Schlüpfe in die braune Teddyjacke, finde in der Tasche ein zerknülltes Tuch.

Aber hier bist nicht Du.

An der Stirnseite des Raumes hängst das Kreuz, vor dem ich schon als Kind gebetet habe, auf den Knien: „Bitte lieber Gott, bring meine Mamma bald zurück“. Hinter mir stand mein Vater, Whiskeyglas in der Hand, mehr Angst um Dich als ich.

Und dann höre ich Dich, dort, nur dort, wo ich Dich finden kann! In mir.

Alles ist gut so, wie es ist. Halt mich nicht fest, dann kann ich um Dich sein. Jetzt beginnt Deine Zeit. Genieße sie, so, wie ich meine Zeit genossen habe. Und dann unsere. Erinnere Dich gerne, sieh mich lachen, hör mich sprechen, singen. Aber weine nicht. das entspricht nicht dem Sinn der Zeiten. Es geht mir gut, Und Du sollst kein Mitleid haben, vor allem nicht mit Dir.

Stattdessen trinke die Minuten, tanz die Tage, lebe mir denen, die Dich lieben. Halte mich im Herzen, aber nicht mit Deinen Händen.

 

 

 

Heilt Zeit Wunden?


tree-2286510__340

Die Zeit heilt keine Wunden. Mit der Zeit verschorfen sie, verheilen, vernarben. Was aber löst den Heilungsprozess aus? Was fördert ihn?

In den ersten Wochen und Monaten nach dem Tod meiner Mutter konnte ich unsere gemeinsamen Spazierwege nicht gehen, ohne dass mir nach wenigen Schritten die Tränen in die Augen schossen. Wege, Wiesen, Bäume verschwammen zum immer gleichen Bild schmerzhafter Erinnerung, und ich sah sie neben mir gehen, resolut, dann zögernd, schließlich ängstlich. Ich hörte ihre Stimme, immer fest und jugendlich. „Nur so eine kleine Runde?“, „Wie viele Kilometer noch?“, schließlich nur noch „ich habe Angst, ich will nicht gehen.“ In diesen Monaten habe ich verstanden, was es heißt, wenn dir das Herz blutet.

Ich suchte andere Wege, solche, die ich nie mit ihr gewandert war. Die Hunden dankten es mir, und wir liefen spielten rannten ohne Schattenbilder.

Doch dann kamen wir nach Hause. Wo sie auf uns wartete. Ich spürte ihre unsichtbare Nähe, hinter mir auf dem Sofa, wenn ich am Schreibtisch saß. Sah sie die Treppe hinunter huschen, lautlos. Manchmal vergrub ich meine Nase in dem Tigerpulli mit den rosa Ohren an der Kapuze, in dem sie gestorben war. Ahnte ihren leichten Duft, der lange verflogen war.

Das Weinen überkam mich immer plötzlich, schüttelte mich mit harter Hand und ließ mich nach ein paar Minuten zurück, erschöpft und atemlos. Es waren diese Momente, in denen sie mir nahe kam, irgendwann. Mit vergessenen Zitaten, so sehr sie, so, wie sie in den letzten Jahren nicht mehr war. Mit ihrer Stimme und, ja, mit einer zärtlichen Berührung. Begegnungen zwischen den Welten, Wundenbalsam.

Und dann natürlich die Landmarken. Alles zum ersten Mal ohne sie. Es lebt sich näher am Horizont, als Vollwaise. Plötzlich ist die Endlichkeit keine mathematische Tatsache mehr, sondern eine Angst, und zwischen dir und dem Treibsand der Welt steht keine Wand mehr, kein Schutz. Meine Mutter schenkte mir eine Schneekugel. Kurz nach ihrem Tod lief das Wasser aus, und der Engel darin steht nun nackt auf dem Boden. So habe ich mich gefühlt, am ersten Advent. Beim Schmücken des Christbaums. Beim Decken der Tafel am Heiligen Abend. Beim „O du Fröhliche“ in der Christmette.

Immer wieder begegnete ich meiner Mutter im Traum. Immer lebte sie – immer war sie viel pflegebedürftiger, hilfloser, unglücklicher als bis zu ihrem Tod.

Am schlimmsten waren die Rauhnächte bis zum 1. Januar. Ich halte nichts von Orakeln und 12 sich öffnenden Monatstüren, nicht von offenen Zeiten. Aber ich bin dünnhäutig genug, um zu spüren, dass die sichtbare greifbare Welt durchlässiger ist für vieles, das um uns herum existieren mag, auch, wenn wir es im Alltag nicht wahrnehmen – oder wahrnehmen wollen. Ich schlief unruhig und angstvoll, im Halbschlaf eingehüllt von düsteren Nebeln.

In einer dieser traumwachen Nächte saß meine Mutter neben mir auf der Bettkante, schaute mit intensiv an und fragte – ich weiß nicht, ob wehmütig – „Ich bin wirklich tot, oder?“. Und ich antwortete: „Ja, Mammina.“

Im neuen Jahr sind die Nebel verflogen. Frischer Mut breitet sich aus, in mir. Ich gehe die altvertrauten Wege. Allein mit den Hunden. Dort drüben auf der Bank an der Schlossmauer saß meine Mutter und wartete ungeduldig, während ich die Tiere zumindest ein paar Runden rennen ließ. Heute springen die Hunde kreuz und quer über die Wiese, graben nach Mäusen und jagen sich gegenseitig. Ich schaue nach rechts zur verwaisten Bank. Da sitzt sie, Entspannt. Und lächelt zu mir herüber.

