Adventskalender Minikrimi am 5. Dezember


Keine Wahl

Sie ist wach, lange, bevor der Wecker klingelt. Früher hat sie sich nach dem ersten „Kikerikiiii“ nochmal tief in die Daunen geschmiegt, und wenn Mami um sieben mit einer Tasse Kakao ins Zimmer kam und gut gelaunt rief „Sofia, aufstehen, der Morgen lacht!“, lugte nur die Nasenspitze aus der Decke hervor. Früher. Da hatte Sofia nie verstanden, wie Mami es schaffte, immer gut drauf zu sein. Sogar, wenn es draußen noch dunkel war, oder wenn sie einen tierisch ekligen Tag vor sich hatte, mit lauter unangenehmen Meetings und so. Jetzt kommt Mami morgens nie in ihr Zimmer, sondern liegt in unruhigem Medikamentenschlaf bis mittags im Bett.

Sofia schält sich aus der Decke – die Daunen sind in der Waschmaschine verklebt und hängen in Klumpen im Bettbezug. „Aufstehen, Simon, der Morgen lacht“, flüstert sie ihrem kleinen Bruder ins Ohr. Eigentlich nervt es sie, dass er in ihrem Bett schläft, aber jetzt im Winter wärmen sie sich so wenigstens gegenseitig. Und Simon braucht alle Wärme, die er kriegen kann, denkt Sofia. Zärtlich streicht sie ihm das schlaffeuchte Haar aus der Stirn. Blonde Locken, wie Papa. Papa. Sofia schluckt etwas herunter, was wie Tränen schmeckt. Aber sowas kann sie sich nicht leisten. Nicht mehr. Sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen.

Sofia ist erst dreizehn, doch seit ihr Vater vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist – „hit and run“ – heißt das in Amerika, ist sie es, die den Familienalltag am Laufen hält. So gut sie es eben kann. Die Mutter ist chronisch depressiv, zu Zeiten sogar suizidal. Wenn du kein Einkommen hast und keines verdienen kannst, geht der soziale Abstieg ganz schnell. Vaters Geld war in einem halben Jahr verbraucht. Haus und Möbel wurden versteigert, dann der Umzug in die Sozialwohnung.

Sofia hatte kein Problem damit, in eine neue Schule zu gehen, eine Gesamtschule, was anderes gibt es nicht in der Nähe. Die Freundschaften aus dem Mädchengymnasium hatte sie da bereits hinter sich gelassen. Du wirst uninteressant, wenn du nichts mitmachen kannst. Kein Shopping, keine Clubs, und nach den Ferien hast du keine Urlaubsabenteuer zu berichten, weder von den Seychellen noch vom Sprachkurs in England. Nein. Ganz so stimmte das nicht. Es gab da schon ein paar Mädchen, die nicht so waren. Die gerne weiter mit ihr befreundet gewesen wären, weil sie sich mochten. Aber Sofia hatte einen Schlussstrich unter ihr altes Leben gezogen. Und alle und alles hinter sich gelassen. Außerdem hat sie gar keine Zeit mehr für Freundschaften.

Schließlich muss sie sich nicht nur um Simon kümmern, sondern auch um ihre Mutter. „Mami, Simon braucht neue Schuhe“, hat sie erst gestern gesagt und versucht, die dicke Mauer aus Tabletten und Gleichgültigkeit zu durchdringen. „Mir geht’s grade nicht so gut, frag Papa“, war die Antwort.

Frag Papa. Was würde er machen? Er würde sich kümmern, eine Lösung finden. In diesem Fall wohl vor allem: Geld verdienen. Sofia ist dreizehn und geht noch zur Schule! Aber sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen.

