MiniKrimi Adventskalender am 24.Dezember/Heiligabend


Und heute kommt der zweite Teil. Etwas früher, um euch das Warten auf das Christkind zu verkürzen. Oder Ihr lest die Geschichte komplett in den nächsten Tagen. Vielleicht eignen sich die Raunächte ja besonders dafür.

Euch allen eine GESEGNETE, FIREDOVLLE WEIHNACHT. Danke, dass Ihr mir und meinem Kalender gefolgt seid.

Molotow Madonna Teil 2

Kapitel 5

Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun. Molière

Frankfurt am Main, 21.6.2004, mittags

Der Kontrast zwischen dem schmalen Reihenmittelhaus in Eschersheim und Thomas luxuriöser Altbauwohnung könnte kaum größer sein. Und doch waren Thomas und Frank einmal unzertrennlich. Gleiche Ideen, gleiche Clique, gleiche Zigaretten, gleiche Frisur und gleiche Freundinnen. Wobei Thomas den Aufriss machte  und Frank den Tröster spielte. Bei Melanie war er hängengeblieben. Oder war sie seine große Liebe? Vielleicht, denkt Maria, denn in der Flüchtigkeit, mit der er seiner Frau einen Begrüßungskuss ins Haar haucht, auf den Scheitel zwischen weißer Haut und grauem Ansatz, liegt ein unendlich leiser Schatten alter Zärtlichkeit. Da sind sie schon über einen Haufen Turnschuhe gestiegen,  zwei zum Bersten volle Mülltüten und eine kläglich maunzende Perserkatze mit zerrissenem Ohr und coupiertem Schwanz.

Maria lehnt sich an den abgestoßenen Türrahmen, und die Katze schmiegt sich an ihr Bein. Wir stehen da wie Dominosteine, ein Wort von Frank, und wir kippen um, denkt sie. „Hättest du nicht mal den Müll raustragen können?“ Melanies Stimme ist hoch und spitz.  „Hier stinkt‘s wie im Scheißhaus. Und das Katzenklo macht auch keiner sauber. Ich hab seit fünf Uhr früh Regale eingeräumt, wenn ich heimkomme, kann ich wenigstens ein Minimum an Ordnung erwarten, oder? Und du hast wieder im Wohnzimmer geraucht!“ „Na und?  Das erste  was du machst, wenn du zur Tür rein kommst, ist meckern. Meckermeckermecker. Ja, hier stinkt’s nicht nur wie im Scheißhaus, das ist ein Scheißhaus. In einer Scheißstadt. Ich hab die Nase voll. Von hier, von dir, von diesem ganzen Scheißleben.“ Frank sieht eigentlich noch genauso aus wie vor 20 Jahren. Die Augen etwas aufgedunsen und die Haare nur unmerklich dünner, aber immer noch so leuchtend blond. Adonis, witzelte Justus. Und Frank wurde dann immer rot. Er wollte nicht wegen seines Aussehens beliebt sein oder geliebt werden. Er kam aus einer Arbeiterfamilie, sein Vater stand bei Opel in Rüsselsheim am Fließband. Grundschule, Gymnasium, Einserabitur. Frank war der Überflieger, und auch sein Jurastudium machte er mit Links. Das war es, was Thomas an ihm faszinierte. Justus schätzte Frank wegen seiner messerscharfen Urteilskraft. Als sie ihr Manifest  entwarfen, musste Frank jeden Satz lesen und freigeben. Nur, was vor Franks Urteil bestehen konnte, war gut genug für die Öffentlichkeit.

Melanie sonnte sich im Schatten ihres schönen klugen Freundes. Mit ihm heilten die Wunden, die Thomas in ihr Selbstbewusstsein gerissen hatte, als er ihr den Laufpass gab. Melanie, die Mitläuferin. Plapperte alles nach, Hauptsache, es klang nach Intelligentia und hatte mindestens drei Fremdwörter im Satz. Hatten sie ihre Rollen getauscht? Aber Frank war schon immer ein Denker gewesen, ein Träumer, ein Idealist mit einer Schwäche für Bücher und wissenschaftliche Theorien. Ohne diese Nacht säße er heute als Ordinarius für Jura an einer renommierten deutschen Uni. Stattdessen hockt er mit ausgebeulten Jeans, fettigen Haaren und Dreitagebart auf einem durchgesessenen Sofa. Und wartet auf Melanie, die abgelaufene Lebensmittel aus dem Supermarkt nach Hause bringt.

Auf dem Tisch stapeln sich Bücher. Juristische Fachliteratur. Zeitungsartikel über den Frankfurter Kessel 1984. Und über die spektakuläre Festnahme einer studentischen Terrorzelle unmittelbar vor einem Sprengstoffanschlag auf die Deutsche Bundesbank.

Frank scheint nicht im Mindesten überrascht, Maria zu sehen. Aber darüber wundert sie sich inzwischen nicht mehr.  Er begrüßt sie fast mit den gleichen Worten wie Peter. „Ach, Maria. Hallo. Du hast lange gebraucht. Sehr lange. Ich habe das kaum noch ausgehalten.“ „Hallo, Frank. Es …. tut mir leid. Ich wusste nicht…. Hast du auf mich gewartet?“ Maria bahnt sich ihren Weg zwischen Bergen von Illustrierten, schmutzigen Socken, einem Teller mit dem Rest eines Marmeladenbrötchens und einem Korb voll vergilbter Bügelwäsche. „Entschuldige das Chaos“, Frank wedelt mit der Hand von links nach rechts und betrachtet das kleine Reihenhauswohnzimmer, als sähe er es zum ersten Mal. „Ich muss mal wieder saubermachen. Weißt du, Melanie arbeitet viel, sie hat drei Jobs. Die Kinder sind ja nicht mehr klein, aber deshalb kosten sie nicht weniger, im Gegenteil. Es geht mir nicht gut, Maria. Ich habe Depressionen. Und keine Arbeit.“ „Es ist gut, Frank. Alles ist gut.“ Was für ein blöder Satz. Justus hätte ihn ihr um die Ohren gehauen. Nichts ist gut, fast nie im Leben. Für einen Moment flackert das alte Feuer in Franks Augen. „Nein. Ist es nicht“, zischt er. Greift unvermittelt nach einer Schachtel Zigaretten auf der Fensterbank, macht die Terrassentür auf und geht in den kleinen Garten. Maria folgt ihm.

Auf dem schmalen Streifen zwischen zwei verfallenen Gartenzaunreihen fristen verlorene Grasbüschel ein kümmerliches Dasein. Am hinteren Ende haben Efeu und Giersch ihren Eroberungsfeldzug begonnen, Forsythien, Flieder und Pfingstrosen haben bereits kapituliert und strecken nur noch vereinzelte Blüten aus der Unkrautumzingelung. Am bemoosten Ast eines krummen Apfelbäumchens lässt eine erschlaffte Hängematte ihre Fäden auf die Erde baumeln. „Schau dich ruhig um, Maria. Das ist mein Paradies. Meine Hölle. Mein Garten Eden. Mein Getsemani. Hier stehe ich jede Nacht, statt zu schlafen. Sehe das Blaulicht und die vermummten Polizisten, höre die Sirenen und die Stimme aus dem Lautsprecher. Und frage mich, wo wir uns verrannt haben. Und wann. Und ob. Dann gebe ich mir die Schuld. Wenn ich nicht mit Melanie rumgeknutscht hätte, statt ordentlich aufzupassen, hätte ich vielleicht was bemerkt. Hätte Justus warnen können. Vielleicht. Aber weißt du, Maria, das sind alles nur Schattengefechte. Die Entscheidung hat jemand anders getroffen, an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit. „Alea iacta est.“ In der Nacht da draußen vor der Deutschen Bundesbank war alles schon längst beschlossene Sache. Wir waren die Marionetten. Der Drahtzieher saß ganz woanders.“

Maria ist müde. Sie hat kaum geschlafen, unruhig auf jedes Geräusch reagiert und mit wachsender Panik auf das Schlüsselloch gestarrt in der Erwartung einer dieser typischen Hitchock-Szenen, in  denen sich der Schlüssel lautlos langsam zu drehen beginnt und du auf das Unausweichliche wartest, unfähig, es aufzuhalten. So trostlos dieser Garten auch ist, Maria hatte grade angefangen, sich fallen zu lassen in einem Abziehbild von Familienleben, so brüchig und verschlissen es auch sein mag. Aber jetzt dreht sie sich zu Frank, ist ganz wach und ganz bei dem, was er gesagt hat. „Der Drahtzieher? Dann stimmt es und ich hatte Recht. Die ganze Zeit hatte ich Recht?!“ „Womit hattest du Recht, Maria? Damit, dass du dich geweigert hast, in Justus einen Terroristen zu sehen? Oder mit deiner Behauptung, dass er sich nie und nimmer selbst umgebracht hätte?“ „Mit beidem, Frank. Mit beidem. Und jetzt erzähl mir, was du weißt. Bitte. Pack aus. Schlepp dein Wissen nicht länger allein mit dir herum.“

Frank hat sich auf die rissigen Waschbetonfliesen gehockt, wippt mit gespreizten Knien mechanisch auf und ab. „Mit jedem Tag, jedem Monat, jedem Jahr, in dem ich geschwiegen habe, wurde sie drückender, dieses Last. Wie oft habe ich dir geschrieben, in Gedanken und wirklich. Ich hab sogar deine Email-Adresse recherchiert, kürzlich. Aber dann….“ „Warum hast du so lange geschwiegen?“ „Ich weiß nicht. Ich rede mir ein, wegen Thomas. Weil ich ihn …. immer noch mag. Ihn nicht reinreiten will. Er ist doch der Einzige von uns, der es zu was gebracht hat. Der nicht kaputt gegangen ist, an der Nacht. Er ist unser Leuchtfeuer, sowas wie ein Wahrzeichen, der Beweis, dass unsere Ideen nicht umsetzbar waren, nichts als wirres Marihuanagewäsch. Er hat unseren Positionen den Rücken gekehrt und ist erfolgreich geworden.“ „Hast du dich denn nie gefragt, ob sein Erfolg auf eurem Scheitern aufbaut?“ „Doch. Aber das habe ich schnell wieder verdrängt. Das bringt doch nichts. Vorbei ist vorbei.“ „Nicht ganz. Du kannst für dich entscheiden, wie du leben willst, Frank. Aber du hast kein Recht, die Erinnerung an andere durch Lügen zu verfremden. Zu verdunkeln. Zu kriminalisieren. Du hast kein Recht, durch dein Schweigen das Leben anderer zu blockieren. Genau das hast du getan. Bis heute.“

„Komm, setz dich neben mich“. Misstrauisch folgt Maria ihm zur Hängematte. Nein, ein Sturz aus dieser Höhe kann nicht gefährlich sein, entscheidet sie. Aber die Fäden halten zusammen. Und die kleine Veränderung des Blickwinkels genügt, um sie beide in eine andere Dimension zu schaukeln.  In das Frankfurt der 1980er Jahre, den Hörsaal der Johann-Wolfgang-Goethe-Uni, die Altbau-WG. Die Taunusanlage vor der Deutschen Bundesbank. Während Frank erzählt, fallen die Jahre von ihm ab, er spricht wieder so wie damals, flüssig, überzeugend, moduliert, mitreißend.

Sie galten schnell als die Elitetruppe von Professor van Xanten. Als er ihnen seine große, interdisziplinäre Studie anvertraute, war klar: die vier sind zu ganz Hohem berufen. Die wandern direkt aus der Uni in die Chefetagen der Wirtschaft, der Gerichte, der Politik. Das Zeug dazu hatten sie. Vier hoch intelligente, extrem motivierte junge Männer und ein Groupie. Letztendlich war es ihre Kompetenz, ihre Gründlichkeit, die ihnen zum Verhängnis wurde. Denn je tiefer sie in die Materie eindrangen, desto klarer wurde ihnen, dass sie mit ihren empirischen Daten nicht weiter kamen. Tiefgreifendere Analysen, Feldstudien, vor allem Interviews mit Menschen, Erfahrungsberichte. Nur so konnten sie die Grundlagen schaffen für eine gesicherte Prognose über die Zukunft der Gesellschaft. Vor allem: Eine Beschreibung des Status Quo allein erschien ihnen nicht nur ungenügend und lächerlich, sondern geradezu kriminell. Sie waren jung, sie waren Genies. Sie wussten, was kommen würde. Sie mussten ein Konzept ausarbeiten zur Weichenstellung, um zu vermeiden, was sie empirisch gesichert voraussagen konnten. Ein grundlegender Wandel musste her, in Gesellschaft und Wirtschaft, gesteuert von der Politik und getragen von allen Bevölkerungsschichten. Als sie ihrem Professor ihr Manifest vorstellten, hatten sie mit allem gerechnet, Erstaunen, Skepsis, Enthusiasmus, Bewunderung. Aber: „nie wieder habe ich diesen Ausdruck gesehen, bei einem Menschen. Das war die nackte Angst, gepaart mit einem Schuss Wahnsinn“, sagt Frank. Ausgeschlossen, Sie haben sich verrannt. Ich entziehe Ihnen die Studie. Verbrennen Sie alles, was damit zusammenhängt. Oder kommen Sie zur Vernunft, meine Herren, meine Dame.

Der Schock, die Betäubung hatten eine ganze Woche angehalten. Dann hatten sie zu diskutieren begonnen. Thomas war dafür, den Rat des Professors zu befolgen. Die Studie nach Plan abzuschließen und den verdienten Erfolg einzufahren. Und dann, in einem weiteren Schritt, vielleicht vorsichtig zu versuchen, das Manifest in kleinen, akzeptablen Portionen an entscheidender Stelle anzubringen. Mit dem Renommée, das sie sich erworben hätten, wäre das leicht gewesen, und  dann hätte er versucht, über Vickys Familie Türen zu öffnen. Er hatte das Mädchen kürzlich auf einer Demo gegen Studiengebühren kennen gelernt, und es hatte ihn fasziniert, dass sie aus purer Solidarität mitging, obwohl ihr Vater ihr jede Privatuni hätte zahlen können.

Justus war strikt dagegen. Er nannte Thomas einen Heuchler. Peter pflichtete ihm bei. Melanie versuchte zu schlichten und schlug vor, sich erst mal den Starbahn West Demos anzuschließen und dort zu schauen, wie ihre Ideen bei „sozial engagierten“ Leuten ankämen.

Das machten sie dann auch, aber die Gruppe war schon gespalten. Als Professor van Xanten die Veröffentlichung der „revolutionärsten Gesellschaftsstudie seit Marcuse“ ankündigte, unter seinem Namen, natürlich, gab das allen neuen Auftrieb. Sogar Thomas war jetzt der Meinung, dass sie sich dagegen wehren müssten, wenn sich jemand mit ihren Federn schmücken wollte. Und so arbeiteten sie den Plan zur spektakulärsten Aktion seit Erfindung der Demos aus. Sie malten die Thesen ihres Manifestes auf ein Transparent – in Vickys gestochener Schrift. In der Mittsommernacht wollten sie das Dach der Deutschen Bundesbank erklimmen, den Gipfel der Finanzmanipulation, sozusagen, und von dort das Manifest entrollen. Kurz vorher sollten Melanie und Frank Flugblätter in allen Redaktionen und auf den Straßen verteilen, um auf die Aktion aufmerksam zu machen. Sie waren sich sicher, dass der Medienhype groß genug sein würde, um ihnen zumindest ein erstes Gehör zu verschaffen. An der Überzeugungskraft ihres Chefdenkers, Justus, zweifelten sie keinen Augenblick. Alles Weitere wäre dann wie ein Sonntagsspaziergang. „Ich glaube, an diesem Punkt unserer Planung waren wir alle ziemlich bekifft“, grinst Frank unwillkürlich. „Anders kann ich mir diese Selbstüberschätzung heute nicht erklären.“ „Und Thomas? Wieso war der plötzlich so umgeschwenkt?“ „Ja, diese Frage hätten wir uns damals mal stellen sollen“, sagt Frank.

