Liestaler Zwielicht
Von Ina Haller
(…) Die Männer hatten aufgeholt. Keuchend hastete Samantha weiter und erreichte einen Dachstock mit einem Holzunterdach und einem Querbalken. An der Wand standen Tische mit Holzstühlen. Auch hier gab es keine Verstecke. Wie kam sie aus diesem Labyrinth heraus? Es musste einen Weg nach unten geben. Samantha taumelte gegen die nächste Tür und fand sich auf einer Dachterrasse wieder. Viereckige Betonplatten waren am Rand auf einer bemoosten Fläche übereinandergestapelt.
Ohne sich umzusehen, rannte sie über die Terrasse, die mit Dachpappe ausgelegt war. Die weiße Tür auf der gegenüberliegenden Seite war glücklicherweise nicht abgeschlossen. Sie gelangte in einen hohen Raum mit verrosteten Behältern und Tanks. Ein weiterer Dachstock. Sie musste endlich den Weg nach unten finden. Samantha bekam fast keine Luft mehr und überlegte, ob sie in den verrosteten Tank kriechen sollte, ließ es aber bleiben. Die beiden würden hundertprozentig nachschauen.
Am Ende des Raumes fand Samantha das, woran sie nicht mehr geglaubt hatte: eine Treppe. Sie führte nach unten in die Dunkelheit. Denk nicht nach! Mit der Hand auf dem Handlauf, eilte Samantha, so schnell, wie es möglich war, hinunter. Sie wagte nicht, die Taschenlampe einzuschalten. Oben flammte ein Licht auf. Eine Handytaschenlampe. Bevor der Strahl Samantha erfasste, bog sie um die Ecke und tastete sich weiter.
Die Schritte kamen näher. Licht war von Vorteil. Wohl oder übel musste sie ihre Taschenlampe einschalten, auch wenn es ihren Standort verriet. Samantha erreichte das untere Ende der Treppe. Ihre Hoffnung, den Ausgang aus dem Areal gefunden zu haben, zerschlug sich, als sie im Schein der Taschenlampe einen Raum mit geschwärzten Wänden erblickte. An einzelnen Stellen schimmerten hellgrüne Wandplättli durch den Schmutz. An der Decke verliefen unterschiedlich dicke Rohre. Über den Boden verteilt lagen die Hälften von Fassböcken aus Beton. Auf einzelnen standen runde Tanks, die einmal cremefarben gewesen sein mussten und von einer Schmutzschicht überzogen waren, wie sie im Licht der Lampe sehen konnte.
Neben der Tür, durch die sie gekommen war, erkannte sie ein Holzbrett, das hochkant gestellt war und ihr bis zum Bauchnabel reichte. Samantha leuchtete auf die andere Seite und zuckte zurück. Dort ging es mindestens ein oder zwei Stockwerke nach unten. Das Brett war die notdürftige Sicherung dieses Loches mitten im Boden. Der Strahl der Taschenlampe streifte eine gelbe Tür. »Hefekeller«, stand darauf.
»Wo ist sie hin?«
»Ich glaube, dorthin«
In Samantha kam wieder Bewegung. Sie huschte in denRaum, der nicht wie die anderen leer war. Mehrere jeweils paarweise übereinandergestellte Tanks waren an der Wand aufgereiht. Die Wände waren nicht so schwarz wie die der anderen Räume, durch die sie gerade gekommen war.
Die Stimmen und Schritte kamen näher. Es gab keinen Ausgang auf der anderen Seite des Raumes. Sie saß in der Falle. Die Öffnungen der Tanks waren zu klein, um sich hineinzuzwängen. Samantha umrundete die Fassböcke am Boden und schaltete die Taschenlampe aus. Sie quetschte sich zwischen zwei dieser Doppelkonstruktionen und kroch so weit darunter, wie es ging. Sie bemühte sich, oberflächlich Luft zu holen, was nicht einfach war, wenn man außer Atem war.
Das Licht der Handytaschenlampe wanderte durch den Raum. Das Versteck war alles andere als gut. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die beiden sie fanden. Sie mussten nur zwischen die Tanks leuchten und würden sie sofort entdecken.
»Wo sind wir hier?«
»Im Keller.«
»Das sehe ich selbst. Wo ist sie?«
Der Lichtstrahl glitt weiter über die Tanks und blieb abermals an dem hängen, unter den Samantha halb gekrochen war.
»Sie muss hier sein. Es gibt keine andere Möglichkeit.«
»Ich habe das Licht ihrer Taschenlampe nicht mehr gesehen.«
»Sie wird es ausgeschaltet haben. Das heißt, sie kommt nicht so schnell vom Fleck.«
»Oder sie versteckt sich hier.«
»Wo bitte?«
»In einem dieser Tanks.«
»Passt ein Mensch durch die Öffnung?«
Anstelle einer Antwort hörte Samantha Schritte. Sie konnte von ihrem Versteck aus Beine erkennen. Die Person bückte sich und leuchtete in einen der unteren Tanks. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und der Puls dröhnte in ihren Ohren. Sie war überzeugt, die beiden würden es hören. Das Licht huschte über die Tanks.
»Willst du in jedem nachschauen? Selbst wenn sie schlank genug ist, dort durchzukriechen, hatte sie keine Zeit dafür. Und wer sagt, dass sie in diesen Raum ist?«
»Wo soll sie sonst sein?«,
»Überall in diesem Irrgarten. Weißt du, wo du dich befindest?«
»Im Keller des Ziegelhofs.«
»Sehr witzig. Ich hoffe, wir finden hier wieder raus.«
»Hör auf zu jammern und such lieber.«
Der Mann erreichte die Tanks, unter denen Samantha sich versteckte. Sie widerstand dem Drang, sich weiter darunterzuquetschen. Der Lichtstrahl streifte Samantha. Fest presste sie die Augen zusammen und wappnete sich auf das, was kommen musste (…)
Ina Haller lebt mit ihrer Familie im Kanton Aargau, Schweiz. Nach dem Abitur studierte sie Geologie. Seit der Geburt ihrer drei Kinder ist sie »Vollzeit-Familienmanagerin« und Autorin. Zu ihrem Repertoire gehören Kriminalromane, Reiseberichte sowie Kurz- und Kindergeschichten.

«Liestaler Zwielicht» ist sowohl als Print als auch eBook in Buchhandlungen und online erhältlich.

