MiniKrimi Adventskalender am 12. Dezember


Ein Mord, wie er im Buche steht

Er steht bereits eine ganze Weile vor dem öffentlichen Bücherschrank. Er wartet ohne das mindeste Zeichen von Ungeduld. Die Fußgängerampel an der Schleißheimer Straße wird rot und grün und wieder rot. Und grün. Er wippt auf den Ballen und macht einen Ausfallschritt in Richtung des riesigen Baustellenkraters, wo noch vor einem Jahr der Karstadt stand. Sic transit gloria mundi, denkt er, denn er hat einmal Latein gelernt. Bis zum Abitur. Und was hat ihm die Bldung gebracht? Sei nicht so ungerecht, weist er sich selbst zurecht. Ohne Bildung, Kultur und Bücherkenntnis könntest du diesen Job nicht machen. Und es ist keineswegs ein gewöhnlicher Job. Lukrativ ist er obendrein. Und er kostet ihn nicht einmal sonderlich viel Zeit. Nur Planung. Behutsamkeit. Umsicht. Und Konzentration.

Er entscheidet sich gegen den Wechsel der Straßenseite. Er schaut nach rechts, er schaut nach links. Der Platz ist menschenleer, keine Straßenbahn in Sicht, und auf seiner Fahrbahnseite stehen keine Autos an der Ampel. Er dreht sich abrupt um, schiebt die Glastür des öffentlichen Bücherschrankes auf und greift ganz gezielt nach einem Buch. Anna Karenina. Ein wahrhaft dicker Brocken. Wieder schaut er nach links und rechts, dann schreitet er gemessenen Schrittes davon, stadteinwärts die Elisabethstraße hinunter.

An der übernächsten Straßenecke öffnet er das Buch und entnimmt ihm einen dünnen Zettel mit einer aufgedruckten Adresse und dem Zusatz: Schlüssel unter der Restmülltonne. Warum immer die Restmülltonne? Dem nächsten Kunden wird er sagen, dass er die Papiertonne nehmen soll. Restmüll kostet in Zukunft 100 Euro extra.

Er geht ins Haus, öffnet die Tür und legt den Schlüssel gemäß der Anweisung auf das Sidebord im Eingang. „Johann, Johaaaannn, du warst aber lange weg, wo bleibt mein Kaffee? Soll ich den ewig warten?“, ruft eine schrill energische Stimme aus der Wohnungstiefe. Er antwortet nicht, das sei nicht nötig, hat sein Auftraggeber ihm erklärt.

Gleichgleichgleich kommt dein Kaffee, flüstert er. Und was für einer. Der ist einzigartig. Er geht in die Küche und macht sich an die Arbeit, misst ab, rührt, mixt. Dabei schaut er immer wieder in das Buch. Nur keinen Fehler machen, jetzt! „Fertig ist der caffé speciale nach Art des Hausherrn“, summt er vor sich hin und trägt die Tasse ins Wohnzimmer. „Das wurde aber auch Zeit“, schrillt die Stimme, und die Besitzerin greift nach dem Kaffee, ohne ihn, den Überbringer, auch nur anzuschauen. Auch das hatte ihm sein Auftraggeber vorab versichert.

Die übriggebliebenen Ingredientien steckt er in einen dünnen weißen Umschlag, auf den er vorab bereits ein Wort gedruckt hat: „erledigt.“ Auf ihn ist immer Verlass.

Am nächsten Tag steht er wieder eine ganze Weile vor dem Bücherschrank. Geduldig und ohne das geringste Anzeichen von Unruhe schaut sich um und vergewissert sich, dass ihm niemand gefolgt ist und ihn keiner beobachtet. Dann öffnet er die Glastür und stellt das Buch wieder hinein. An genau die Stelle, wo er es gestern rausgenommen hat. Er ist immerhin ein Profi. Auftragsbestätigung ist bei ihm Ehrensache.