„Und dann?“ „Ja, dann kam der Abend vor der Nacht. Kurz bevor es losgehen sollte, verschwand Justus. Und stieß erst vor der Deutschen Bundesbank wieder zu den anderen. Daraus wurde ihm dann der Strick gedreht. Im wörtlichen Sinn…. Der Polizeizugriff kam völlig überraschend. Aber noch unglaublicher war die Anschuldigung, wir hätten vorgehabt, die Bank in die Luft zu jagen.  Völlig absurd! Aber dann wurde Sprengstoff in einem Rucksack oben auch dem Dach gefunden. Molotowcocktails und Dynamit.“ „Woher kam das?“ „Keine Ahnung. Wir hatten das auf alle Fälle nicht eingepackt“. Der einzige, der schon oben war, war Thomas. Ihn musst du fragen. Seinen Teil der Geschichte muss er dir selbst erzählen“.

Sie alle seien drei Tage lang festgehalten worden, in getrennten Zellen. Am vierten Tag habe man sie entlassen und ihnen mitgeteilt, dass der „Rädelsführer“ Justus N. sich in seiner Zelle erhängt habe. Er habe ein ausführliches Geständnis hinterlassen. „Aber ich wusste, wo Justus war, an diesem Abend. Er misstraute Thomas und irgendwie auch mir. Er hatte einen persönlichen Kontakt zu einer Journalistin, Johanna. Er hat sich mit ihr getroffen und ihr von unserer Aktion berichtet. Exklusiv und vorab. Vielleicht hat er auch mit ihr geschlafen, ich glaube, sie war in ihn verliebt.“ „Und warum habe ich davon nichts in der Zeitung gelesen?“ „Johanna war zur Taunusanlage gekommen, und da hat sie den Polizeieingriff miterlebt. Sie hat versucht, zu fotografieren. Da hat ihr ein vermummter Polizist den Fotoapparat weggenommen und sie brutal zusammengeschlagen. Als sie aus dem Krankenhaus kam, war sie ihren Job bei der Rundschau los. Ich habe sie nur noch einmal gesehen, danach ist sie untergetaucht. Verstehst, du, Justus hat nie einen Terroranschlag geplant. Das hat ihm jemand untergeschoben. Um ihn zu vernichten. Uns zu vernichten. Ich wusste das. Aber ich habe einfach den Mund gehalten. Weißt du, Melanie war schwanger, damals“, fügt er dann noch hinzu, fast flüsternd.

Frank schweigt. Sein Mund ist ein schmaler Strich in einem grauen Gesicht. Jetzt sieht er aus wie ein alter Mann, vom Kummer gefaltet. Sie möchte ihm gerne etwas Freundliches sagen, aber ihr fällt nichts ein. Unsinnig, ihm Vorwürfe zu machen. Sie legt ihm die Hand auf den Arm, nur ganz kurz, spürt seine Kälte durch den dünnen Stoff des Hemdes. Dann schält sie sich aus der Hängematte und geht. Das Reihenhaus ist leer. Von Melanie und den Kindern keine Spur. Auch die Katze ist verschwunden.

Kapitel 6

Unglücklich das Land, das Helden nötig hat. Bert Brecht

Frankfurt am Main, 21. Juni 2004, nachmittags

„Was fange ich an mit diesem schrägen Tag?“ Wäre das eines dieser Computerspiele, das ihre Freundin Assunta immer spielt, würde sie einfach auf Neustart drücken. Und sich nur mit einem kontinentalen Frühstücksbüffet zufriedengeben, gefolgt von einer entspannenden Massage und einer Viertelstunde Baden im Meer. Um dann bei Herder das neue Nummer 1-Buch der Spiegel-Beststellerliste zu kaufen und den Rest des Tages damit zu verbringen, es daheim auf der Terrasse in einem Stück zu verschlingen. Aber so geht das nicht. Maria ist in Frankfurt. Es ist Juni, ein kalter Juni. Und sie hat eine Aufgabe  zu erfüllen, bevor sie überhaupt jemals wieder in Ruhe und Frieden ein Buch lesen kann. Vor allem will sie in den Fotoalben blättern, die den Weg ihres Sohnes säumen. Das Baby im Krankenhaus, der Kleine im Laufställchen, mit der mannshohen Schultüte, am Meer bis auf den Kopf eingegraben im Sand. Justus mit Zigarre und Zylinder auf der Abifeier. Justus vor den Toren der Uni. Mit seinen Freunden in der WG. Beim Pastaessen, alle aus einer Schüssel. Justus mit Brille vor dem riesigen Computerungetüm, das sie ihm besorgt hatte, eine echte Neuheit. Justus mit ihr, Maria, seiner Mutter. Gleiche Augen gleiches Lachen ungleiches Schicksal. Es ist nicht richtig, dass der Sohn vor der Mutter stirbt. Sie weiß plötzlich, worin der Fehler liegt in der Statue von Michelangelo in der Basilica di San Pietro in Rom. Wie bei einem Wimmelbild hat sie lange gebraucht, um ihn zu finden. Tief in sich. Die Anordnung der Figuren sollten umgekehrt sein. Der Sohn sollte die tote Mutter in seinen Armen halten!

Als Maria aus ihren Gedanken auftaucht, ist sie schon bis zur Eschenheimer Landstraße gelaufen. Sie sucht einen Taxistand und fährt in die Böhmerstraße hinter der Alten Oper. Sie hat es jetzt plötzlich eilig. Will alles erledigen, hinter sich lassen und dann zurück. Nach Rom. Zu den Bildern ihres Sohnes, die sie seit 20 Jahren nicht mehr angeschaut hat.

Sie blickt hinauf zu den Fenstern im zweiten Stock und nimmt eine leise Bewegung wahr, spürt sie mehr, als dass sie sie sieht. Noch bevor sie die Klingel berührt hat, hört sie den Summer. Sie geht in den kühldunklen Hauseingang, die getäfelten Wände riechen schon nach Sonne und Licht. Und nach Pfeifentabak. Maria zögert. Da fällt die Tür hinter ihr ins Schloss. Gut, dass einem manche Entscheidungen abgenommen werden, denkt sie.

Thomas erwartet sie an der Wohnungstür. „Ich hätte es wissen müssen, Maria. Vielmehr, ich wusste es ja. Aber gut, einen Versuch war es wert.“ „Für wen? Für dich oder van Xanten?“ Die Eile in ihr wird immer drängender. Kein Wort zuviel, keine Minute zu lang. „Ich kenne jetzt in groben Zügen die Wahrheit, Thomas. Wir brauchen uns nicht mehr mit Details aufzuhalten. Ich will von dir nur noch Bestätigungen. Und das Wissen um das gesamte Ausmaß deiner Schuld. Keine Sorge, ich nehme dieses Wissen mit mir mit und bewahre es auf. Falls mir dein Pfeife rauchender Freund dazu noch die Gelegenheit lässt.“

Thomas setzt einen bestürzten Gesichtsaufdruck auf. Vielleicht ist er ja sogar echt. Denn als Thomas sich im Wohnzimmer großzügig von seinem kostbaren Cognac bedient, zittern seine Hände, und etwas von der goldgelben Flüssigkeit fällt auf den  Tábriz unter seinen Füßen. Sofort verbreitet sich ein Aroma von Eiche und Tagetes im Raum und verflüchtigt sich wieder.

„Maria, also wirklich. Was denkst du von mir?“ „Nur das Schlechteste, Thomas. Nur das Schlechteste.“

„Also gut. Ich werde nicht versuchen, dich umzustimmen. Aber ich fürchte, du wirst selbst erkennen, dass du dich irrst.“ Irgendwo in den Tiefen der Wohnung fällt etwas um. Thomas zuckt zusammen. Geht zur Zimmertür, schaut auf den Flur, geht kurz hinaus, Stimmengemurmel, dann kommt er zurück, schließt die Tür hinter sich. Er setzt sich auf das breite Ledersofa und schlägt die Beine übereinander.

„Ich nehme an, Frank hat dir erzählt, dass er Beweise dafür hat, dass Justus in der Stunde vor unserer Aktion keinen Terroranschlag vorbereitet hat?“ Maria schaut ihn an und schweigt. „van Xanten mochte Justus. Er wollte ihn aufbauen, etwas aus ihm machen. Als seinen Protégé. Natürlich war eine gehörige Portion Eitelkeit mit im Spiel. Er wusste genau, in Puncto Genie konnte er Justus nicht das Wasser reichen. Aber ein Förderer, der die Vorzüge seines Schützlings erkennt, steht im gleichen Lichtkegel und kann ihn sogar lenken. Aber so war Justus nicht. Er war weder käuflich noch korrumpierbar.“

„Das war der größte Unterschied zwischen euch beiden“, wirft Maria ein. Ganz sachlich und ohne Betonung. „Du bist seine Mutter,“ sagt Thomas und seufzt. „Um dich habe ich Justus immer am meisten beneidet. Wenn du nicht gewesen wärst, du und deine Gespräche, deine Überzeugungen, hätte er sich vielleicht von van Xanten überreden lassen. Aber du, du, du….“ „Du gibst mir die Schuld? Ist es so schlimm, für dich?“ „Egal. Also, van Xanten war von Justus enttäuscht, ja. Aber vor allem hatte er Angst. Angst um sein Prestige. Angst um seine persönliche Stellung. Es ging nicht darum, dass er unsere Ideen für eine echte politische Gefahr hielt. Wir waren für ihn nicht mehr als ein Haufen in die ideologische Irre gelaufener Jungspunde. Was ihm Sorgen machte, große, existentielle Sorgen, war das Potential, das er in Justus erkannt hatte. Kombiniert mit der Tatsache, dass er sich nie würde benutzen lassen, umdrehen, integrieren, war das eine gefährliche Mischung.“ „Eine tödliche Mischung, ja?“ fragte Maria. „Ja“, Thomas nickte.

„Als van Xanten einmal den Entschluss gefasst hatte, Justus zu eliminieren, was alles weitere nur Routine. Den Sprengstoff organisieren und placieren, falsche Informationen an der richtigen Stelle streuen. Der Innenminister und der Polizeipräsident waren nicht nur mit ihm „per Du“, sie spielten im selben Golfclub.“ „Und in der gleichen Korruptionsliga“, unterbricht ihn Maria spöttisch. „Aber warum musste Justus sterben? Warum genügte es nicht, ihn festzunehmen und dann nach einiger Zeit wieder laufen zu lassen?“ „Das fragst du nicht wirklich, oder? Weil Justus nie klein beigegeben hätte. Keine Drohung der Welt hätte ihn davon abgehalten, die Wahrheit zu sagen. Oder zu versuchen, sie herauszufinden.“

„Und dann wäre es auch dir an den Kragen gegangen, stimmt‘s, Thomas?“ Marias Stimme schneidet den Raum in zwei scharf abgegrenzte Bereiche. Gut und Böse. Er steht auf der falschen Seite. „Wer hat den Sprengstoff auf‘s Dach geschmuggelt? Du als Fensterputzer. Mit Erlaubnis der  Bank. Deshalb konntet ihr eure Aktion überhaupt ungehindert starten. Ohne, dass euch ein Wachmann dabei gestört hat. Was war für dich drin, Thomas? Sag‘s mir!“

„Vicky und ich wollten heiraten. Ihr Vater und van Xanten kannten sich natürlich. Ich war ein No Name ohne Geld und Adel, sozusagen. Nicht gerade die Nummer 1 unter den Bewerbern um die Hand der Millionenerbin. Van Xanten versprach mir, meinen Namen wieder mit auf die Studie zu setzen.“

„Das ist alles? Für eine schnöde Erwähnung unter einem Haufen Papier hast du Justus verraten?“ „Ich habe ihn nicht verraten! Ich wollte ihn schützen! Van Xanten hatte mir erzählt, dass der Verfassungsschutz hinter Justus her sei, weil er  bei den Startbahn-West-Demos verdächtige Kontakte zur militanten Szene geknüpft hatte. Er hat mir versprochen, dass er sich dafür einsetzen würde, dass Justus trotzdem eine berufliche Karriere an der Uni machen könnte.“

„Und das hast du ihm geglaubt?“ „Ich wollte es glauben, ja.“ „Und dann?“ „Dann rastete Justus in der U-Haft völlig aus. Wir waren ja alle verhaftet worden. Nur pro Forma, wie mir van Xanten versichert hatte. Aber Justus schrie die ganze Zeit rum, beschimpfte mich als Verräter. Und er zog Vicky mit rein. Sie würde nichts mehr von mir wissen wollen, wenn sie erst wüsste, was für ein Judasschwein ich sei.“ „Und das war dann sein Todesurteil? Hast du ihn umgebracht, Thomas? Warst du das?“ „Wo denkst du hin, Maria! NEIN!“ Thomas schreit. Er steht auf, fängt an, auf und ab zu laufen. Stolpert über den Tàbriz. Tritt gegen die Bar. „Nein! So war das nicht! Ich war ja selbst total überrascht, als ein Polizist mich in ein Zimmer führte und ich van Xanten am Fenster stehen sah. Unser ursprünglicher Plan gehe nicht auf, sagte er mir. Unser Plan! Justus werde nie und nimmer auf sein Angebot eingehen. Er sei geradezu hysterisch. Und er würde mich gnadenlos mit hineinziehen, das hätte ich ja wohl selbst bemerkt. Ich versicherte ihm, dass Justus sich in der Zelle schon wieder beruhigen würde. Aber er glaubte mir nicht. Er wollte noch einen Versuch machen und ihm ganz offen andeuten, dass dir, seiner Mutter, etwas zustoßen könnte.  Da bat ich van Xanten, mich zu ihm zu lassen und zu versuchen, ihn umzustimmen. Er gab mir zehn Minuten.

Zuerst wollte Justus nichts von mir hören. Er hockte sich in eine Ecke und hielt sich Augen und Ohren zu. Er war völlig blutverschmiert. Mein Gott, die Polizisten hatten ihn richtig zusammen geschlagen. Terroristen, auch mutmaßliche, waren seit der RAF sowas wie das rote Tuch der Staatsmacht.

Dann fragte ich, ob er wüsste, wo du seiest. Und da schaute er mich an. Ich ging ganz dicht zu ihm hin und flüsterte ihm ins Ohr, ganz gleich, was irgendwer ihm auch immer sagen, womit auch immer man ihm drohen würde, dir würde nichts passieren. Ich schütze Maria, wenn‘s sein muss mit meinem Leben. So, als wäre sie meine Mutter. Habe ich gesagt. Dann hat der Polizist an der Tür mich am Arm gepackt und rausgeführt. Aber Justus letzter Blick hängt bis heute an mir. Ich habe Wort gehalten.“

„Oh, dann verdanke ich dir ja noch viel mehr, als ich dachte, Thomas. Nicht nur meine Freiheit, nein, mein Leben! Wann hast du denn entschieden, dich von deinem Versprechen zu entbinden? Immerhin hätte ich mir gestern Abend beinahe das Genick gebrochen beim Sturz in der Pension. Aber das weißt du ja alles.“

„Maria, das Versprechen das ich Justus gegeben habe, gilt, solange ich lebe. Glaube mir. Wir blieben zwei Tage in U-Haft. Am dritten Tag wurden wir entlassen. Und erfuhren, dass Justus sich in seiner Zelle erhängt hatte. Angeblich hatte er ein Bekennerschreiben hinterlassen. Ich ging gleich zu van Xanten, ich wollte mich vergewissern, dass es den Brief wirklich gab. Er war für mich nicht zu sprechen. Aber am Abend traf ich ihn im Haus bei Vickys Vater. Sie hatte mich heimlich reingelassen. Sie war erschüttert. Ich hatte nie bemerkt, wie sehr sie Justus verehrte. Wahrscheinlich bin ich auch für sie nur die zweite Wahl gewesen! Ich stellte van Xanten zur Rede, ich war schon ziemlich betrunken. Er packte mich am Arm, zerrte mich in die Bibliothek und zischte: Justus hat gekriegt, was er verdient hat. Du hast jetzt nur eine Wahl: entweder du hältst die Klappe, dann liegen vor dir eine glänzende Karriere und ein tolles Eheleben. Oder du endest wie Justus. Und jetzt hau ab und werd nüchtern.

„Ich bin nicht stolz auf mich, Maria. An diesem Abend hätte ich Vicky die Wahrheit sagen können. Und mit den Konsequenzen leben. Vielleicht allein, vielleicht nicht reich. Aber mit einem etwas reineren Gewissen. Ich war zu schwach. Das Einzige, was ich gemacht habe, war, dich aus dem Gefängnis abzuholen, wohin sie dich gebracht hatten, um Justus Leichnam zu identifizieren, pro Forma. Und dich nach Italien zu begleiten. Aber ob ich das ohne Vicky geschafft hätte, keine Ahnung. Jetzt weißt du alles. Mach, was du willst. Aber bitte geh hier durch die Hintertür raus. In der Ecke im Garten ist ein Loch im Zaun. Ich passe auf, dass dir niemand mehr folgt. Leb wohl, Maria. Schade. Ich wäre gerne dein Sohn gewesen.“

Kapitel 7

Was soll der fürchten, der den Tod nicht fürchtet? Friedrich Schiller, die Räuber

Frankfurt am Main, 21. Juni 2004, abends

Maria sitzt auf der Bank am Schaumainkai, direkt gegenüber spiegeln sich Abendwolken in den Fenstern der Deutschen Bundesbank. Peter ist nicht da. Aber sie spürt Justus so nah bei sich wie nie mehr seit dem Tag, als die Polizei sie im Streifenwagen abgeholt und ins Untersuchungsgefängnis gefahren hat, um ihren toten Sohn zu sehen. Stundenlang, so schien es, hatte sie da gesessen, in dieser unendlichen Stille, die entsteht, wenn die Grenzen der Welt durchlässig werden für die Ewigkeit. Hatte ihn in den Armen gehalten wie damals als Kind. Das war er immer noch. Ihr Kind. Aber so kalt. So nah und so unerreichbar weit weg. So sinnlos. So tot.

„Und was macht van Xanten heute?“, hatte Maria Thomas gefragt, schon an der Hintertür. „Wie, das weißt du nicht? Ach stimmt, du hast ihn ja nie selbst gesehen. Er hat geheiratet und den Namen seiner Frau angenommen. Echter Adel, weißt du. Er heißt jetzt von Ronneberg.“ „Der Ministerpräsident?“ „Genau der.“

Maria schaut sich um. Kein Mensch in der Nähe. Sie stellt die große Einkaufstüte neben sich. Darin liegen ein Kittel, ein Kopftuch, professionelles Reinigungsmaterial. Und eine Reihe chemischer Zutaten. Maria kann sich gut an das Rezept für ihren „Lieblingscocktail“ erinnern, auch, wenn das nie mehr als ein Running Gag zwischen Justus und ihr war. Justus hatte sich immer so sehr auf Weihnachten gefreut. Auch, als er eigentlich kein Kind mehr war. „Einmal werden wir noch wach…“ hatten sie gemeinsam gesungen, am Vorabend der Bescherung. Ja. Genau. Einmal werden Sie noch wach, Herr Ministerpräsident.

Kapitel 8

Ich hab zwei große Türen aufgemacht. Ludwig Hirsch

Frankfurt am Main, 22. Juni 2004, frühmorgens

Am nächsten Morgen geht Maria in aller Frühe zur Staatskanzlei. Hält dem Pförtner den Putzkolonnenausweis hin, den Thomas zwanzig Jahre lang aufbewahrt hat. Die Türen sind offen, wie versprochen. Im Putzwagen verborgen die Mollie mit Zeitzünder. Sie deponiert sie im Papierkorb des großen Büros, direkt unter dem Telefon. Pünktlich um neun wird Thomas den Ministerpräsidenten anrufen. Und dann. Schöne Bescherung!

Epilog

Es ist / Verwelkt der Lorbeer und das Saitenspiel verklungen! / Es war auf Erden ihre Heimat nicht. Sappho

Basilica di San Pietro, Rom.

Ich weiß, du hättest so etwas nie gemacht, sagt sie der trauernden Mutter aus Stein. Ich weiß, dein Sohn hätte das nicht erlaubt. Meiner auch nicht, weißt du. Justus war immer und absolut gegen jede Gewalt. Und er ist ja auch nicht wieder lebendig geworden, nur, weil ich ein Molotowcocktail ins Büro des hessischen Ministerpräsidenten gelegt habe. Ich schäme mich dafür. Und ich bitte dich, verzeih mir! Es war ja dann letztendlich doch nur eine kleine Bombe. Er ist nicht gestorben, wie Justus. Ich weiß selbst, dass es falsch ist, aber ich fühle mich irgendwie befreit. Und nicht nur ich. Auch Thomas. Er hat wirklich versucht, die Vergangenheit rückgängig zu machen. Und Frank sei verändert, erzählte mir Melanie. Kümmere sich mehr um die Kinder und suche sich eine Arbeit. Nur Peter ist verschwunden. Aber ich denke, vielleicht sehe ich ihn eines Morgens bei mir auf der Terrasse stehen. Dann biete ich ihm einen Kaffee an und ein Margarinebrot. Und wir blättern in Justus Fotoalbum. Du bist nicht allein, Maria aus Stein. Und ich bin es auch nicht mehr.

MiniKrimi Adventskalender am 23. Dezember


Heute und morgen präsentiere ich euch hier nochmal einen „Bibelkrimi“. Dazu muss ich nichts erläutern, er ist selbsterklärend. Viel Spaß heute beim ersten Teil.

Molotow Madonna

Prolog.

Denn alles, was entsteht, ist wert, dass es vergeht. Drum besser wär’s, wenn nichts entstünde. Johann Wolfgang von Goethe

Basilica di San Pietro, Rom. Wie lange steht sie schon  vor diesem Meisterwerk Michelangos, wie zu einem Gegenentwurf erstarrt?  In Marmor geschnittene Trauer, zur Unendlichkeit verdammt. „Signora? Lady? Itte ise closinge taime. Wire schlissene“. Der Custode steht jetzt dicht hinter ihr.  Sie riecht seinen Feierabenddunst nach Rasierwasser und Knoblauch an ihrer Schulter. Nicht unangenehm. Eher irdisch. Alltäglich. Es ist dieser Geruch mehr als seine Stimme, der sie erreicht und zurückholt aus der Erinnerung. Aus dem Traum. Eben noch hatte sie Justus Haut gespürt, kühl wie ein schattiger Stein, schweißfeucht und weich. Eben noch hatte er in ihren Armen gelegen. Und jetzt steht sie da, in der lebensleeren Kirche, und schaut auf die Pietà, diese ewige Mutter mit ihrem toten Sohn. Ausgeschlossen selbst von diesem einen großen Schmerz. Du bist wenigstens nicht allein, denkt sie, du hältst ihn fest. Ich bin einsamer als du. „Scusi. Adesso vado“,  sagt sie in die Tiefe der verlassenen Kirche hinein, geht schnell zur nächsten Tür hinaus und hinein in die Sonne, noch bevor das Echo ihrer Absätze auf dem Steinboden verhallt.

Kapitel 1

Parole, parole parole, Worte in den Wind gesprochen…… Dalida

Frankfurt am Main, 20. Juni 2004, mittags

„Gut siehst du aus! Ich hab oft an dich gedacht, wie es Dir wohl geht, was du wohl machst…“  „…ob ich wohl auch nicht zurück komme… Ob ich euch in Ruhe lasse…“ „Maria, bitte! Wie kannst du… Ahahaha, immer noch die gleiche scharfe Zunge! Daran muss ich mich erst wieder gewöhnen…“ „Willst du wirklich, dass ich so lange bleibe?“ Während Thomas zu weitschweifigen  Erklärungen ausholt, verbale Protuberanzen, wie Justus diese Art genannt hatte, mit der sich Thomas aus unangenehmen Situation herauszureden pflegte, schaute sie sich um. Eine geräumige Altbauwohnung, aufwendig und stilistischer saniert. „Was macht deine Frau denn beruflich?“, fragt sie und tastete sich Blick für Blick entlang an mokkabraunen Wänden, einem Kamin aus rotem Carraramarmor, Mahagonitischen mit exakt austarierten Bücherstapeln und üppigen Chrysanthemensträußen. „Innenarchitektin?“ „Woher weißt du das?“ Thomas klingt ehrlich besorgt. Vor allem das Ehrliche wundert sie. „Nur eine Vermutung. Du warst ja schon damals mehr an Inhalten interessiert als an der Verpackung.“ „Du erinnerst dich an unsere  nächtelangen Diskussionen? Das waren Zeiten!“

„Du und Justus, ihr konntet nichts einfach so stehen lassen. Jede These, jede Idee musste ausgereizt werden…“ „…zu Ende gedacht! Und dann entweder akzeptiert oder verworfen. Maria, dein Sohn und ich, wir hatten den Schlüssel zur idealen Gesellschaft in der Hand. Unser Plan war nicht einfach nur genial, er war der richtige! Wenn wir ihn damals umgesetzt hätten, sähe Europa heute anders aus. Keine Überalterung, kein Nord-Süd-Gefälle, keine Langzeitarbeitslosigkeit!“ „Und woran ist Euere Idee gescheitert, Thomas?“ „Keine Ahnung. Gesellschaft war noch nicht bereit? Vielleicht waren wir zu radikal? Justus  war absolut kompromisslos gegenüber dem Establishment…“ „…mit dem du ja schon geliebäugelt hast…Viktoria .. Die Bankierstochter … Ist sie das, da auf dem Foto?“

„Sie war mit dabei auf den Demos, damals. Ich hatte keine Ahnung von ihrem familiären Hintergrund. Außerdem…“ „Ja. Wo die Liebe hinfällt… Aber du hättet nicht ewig auf 2 Hochzeiten tanzen können. Morgens mit Justus und der Truppe die Weltrevolution ausrufen und abends zu Opernball und Champagnerempfang. Thomas, ich bin nicht zum Vergnügen hier. Ich habe nicht vergessen, dass du es warst, der mir geholfen hat. Geld, Papiere, eine neue Identität. Ohne Victorias Familie wäre das nicht möglich gewesen. Dass ich überlebt und den Schock nach Justus Tod überwunden habe, verdanke ich dir. Aber jetzt muss ich meinen Frieden finden. Du verstehst das doch, Thomas? Du musst das verstehen. Und du musst mir helfen“.

Thomas sitzt ganz still in seinem Sessel. Ist er eingeschlafen? Entschlafen, vielleicht? Nein. Er legt den Kopf zurück und beginnt einen verzweifelten Dialog mit der Stuckdecke. „Maria. Maria! Ich habe nie mehr etwas von dir gehört! Ich dachte, du hast ein neues Leben gefunden. Eine neue Familie, vielleicht sogar. Lass’ die Vergangenheit ruhen,  Maria. Und selbst wenn ich wollte, wie könnte ich dir helfen? Ich weiß doch auch nichts.  Ich habe zwanzig Jahre lang versucht, ein paar Stunden zu vergessen. Und es ist mir nicht einmal annähernd geglückt. Immer wieder holen sie mich ein, in diesem immer gleichen Albtraum. Und ich sehe Justus unten am Seil, wie er zu mir heraufschaut und mich anlacht. Und das Lachen wir lauter und lauter, und dann hängt er an einem anderen Seil, vom Fenster in der Gefängniszelle. Nein, Maria, ich will mich nicht erinnern! Keiner kann das von mir verlangen!“

Mit einem Ruck senkt Thomas den Kopf, reißt die Augen auf und flüstert: “bitte, geh.“ Sie sieht ihn an mit einem Blick, den er sofort erkennt, von Justus so gut kennt. Natürlich, sie ist ja seine Mutter. Und er versteht, dass sie die Wahrheit sucht. Aber er kann sie ihr nicht geben. „Versuchs doch mal bei Peter. Vielleicht kann der dir weiter helfen.“ „Peter? Und wo finde ich den? Hier in Frankfurt?“ „Jaaa. Eine Adresse hat er leider nicht. Er wohnt mal hier, mal da. Aber mittags und abends kannst du ihn in der Bahnhofsmission finden. Da holt er sich sein Margarinebrot.“ „Was? Peter? DER Peter? Euer  „Einsteinchen?“ „Was glaubst du denn, Maria? Dass Justus Tod nur dich zerstört hat? Wir waren alle total fertig, damals. Peter hat keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen. Studium geschmissen, Gelegenheitsjobs angenommen und soviel gesoffen, dass er die Probezeit nie überstanden hat. Ich helfe ihm von Zeit und Zeit und wo ich kann. Ich weiß genau, dass ich es nur Vicky zu verdanken habe, wenn ich heute nicht neben ihn am Mainkai übernachten muss“.

Thomas steht auf und geht zur Bar. Greift nach einem Cognacschwenker und einer aufwändig versilberten Karaffe. Schenkt sich großzügig ein. „Du auch einen Frapin Cuvé 1888?“ „Danke, mir ist schon schwindlig. Hoffentlich hast du Peter nichts davon angeboten, sonst kommt er noch auf den Gedanken, dass du genug Geld hättest, um ihm mehr als ein Margarinebrot zu spendieren.“ Thomas starrt in den honiggelben Branntwein. „Ja, ein Schluck hiervon würde ihn einen Monat lang ernähren. Das ist die Schmiede des Lebens. Du hast die Wahl. Bist du Hammer oder Amboss? Ich habe mich entschieden.“ Maria stützt sich mit beiden Händen auf den Sessellehnen ab. Ihre Beine sind schwer, ihre Füße geschwollen. „Ich finde hinaus“, sagt sie. Aber Thomas reagiert nicht einmal. Er steht unbeweglich am Fenster, eine schwarze, bauchige Silhouette vor einem rotvioletten Stadthimmel.

Kapitel 2

Was wollen wir trinken, sieben Tage lang, was wollen wir trinken, komm sag an! Bots

Frankfurt am Main, 20. Juni 2004, nachmittags, abends

Frankfurt Bankfurt. Das war einer der Sprüche, die auf den Transparenten standen, damals. Von wegen Occupy. In Frankfurt hatten die Studenten schon in den 1980er Jahren gewusst, welches Ende es nehmen würde, wenn die Banken nicht an die Kandarre kämen. Justus, Thomas, Frank und Peter hatten genaue Vorstellungen davon, was passieren würde, wenn die Märkte unkontrolliert wachsen und der Handel mit  Wertpapieren von Finanzjongleuren in ein Roulette verwandelt würden. Und sie hatten einen Plan entwickelt, um das zu verhindern. Politische Instrumente, die die Wirtschaft in den Dienst der Gesellschaft stellen würden. Und nicht umgekehrt. Ihre Ideen waren nicht wirklich neu. Und auch nicht revolutionär. Sie waren so logisch und leicht nachzuvollziehen, dass jeder, wirklich jeder davon überzeugt worden wäre. Wenn sie die Chance bekommen hätten, sie vorzustellen. Einer breiten Öffentlichkeit. Die Medien hätten sich darauf gestürzt, Talkshows und Interviews hätten die Truppe bekannt gemacht. Und das einfache Volk, der „deutsche Michel“, hätte zugehört. Und sich nicht weggedreht wie dieser Uniprofessor Franz Xaver von Xanten. Dabei war der Plan doch auf seinem Mist gewachsen, letztendlich. In seinen Seminaren  hatte er die Grundlagen dafür gelegt. Justus und Thomas hatten nur weiterentwickelt, was er als Grundriss skizziert hatte. Aber er? Wie Marcuse und Habermas hatte er offenbar keine Lust, mit anzusehen, wie seine Ideen Gestalt annahmen und Umsetzung….