Und statt bitterer Tränen steigt Freude in mir auf, und ich lächle zurück.

Nein, die Zeit heilt keine Wunden. Aber mit der Zeit werden die Narben ein Teil von mir, der bereichert und immer weniger brennt.

Trotzdem: „Du fehlst“.

Adventskalender-MiniKrimi am 12. Dezember


1452869525-urn-newsml-dpa-com-20090101-170116-99-898054_large_4_3-1wa7

Liebe Adventskalender-MiniKrimi-Freunde,

heute habe ich für Euch ein ganz besonderes „Schmankerl“: Das Krimi-Debut meiner lieben Autorenkollegin Gabriele Auth. Ich finde, der Text hat alles, was ein echter Krimi braucht. Aber lest selbst!

Schritte

Schritte. Hinter mir. Im gleichen Takt wie meine eigenen. Die ganze Zeit.
Warum sind die verdammten Laternen so trübe? Oder liegt das am Nebel? In den Fenstern der Häuser brennt kein Licht. Dunkel ist es. Stockdunkel. Ein seltsames Wort.

Die Schritte hinter mir werden schneller, wenn ich schneller werde.
Mein Atem will ausbrechen. Die Lunge sprengen. Fast schon hechelnd.
Bloß nicht umdrehen. Nicht über die Schulter sehen.

Schritte, die näher kommen.
Schneller, ich muss schneller gehen. Die verfluchten

Stiefel haben so hohe Absätze. Ich wollte ja heute unbedingt sexy sein. Mein Atem steht in weißen Wolken in der Winterluft,
geht schnell. Viel zu schnell. Wie die Schritte.

Cool bleiben oder losrennen?

Der Typ in der Kneipe, der mich die ganze Zeit so angestarrt hat. Als ich raus ging, streifte seine Hand meinen Rücken.
Dem möchte ich nicht im Dunklen begegnen, dachte ich.
Es ist dunkel. Ob er…?

Ich laufe schneller. Mein Atem keucht. Oh Gott. Ich will nicht… ich renne.

Die fremden Schritte rennen mit. Die Stiefel ausziehen. Auf Strümpfen wäre ich schneller.
Nein.
Ich müsste dazu kurz stehen bleiben.
Auf. Gar. Keinen. Fall.

In meinem Magen wabert eine dunkle amorphe Masse. In meinem Mund ein Geschmack wie schwarzes Silber.
Woher weiß ich wie das schmeckt?

Die Schritte kommen näher.
Da vorne. Die Kreuzung. Auf der anderen Straßenseite sind Geschäfte. Hell erleuchtet. Nur noch über die Straße.
Rennen.
Keuchen.
Rennen.

Keucht es hinter mir auch?
Ist das Atemluft, die kühl auf meinen Nacken trifft?
Die kleinen Härchen richten sich auf.

Endspurt.

Rennen.

Die Straße. Schnell. Schneller. Ich. Das Auto. Ein  Mercedes.

Verdammt. Bremsen kreischen.
Im Fallen geht mein Blick zurück.

Da ist niemand. Niemand.

Ich…

Schwarz.

AdventsKalender Mini“Krimi“ vom 14. Dezember


Nessun testo alternativo automatico disponibile.

Tief unter dem Fell / I.

Ich bin im Juli geboren. Wir hatten Glück. Als bei meiner Mutter die Wehen einsetzten und sie auf der Straße zusammenbrach, wurde sie von Ehrenamtlichen aufgenommen und betreut. An die ersten Tage meines Lebens kann ich mich nicht erinnern. Später, als ich anfing, mich umzuschauen, war die Welt um mich herum warm, bunt und laut. Ein Kaleidoskop sich bewegender Menschen und Tiere, von Geräuschen, Gerüchen und Düften. Schon morgens um sechs klapperten die Töpfe in der Küche, und dann gab es Essen für alle unter der Pergola im Garten. Lavendel, Jasmin und Majoran wehten mit der salzigen Brise vom Meer herüber, und unter den schattigen Palmen leuchteten rote Hibiskusblüten. Meine Schwester und ich hatten den ganzen Tag nichts weiter zu tun, als zu spielen und immer neue Streiche auszuhecken. Wir versteckten uns zwischen den frisch gewaschenen Laken und zerrten so lange daran, bis sie ins Gras glitten. Das fanden die Hunde besonders lustig, und sie stapften mit ihren sandigen Tatzen darauf herum, bis die Tücher aussahen aus wie große, zum Trocken ausgelegte abstrakte Gemälde. Nur den guten Leuten oben in der Finca gefiel unser spontanes Kunstwerk leider gar nicht.

Immer häufiger standen sie zusammen und besprachen sich leise. Dann schauten sie zu uns herüber, zu meiner Schwester und mir, und tuschelten weiter. Was sie sagten, verstanden wir nicht. Also taten wir so, als wäre alles wie immer. Das war in dem Paradies, in dem wir lebten, nicht schwer. Der blaue Himmel, die stillen Wolken, das flüsternde Meer, die Zikaden, die Sonne.

Und dann kam der Herbst. Leise wie ein Wolf hat er sich in unsere Welt geschlichen und sie eingehüllt in sein wolliges Grau. Sein kalter Atem verwehte die Weinblätter an der Pergola, die Vipern verschwanden zwischen den Steinen und die Leute frühstückten in der Küche, eingehüllt in die Düfte und Dämpfe von Suppe und Brot. Auch wir lagen dort in der rauchigen Wärme und dösten. Da nahmen die Leute meine Schwester und mich auf den Arm und trennten uns.

%d Bloggern gefällt das: