Adventskalender MiniKrimi am 17. Dezember


Die pure Lust

„Tschüss, Schatz. Ich bin spätestens um 19 Uhr wieder da.“

„Was, 19 Uhr? Jetzt ist es gerade mal drei. Was hast du den ganzen Nachmittag über vor?“

„Schatz,“ – leichte Ungeduld in ihrer Stimme – „ich bin bei Franck. Er ist nicht einfach ein Friseur, er ist ein Coiffeur, ein echter Haar-Künstler. Deshalb nimmt er sich für jede Kundin genau die Zeit, die er braucht, um ihre innere Schönheit nach außen leuchten zu lassen. So steht’s auf seiner Webseite, und genau so ist das auch. Jetzt schau mich nicht so an, ich kannte Franck schon, da hatte ich keine Ahnung, dass es dich irgendwo gibt. Deine Eifersucht ist hier wirklich fehl am Platz. Weißt du was, ruf deinen Freund Harald an und triff dich mit ihm im Fitnessclub. Der ist praktisch bei Franck um die Ecke. Dann kannst du mich abholen und mit deiner schicken Frau ins Schumanns gehen, auf einen Cocktail, und dich in den neidischen Blicken der Leute baden.“

Bevor sie Tom kennengelernt hatte, hatte sie ihr Single-Dasein in vollen Zügen genossen und nichts anbrennen lassen, wie man so schön sagt. Und Franck war immer hautnah dabei gewesen. Die Schmetterlinge im Bauch, die heißen Tränen und die kalte Wut – sie hatte alles mit ihm geteilt, denn sie hatte ihm alles mitgeteilt. Sie waren weit mehr als Friseur, pardon Coiffeur und Kundin. Über die Jahre hatte sich zwischen Waschtisch, Trockenhaube und Scheren eine Art Freundschaft entwickelt. Aseptisch und asexuell, trotz der weit über tausend Berührungen.

Sie genoss ihre Termine bei Franck, und egal, wie eifersüchtig Tom auch sein mochte, auf den Luxus, ihre Haare dem besten Friseur der Stadt anzuvertrauen, wollte und würde sie nicht verzichten. Sie hatte sich der zugegeben einzigen Macke ihres ansonsten praktisch perfekten Ehemanns schon oft genug gefügt. Der wunderbare Putzmann war einer unzuverlässigen Haushaltshife mit Staubblindheit und der Vorliebe für die Hausbar ihrer Arbeitgeber gewichen. Wenn sie den Wagen zur Inspektion brachte, achtete sie darauf, zu dem einzigen mit einer Frau besetzen Schalter zu gehen. Das gleiche galt für die Supermarktkasse. Wobei der stets zart gebräunte, glutäugige Filialleiter nicht nur schöner, sondern auch schneller war als die weiblichen Angestellten.

Aber bei Franck war Schluss. Sollte Tom doch endlich lernen, mit seiner völlig unbegründeten Eifersucht umzugehen!

In Francks Salon war kurz vor Weihnachten ungewöhnlich viel Betrieb. Normalerweise organisierte er seine Termine mit geradezu pedantischer Präzision. Aber Franck war eitel. Wenn Frau von Bodmer ihm am Telefon entgegenflötete: „Ach bitte, Franck, Sie müssen einfach ein Minütchen für mich finden. Die Horner-Backridges kommen am ersten Feiertag. Wenn Sie meine Haare nicht stylen, verkrieche ich mich in der Besenkammer!“ Also hatte er die von Bodmer noch reingezwängt, terminlich und räumlich, denn der Salon war mit nur drei Plätzen pures Understatement. Und dann war auch noch Susi Schwan von Sunny TV reingeschneit. Die vergaß nie, vor der Kamera zu erwähnen, dass „der liebe Franck“ ihr wieder so eine tolle Frisur gezaubert hatte.

Kurz, um fünf saß sie immer noch in dem einzigen eleganten und dem entsprechend unbequemen Besuchersessel. Um sechs endlich ging die Bodmer, unmittelbar gefolgt von einer glücklich glucksenden Susi.

„Uff! Sorry, Schätzchen, tut mir unendlich leid! Du weißt ja selbst, sowas ist mir bei dir noch nie passiert. Und auch bei keiner anderen. Aber jetzt habe ich nur noch Augen und Hände für dich. Komm, wir trinken erst mal ein Glas Champagner, zur Entspannung.“

Entspannung war genau das, was sie brauchte. Ihr Nacken fühlte sich an, als hätte ihn eine Horde Elefanten als Trampelpfad benutzt, Während sie sich mit dem kalt prickelnden Schampus zuprosteten, schaute sie auf die Uhr über der Tür und dachte flüchtig an Tom, der jetzt wahrscheinlich mit Harald beim Training war. Soll ich ihn anrufen und sagen, dass er mich nicht vor acht abzuholen braucht? Ach was, dann störe ich ihn nur beim Rudern oder was er sonst gerade macht. Wenn er da ist, ist er da. Muss er sich halt beim Warten langweilen. Dann sieht er wenigstens, dass seine Eifersucht total unbegründet ist.

Franck färbt ihr mit gekonnten Griffen die Haare. Nach einer dank der zweiten Flasche Champagner kurzweiligen Einwirkzeit geht’s an Auswaschen.

Mit geschlossenen Augen und zrurückgelehntem Kopf lässt sie sich von Franck massieren. Schläfen, Nacken, die empfindlichen Stellen hinter den Ohren. „Ooohhhh ja, Franck, das tut so gut. Ooohhh jaaa. Bitte, mach weiter, bitte, ja, jaaaaaa“, stöhnt sie genussvoll mit vom Alkohol angerauter Stimme und einen Tick lauter als nötig.

Beide sind so in den Augenblick vertieft – sie in den entspannenden Genuss und der Coiffeur in seine Arbeit, dass sie das Klingeln der Salontür überhört haben müssen. Plötzlich steht Tom vor ihnen, Schweißperlen auf der hochroten Stirn. „Ich hab’s ja gewusst“, schreit er. „Ich hab dich schon an der Tür stöhnen hören. Jetzt tut nicht so unschuldig. Ihr seid ja wie die Tiere. Treibt es auf dem Friseurstuhl.“

Und schon stürzt er, die Schere in der Hand, auf Franck zu. Instinktiv hebt sie ihren Fuß, um Tom einen Tritt zwischen die Beine zu versetzen. Tom taumelt, rutscht auf dem nassen Boden aus – Franck hat vor Schreck die Brause über den Rand des Waschbeckens fallen lassen, und rund um den Stuhl hat sich eine Lache gebildet – und stürzt so ungeschickt, dass er sich die Schere in den Bauch rammt.

Nachdem der Krankenwagen mit Tom und Blaulicht in die nächste Klinik gefahren und die unter Schock stehende Kundin und der Coiffeur vom Notarzt mit einem Beruhigungsmittel versorgt worden waren, kehrte Ruhe ein, im Salon.

Eine zeitlose Weile saßen die beiden auf der Couch in Frankcs privatem Bereich und nipptem an frischem, eisgekühltem Champagner. Die Luft war schwer von edlen Räucherkerzen, und der vergoldete Buddha auf der Marmorsäule senkte dezent den Blick, als die zwei ausgehungert und nach betäubender Nähe lechzend endlich übereinander herfielen, ganz so, als hätten sie sich bereits tausendmal berührt.

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