Und heute? Zwanzig Jahre danach hat Bankfurt sein Profil geschärft. Die Skyline aus glitzernden Glasfassaden schmiegt sich an den Mainufern entlang, dazwischen Museen als sichtbares Zeichen der Allianz von Geld und Kunst. Sogar die Lokale im Bahnhofsviertel haben glänzende Schaufensterscheiben und sehen nicht annähernd so schäbig aus wie in den 80ern. Touristen und Busse, Fahrräder, dicke Autos und dazwischen dunkelhäutige Männer und Frauen mit Kopftüchern, alle in Eile, alles im Fluss. Auf der Hauptbahnhofsüdseite prallt der Lärm plötzlich von den renovierten Steinwänden ab. In der Baseler Straße riecht es nach Urin und altem Fett, und auf den Stufen der Bahnhofsmission sitzt eine Gruppe junger Japanerinnen mit mannshohen Rucksäcken und sonnenverbrannten Gesichtern.

Niemand nimmt von Maria Notiz, als sie an den Tischen und auf den Bänken nach Peter sucht. Sie ist sich sicher, dass sie ihn erkennen wird. Verwahrloster als damals kann er nicht aussehen. Schließlich fragt sie eine junge Praktikantin und nimmt ihr das Misstrauen mit der Erklärung, sie sei seine Tante und wolle ihn zum Essen einladen. „Ich fühle mich immer noch wie Mitte Dreißig, aber wenn ich mich für eine Sechzigjährige ausgebe, glaubt mir das jeder,“ merkt sie. Ihr Spiegelbild in dem blankgeputzten Fenster wirft ihr das Bild einer graumelierten, leicht untersetzten Frau mittleren Alters zurück. Mittleren Alters bei Annahme einer Lebenserwartung von 120. „Nein, tut mir leid, Herr Brenner ist heute noch nicht gekommen. Aber  schauen Sie doch mal ins Haus Windeck. Da hat er,  glaube ich, grade ein Zimmer. Er freut sich bestimmt, seine Tante zu sehen. Er hat ja so viel von Ihnen erzählt!“ Maria widersteht dem Bedürfnis, ein Missverständnis mehr in dieser Welt aufzuklären. Und geht hinaus in die Sonne der Baseler Straße, ein Margarinebrot in der Hand.

So lange war sie nicht in dieser Stadt. Sie hatte so gehofft, alle Brücken verbrannt zu haben, hinter sich. Aber während sie durch das Wirtschafts- Kultur- und Verwaltungsviertel wandert, kommen Erinnerungen geflogen wie Motten. Flattern ins Augenlicht. Justus am Römerberg. Verstecken spielen dort, wo heute die Schirn steht. Mama ein Eis, bitte! An der Kurt-Schumacher-Straße gibt sie den Kampf  gegen das Gestern auf und nimmt ein Taxi zur Windeckstraße. Die Dame am Empfang des Männerheims sieht aus wie eine Figur im Vorabendkrimi aus Hamburg.  Und sie will ihr partout nicht sagen, ob Peter hier wohnt oder nicht. „Seine Tante? Ach. Na dann lassen Sie mal ne Telefonnummer da, wenn er kommt, richte ich ihm aus, dass sie da waren“. Sie ist Majorin bei der Heilsarmee und spricht wie ein Feldwebel. Sie kennt keinen Widerspruch, und Maria wundert sich, dass die Männer hier im Wohnheim, immerhin allesamt an die rauen Stürme des Alltags gewöhnt und gewiss nicht zimperlich im Umgang mit Frauen, sich das gefallen lassen. Als wäre man ein kleines Kind. Genau, denkt sie dann. Und erinnert sich ganz unvermittelt im Gespräch an den „kleinen Peter“ und sein verschmitztes Glucksen, wenn er ihr die Augen zuhielt und fragte: „rate mal, wer das ist?“ Treffer. Mitten ins Mutterherz der Majorin. „Also für gewöhnlich sitzt er um diese Zeit auf einer Bank am Schaumainkai und betrachtet die Skyline,“ sagt sie. „Auf welcher Bank, kann ich Ihnen nicht sagen!“, schiebt sie noch hinterher, aber der Stahl in ihrer Stimme ist geschmolzen. „Natürlich, da hätte ich auch selbst drauf kommen können,“ kontert Maria, „Bänke und Banker waren schon immer seine Faszination“.

Das Mainufer im Sommer ist ein beliebter Treffpunkt. Für Verliebte ebenso wie für Hundebesitzer,  Halbwüchsige mit gesteigertem Alkohol- und Nikotinbedarf und Drogengeschäfte. Die Polizei hatte diesen Ort des flüssigen Geschehens schon in den 1980ern abgeschrieben und den Strom seinem Treiben überlassen. Maria muss nicht lange suchen. Peter hat den idealen Beobachtungsposten gewählt. Wenn es denn etwas zu beobachten gäbe, jenseits der trägdunkel dahinschaukelnden Fluten. Direkt gegenüber reckt sich der Turm der Deutschen Bundesbank in die granitgrauen Wolken, die sich drohend am Sternenhimmel zusammengeschoben haben wie ein spontan anberaumter Flashmob.

Sie setzt sich neben ihn. Einfach so. Den ganzen Weg bis hierher hat sie Worte wie Puzzleteile umhergeschoben, auf der Suche nach der richtigen Kombination für einen Begrüßungssatz. Schweigen erscheint ihr am natürlichsten. Was sollen sie sich auch sagen? Die Mutter, deren Sohn in einer Nacht vor zwanzig Jahren an der Hochhauswand auf der anderen Seite des Mains festgenommen und kurze Zeit später tot in seiner Zelle gefunden wurde, und der Freund, der dabei war, damals, der das alles überlebt hat und jetzt hier sitzt, nach Alkohol stinkend zwar, ungekämmt und wahrscheinlich sogar verlaust, aber am Leben, immerhin. 

„Du bist zurück.“ „Ja.“ „Hast aber lange gebraucht, dafür.“ „Hm.“ „Ich komme jeden Tag hierher. War mein erster Weg, gleich als sie mich aus der Haft entlassen haben.“ „Ich wollte es wenigstens versuchen. Ich habe es versucht, Peter.“ „Was? Vergessen?“ „Verzeihen“. „Und du schaffst das nicht? Ausgerechnet du? Hahaha!“ Ein hohler Laut, heiser und höhnisch, eine Lache, kein Lachen, räkelt sich träge in seiner Kehle. So schwach, es bewegt nicht einmal seinen Adamsapfel. „Und jetzt willst du dich rächen. An mir!“ „Nein, Peter. Ich will nur die Wahrheit wissen. Ich habe ein Recht darauf. Als seine Mutter.“ „Seine Mutter und mehr. Sein Vorbild. An Mut, an Tatkraft. An Entschlossenheit. Kompromisslos und direkt.“ „Und ehrlich.“ Sie flüstert es, plötzlich zuversichtlich, ihn eingeschworen zu haben, auf die Sache, ihre gemeinsame Sache. „Ehrlich? Was ist denn ehrlich? Das frage ich mich seit der Nacht damals. Immer wieder.“

„Justus war ehrlich! So ehrlich, dass er am Ende sogar gestorben ist, daran.“ „Justus? War ehrlich? Das habe ich immer geglaubt. Aber war er das wirklich?“ Peter schüttelt den Kopf, langsam, er sieht aus wie Master Joda oder  eine animierte Schildkröte aus einem japanischen Zeichentrickfilm.  Dann fängt er übergangslos an zu erzählen, und Maria braucht selbst ein paar Sekunden, um zu verstehen, wovon er redet. Von der Nacht vor genau 2o Jahren.

„Wir haben uns den ganzen Tag ausgeruht, damit wir fit sind, richtig fit. Aber ich bin so müde, als hätte ich einen Marathonlauf durch den ganzen Taunus gemacht. Wir sollen nichts trinken, hat Justus gesagt. Und nicht einschlafen. Hellwach und nüchtern sollen wir sein, sonst kann die Aktion schnell lebensgefährlich werden. Hahaha!

Wir haben geübt, das ganze letzte Jahr. Sind im Taunus rumgeklettert. Naja, eigentlich sind wir erst dort auf die Idee zu der Aktion gekommen. Wir hängen da so am Felsen, an der Lorsbacher Wand, da ruft Justus plötzlich nach unten: Hey, stellt euch mal vor, das wäre die Fassade  der Deutschen Bundesbank. Da würden die Leute gucken, was?“ Erstmal war das nur sowas wie unser Running Gag. Aber irgendwann kam einer von darauf, dass so eine Aktion, genau so eine Aktion, uns mit einem Schlag bekannt machen würde. Was wir monatelang versucht hatten, in die Presse zu kommen, einen Termin beim Bürgermeister zu kriegen, in Bonn, im Wirtschaftsministerium. Keiner wollte was wissen von uns. Und Professor van Xanten war der Schlimmste von allen. Dabei hatte der uns doch erst darauf gebracht, dass wir eine neue Ordnung brauchen, wenn nicht alles vor die Hunde gehen soll, in Deutschland. In Europa. Auf der Welt. Ungebremstes Wachstum zerstört die Erfinder, das hat er uns immer wieder gesagt. Und „der Mensch ist des Menschen Wolf“. Aber dann, als wir zu ihm gekommen sind, mit unserem Plan? „Die Revolution frisst ihre Kinder“, hieß es dann plötzlich. Und: fangt erst mal mit eurem eigenen Leben an. Macht das Studium zu Ende. Findet ’nen Job. Ne Frau. Die ganze Cat Stewens-Leier. Scheiße, Mann. Darauf hatten wir keinen Bock, nee. Also ab in den Untergrund. Und da haben wir dann die Aktion geplant. 

Die Kletterseile und Karabiner haben wir in Darmstadt gekauft, um nicht aufzufallen. Die Helme in Mainz. Magnesia hätten wir beinah vergessen. Der Rest war Übung. Hahaha! Thomas hat sich bei ’ner Putzfirma anheuern lassen und die Fassade der Deutschen Bundesbank ausspioniert. Und Fotos gemacht. Ich hab ne Skizze angefertigt von der Route. Und auswendig gelernt. Kein Papier rumliegen lassen, im Zimmer. Oder sonstwo.  Thomas geht voraus, dann ich, Justus als letzter mit dem Transparent. So isses geplant. Also packen wir alles zusammen. Fangen um vier Uhr nachmittags an, viel zu früh. Wir haben einen Fahrradanhänger dabei, sowas neues, wo man die Kinder reinsetzt. Den können wir erst beladen, wenn es dämmert. Irgend so ein Depp schaut sonst bestimmt aus dem Küchenfenster raus in den Innenhof und fragt: „Hey was mache se denn mit dem Anhänger da, habbe se uff aamal Kinner?“

Wir gehen den Plan nochmal durch. Schritt für Schritt. Melanie und Frank sichern und machen einen auf Liebespaar, dabei. Haha. Weißt du, dass die jetzt verheiratet sind, Maria? Krank, was? Thomas geht als erster. Er kennt den Weg, und er hat ein paar Griffe montiert, beim Fensterputzen. Ich kapiere bis heute nicht, dass das keiner gemerkt hat! Haha, das kommt, weil die Banker zu sehr mit der Innensicht beschäftigt sind. Da kriegste nicht mit, was vor deinem Fenster passiert.“ „Ich habe gar nicht gewusst, dass ihr klettern konntet. Justus hat nie davon erzählt.“ „Justus hat viel nicht erzählt, Maria. Ganz viel, glaube ich.“ „Und dann?“ „Dann isses dunkel und wir wollen los. Packen alles in den Fahrradanhänger. Da sagt Justus, ich komme gleich nach. Muss noch schnell was erledigen. Wie, was? frage ich. Aber Thomas sagt nur ok, ok.

Ich kapier das nicht. Ich kann das nicht ab, wenn plötzlich was nicht nach Plan läuft. Pläne sind wichtig! Ich hab meinen Plan. Jeden Morgen ein Margarinebrot am Bahnhof. Mittags wieder. Am Abend ne Suppe bei der Majorin. Und dann ein Bier hier auf der Bank. Das ist mein Plan.“ „Ja, das ist dein Plan, Peter. Aber warum hat Justus euren Plan umgeworfen?“ Maria bemüht sich, ihre Stimme tief zu halten, sich nichts von ihrer Aufregung anmerken zu lassen. „Justus hat alles kaputt gemacht. Alles. Wir sind zur Deutschen Bundesbank gefahren. Melanie und Frank haben sich abgeknutscht und dabei die Straße im Auge behalten und das Transparent. Thomas ist losgeklettert, ich soll warten, bis Justus kommt. Aber er kommt nicht. Thomas macht von oben Zeichen mit der Taschenlampe. Dann endlich kommt Justus. Ganz blass und wortlos. Klappt das Transparent auseinander, schaut mich an und sagt: wenn du keine Lust mehr hast, dann geh. JETZT. Ich glaub ich spinn. Tickt er noch richtig? Ich starre ihn an. „Ok, Mann. Dann los jetzt!“, brüllt er. So laut, dass Melanie los schreit. Und ich klettere. Einen Meter, zwei. Drei. Ich höre Justus atmen, hinter mir. Und dann wird‘s plötzlich total hell. Überall Autos und eine Stimme, wahnsinnig laut: Hier spricht die Polizei. Kommen sie sofort da runter. Werfen Sie die Schusswaffen weg und nehmen Sie die Hände hoch. Ich schau runter. Schusswaffen? Was für Schusswaffen? Jemand reißt Justus auf den Boden. Er fällt hin. Ein Bulle tritt auf ihn ein. Ich schreie. Da sieht Justus mich an. Nur mich.“

Peter stützt seinen Kopf in die Hände, krümmt sich auf der Bank zusammen, als würde er die Schläge spüren, selbst, jetzt, nach zwanzig Jahren. „Er schaut mich an. Und der Plan? Justus? Was ist mit unserem Plan?

Ich habe einen Plan. Meinen Plan. Jeden Morgen ein Margarinebrot am Bahnhof. Mittags wieder. Am Abend ne Suppe….“ „Peter, ich weiß. Peter, hör mir zu. Was war passiert, Peter? Wer hat euch verraten?“ Aber Peter hört nicht mehr zu. „Justus, warum? Van Xanten war ein Arsch. Das wussten wir. Justus, warum? Wo ist dein Plan? Ich habe einen Plan, Justus. Ein Plan ist wichtig. Jeden Morgen ein Margarinebrot…“ „Peter. PETER! Was war mit van Xanten? Peter?“ Peter wiegt seinen schmächtigen, schlecht riechenden Körper hin und her. Murmelt: „Morgens ein Margarinebrot. Das ist mein Plan.“ Dann, plötzlich, hält er mitten in der Bewegung inne. Schaut Maria mit durchdringenden rot unterlaufenden Augen an. „Haste mal‘n Bier, Mädel?“  Maria steht auf und geht. Wortlos. So, wie sie gekommen ist.

Kapitel 3

Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realismus. Alfred Hitchcock

Frankfurt am Main, 20. Juni 2004, nachts

Plötzlich kommt Maria alles zu groß vor, zu laut. Das Knirschen der Kiesel unter ihren Schritten. Die von einer Windböe geschüttelten, nachtgrauen Kastanienblätter, die Umrisse des Bootshauses am Fuß der Treppe. Die schwarzen Wellen. Es riecht nach Wasser. Und nach Pfeifenrauch. Maria bleibt stehen. Nimmt Witterung auf und saugt die Nachtluft durch die  gekräuselte Nase. Der Raucher muss auf der Treppe stehen, auf der untersten Stufe. Er will nicht gesehen werden, aber doch bemerkt. Plötzlich ist der Schaumainkai wie ausgestorben. Keine Pärchen, keine Junkies. Keine Hunde und Besitzer. Geschweige denn eine Polizeistreife.