Eigentlich müsste er der Stadt einen Dankesbrief schreiben. Anonym, aber trotzdem. Diese Bücherschränke sind die idealen Briefkästen. 100% anonym, versteht sich. Wie gut, dass die Stadtverwaltung fast in jedem Viertel einen aufgestellt hat.

Morgen geht’s nach Bogenhausen. Dort wartet Madame Bovary auf ihn.

Adventskalender MiniKrimi am 4. Dezember


Schatten der Nacht

„Das darf doch nicht wahr sein! Unser Weihnachtsessen können wir vergessen. Ab Mittwoch hat unser Landesdiktator 2G angeordnet. Das heißt, ich komme bei Luigi nicht mehr rein. Sag mal, merken die Leute nicht, was abgeht, in unserem Land? Und wir können NICHTS dagegen tun?!“

„Doch, Süße. Klar kannst du was dagegen tun. Lass dich impfen. Du weißt, ich habe eine Dosis Vakzin für dich im Kühlschrank. Und dann gönnen wir uns ein Menu vom Allerfeinsten!“ Astrid steht vom Sofa auf, geht die paar Schritte zum Esstisch, an dem Cora vor ihrem offenen Laptop sitzt, und legt die Arme um ihre Frau. Aber die Umarmung ist irgendwie steif, und Coras Oberkörper spannt sich bei der Berührung unwillkürlich an. 

„Das hättest du wohl gerne? Du weißt genau, dass ich das NIE tun werde. Mir eine Substanz ins Blut jagen zu lassen, vor der ich nicht weiß, woraus sie besteht und was sie mit mir macht.“

„Ich habe dir schon so oft erklärt, woraus die Vakzine bestehen. Und ich jage dir nichts ins Blut, sondern spritze es dir in den Muskel.“

„Egal, wohin. Das Zeug verändert die DNA, macht sie kaputt, und dann kriegst du Turbotumore. Schau, hier, lies. Das hat eine schwedische Ärztin veröffentlicht.“ Cora dreht den Laptop so, dass Astrid den Artikel lesen kann. Aber Astrid geht wortlos in die Küche.

Sie lässt Leitungswasser in den Alessikocher laufen. „Willst du auch einen Tee?“ 

„Ja, aber bitte nimm das Filterwasser aus der Flasche mit den rosa Steinen. Du weißt doch, oder nein, wir wissen eben nicht, was da wirklich aus der Leitung kommt.“

„Oh Mann, wann haben die dir bloß so ins Hirn geschissen?“, murmelt Astrid. Ja, seit wann ist Cora so? So… misstrauisch. Ängstlich. Aluhutig. Wann hat Cora aufgehört, sich an Fakten zu orientieren? Ihr, Astrid, bei Inhalten Glauben zu schenken, die als Medizinerin zu ihrem Fachgebiet gehören, bei denen sie sich auskennt und immer auf dem Laufenden ist? ‚Seit wann können wir nicht mehr miteinander reden?‘


„Seit wann können wir eigentlich nicht mehr miteinander reden?“ Coras Stimme klingt brüchig, unsicher. Beinahe verzweifelt. 

Da ist sie doch noch, die alte Magie. Zwei Menschen ein Gedanke. ‚Ein Herz und eine Seele‘, haben sie früher gerufen, wenn sie beide im gleichen Moment das Gleiche gesagt haben. Und dann haben sie gelacht. Astrid lächelt. Hoffnungsvoll ordnet sie Tassen – eine mit Jiaogulan und eine mit Earl Gray – auf dem silbernen Tablett an, braunen Zucker und ein paar Haferkekse. „Doch, Liebes, das können wir noch. Wir müssen es nur wirklich wollen. Ein paar Schritte aufeinander zugehen, in Gedanken. Und auch so.“ Sie stellt das Tablett auf den Olivenholztisch und streift Coras blonden Kopf mit ihren Lippen, nur ganz leicht, bevor sie sich dazu setzt. 