In den letzten Wochen hat sie angefangen, in der Pause mit ein paar Typen aus ihrer Klasse rumzuhängen. Eigentlich, nachdem Mandy, sowas wie die Anführerin der Mädchen, versucht hatte, sie fertig zu machen. „Du glaubst wohl, du bist was besseres?“ „Du wohnst in genau so ner dreckigen Sozialwohnung wie wir, ich hab dich heimgehen sehen, du Lauch. Du Bitch, du bist so wack….“ Sofia hatte zwar nicht den Wortlaut verstanden, aber wohl die Absicht. Früher, da hatte Papa sie zum Muay Thai-Training gefahren („Ich fände Ballett ja besser, aber vielleicht musst du dich mal verteidigen können“). Genau. danke Papa. Mandy war zu Boden gegangen. Und Sofia hatte eine neue Clique.

Sie wollte es sich nicht eingestehen, aber die Bewunderung der Jungs tat ihr gut. Sie lernte, Zigaretten zu drehen und Shisha zu rauchen. Eines Tages schenkte ihr Ben einen Minirock aus Kunstleder und sagte: „Den hab ich für Dich gefunden. Mach dich schön, wir gehen zu ner Party, die is lit af.“ Sofia verstand, dass sie nicht nein sagen konnte. Schweren Herzens löste sie ein mini Stück von Mamis Schlaftabletten in Simons Saft auf, legte ihn ins Bett und ging. Ben hatte nicht zu viel versprochen. Die Party war „echt cool“, wie Sofia sich ausdrückte. Es gab Bier und Wodka und Red Bull und Tabletten. Alles umsonst. Zum ersten Mal nach Papas Tod fühlte sie sich frei. Und gut.

Das ist jetzt vier Wochen her. Inzwischen hat sie kein schlechtes Gewissen mehr, wenn sie Simon die aufgelösten Schlaftabletten gibt. Der Kindergärtnerin hat sie gesagt, er hätte eine verschleppte Erkältung und sei deshalb tagsüber so teilnahmslos. Die Schule bringt sie irgendwie hinter sich. Sie ist immer noch besser als der Rest der Klasse, auch, wenn sie nicht lernt und keine Hausaufgaben macht. Der Lehrer lässt sie in Ruhe, denn sie hebt den Durchschnitt. Mandy macht einen Bogen um sie. Sie gilt als Bens Girlfriend. Er kauft ihr Klamotten, was zu essen, genug für sie und Mami und Simon, am Abend die Drinks und die Tabletten. Mehr als knutschen war bislang nicht drin, aber Sofia weiß, irgendwann wird sie sich revanchieren müssen.

Irgendwann war vor drei Tagen. „Süße“, hatte Ben ihr ins Ohr geflüstert und dabei immer wieder daran genagt. „Süße, meine kleine Bitch. Es wird Zeit, dass du mir zeigst, wie lieb du mich hast.“ Sofia hatte genug Wodka und Tabletten intus, um ihm als Antwort die Zunge ganz tief in den Hals zu stecken und sich rhythmisch an seinem Köper zu reiben. Aber das war es gar nicht, was Ben wollte. Er schob sie ein Stück von sich weg auf der abgewetzten, fleckigen Kunstledercouch und sagte, plötzlich ganz Businessmann: „Siehst du die drei Betties da drüben? Die sind echt Boyfriend-Material. Aber sie müssen noch auftauen. Mach mal.“ Und er legte ihr ein paar von den blauen Pillen in die Hand. „Nein, mach ich nicht“, hatte Sofia gesagt. Denn sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen. Sie zieht andere nicht mit runter.

Erstaunlicherweise hatte Ben sie nicht gezwungen. Aber am nächsten Tag auf dem Schulhof hat er sie am Arm gepackt und zum Zaun gezogen. Da standen zwei Männer, schwarz gekleidet, solche, die ihr Muay Thai-Trainer immer mit ganz harten Augen weggeschickt hatte. „Süße, wenn du keinen Stoff verticken willst, dann musst du was anderes machen. Ich hab wegen dir so viel Schulden bei den beiden hier gemacht, da musst du jetzt bezahlen helfen….“, sagte Ben.