Sie zählt im Stillen bis fünf. Dann rennt sie los. An der Schweizer Straße hält sie ein Taxi an. Lässt sich atemlos auf die Rückbank fallen. Schweiß rieselt zwischen ihren Schulterblättern den Rücken hinunter. Zieht als dünnes Rinnsaal Streifen in das Makeup ihrer Stirn, klebt in den Augenfalten und bleibt in ihren Wimpern hängen. Sie ist noch nie gerne gejoggt. Mit sechzig ist sie dafür definitiv zu alt.

Der Nachtportier hebt nur kurz den Blick von seinem Buch, als Maria die Glastür aufschiebt. Ist sie so schwer oder bin ich so schwach? fragt sie sich. Zu alt! denkt sie wieder, als sie Sekunden braucht, um sich selbst in dem Spiegel an der Wand rechts neben der Rezeption zu erkennen. „Zimmer vierzehn, bitte. Hat jemand nach mir gefragt?“ „Wieder schaut der Nachtportier von seinem Buch auf, unwillig, wie ihr scheint. Er hält es aufgeschlagen in der linken Hand, während er im Sitzen den Oberkörper verdreht und mit der Rechten ihren Schlüssel vom Haken nimmt. Das Fach dahinter ist leer. „Nee, keiner“, brummt er. Maria hat plötzlich das unwiderstehliche Bedürfnis nach  einer Konversation mit einem normalen Menschen, einem ihr freundlich gesinnten. Und ein Leser ist doch ein freundlicher Mensch, oder? „Was lesen Sie denn da?“ fragt sie ihn mit, wie sie meint, genau austarierter stimmlicher Schwingung zwischen Interesse und Neugier. „Ein Rezept für Rippche mit Sauerkraut, mei Frau is im Krankehaus un da muss isch morsche koche. Bleibt einem abber auch nix erspaat. Wolle se sich noch was mit ruff nemme? Wasser und Bier is inner Minibar.“ „Danke, sehr freundlich. Nein. Ich bin müde. Bitte, wecken Sie mich morgen um acht. Gute Nacht.“

Kein Literat, aber freundlich. Maria steigt die mit abgewetztem rotem Teppich belegten Stufen hinauf, geht links einen Gang hinunter, ihr Zimmer ist das letzte hinten im Eck. Plötzlich geht mit einem dumpfen Klack das Deckenlicht aus. In der muffigen Finsternis tastet Maria nach der Wand, hebt  gleichzeitigen den rechten Fuß – und macht einen Schritt ins Leere. Sie verliert den Halt und fällt.

Eine Stufe, noch eine, eine dritte. Die Treppe ist hart und steil. Da fühlt sie eine Hand an ihrem linken Unterarm und eine an ihrer rechten Schulter. „Vorsicht, Stufe!“ sagt eine tiefe Stimme. „Ohne Licht ist das hier lebensgefährlich, gnädige Frau.“ Als sie wieder steht, lässt der Mann ihren Arm los. „Ist Ihnen nichts passiert? Soll ich Ihnen was zu trinken bringen? Oder …. wollen wir gemeinsam einen Absacker nehmen, auf den Schreck? Drüben in Sachsenhausen, vielleicht?“ Maria steht. Wacklig noch, aber sie steht. Langsam lockert der Schreck seinen Griff. und sie beginnt wieder, zu denken und zu fühlen. Immer noch fehlt das Licht. Vielleicht ist ihr Geruchssinn deshalb geschärfter als sonst. Fein aber ganz deutlich nimmt sie den Pfeifengeruch wahr. Pflaume und Whiskey. Der gleiche wie am Schaumainkai. Sie reißt ihre Augen auf, sicher sieht er das Weiße in ihnen im Dunkeln leuchten. Sie macht sich steif, lehnt sich so weit wie möglich nach hinten. Stille. Sekundenlang nur. „Sie sollten sich in Acht nehmen, wissen Sie“, flüstert es plötzlich heiser an ihrem Ohr. So dicht, dass sie bei jedem „t“ die Spucketröpfchen spürt, auf ihrem Hals. „Vielleicht ist Frankfurt einfach nicht das richtige Pflaster für Sie. In Italien ist es doch auch viel wärmer. Gehen Sie zurück. Bevor es zu spät ist.“ Mit einem Mal ist das Licht wieder an, und hastige Schritte eilen die Treppe hinauf. „Da bin ich aber beruhigt, dass Ihnen nichts passiert ist, gnädige Frau“, ruft der Pfeifenraucher überlaut in Richtung Gang. „Gute Nacht“ Und, leise: „Denken Sie an meinen Rat“.

„Iss Ihne werklisch nix bassiert?“ fragt der Nachtportier. Er ist ehrlich besorgt. „Das is in dreissich Jahre noch ned vorkomme. Da is einfach die Sischerung rausgefalle. Isch hab se grad widder reigedreht“.

„Danke, alles ist gut“, sagt Maria. „Nichts ist gut“, denkt sie und schließt die Tür ihres Zimmers zweimal ab.

Kapitel 4

In der Armut liegt ein Glanz verborgen, der Glanz des Authentischen. Ernesto Cardenal

Frankfurt am Main, 21. Juni 2004, am späten Vormittag

Alles sieht ganz anders aus und trotzdem genau wie früher. Die Fressgass war in den Achtzigern die Gourmetmeile Frankfurts, wo alle, die es sich leisten konnten oder so tun wollten, als ob sie das könnten, sich mit Lebens- und Genussmitteln eindeckten. Gänseleberpastete, Champagner, erlesene Parfums, feine Zigarren. Heute sind noch ein paar Läden mit biologischen Spezialitäten hinzu gekommen und einem Gütesiegel, dass die Verdoppelung eines überteuerten Preises rechtfertigt. Aber auch hier das für Frankfurt so typische Gedränge aus Menschen aller Haut-, Haar- und Augenfarben. Frauen in High Heels und Miniröcken, Frauen in Burkas, Frauen mit Pekinesen und Frauen mit Kinderwagen. Männer in Anzügen und Manschettenknöpfen, Männer mit Jelaba. Blonde Kinder mit heller Haut und dunkle Kinder mit Mandelaugen. Dazwischen Asiaten in Söckchen und Gruppen mit Fotoapparaten vor dem Bauch. Jetzt im Sommer  fallen sie wieder in Scharen ein. Touristen aus Amerika, aus Japan, sogar aus Russland. Vor der Konditorei Lochner bleibt sie stehen, plötzlich gepackt von der Lust auf Bethmännchen. Sieben Euro verlangt die Verkäuferin. Sie ist barsch und spricht sächsisch. Beides ist neu in der Fressgass, stellt Maria fest. Die Zeiten haben sich eben geändert. Mit der Bethmännchentüte in der Hand geht sie weiter zum Kornmarkt.

Um Wackers Kaffeegeschäft scheint die Zeit einen Bogen gemacht zu haben. Drinnen sieht es noch genauso aus wie in den Achtzigern. Die blank blitzenden Kaffeeschütten, die hohe Theke, auf der sich Schokoladen, Plätzchen und allerlei kleine Geschenke einladend türmen. Die kleinen wackeligen Tischchen und an jedem mindestens eine Person zu viel. Alle lachend, alle redend, Kaffee trinkend. Nur die Luft ist anders, heute, bemerkt Maria. Früher hatte jeder eine Zigarette in der Hand. Das gehörte dazu, zum Sehen und Gesehen werden. Wie oft hatte sie sich mit Justus hier verabredet. Sie kam aus dem Verlag und er aus der Uni. Sie wollte ihm nicht nachspionieren. Erwachsene Kinder sind zwar immer noch deine Kinder, aber sie sind eben auch erwachsen. Deshalb respektiere ihre Privatsphäre, so, wie du es dir von ihnen und von jedem anderen Menschen für dich wünschst. Das war Marias Maxime gewesen. Und je deutlicher sie diese geäußert und vor allem gelebt hatte, um so lieber hatte sich Justus mit ihr getroffen.

Und nicht nur er. Auch seine Freunde liebten es, mit Maria zu diskutieren. Über das Habermas-Interview in der taz, über den Washington-Consensus in der Wirtschaftstheorie und über den Club of Rome. Sie mochten ihre „anarchistischen Anschauungen“, wie Thomas sie nannte. Der Tisch ganz hinten am Fenster war ihr Stammplatz gewesen. Unwillkürlich geht Maria in den Laden. Hinter der Theke fremde Gesichter. Ihr Platz ist besetzt. Natürlich. Es duftet nach frisch gemahlenem Kaffee und Brötchen. Maria schließt die Augen. Für einen Moment erwecken diese vertrauten Düfte die Vergangenheit wieder zum Leben. Und sie sieht sich dort sitzen, eine dynamische, noch junge Frau mit braunen Locken, großer Brille und feinen Falten um Mund und Augen, Lachfalten, Glücksfalten. Um sie herum junge Studentinnen und Studenten. Lebenshungrig. Wissensdurstig. Voller Tatendrang und dem Wunsch, die Welt zu verändern. Zu verbessern.

Und? Was haben sie erreicht? Nichts! Die Welt dreht sich weiter, aber Justus ist tot. Nein. Das ist nicht seine Schuld und nicht die Konsequenz seiner Ideen, seiner Überzeugung. Das ist die Schuld eines anderen. Eines Menschen mit bösen Hintergedanken und ausreichender Macht, um sie auszuführen. Wenn Justus Tod nicht umsonst sein soll, dann muss Maria diesen Mann finden. Und zu Ende bringen, was Justus nicht anfangen konnte. „Was kann ich für Sie tun? Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Wir haben eine ganz neue Mischung! Wollen Sie sich einen Moment setzen? Da hinten wird grade ein Tisch frei“. Maria lächelt. Sie lächelt, als sie sich auf ihren alten Platz setzt. Lächelt mit der Kaffeetasse am Mund. Lächelt die Leute am Nebentisch an. Sie weiß jetzt, was sie tun muss. Wie Michelangelos Pietà in der Basilica von San Pietro wird sie die Erinnerung an ihren Sohn bewahren und halten.

„Entschuldigung, ist hier noch frei?“ Die Frau ist nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht alt. Mitte vierzig, schätzt Maria. So wie sie damals. Irgendetwas an ihr wirkt vertraut. Die Stimme mit ihrem Klang nach leicht gesprungenem Glas? Die prüfend unter gesenkten Wimpern hervorstechenden Blicke? Die zärtliche unbewusste Bewegung, mit der ihr linker Mittelfinger über den rechten Handrücken streicht? Damals waren die Hände weicher, heller, nicht so rissig, und auch die Adern kamen nicht so deutlich hervor. „Melanie. Melanie Wenzel!“ Die Frau beugt sich mit einem Ruck nach vorne. Schießt einen Blick auf Maria ab, der sich in ihren Augen verhakt. „MARIA! Was machst du denn hier in Frankfurt? Warst du immer hier? Die ganzen Jahre?“ Maria liest die Sorgen aus Melanies  Fältchen, kleine Alltagsnöte, zuviel Monat übrig und kein Geld mehr da, Schulprobleme. Und große Lasten. Kein Job in Aussicht, kein Argument gegen Franks Alkoholkonsum. Und immer wieder die Erinnerung an damals. Natürlich, warum wäre sie sonst hier, heute Mittag? Sorgfältig faltet Maria Melanies Kummer in die Papierserviette vor sich. Schiebt sie unter die Kaffeetasse und sagt: „Zwanzig Jahre lang habe ich meinen Mut gehäufelt. Jetzt bin ich hier. Wegen Justus. Wegen mir. Und wegen dir. Und Frank und Peter. Ich will wissen, was passiert ist. Ich bin stark genug für die Wahrheit und entschlossen genug, um sie herauszufinden. Und dann, wenn alles klar ist, können wir einen Schlussstrich ziehen  und ein zweites Mal anfangen zu leben. Zu denken. Zu planen. Das bin ich euch schuldig.“ Melanie rührt mit dem Löffel in ihrem Kaffee. Kleine kreisende Bewegungen, die immer schneller werden. Bis braune Tropfen auf die weiße Tischdecke schwappen. „Ohne aufzuschauen, Maria anzuschauen, sagt sie, und sie betont dabei jedes einzelne Wort: „Komm. Wir gehen zu Frank.“

MiniKrimi Adventskalender am 22. Dezember


Kein richtiger Krimi, schlussendlich. Stimmt. Aber – was würdet Ihr sagen, wenn Euch das passieren würde? Keine Sorge, lehnt Euch entspannt zurück, in der Gewissheit, dass Euer Heiligabend ganz sicher weniger aufregend ablaufen wird.

Die Weihnachtserbin

Heiligabend: Frida hat ihren Mann Jan und die Kinder auf den Weihnachtsmarkt geschickt, um in Ruhe die letzten Vorbereitungen für das Weihnachtsfest zu treffen. Alles wie jedes Jahr, sie erwarten Oma Anita, Opa Bernd und Jans arroganten Bruder David. Sie gilt als perfekte Gastgeberin. Aber heute fragt sie sich, ob sie in den letzten Jahren, seit sie in das Haus am Stadtrand von Berlin gezogen sind, nicht zu oft nachgegeben und zu wenig an sich gedacht hat. Ihr Blick fällt auf die rote Küchenuhr, die ihre besten Tage hinter sich hat. Vielleicht geht es mir genauso, denkt Frida. Und sie spürt, wie so etwas wie Unmut in ihr aufsteigt und Unzufriedenheit. Da klingelt es an der Tür. Wer kann das sein?

„Ja, bitte?“, fragt sie in das Schneegestöber. Vor ihr steht ein Mann mit roter Mütze. Nein, nicht der Weihnachtsmann, das erkennt Frida an der grimmigen Miene, mit der er ihr einen aufgeweichten Umschlag entgegenstreckt. „Frida Rosenzweig?“, schnauzt er sie an. „Ja. Haben Sie was gegen meinen Namen?“ „Ist mir egal, solange er auf dem Briefkasten steht.“ „Aber das tut er doch nicht!“ „Eben. Deshalb musste ich so lange suchen. Eilauftrag vom Kunden. Und das an Heiligabend. Hier, unterschreiben!“ Natürlich passt ihr ganzer Name, Kahler-Rosenzweig, nicht auf das Signaturpad. Ebenso wenig wie auf den Briefkasten. „K. Rosenzweig“ krakelt Frida auf das Pad, dann stürmt der Mann zurück auf die Straße.  „Frohe Weihachten“, ruft sie ihm hinterher, um ihrem perfekten Image noch irgendwie gerecht zu werden.

Dann setzt sie sich mit dem Brief in die Küche. Dr. Ernst R. Schreck, Notar, steht auf dem Umschlag. Er enthält die Einladung zur „Testamentseröffnung im Erbfall Pepita Rosenzweig“ am 24.12.2015, 13 Uhr, in der Straße zum Löwen 12 in Wannsee. Frida schaut auf die Küchenuhr. Fünf vor zwölf. Wie passend, denkt sie. Was mache ich jetzt? Du kannst da unmöglich hin, sagt die perfekte Gastgeberin in ihr. Die Vorbereitungen! Na und, antwortet  eine Stimme, die Frida nicht mehr gehört hat, seit sie hier eingezogen ist. Denk an dich! Pepita muss Oma Anitas totgeschwiegene Zwillingsschwester sein. Bestimmt hat sie dir was vererbt, sonst hätte dich dieser Schreck nicht eingeladen.