„Ich bin so verzweifelt, Astrid“, flüstert Cora. 

„Das sehe ich doch. Wie kann ich helfen? Was kann ich tun, damit es dir besser geht? Du weißt, ich liebe dich.“

Coras kalte Finger legen sich auf Astrids Hand. Wie von ungefähr. „Nein, Astrid, bitte, nicht schon wieder. Nicht DU kannst mir helfen. Du musst dir von MIR helfen lassen. Mach die Augen auf. Mach Schluss mit der blinden Wissenschaftsgläubigkeit. Höre auf deine innere Kraft. Du musst dein Inneres Ich wieder stark machen. Nur so wirst du immun. Immer, wenn du abends aus der Praxis kommst, habe ich Angst. Um dich. Und um mich, dass du die Spike-Proteine an mich abgibst.“

„Cora, jetzt ist aber Schluss! Ich habe dir doch erklärt, dass das mit dem Impfstoff-Shedding totaler Blödsinn ist.“ „Ist es nicht. Warte – hier, gerade heute habe ich wieder darüber gelesen.“

Astrid nippt am Tee, verbrennt sich die Zunge, stellt die Tasse so abrupt auf den Tisch, dass der Inhalt überschwappt. „Cora – such‘ dir eine Beschäftigung! Geh raus. Ich kaufe uns einen Hund. Geh spazieren. Bring deine Internetseite auf Vordermann und verkaufe deine Sachen online, statt sie hinter geschlossenen Ladentüren zu stapeln. Aber hör auf zu brüten. DAS macht dich kaputt. Und mich. Und UNS!“

„Na klar – wenn dir die Argumente ausgehen, stellst du mich als dummen Depressivling hin. Als Loser. Aber das Gegenteil ist der Fall. Ich habe endlich Zeit, die Dinge zu hinterfragen. Unsere Gesellschaft. Die Politik. Das ganze kapitalgesteuerte System. Und ich bin sehr viel unterwegs. Im Internet UND draußen. Ich treffe sehr viele Menschen – und sie alle denken wie ich. Ich habe seit dem Lockdown sehr viel gelernt. Auch über dich, Astrid. Auch über dich. Du hast eine extrem negative Aura, gerade jetzt, wenn du mich so anstarrst.“ Sie zuckt zusammen. „Au! Da kriege ich gleich wieder diese Magenkrämpfe! Geh weg! Und lass mich bloß in Ruhe mit deiner Schulmedizin und deinen bescheuerten Tabletten.“

„Cora…“ Astrid seufzt. Schließt die Augen. Öffnet sie. Und sieht sich in einer Sackgasse stehen, mit dem Rücken zur Wand. „Ich geh joggen“, sagt sie.

Nach zwei Stunden im Wald fühlt sie sich frisch. Und hoffnungsvoll. Es muss eine Möglichkeit geben, ihre Beziehung zu retten. Sie muss es nur nochmal ernsthaft versuchen. Mit viel Sachlichkeit, Logik – und Liebe.

Die Wohnung ist dunkel. Cora liegt auf der Couch. ‚Sie schläft‘, denkt Astrid. Dann hört sie ein leises Stöhnen. „Cora!“ Die Haut der jungen Frau ist fahl, auf der Stirn steht kalter Schweiß. Cora atmet schwer, ihr Herz rast. „Liebes“, was ist passiert? Cora starrt sie aus weit aufgerissenen Augen an. Ihr Körper bäumt sich auf, Tee und Schaum fließen ihr aus dem Mund, darin eine Handvoll kleiner schwarzer Beeren. Mechanisch tastet Astrid die Couch unter Coras Körper ab. Und findet eine braune Tüte. „Schwarzer Nachtschatten – Heilung aus der Natur“, steht in geschwungener Handschrift darauf. Darunter: „Nur Gutes zu dir. Johann, Transhumanistische Gesellschaft.“

Astrid steht auf. Geht zum Telefon. Wählt die 112. Während sie mit ihrer Frau im Arm auf den Rettungswagen wartet, ertappt sie sich dabei, wie sie, die Naturwissenschaftlerin, leise betet, ohne zu wissen, zu wem. Aber sie ist mit ihrer Weisheit am Ende. 