Sofia hatte sich losgerissen und war in das Schulgebäude gerannt. Hatte ihre Tasche geholt, dem Lehrer gesagt, ihr sei schlecht, und war nach Hause gegangen, immer mit dem Gefühl, verfolgt zu werden. Zuhause hatte Mami Spaghetti gekocht, und sie saßen sich am Küchentisch gegenüber, es war fast wie früher. „Mami, ich hab da ein Problem“, hatte Sofia begonnen, ihr Herz auszuschütten. Aber ihre Mutter hatte schon wieder versonnen in die Pasta geschaut, nichts gegessen und nur abwesend gemurmelt: „Schatz, frag Papa.“

Als sie Simon vom Kindergarten abholte, fuhr ein schwarzes Auto hinter ihnen her, ganz langsam. In der Wohnung schloss Sofia die Haustür ab, zog die Vorhänge zu und legte sich mit Simon ins Bett.

Gestern Morgen hatte sie in der Schule angerufen und gesagt, „meine Tochter ist krank.“ Das gleiche hatte sie mit dem Kindergarten gemacht. Sie rührte sich nicht aus der Wohnung. Simon protestierte, ihm war langweilig, und den blöden Saft wollte er plötzlich auch nicht mehr trinken. „Der schmeckt so bitter, und dann ist mein Kopf immer soooo schwer.“ Sofia schaute den Schatten zu, wie sie sich über die Wände legten, und den Ameisen, die Simons verschmähtes Marmeladenbrot in unzählige Transportbrocken zerlegten und durch die Küche schleppten, wer weiß wohin.

Gestern Abend, Sofia war grade im Bad, hatte es an der Tür geklingelt, und Simon war schneller gewesen. Als Sofia dazukam, stand Ben da. Nur Ben. Er kam nicht rein, gab ihr ein kleines Päckchen und sagte: morgen holen sie dich ab. Tu, was sie dir sagen. Du hast deinen Bruder doch lieb. „Simon?“ fragte Sofia. „Simon!“ rief sie. Aber Simon war verschwunden.

Später, als sie auf dem Bett saß und ungläubig auf die Waffe starrte, die sie ausgepackt hatte, klingelte ihr Handy. „Hast du es dir überlegt? ja? Dann komm runter. Dein Bruder wartet im Auto. Wenn wir dir erklärt haben, was du zu tun hast, kannst du ihn mit rauf nehmen. Aber wenn du es dir morgen anders überlegst, ist er für immer weg. Wir wissen, wo er spielt….Klar?“

Jetzt bringt Sofia Simon zum Kindergarten. Wie jeden Morgen. Gibt ihm einen Kuss. Wie jeden Morgen. Um die Ecke wartet der schwarze Wagen. Sie steigt ein. Die Männer fahren mit ihr zu einer Garage, dort muss sie die Waffe abfeuern. Zur Übung. Es ist gar nicht schwer. Sie wird aus nächster Nähe schießen und braucht nicht wirklich zu zielen. Sie ist ein großes Mädchen.

Das Auto hält vor einem riesigen Gebäude, Stahl und Glas. Sie steigt aus. In der einen Hand hält sie ein Foto, in der anderen, in einem Beutel versteckt, die entsicherte Waffe. Sie wartet, und als der Mann auf dem Foto die Treppe hinunter kommt, steht sie vor ihm, sagt „Hallo“. Er lächelt sie freundlich an: „Hallo, Kleine!“ Und Sofia drückt ab.

„Nur wenige Minuten nach seinem Freispruch ist „Ali G. das Oberhaupt eines von zwei konkurrierenden Drogenclans, auf den Stufen des Gerichtsgebäudes erschossen worden. Tatverdächtig ist ein Kind, zwölf bis dreizehn Jahre alt. Die Polizei sucht nach dem Mädchen, das allerdings noch nicht strafmündig ist.“

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