Frida  schaut sich in der Küche um, sieht die abblätternde Farbe an den Fensterrahmen, die angeschlagenen Kacheln. „Willst du  so weitermachen? Das Haus muss dringend renoviert werden. Aber dafür fehlt euch das Geld. Jan ist lieb und nett, aber er verdient nicht genug. Nimm die Sache selbst in die Hand. Zieh den Mantel an und geh.“

Und das tut Frida. Der Weg nach Wannsee über leergefegte Straßen ist kürzer als gedacht. Das Anwesen Nummer 12 entpuppt sich als majestätische Gründerzeit-Villa mit Auffahrt und Freitreppe. Frida parkt den alten Familienvolvo direkt neben einem grün funkelnden Jaguar XJ. Sie  wird erwartet, in der Tür steht ein untersetzter Mann mit Kugelbauch und schütterem Haar. Auch kein Weihnachtsmann, konstatiert Frida mechanisch. „Frau Rosenzweig, schön, dass Sie da sind. Schreck“, sagt er mit öliger Stimme.

Die nächste Stunde vergeht wie im Traum. Das getäfelte Arbeitszimmer, die hohen Stühle. Das Video, in dem eine Frau wie ein Rabe im schwarzen Kleid mit funkelnden Knopfaugen sagt, dass sie Haus, Auto und Bankkonten ihrer Großnichte Frida vererben will. „Die einzige Bedingung, die du erfüllen musst“, krächzt ihre brüchige Stimme aus den Lautsprechern, „ist, zu beweisen, dass du nicht so verlogen bist wie der Rest meiner Familie.“ „Und wie?“ fragt Frida. „Ganz einfach“, erklärt der Notar, „Sie müssen vollkommen ehrlich sein. Und zwar alle.“ „Das sind wir doch immer“, strahlt Frida. Wenn’s weiter nichts ist. In Gedanken zieht sie schon in die prachtvolle Villa ein. Das Treppengeländer ist eine prima Skater-Rail für Finn, und im Garten könnte Annas Pony stehen. „Gehen wir?“ Dr. Schreck sieht sie auffordernd an. „Wir? Wohin?“ „Zu Ihnen nach Hause. Ihre Großtante hat mich mit der Überprüfung Ihrer Ehrlichkeit betraut“. 

Die Rückfahrt verläuft schweigsam. Bestimmt würde Dr. Schreck den Heiligen Abend lieber woanders verbringen. „Mein Gänsebraten ist vorzüglich“, flötet Frida und öffnet die Tür. Rauchschwaden vernebeln die Sicht, ein beißender Geruch nach verbranntem Fleisch straft ihre Behauptung Lügen. Mit einem Schrei stürzt Frida in die Küche. Sie hantiert immer noch hektisch mit Töpfen und Pfannen, als Jan und die Kinder nach Hause kommen. „Was ist denn hier passiert?“ Anna rümpft die Nase. „Das stinkt.“ „Kinder, riecht doch lecker.“ Jan will die Stimmung retten. Da sieht er den rundlichen Mann, der Frida ein spöttisches Lächeln zuwirft. „Das gilt noch nicht“, sagt sie hastig. „Erst muss ich alles erklären.“

Jan runzelt kritisch die Stirn. Aber die Kinder sind begeistert. „Zum Glück ist die dumme Gans angebrannt“, ruft Finn. „Jetzt gibt’s Spaghetti mit Tomatenketchup, ok?“ „Das fängt ja gut an“, wispert Frida ihrem Mann zu. „Das wir noch viel besser“, antwortet er.

Statt eines „Du wirst immer jünger, wie machst du das bloß?“ hilft Jan Oma Anita mit der Bemerkung aus dem Mantel: „Du hast ganz schön zugenommen!“ Und Finn brüllt: „Pelz ist Mord! Freiheit für alle Tiere jetzt sofort!“ Opa Bernd erlangt nach Fridas Erklärung zu diesem „etwas anderen“ Heiligabend als erster die Fassung wieder. „Wir können endlich aufhören mit dem Theater, Anita.“ Dann fragt er: „Frida, darf mein Mann dazukommen?“ Denn Bernd und Anita gehen schon lange getrennte Wege. Sie unterhält einen Swingerclub auf Malle, und er hat seine heimliche Liebe Adam geheiratet. „Glaubt bloß nicht, dass ihr den Sommerurlaub bei mir verbringen könnt“, warnt Anita vorsorglich. “Ihr seid viel zu spießig für meine Gäste.“ Frida wundert sich, warum Anita und Pepita sich nicht vertragen haben. Wo sie sich so ähnlich sind. Zwillinge eben.

Als David kommt, macht es ihr sogar richtig Spaß, ehrlich zu sein. „Du bist viel zu spät. Wie immer. Gut, so haben wir wenigstens ohne deine Anzüglichkeiten essen können“, wirft sie ihm an den Kopf. Und setzt noch eins drauf: „Wir haben kein Geschenk für dich. Du bringst ja auch nie was mit.“ „Stimmt nicht“, antwortet David, zieht ein zerknülltes Päckchen aus der Manteltasche und beweist seine Anpassungsfähigkeit an die besonderen Umstände mit der Bemerkung: „Beim Ausmisten habe ich deine alten Topflappen gefunden, die musst du bei mir vergessen haben, als du zu Jan gezogen bist. Hier – stehen dir ganz wunderbar“.

Da stößt Finn einen Wutschrei aus. Anna und er haben ihre Geschenke ausgepackt. Der Junge hält einen Chemiebaukasten in die Höhe. „Papa. Was soll das? Wo ist mein neues Skateboard?“ „Kannst du mir mal sagen, warum dieses Kind sich für nichts von alledem interessiert, was mir als Kind Spaß gemach hat?“, fragt Jan leise seine Frau. „Das liegt vielleicht daran, dass er gar nicht dein Sohn ist, sondern der deines Bruders“, flüstert Frida zurück. Was für ein Albtraum, denkt sie. Und: hätte ich bloß diesen Brief nie bekommen!

Der Rest des Abends versinkt im Chaos. Bernd hat sich von Adam abholen lassen. David haben die beiden gleich mitgenommen, mitsamt dem Veilchen, das ihm Jan verpasst hat. Anita sitzt mit Dr. Schreck auf der Terrasse und raucht einen Joint. „Das habe ich mir auf Malle angewöhnt. Hilft super gegen Arthrose“. Jan hat die Kinder ins Bett gebracht. Jetzt steht er im Schlafzimmer und packt seinen Koffer. „Mensch Jan, bitte. Es tut mir so leid. Das war einfach alles zu viel für mich“, sagt Frida und macht eine ausladende Armbewegung. „Alles“ meint dieses Leben. „Wollen wir es nicht noch mal versuchen? In Tante Pepitas Haus? Ohne Sorgen?“ „Und wie bringen wir Dr. Schreck dazu, in uns eine ehrliche Familie zu sehen?“, fragt ihr Mann. „Hm, wir geben ihm einfach so viel zu trinken, dass er sich morgen an nichts mehr erinnert!“

Am 25. sitzen alle beim Frühstück. Frida und Jan, Finn, Anna und Oma Anita, als Dr. Schreck die Treppe hinunter kommt. Sein Aussehen macht seinem Namen alle Ehre. „Guten Morgen“, ruft Frida gut gelaunt. „Schauen Sie, die perfekte ehrliche Familie!“ „Von wegen“, sagt Schreck. „Sie sind verlogen! Sie haben mich gestern betrunken gemacht, damit ich mich an nichts erinnere. Aber hier, ich habe alles aufgenommen“, und er zeigt auf sein Handy. Da klingelt es an der Tür. „Das ist mein Taxi. Auf Nimmerwiedersehen, Familie Kahler-Rosenzweig,“ „Halt, Sie können uns doch nicht so einfach sitzen lassen, nach allem, was wir wegen Ihnen durchgemacht haben“, ruft Frida verzweifelt und versucht, ihn festzuhalten. Es klingelt ein zweites Mal. „Lassen Sie mich los“, faucht Dr. Schreck. Aber Frida ist mit ihren Nerven völlig am Ende. Soll Dr. Schreck ihrenTraum von einer rosigen Zukunft zum Platzen bringen? Sie greift nach dem schweren Klöppel, der am Eingang neben dem alten Gong hängt. Und schlägt zu.

Als es zum dritten Mal klingelt, fährt Frida zusammen. Ist sie doch glatt am Küchentisch eingenickt! Es riecht nach verbranntem Braten, und durch dicke Rauschschwaden fällt ihr Blick auf die rote Uhr. So spät! Sie rennt zur Tür. „Schatz, wir haben die Zeit vergessen, nicht böse sein!“ Jan legt ihr mit beschwichtigender Mine den Arm und die Schultern. „Macht nichts!“ Frida strahlt ihre Familie an. „Ich bin auch noch nicht fertig. Hatte wichtigeres zu tun. Was haltet ihr davon, wenn wir Heiligabend heute mal anders feiern? Nicht perfekt, aber dafür so, dass alle Spaß haben?“ „Au ja“, ruft Anna. „Können wir statt dem Gänsebraten Spaghetti essen?“ Und Finn ergänzt hoffnungsvoll: „Mit Tomatenketchup?“

MiniKrimi Adventskalender am 20. Dezember


Heute: der MIniKrimi im Doppelpack. Denn ich kann mich nicht entscheiden. Also überlasse ich euch die Wahl. Welcher ist besser? Unter allen Antworten verlose ich ein Exemplar meines winterlichen Fünf-Seenland-Krimis „Miniataurus“, passend zur Jahreszeit.

  1. Saitenwechsel

Er kam unerwartet früher als geplant von der Dienstreise zurück und wurde von schrillen Dissonanzen empfangen. Seine Frau Gina hatte offensichtlich ein neues Hobby: sie übte Violine. „Diese Seite von dir kannte ich noch gar nicht,“ sagte er und ergriff  – bildlich gesprochen und wörtlich genommen – die einmalige Gelegenheit, eine andere Saite seines Lebens aufzuziehen, nachdem er die alte G-Saite runtergedreht, ausgefädelt, die neue Saite eingefädelt und einmal fest über das Ende ihres Halses gewickelt hatte.

2. Gestreift

„Wie süß, Schnucki, dass du mich doch noch mitgenommen hast, in deinen Skiurlaub. Eine Woche ohne dich, das hätte ich nicht ausgehalten. Ich will dich doch jede Sekunde bei mir haben.“

„Klar, mein Zuckerstückchen. Eine Woche Kitzbühel nur mit meinen Freunden – das wäre ja nicht zum Aushalten gewesen.“

Sie kichert. Und fragt: „Schnucki, hier steht Streif. Ist das auch ganz sicher eine Anfängerpiste?“

„Ganz sicher, mein Häschen. Da kommst du ohne zu schieben gar nicht voran. Deshalb habe ich deine Skier heute morgen extra nochmal gewachst. Und jetzt ab mit dir.“

„Ahhhhhhhhh!“

MiniKrimi Adventskalender am 19. Dezember


In der Kürze liegt die Würze. Oder Mut zur Lücke? Vielleicht möchte ich aber auch nur einmal einen MiniKrimi OHNE Tippfehler veröffentlichen?

Alles und nichts von alledem. Heute Morgen las ich auf einer FB-Gruppe (für Krimi Autor*innen), deren Mitglied ich bin, folgende Tagesaufgabe: Minikrimi mit Handycap: max 30 Worte und keines darf 2x vorkommen.

Gesagt, getan. Ja, ich kann auch kurz und kürzer. Und Ihr freut Euch vielleicht, dass Ihr heute nicht so lange auf das Krimi Türchen warten müsst und schneller ins Bett kommt. Oder zu den noch nicht erledigten Vorweihnachtsaufgaben.

Et voilà. Der Titel wird übrigens nicht mitgezählt. Ebensowenig wie die Anführungszeichen.

Date à la carte

„Schatzi, wir ham nur noch eine Keule inner Truhe. Du musst wieder in die Dating App. Such diesmal aber bitte was mit mehr Fleisch auf den Rippen aus.“

MiniKrimi Adventskalender am 16. Dezember


Nach einem tollen „Not only Christmas“ Jazzkonzert mit dem zaberhaften Damen-Quartett Jeann d’Azz bleibt, um den heutigen MiniKrimi zu veröffentlichen, nur noch Zeit für den Griff in die Vergangenheit. Aber ich hoffe, dabei kommen auch meine hessischen Leser*innen auf ihre Kosten. Womit wir schon beim Thema wären:

Todeshappen

Alf trug sein Moleskin immer griffbereit entweder in der Jackentasche oder, falls er auf Reisen war, im Rollkoffer bei sich. Denn die besten Einfälle kommen unbemerkt und schleichen sie auf leisen Sohlen schnell wieder davon, wie professionelle Einbrecher, davon war er überzeugt. Eigentlich hatte er nur seinem Ärger über den Service und das kalte Essen Luft machen wollen. Vielleicht – oder vor allem – auch seinem Frust über das verpatzte Wiedersehen mit Carla unmittelbar vor diesem schicksalhaften Restaurantbesuch. Wie auch immer: aus den Notizen, die er zwischen versalzenen Horsd’oeuvres und dem, von einer schlecht gelaunten und noch schlechter ausgebildeten Bedienung auf den Tisch geknallten, lauwarmen Hauptgang auf eine Moleskin-Seite gekritzelt hatte, wurde ein Beststeller. Sein ganz großer Wurf. Ein Gourmet-Krimi, der Alf von den untersten Regalen billiger Bahnhofs-Büchermarktketten in die Primezone renommierter Buchläden katapultierte.

Alf signierte, Alf las, Alf dinierte – auf Kosten von Verlegern und Restaurateuren, die sich im Schatten seines Romans etwas Ruhm erhofften. „Alf P. hat bei uns gespeist, es hat ihm vortrefflich gemundet, sein Moleskin lag die ganze Zeit geschlossen neben seinem Teller.“ Nachdem auch die dritte Auflage von „Mord aus kulinarischen Motiven“ vergriffen war, arbeitete Alf an einer Fortsetzung mit dem Arbeitstitel „Rache ist Blutwurst“. Dafür schlug er sich durch die Imbissbuden der Nation. Warum, das wusste er selbst nicht so genau. Vielleicht war er die vielen Sternemenüs leid, die er, wenn auch kostenfrei, hatte verdauen müssen. Vielleicht hoffte er aber auch, bei seinen Streifzügen durch die Stehgastronomie Carla wieder zu treffen, die als Kommissarin sicher an irgendeinem dieser Stände irgendwo in Deutschland ihre mittägliche Currywurst verzehrte – denn diese Essgewohnheit hatte Alf aus den unzähligen Krimiserien im deutschen Fernsehen verinnerlicht.

Und so stand er nun an einem regnerischen Wintertag am Mainkai unter einem triefenden Sonnenschirm mit „Binding-Bier“-Werbung, starrte auf die Frankfurter „Mainhatten-Skyline“ und sinnierte darüber, wie er seinen Buchtitel mit der Standard-Speisekarte einer Imbissbude in Einklang bringen konnte. Denn leider hatte er bislang keine gefunden, die außer Curry- und Rot-, Thüringer und grober, ja sogar Veggie Bratwurst auch Blutwurst im Angebot hatte.