Adventskalender MiniKrimi am 2. Dezember


Herr Qualkowitzer

An trüben Winternachmittagen besetzen die Schatten schon früh ihr kleines Zimmer. Sie nehmen von allem Besitz, was nicht aus sich heraus leuchten kann. Der Sekretär, die Kommode, das Klavier. Die einzelne Kerze auf dem kleinen Tisch kann nichts ausrichten gegen sie. Mara kauert mit hochgezogenen Knien im Ohrensessel. 

An Tagen wie diesem vermisst sie ihr Leben ganz besonders. Damals. Als ihr Vater ihr die Welt zu Füßen legte. Täglich von neuem. Als ihre Wünsche wahr wurden, kaum, dass sie sie ausgesprochen hatte. Damals gab es keine Schatten in ihrem Reich. Der Sekretär, die Kommode, das Klavier – sie leuchteten, und in ihrem Holz spiegelten sich die tanzenden Kerzen. 

Herr Qualkowitzer kam einmal im Monat. Aus seinem verbeulten, verkratzen geheimnisvollen Koffer holte er allerlei „Medizin“ für Maras Möbel heraus. Schellack in einer braunen Flasche, Bienenwachs in einer rostigen Dose, Rosenöl in einer kleinen Phiole. Er tränkte einen Lappen mit Schellack und rieb den Sekretär wie Aladins Wunderlampe. Kreisrunde Bewegungen, wieder und wieder. Bis das Holz glänzte und strahlte. Einmal klemmte die mittlere Schublade. Herr Qualkowitzer nahm ein dünnes Messer mit einer spitzen, scharfen Klinge und befreite eine braune Locke, die aus dem Geheimfach herauslugte und die Schublade verklemmt hatte. Mara schaute ihm aufmerksam zu und ahmte hinter seinem Rücken die kreisförmigen Bewegungen nach. Wieder und wieder. Als er auch die Kommode und das Klavier poliert hatte, packte Herr Qualkowitzer Lappen, Flaschen und Dosen wieder ein. Und ging.

Das Messer hatte Mara in ihrer Rocktasche verborgen. Falls sie mal etwas im Geheimfach verstecken wollte.

Der Vater starb und Mara heiratete Alexander. Doch schon bald nannte er sie nicht mehr „meine Prinzessin“, und er trug sie weder auf Händen noch legte er ihr eine Welt zu Füßen. Stattdessen setzte er sie ein paar Jahre nach der Hochzeit mit einem Koffer vor die Tür. Angeblich hatte er ihr gesamtes Vermögen verspekuliert. Sie kam in einem Mansardenzimmer unter, mitsamt dem Sekretär, der Kommode und dem Klavier. Mehr holte ihr Anwalt nicht aus Alexander heraus. 

Als Mara aus der psychiatrischen Klinik entlassen wurde, riet ihr Arzt ihr zu einer kleinen, leichten Beschäftigung, um wieder Fuß zu fassen. Das war das letzte, was Mara wollte. Aber sie fing an, im Villenviertel der Stadt Möbel zu polieren, mit kreisrunden Bewegungen. In den meisten Häusern wohnen inzwischen Fremde. Nur in der Villa ihres Vaters lebt jetzt Alexander. Die junge blonde Frau an der Tür ist begeistert. Dass es das heute noch gibt, wundert sie sich, während Maras Hände auf den modernen Holzmöbeln kreisen, wieder und wieder, wie die Krähen im bleiernen Himmel über den Bäumen im Park vor dem Haus. Alexanders neue Frau steht am Fenster und schaut hinaus. 

Herrn Qualkowitzers Messer ist scharf. Mara ist schnell. Die Frau sagt kein Wort. 