Zu blöd, dachte Alf. Zückte sein Moleskin und schickte sich an, die Imbissbude am Mainkai in bösen Stichworten zu verewigen. Matschige Pommes, ein Haar im Curryketchup. Dass es sein eigenes war, kümmert ihn wenig. „Alles gut, der Herr?“, säuselte die ölige Stimme des Budenbesitzers zu ihm herüber. „Wolle Se ’n Schnäppsche zum Runnerspüle?“

Alf dreht sich halb zu dem dreisten Mann um. Offenbar wusste der nicht, wen er da vor sich hatte. Oder doch? „Komme Se, Herr P.“, sagte der Mann doch jetzt und kam mit einem Schnapsglas in der Hand aus seinem Wagen zu Alf an den Stehtisch. „Den werde Se brauche, dann tut des net gar so weh, in Ihre letzte Minute“. Gerade als Alf anfangen wollte, sich zu fragen, was der Mann mit diesem kryptischen Satz wohl meinen könnte, traf die erste Schmerzwelle seinen Magen wie eine Attacke mit japanischen Küchenmessern.

Alf zuckte zusammen, krümmte sich und sackte schließlich am Tisch hinab in den schlammigen Boden. Regen fiel kühl auf seinen plötzlich glühend heißen Nacken. „Nur damit Se wisse, warum Se jetzt den Löffel abgebbe“, fuhr der Imbissbuden-Besitzer in freundlichem Plauderton fort. „Nach Ihrem Bestseller-Buch hat bei mir keiner mehr esse wolle. Nach em halbe Jahr war isch pleite. Die Imbissbude is alles, was isch noch hab, als Existenz. Und jetzt wolle Sie mir die aanoch wegnemme? Ebbe reischts.“

Das letzte, was Alf aus seinem Autorenleben mitnahm, war der Geschmack nach ranzigem, mit Blausäure vermischtem Fett im Gaumen.

MiniKrimi Adventskalender am 12. Dezember


Ein Mord, wie er im Buche steht

Er steht bereits eine ganze Weile vor dem öffentlichen Bücherschrank. Er wartet ohne das mindeste Zeichen von Ungeduld. Die Fußgängerampel an der Schleißheimer Straße wird rot und grün und wieder rot. Und grün. Er wippt auf den Ballen und macht einen Ausfallschritt in Richtung des riesigen Baustellenkraters, wo noch vor einem Jahr der Karstadt stand. Sic transit gloria mundi, denkt er, denn er hat einmal Latein gelernt. Bis zum Abitur. Und was hat ihm die Bldung gebracht? Sei nicht so ungerecht, weist er sich selbst zurecht. Ohne Bildung, Kultur und Bücherkenntnis könntest du diesen Job nicht machen. Und es ist keineswegs ein gewöhnlicher Job. Lukrativ ist er obendrein. Und er kostet ihn nicht einmal sonderlich viel Zeit. Nur Planung. Behutsamkeit. Umsicht. Und Konzentration.

Er entscheidet sich gegen den Wechsel der Straßenseite. Er schaut nach rechts, er schaut nach links. Der Platz ist menschenleer, keine Straßenbahn in Sicht, und auf seiner Fahrbahnseite stehen keine Autos an der Ampel. Er dreht sich abrupt um, schiebt die Glastür des öffentlichen Bücherschrankes auf und greift ganz gezielt nach einem Buch. Anna Karenina. Ein wahrhaft dicker Brocken. Wieder schaut er nach links und rechts, dann schreitet er gemessenen Schrittes davon, stadteinwärts die Elisabethstraße hinunter.

An der übernächsten Straßenecke öffnet er das Buch und entnimmt ihm einen dünnen Zettel mit einer aufgedruckten Adresse und dem Zusatz: Schlüssel unter der Restmülltonne. Warum immer die Restmülltonne? Dem nächsten Kunden wird er sagen, dass er die Papiertonne nehmen soll. Restmüll kostet in Zukunft 100 Euro extra.

Er geht ins Haus, öffnet die Tür und legt den Schlüssel gemäß der Anweisung auf das Sidebord im Eingang. „Johann, Johaaaannn, du warst aber lange weg, wo bleibt mein Kaffee? Soll ich den ewig warten?“, ruft eine schrill energische Stimme aus der Wohnungstiefe. Er antwortet nicht, das sei nicht nötig, hat sein Auftraggeber ihm erklärt.

Gleichgleichgleich kommt dein Kaffee, flüstert er. Und was für einer. Der ist einzigartig. Er geht in die Küche und macht sich an die Arbeit, misst ab, rührt, mixt. Dabei schaut er immer wieder in das Buch. Nur keinen Fehler machen, jetzt! „Fertig ist der caffé speciale nach Art des Hausherrn“, summt er vor sich hin und trägt die Tasse ins Wohnzimmer. „Das wurde aber auch Zeit“, schrillt die Stimme, und die Besitzerin greift nach dem Kaffee, ohne ihn, den Überbringer, auch nur anzuschauen. Auch das hatte ihm sein Auftraggeber vorab versichert.

Die übriggebliebenen Ingredientien steckt er in einen dünnen weißen Umschlag, auf den er vorab bereits ein Wort gedruckt hat: „erledigt.“ Auf ihn ist immer Verlass.

Am nächsten Tag steht er wieder eine ganze Weile vor dem Bücherschrank. Geduldig und ohne das geringste Anzeichen von Unruhe schaut sich um und vergewissert sich, dass ihm niemand gefolgt ist und ihn keiner beobachtet. Dann öffnet er die Glastür und stellt das Buch wieder hinein. An genau die Stelle, wo er es gestern rausgenommen hat. Er ist immerhin ein Profi. Auftragsbestätigung ist bei ihm Ehrensache.

Eigentlich müsste er der Stadt einen Dankesbrief schreiben. Anonym, aber trotzdem. Diese Bücherschränke sind die idealen Briefkästen. 100% anonym, versteht sich. Wie gut, dass die Stadtverwaltung fast in jedem Viertel einen aufgestellt hat.

Morgen geht’s nach Bogenhausen. Dort wartet Madame Bovary auf ihn.

MiniKrimi Adventskalender am 10. Dezember


Liebe im Winter

Über Nacht war es Winter geworden. Die Natur hatte sich der Sehnsucht der Menschen gebeugt und spiegelte endlich die Lieder wieder, die seit drei Wochen in vieler Munde und aller Ohren schwangen und sangen. Zuckerwatte auf den Ästen, die Hecken und Mauern trugen glitzernde Decken und alle Pfosten spitze weiße Hüte.

Inka, die das Adventswochenende bei ihren Eltern verbrach hatte, damit der Pflicht genüge getan und sie über Weihnachten von Familientreffen befreit war, hatte nur eines im Sinn: sie wollte so schnell wie möglich nach Hause. Zu Hause, das war eine verträumte Maisonette in einem modernisierten Jugendstilhaus am Rande des Glockenbach-Viertels. Unten waren Küche, Lounge und Inkas Raum. Oben auf der schmalen Galerie, die die gesamte Wohnung umrundete, breitete sich Ellas Reich aus, so bunt und üppig wie ihre blumige Persönlichkeit. Beim Einzug war Inka sofort klargewesen, dass sie die Wohnung nur so aufteilen konnten. Ella brauchte ein Wolkenkuckucksheim, um ihren Gedanken Form zu geben. Sie brauchte Licht, um sie auf die Leinwand zu bannen. Wobei bannen das falsche Wort war. Sie brachte die Leinwand mit kraftvoll strahlenden Farben zum Leuchten, zum Vibrieren, und keiner, der ein Bild von Ella sah, konnte dem Impuls widerstehen, zu schweben. Trotzdem verkaufte sie selten ein Bild. Sie war keine Verhandlungskünstlerin. „Ich bin doch nur unteres Mittelmaß“, sagte sie, wenn wieder ein Austellungstraum geplatzt war. Aber Inka wusste es besser. Es musste nur der richtige Mensch kommen, einer mit einer ganz besonderen Seele. In der Zwischenzeit stapelten sich die Bilder an den Wänden der Galerie entlang.

„Ella, bin wieder daaaa!“, rief Inka, während sie den Schlüssel abzog und ihren Rollkoffer in den kleinen Flur schob. „Ella?“ Komisch. Um diese Zeit war ihre Mitbewohnerin eigentlich gerade erst aufgewacht und versuchte, mit einer großen Portion Koffein die Traumweben aus dem Kopf zu verscheuchen. Ah, wahrscheinlich saß sie oben im Wintergarten und genoss zum Frühstück den Ausblick auf den plätschernden Glockenbach und seine verschneiten, efeudurchfurchten Ufer. Durch die gotischen Fenster streute die Wintersonne breite Strahlen von der Galerie hinunter in die Lounge.

Jedes Mal, wenn Inka die Wohnung betrat, fühlte sie sich so wohl, dass es schmerzte und sie befürchtete, es müsse gleich ein Unglück geschehen, weil so viel Freude zuviel Freude für einen einzigen Menschen war. Aber sie war ja nicht allein. Sie genossen dieses Glücksgefühl zu zweit. Auch ein Jahr nach ihrem Einzug konnte Inka die Verkettung von Zufällen nicht fassen, die sie und Ella in dieser WG zusammen gebracht hatte. Beide auf Wohnungssuche, beide verliebt in die Maisonette, beide realistisch genug, um zu wissen, dass sie den Preis dafür alleine nicht zahlen konnten. Bis der Makler beiläufg erklärte: „Sie müssen natürlich beide im Mietvertrag stehen, aber das ist ja selbstverständlich. “ Er hatte gedacht – ja, was?

Ein Jahr später waren Inka und Ella nicht nur Mitbewohnerinnen, sondern Freundinnen geworden. Gegensätze ziehen sich an, sagt der Volksmund, auf den weder Ella und noch Inka etwas gaben. Und trotzdem: die Malerin und die Bankerin harmonierten wie die zwei Seiten einer Medaille. Sie verstanden sich so gut, dass sogar ihre Freundeskreise zu einem einzigen verschmolzen.

„Ella, bist du im Bad?“ Inka meinte, Wasserrauschen zu hören. Eigentlich badete Ella meist am Abend. Aber wer weiß, vielleicht war sie gestern nach dem Termin zu müde gewesen. Ein wichtiger Termin mit einem jungen Galeristen, der Interesse an Ellas Bildern gezeigt hatte. Sie wollten Details einer Ausstellung im Frühjahr besprechen. In Wien! Inka hatte den ganzen Abend und die halbe Nacht hindurch immer wieder auf ihr Handy geschaut und auf eine Nachricht von Ella gewartet. Aber naja, wer weiß, vielleicht hatte sie keine Zeit zum Texten gehabt. Vielleicht war sie nicht alleine gewesen. Bei diesem Gedanken spürte Inka einen Stich dort, wo sie ihr Herz verortete. Sie waren gute Freundinnen. Beste, vielleicht sogar. Aber nicht mehr. Nein! Und dennoch: Inka wollte sich nicht vorstellen, was Ella mit dem Galeristen getan haben könnte. Basta.

„Ella!“ Inka lief die Treppe zur Galerie hinauf. Was war das? Die Stufen waren nass? Jetzt erst sah sie, dass der Teppich in der Lounge offenbar durchtränkt war. Sie eilte ins Bad. Das Wasser lief in die Wanne und über den Rand, die Fliesen entlang, in den Flur und die Treppe hinunter. Und in der Wanne lag Ella. Bleich und mit aufgeschnittenen Pulsadern. Längs.

Nach dem ersten Schock war Inka sofort klar, was passiert sein musste. Der Galerist! Irgend etwas musste bei dem Treffen gestern schiefgelaufen sein. Inka lief zum karmesinroten Sofa, das den Mittelpunkt der Galerie bildete. Beschattet von einem smaragdgrünen Baldachin und mit ungezählten Kissen in safran, orange, pink und blau. Aber statt mit einladenden Polstern war das Sofa jetzt mit Ellas Bildern übersät, mit verstümmelten, zerstörten Kunstwerken. Zerschnittene Leinwände hingen lose an zerbrochenen Rahmen. Einige davon waren sogar verkohlt. Verkohlt? Tatsächlich, in dem großen Glasaschenbecher, in dem Ella normalerweise Räucherkegel abbrante, lagen fünf Zigarettenstummel.

Und darunter, halb unter dem Sofa versteckt, ein goldener Manschettenknopf. Unfassbar! Es musste zum Streit gekommen sein, warum auch immer. Dann hatte der Mann Ella ermordet. Ob kaltblütig oder im Affekt, das sollte die Polizei herausfinden. Jedenfalls hatte er alles getan, um Ellas Tod wie Selbstmord aussehen zu lassen. Ella und Selbstmord! Inka wusste natürlich, dass allein die Vorstellung absurd war. Aber sie würde schon dafür sorgen, dass die Ermittlungen in die richtige Richtung liefen und zur Festnahme des Mörders führten.

Inka ging in ihr Zimmer. Bevor sie die Polizei rief, setzte sie sich auf ihr Bett und zwang sich, zur Ruhe zu kommen. Sie musste jetzt alle fünf oder besser noch sieben Sinne beisammen haben.

Die Kriminalbeamten waren sehr nett. Sie hörten Inka aufmerksam zu, nahmen die Beweismittel – Zigarettenstummel und Manschettenknopf – an sich und versicherten Inka, alles Nötige zu tun, um den Fall schnell abzuschließen. Ella war jetzt kein Mensch mehr, kein pulsierendes, vibrierendes lebendiges Wesen. Sie war ein Falll. Das war alles SEINE Schuld. Und das sollte er büßen!

Eine Woche lang hörte Inka nichts von der Polizei. Sie rief täglich an, doch die „Kollegen“ waren nie für sie zu sprechen.

Eines Abends, Inka saß mit hochgezogenen Knien auf Ellas Sofa und starrte in die immer noch magisch weiße Winterwelt, klingelte es an der Tür.

„Frau Behrens, dürfen wir reinkommen?“ „Ja, natürlich! Endlich! Sie haben „den Fall“ abgeschlossen? Hat er gestanden?“

Frau Behrens, leider müssen wir sie bitten, mit aufs Kommissariat zu kommen.“ „Wie bitte? Ich? Warum?“ „Das erklären wir Ihnen dann alles genau. Möchten Sie einen Anwalt oder eine Anwältin hinzuziehen?“

Wie eine Marionette ließ Inka sich von den Beamten aus der Wohnung begleiten, in den Fahrstuhl, auf die Straße und in ihr wartendes Auto. Im Kommissariat saßen sie an einem Metalltisch, um sie herum Technik und grelles Licht.

„Frau Behrens, haben Sie Ihre Freundin ermordet?“ „WAS?“ Schlagartig war Inkas Lethargie verflogen. „Was fällt Ihnen ein? Ich soll Ella ermordet haben? Was für ein Schwachsinn. ich habe sie geliebt! Wir haben uns geliebt!“ So. Jetzt hatte sie es gesagt. Zum ersten Mal. Aber zu spät.

„Frau Behrens, die Sache kann sich nicht so abgespielt haben, wie Sie sie uns geschildert haben. Zum Zeitpunkt, als Frau Bach starb, war Herr Walter, der Galerist, nicht mehr in ihrer Wohnung, sondern bei seinem Freund, wo er übrigens auch übernachtet hat. Er kann es also nicht gewesen sein. Aber Sie haben Beweismittel unterschlagen.

„Ich habe was?“ Der Kommissar öffnete die Akte auf dem Tisch und entnahm ihr eine Plastikhülle. Darin lag ein Stück Papier. Löschpapier.

„Ihre Freundin hat mit Tinte auf Papier geschrieben, eine Seltenheit, heutzutage. Und dann hat sie das Geschriebene auch noch mit Löschpapier getrocknet. Unseren Spezialisten ist es gelungen, den Inhalt des Briefes wiederherzustellen. Er war für sie. Ich denke mal, Sie haben ihn in Ihrem Zimmer gefunden. Und in Ihrer Trauer und Ihrer Wut haben Sie beschlossen. sich an Walter zu rächen und ihm den Selbstmord Ihrer Freundin als Mord in die Schule zu schieben.

Soll ich Ihnen den Brief vorlesen?“

„Nicht nötig,“ flüsterte Inka unter Tränen. „Aber er hat sie umgebracht. Indirekt. Er ist Schuld an ihrem Tod. Er hat mir Ella weggenommen. Mir und der ganzen Welt. Ich wollte, dass er leidet. Es geschieht ihm Recht.“

Ellas Abschiedsbrief:

Liebste Inka,
bitte, du darfst nicht erschrecken, wenn ich dich so nenne. Ich habe das nie gemacht. Aber du bist für mich viel mehr als „nur“ eine Freundin. Ich…. liebe dich. Und ich hoffe, ich spüre, du liebst mich auch. Wie traurig das Leben ist! Was hätten wir beide zusammen alles erleben können. Aber ich kann nicht mehr. Die Ausstellung im Frühjahr war meine letzte Hoffnung. Die Brücke zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Aber als Walter meine Bilder sah, sagte er, das sei gefällge Kunst.Schön und bunt. Aber in seiner Galerie stellt er nur große Talente aus. Meine Bilder seien gutes Handwerk, aber nicht genial. Und als ob er mich damit nicht schon genug gedemütigt hätte, bot er mir einen „Deal“ an. Weil er mich nett fand. Ich sollte mit ihm ins Bett gehen. Eigentlich bevorzugt er Männer, aber bei mir würde er gerne eine Ausnahme machen. Und dann könnten wir nochmal über die Ausstellung sprechen.

Liebe Inka,. du kannst dir das wahrscheinlich nicht vorstellen, aber da bin ich ausgerastet. Ich habe ihn an seinem Ärmel vom Sofa hochgerissen und praktisch die Treppe runtergestoßen.

Als die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel, bin ich ins Bad gegangen. Die Wanne ist jetzt voll. Ich lege mich hinein. Bitte verzeih mir, aber ohne meine Kunst kann ich nicht leben. Und ohne dich auch nicht.

Leb wohl.

MiniKrimi Adventskalender am 9. Dezember


Diesen kurzen MiniKrimi habe ich schon 2014 geschrieben und heute nur etwas aufgepeppt. Er passt zum Münchenhimmel, heute, grau und schneebeladen, ahnungsvoll.

Luise und die Elster

Was ist passiert?

Benommen schaut Thea sich um. Das Zimmer dreht sich um seine eigene Achse, und sie lehnt sich an die Wand, um nicht umzukippen.

Wie ist sie hierhergekommen? Eben noch kauerte sie auf dem Kiesboden vor den Stufen, die zur großen, dunklen Haustür führen, und kramte vergeblich in ihrer Handtasche nach dem Schlüsselbund. Thea hat die Villa von ihrer Großmutter geerbt, vor knapp einem Monat. Sie soll darin wohnen, das war Großmutters Wunsch. Aber sie ist sich noch nicht sicher, wie sie sich entscheiden wird. Alles ist so fremd, riesengroß, düster und bedrohlich, wie in einer Geschichte von Edgar Allen Poe.

Aber es war eine Elster, kein Rabe, die sie vom bröckelnden Fenstersims aus argwöhnisch beobachtete, bevor sie ihr ein paar gekrächzte Laute hinunterwarf und, als Thea nicht reagierte, energisch das schwarze Federköpfchen schüttelte. Zu spät.

Thea wurde schwarz vor Augen.

Und jetzt steht sie in einem ihr fremden und gleichzeitig entfernt vertrauten Raum. Ein Ankleidezimmer, ganz offensichtlich. In ordentlichen Reihen hängen altmodische Anzüge und Hemden, gegenüber Kleider im Stil der sechziger Jahre, allesamt schwarz. Pullover und Blusen, Socken und Schuhe, alles säuberlich eingeräumt. Es riecht nach Lavendel und Mottenpulver.

Was mache ich hier, fragt sie sich. Da rascheln die Kleider wie von einem plötzlichen Windstoß bewegt, die Röcke schwingen und die Schuhe klappern mit den Absätzen. „Finde die Wahrheit. Tu es für mich“, flüstert die Luft. Ein Nerzmantel schüttelt sich heftig, und aus seinen Falten weht ein kleines Foto heraus. Ein junges Mädchen mit frischem Gesicht, roten Locken und einem adretten Dienstmädchen-Häubchen. Das Foto ist schwarz umrandet, so, wie es früher bei Traueranzeigen üblich war. Luise, 1965, steht auf der Rückseite.

Thea öffnet die Verbindungstür, die zu einem Schlafzimmer führt, und da steht sie . Luise. Das Dienstmädchen-Häubchen liegt am Boden, eine Kaskade roter Locken fällt in rhythmischen Schlägen weich gegen ihren rosigen Rücken. Zwei Hände umklammern ihre nackten Pobacken, und ein Schopf braungrauer Haare schmiegt sich an ihren Hals. Ist es das, was ich sehen soll? Ein lautes, befriedigtes Stöhnen, Schopf und Hände lösen sich von dem Frauenkörper. „Zieh dich an und sag meiner Frau, meine Migräne sei besser geworden, dank ihres Kaffees, und dass ich gleich unten bin.“ Der Mann, der Theas Großvater war, geht in’s Badezimmer und erfrischt sein Gesicht mit Wasser und Parfum. Sie erkennt den Duft ihrer Kindertage. Eine Mischung aus Moschus, Tabak und Zufriedenheit.

Im Schlafzimmer zieht Luise sich die Kleider hoch und steckt die Haare unter das Häubchen. Sie geht zum Fenster und macht es weit auf, beide Flügel. Beugt sich hinaus in die Nacht, hebt das Gesicht zu den Sternen. Was sie wohl denkt? Thea, die unsichtbare Zuschauerin, spürt einen Lufthauch und sieht einen Schatten ins Schlafzimmer gleiten. Schwarze Schwingen erheben sich lautlos hinter Luise, und wie von selbst fällt das Mädchen aus dem Fenster. Der Sturz an sich wäre kaum tödlich gewesen, hätte nicht gerade dort eine Sense an der Hauswand gelehnt, die Klinge nach oben gerichtet.

Ein leises Seufzen, voller Schmerz und Zufriedenheit. Kommt es aus Luises Mund? Oder von dem Wesen in schwarz., das sich aus dem Fenster lehnt und in die Dunkelheit hinunterschaut?

So, denkt Thea. Nun weiß ich also, dass mein Großvater ein Schürzenjäger und meine Großmutter eine Mörderin war.

Und jetzt? „Nichts, es genügt mir, dass es jemanden gibt, der weiß, wie ich wirklich gestorben bin“, flüstert es aus der Kastanie im Hof.

Thea schließt die Augen,. Einen Moment? Eine Stunde? Als sie sie wieder öffnet, kauert sie auf der obersten Steinstufe der alten Familienvilla, in die sie bald einziehen wird. Das weiß sie jetzt. Denn das Unheimliche ist einem Gefühl tiefen Friedens gewichen, so, wie ein Gewitterhimmel, der nach dem Sturm wieder leuchtend blau strahlt.

Über ihr krächzt eine Elster. Ein Windstoß weht ihr in einem leuchtenden Blätterbüschel den Schlüsselbund vor die Füße.

MiniKrimi Adventskalender am 6. Dezember


Liebe Leser*innen, bitte nehmt mir die Fehler in diesem Minikrimi nicht übel. Ich habe mein Daumengrundgelenk überstrapaziert – und mit Schiene und Schmerzen schreibt es sich schlecht.

Herzlichen Dank dem Ideengeber für den heutigen Nikolauskriimi. Ich kenne ihn, aber er hat mich gebeten, anonym zu bleiben. Völlig unnötigerweise, denn die Idee ist doch charmant, oder?

Showdown

„Ok. Du kriegst eine allerletzte Fristverlängerung. Spätestens heute Abend um zehn hast du die Kohle zusammen. Wenn nicht, mach ich dich fertig. Als erstes ist dein Köter dran. Und dann deine Tochter…“

„Cleo! Um Himmels willen. Sie ist doch noch ein Kind. Und was kann Julius dafür, dass ich in letzter Zeit so eine Pechssträhne hatte?“

„Vielleicht hättest du den Dackel an den Pokertisch setzen sollen. Schlechter als du hätte er bestimmt nicht gespielt. Also. Heute Abend zehn Uhr im Club. Oder Julius frisst Rattengift.“

Ehe Olaf reagieren kann, bückt sich der Spielschuldeneintreiber, klemmt sich Dackel Julius unter den Arm und springt in die schwarze Limousine, die mit laufendem Motor am Straßenrand auf ihn gewartet hat.

Olaf ist verzweifelt. Wie konnte es nur so weit kommen? Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen. Die Pandemie hat Olafs feines, aber kleines Herrenbekleidungsgeschäft an den Rand des Ruins gebracht. Monatelange Schließung, und als er wieder öffnen durfte, hatten die meisten Kunden sich das Nötige und dazu noch eine Menge unnötige Kleidungsstücke im Internet besorgt.

Aber die Ausgaben waren geblieben. Und ein zehnjähriges Mädchen im Homeschooling bei Laune zu halten war auch nicht billig. Olaf gab Unsummen für Hard- und Software aus. Und weil sie immer zu Hause waren, besuchte seine Frau einen Online-Gourmet-Kochkurs bei einem ebensp guten wie gewieften und teuren Sternekoch. Der ihr bis heute die extravagantesten Zutaten ins Haus liefert.

Irgendwann wusste Olaf nicht mehr, woher er das Geld für die Miete von Haus und Geschäft nehmen sollte. Entgegen seiner Gewohnheit ging er in einen Club, den ihm ein Kunde empfohlen hatte. Dort trank er einen Whiskey, dann noch einen, und sann auf einen Ausweg aus seinem finanziellen Dilemma.

Da geschah es. Wie ein Deus ex machina war ein Mann auf ihn zugekommen und hatte ihn gefragt, ob er einspringen könne, am Pokertisch. Ein Spieler sei ausgefallen.

Olaf hatte in früheren Jahren gerne und, so meinte er sich whiskeymutig zu erinnern, gut gespielt. Er nach diesem Strohlhalm wie ein Ertrinkender. Dabei unterließ er es , ein paar nicht ganz unwichtige Fragen zu stellen. Etwa, ob dieses Pokerspiel mit dem Gesetz im Einklang war. Oder warum gerade er gerade jetzt gefragt wurde. Und wer die Leute waren, die ihn so nonchalant einluden.

Heut ist Olaf schlauer. „Ich hätte mich nie darauf einlassen sollen“, denkt er. Aber am Anfang lief alles so gut. Er hatte eine Glückssträhne und gewann so viel, dass er einen Monat lang endlich wieder ohne Geldsorgen einschlafen konnte. Er hatte sogar Frau und Tochter mit einem Spontanurlaub nach Mallorca überraschen können.

Doch nach dem Glück kam, natürlich, das Pech. Und jetzt sitzt ihm der Spielschuldeneintreiber im Nacken. Und wenn ihm bis heute Abend nichts einfällt, wird Julius sterben. Julius, der kleine, flinke, pfiffige Kaninchendackel!

Selbstmord ist keine Lösung, denn die Lebensversicherung hat er schon letzten Monat aufgelöst. Verzweifelt starrt Olaf auf den weihnachtlich beleuchteten Marktplatz. Draußen vor dem Weihnachtsbaum steht ein Nikolaus und verteilt kleine Geschenke an die Passanten. Da kommt ein zweiter hinzu. Und ein dritter.

„Heute ist Nikolaustag“, erinnert sich Olaf. Und seine verzweifelten Gedanken formen sich zu einer Idee.

In der AgipTankstelle am Reuterring steht Jo fassungslos vor einem Riesenkarton mit gerade angekommenen Süßigkeiten. Genauer gesagt Tausende von Euro in kleinen Scheinen und glänzenden Münzen. Eigentlich hätten sie schon am Vormittag in die Regale einsortiert werden müssen. Aber der Lieferant hatte eine Panne, und jetzt soll Jo nicht nur die Kasse bedienen, Würstchen heiß machen und Cappucino servieren, sondern auch noch die gesamte Lieferung unterbringen. Und das alles für 520 Minijob-Euronen. „Echte Sch…“, flucht er und macht sich an die Arbeit.

Er hat gerade die Theke mit Euro-Koffern und Münzen-Dosen vollgehäuft, als er aus dem Augenwinkel etwas Rotes an die Kasse kommen sieht. „Augenblick, bin gleich bei Ihnen“, sagt Jo und denkt: Auch ein Nikolaus braucht scheinbar mal ne Kaffeepause. Dann doch lieber Schokomünzen sortieren, als im Schneeregen Hohoho rufen.

„Hände hoch, das ist ein Überfall. Her mit dem Geld. Alles hier in den Sack, aber schnel!, oder ich schieße!“ Der Nikolaus hält Jo mit der einen Hand eine Waffe entgegen und mit der anderen einen Sack. „Na, wird’s bald?“

Der macht das bestimmt zum ersten Mal, denkt Jo miiten in seinem Schrecken. Die Stimme zittert, und warum kneift er die Augen so zusammen? Jo will in die Kasse greifen – er wird bestimmt nicht sein Leben aufs Spiel setzen wegen ein paar Hundert Kröten, die ihm nicht gehören – aber der Nikolaus zischt: „Machen Sie schon. Packen Sie das ganze Geld da auf der Theke in den Sack, alle Dosen, und auch die Geldkoffer.“

Soll das ein Witz sein? Oder ist er in einer Sendung von Verstehen Sie Spaß? Egal. Jo packt das ganze Schokogeld in den Sack. Da fährt draußen eine Streife der PI 42 vor, die trinken hier um diese Zeit immer eine Cola und essen ne Bockwurst. Der Nikolaus erstarrt, entreißt Jo den Sack und stürmt aus dem Kassenraum. Dabei wirft er beinahe den Ständer mit den Nikolausruten um. Offensichtlich ist der arme Mann nicht nur verwirrt, sondern auch noch extrem kurzsichtig.

Es dauert einige Minuten, bis Jo sich von seinem Lachanfall erholt hat. Schock, Erleichterung und die Komik der Situation sind zuviel für den jungen Mann.

Inzwischen hat Olaf das Nikolauskostum aus und seine starke Brille wieder angezogen und fährt, so schnell er sich traut, zum Club. Drinnen wirft er dem Eintreiber den Sack vor die Füße. „Hier hast du das Geld. Und jetzt gib mir meinen Hund zurück!“

Julius hat die Stimme seines Herrn gehört und kommt aus dem Hinterzimmer gesaust. Dann bleibt er wie angewurzelt stehen, hin und hergerissen zwischen der Wiedersehensfreude und dem spannenden Duft, der ihm aus dem Sack entgegenweht. Das riecht ja wie….

„SCHOKOLADE! Du Idiot hast einen Sack Schokogeld geklaut!“ Außer sich vor Wut stürzt sich der Eintreiber auf den zitternden Olaf. Dabei stampft er mit beiden Füßen auf dem Sack herum, dass die Schokolade nur so aus der Verpackung spritzt.

Das ist zuviel für Julius. Ob er seinen Besitzer verteidigen oder die Zerstörung seiner Beute verhindern will? Wir werden es nie erfahren, denn in diesem Momeht betrifft die Streife der PI 42 den Raum…..

Lokalnachrichten vom 6 .12.2022: Heute Abend kurz nach 21 Uhr konnte eine Polizeistreife einen Schuldeneintreiber-Ring sprengen. Die Beamten verfolgten einen Räuber, der, mit einer Spielzeugpistole bewaffnet, in der Tankstelle am Reuterring Schokogeld im Wert von 200 Euro erbeutet hatte. Dieser führte sie zu einem Club, der schon länger polizeilich beobachtet wurde. Angeblich seien der Schokodieb und sein Hund, ein Kaninchendackel, maßgeblich an der Festnahme der Kriminellen beteiigt gewesen, was sich strafmindernd auswirken soll. Der Tankstellenbesitzer verzichtet auf eine Anzeige.

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