Bevor sie geht, schneidet Mara ihr eine blonde Locke ab. Sie weiß ein gutes Versteck dafür.

Minikrimi Adventskalender am 1. Dezember


Die lahme Ente

„Schatz, kommst du bitte? Das Essen ist fertig.“

„Einen Moment. Ich sitze gerade an der Schlüsselszene.“

„Liebling, vor einer Stunde habe ich dich gefragt, ob ich das Magret de Canard in den Ofen schieben kann. Ja, hast du gesagt.“

Elvira, bitte! Ich kann meinen Schreibflow doch nicht wegen einer lahmen Ente abwürgen.“

„Die Ente ist nicht lahm. Noch nicht. Aber wenn du jetzt nicht kommst, wird sie zäh.“

„Tja, du kannst eben nicht kochen, Elvira.“

„Und du kannst nicht schreiben. Wie lange dokterst du schon an diesem Showdown herum? Und nie kriegst du ihn hin. Du hast deinen Protagonisten inzwischen schon auf ein Dutzend Arten sterben lassen. Erschossen, erhängt, überfahren, vergiftet, von der Brücke gestoßen, erschlagen…“

„Und warum? Weil ich immer genau in dem Moment, in dem in mir das perfekte Szenario zu entstehen beginnt, DU reinplatzt und die kreative Magie zerstörst.“

„Natürlich, ich bin Schuld! Wer wollte denn heute Abend unbedingt Entenbrust essen? Zur „Steigerung der Kreativität“, übrigens…“

„Mag sein. Aber das war vor Stunden. Du hast wirklich keine Ahnung davon, wie ein Künstler tickt.“

„Nein, habe ich nicht. Ich habe nur Ahnung davon, wie ich auf höchst unkünstlerische Weise Geld für zwei verdiene, damit du bis in alle Ewigkeit dein unvollendetes Werk schreiben und dabei Ente essen kannst.“

„Elvira, du bist gewöhnlich! Und laut.“

„Und du bist ein Schmarotzer! Und beleidigend.“

„Wenn dieses Buch, dieses Werk alle Literaturpreise abräumt, dann wirst du vielleicht verstehen, worum es hier geht. Aber auch nur vielleicht…! Und jetzt lass mich in Ruhe mit deinem Gezeter. Geh und stopf dir die Ente in den Hals, meinetwegen.“

„Gute Idee.“

…..

…..

„Elvira? Elvira, was MACHST DU? Halt….mmmph…… arghhhhhh….. rrrrrrrr….. ahhhhhhh………“

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„Schon verrückt, dieser Roman. Und das Ende! Dem Protagonisten eine Entenbrust in den Rachen zu stopfen, bis er daran erstickt. Genial!“

„Schade, dass der Autor praktisch beim Schreiben gestorben ist. Woran eigentlich?“

„Das weiß man nicht so genau. Seine Witwe hat jedenfalls das große Los gezogen. Das Buch bringt soviel ein – die lebt ihr restliches Leben im Luxus. Sie soll übrigens Vegetarierin sein.“

Adventskalender Minikrimi am 17. Dezember


Foto: Bessi

Da ich momentan fast jeden Abend beruflich unterwegs bin, bin ich Birgit Schiche SEHR dankbar dafür, dass sie ihre minikriminalistische Ader entdeckt hat! Obwohl ich mit dem Mord an der süßen Katze nicht einverstanden bin….

Nachts sind alle Katzen grau

Die Nacht war vorbei, aber die Dunkelheit klebte noch am Morgen und wollte nicht weichen. Wie es eben so ist in den längsten Nächten des Jahres. Sie ließ sich davon nicht beirren und schlich vorsichtig, ganz vorsichtig durch das tote Laub, damit kein Rascheln sie verriet. Ihr Opfer ließ sie dabei nicht aus den Augen. Still verharrte sie und wartete auf den richtigen Moment. Ihr Opfer war völlig ahnungslos, doch Mitgefühl kannte sie nicht. Ein schneller Sprung, ein Biss, der Tod. 

Millie war eine gute Jägerin. Die getigerte Samtpfote brachte ihrem Herrchen immer wieder Beutetiere als Geschenk mit und legte sie ihm auf die Fußmatte vor der Terrassentür. Auch heute lief sie zufrieden mit der erbeuteten Kohlmeise zurück zu ihrem Zuhause.

„Verdammtes Katzenvieh!“, dachte Cora, die die Szene beobachtet hatte – nicht zum ersten Mal. Sie liebte die Natur und die kleinen Vögel und Eichhörnchen, die sie ganzjährig im hinteren Bereich ihres kleinen Gartens fütterte. Aber so sehr sie die Wildtiere liebte, so sehr hasste sie die Katze ihres Nachbarn, die eine ständige Bedrohung für die Kleintiere war. „Warum kann der Idiot seine Katze nicht einfach im Haus behalten“, schimpfte Cora, „Oder ganz abschaffen – das wäre das Beste!“ 

In ihr reifte eine Idee und für einen Moment lang sah ihre Mimik genauso aus wie vorher die der Katze nach einer erfolgreichen Jagd.

Robert liebte seine Millie, nur auf ihre Liebesgaben in Form toter Tiere hätte er gern verzichtet. Doch das gehört zur Natur der Katzen nun mal dazu, und die Samtpfoten trugen durch ihre Jagderfolge schließlich dazu bei, ein gesundes Gleichgewicht in der Natur zu erhalten, erbeuteten sie doch meistens schwache oder kranke Tiere. Und Millie war die liebste, klügste Katze überhaupt, man musste sie einfach gern haben. Robert dachte so wie jeder Haustierbesitzer und wie jedes Haustier es von seinem Herrchen bzw. Frauchen verdient hat.

Am nächsten Morgen lag keine Liebesgabe vor Roberts Terrassentür, und bis zum Mittag war auch Millie nicht aufgetaucht. Robert machte sich Sorgen. Am Abend fragte er überall in der Nachbarschaft herum, vergeblich. Am nächsten Tag lag seine Katze dann auf der Fußmatte. Tot, ganz steif, und mit Milchspuren rund um das Mäulchen. „Millie, nein!“, ihr Tod traf ihn tief und er weinte lange, bevor er sie in ein schönes Tuch wickelte und hinten im Garten begrub. Jemand hatte Millie vergiftet, das war klar. Und dafür kam auch nur eine in Frage, die immer schon gegen Katzen geschimpft, ja geradezu intrigiert hatte. Die Wut weckte seine Lebensgeister wieder. Damit würde er sie nicht durchkommen lassen.

Die Nacht war vorbei, aber die Dunkelheit klebte noch am Morgen und wollte nicht weichen. Trotzdem war Cora schon wach und ging, nur mit einem altmodischen Plüschbademantel und Pantoffeln bekleidet, nach hinten in ihren Garen, um die verschiedenen Vogelhäuschen mit Futter und Nüssen zu bestücken wie jeden Tag. 

Er ließ sich davon nicht beirren und schlich vorsichtig, ganz vorsichtig durch das tote Laub, damit kein Rascheln ihn verriet. Sein Opfer ließ er dabei nicht aus den Augen. Still verharrte er und wartete auf den richtigen Moment. Jetzt! Cora war abgelenkt und stand mit dem Rücken zu ihm. Er schlich leise wie auf Samtpfoten durch ihre Terrassentür hinein. Der Grundriss glich dem seines Hauses wie ein Ei dem anderen – sie lebten in einer Reihenhaussiedlung. Im Erdgeschoss gab es nur Wohnzimmer und Küche. Cora liebte es, auf ihrem Gasherd zu kochen. Und im Wohnzimmer hatte sie einen künstlichen Kamin, der über eine kleine Gasleitung entzündet wurde, daran konnte sich Robert von seinem ersten und einzigen Besuch noch erinnern. Damals war Cora gerade eingezogen, das musste wohl etwa ein Jahr her sein. Schnell drehte er sämtliche Gashebel auf. Cora würde gleich vor dem Kamin frühstücken, es war schon alles eingedeckt, perfekt. So unsichtbar wie Robert hereingeschlichen war, verschwand er auch wieder. Er würde heute ins Tierheim fahren und einer neuen Katze ein Zuhause schenken.

Blaulichtkegel kreisten und warfen flackernde Lichter an die Wände der Reihenhäuser, als er drei Stunden später zurückkam. Rettungssanitäter und Notarzt kamen gerade aus dem Haus. Der Körper auf der Trage war vollständig bedeckt. Ein Streifenwagen der Polizei traf gerade ein, um mit der Reinigungshilfe zu sprechen, die Cora tot aufgefunden hatte.

Am nächsten Morgen las Robert im Tageblatt, dass sich wieder einmal eine alleinstehende Person in der Adventszeit das Leben genommen hätte. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung nehmen sich tatsächlich relativ wenige Menschen in dieser Zeit das Leben, die meisten Suizide geschehen in der hellen, warmen Saison. Doch die arme Cora starb im Dezember.

„Cora!“, rief Robert einige Wochen später in seinen Garten hinein. Die kleine, dreifarbige Katze kam flink herbeigelaufen. Eine Glückskatze namens Cora, die hoffentlich lange leben würde.

Nebenan zog gerade eine neue Nachbarin in das frei gewordene Reihenhaus ein, die dritte alleinstehende Frau nach Millie Weber und Cora Neuhaus, seit Robert hier wohnte. Ob sie Katzen mochte?

5. Dezember: In einem kleinen Apfel…..


IMG039Auf der Ismaninger Straße in unmittelbarer Nähe vom Max-Weber-Platz reihen sich die kleinen Geschäfte aneinander. Der Schreibwaren-Lotto-Toto-Laden mit dem Geschenke-Eck, in dem selbst die Briefumschläge dezent nach Zigarettenrauch riechen. Der überteuerte Grieche mit den wie gemalt in der Auslage prangenden Pizzarädern, aus dessen enger Tür Sommer wie Winter die Mittagsgäste ihre verwartete Zeit  auf die Straße ergießen. Und der Gemüsetürke, eine breitgesichtige Frau und ihr untersetzter Mann, genauer gesagt. Vor der Tür sind exotische Früchte in Holzkisten drapiert, saisonale Blumenbüschel daneben. Jetzt eben grade Tannengestecke mit staubbeschichteten Christbaumkugeln. „Mei, die Türken halt, was sie so von Weihnachten wissen“, flüstern die Alten im Vorübergehen. Und Alte gehen viele vorüber. Vor mir wieder eine. Drahtig und ganz aufrecht, das schulterlange strohweiße Haar frisch gelegt. Ihre blaue Stoffhose aus den Siebzigern mit Schlag gut gepflegt, die Sportjacke ein modernes Outdoormodell. Wie auf einem Gleis gehend strebt sie dem Gemüseladen zu. Bleibt vor der Auslage ruckartig stehen. Zieht den Kopf ein, ich sehe es ganz deutlich, wie eine Schildkröte, die zum Angriff ansetzt oder zur Flucht nach innen. Ihre behandschuhten Finger schießen hervor, umklammern einen Apfel – wie der Greifarm in den Münzaquarien, die früher an jeder Raststätte standen, bunt gefüllt mit billigsten Plüschtieren. Blitzschnell steckt sie den Apfel in ihre Jackentasche. Steht wie angewurzelt und schraubt ihren Blick ins Innere des Ladens. Erst, als der Besitzer auf sie zu kommt, bewegt sie sich. Dreht sich um und läuft, nicht rennt, gemessenen Schrittes davon. „Halt, halt!“ ruft der Türke und springt auf den Bürgersteig,……

 

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