MIniKrimi Adventskalender am 19. Dezember


Die Wattwanderung

(Anfang Kapitel 2 aus: „Die Posaune im Watt“)

von Gesa Schröder

Am Ortsrand hatte sich mit den ersten noch schwachen Sonnenstrahlen auf dem grünen Deich inmitten der Schafe allmählich eine bunte Gruppe aus gelben Öljacken versammelt, mit Mützen in allen Farben, roten und blauen Gummistiefeln, viele aber auch barfuß mit aufgekrempelten Jeans. Die Wattführerin Telse sah sie sofort, als sie über die Deichkrone kam.

Die Sonne, die kurz zuvor noch rot war und sich im Watt spiegelte, wurde von Minute zu Minute stärker, heller, gelber, höher. Immer mehr Gesichter verstecktеn sich hinter Sonnenbrillen, als Telse den Deich hinunterschlenderte, mit dem obligatorischen Rucksack, einem Klappspaten und einem Kescher in der Hand.

Die geplante Wattwanderung war anspruchsvoll, gute 3 Stunden hin, der Rückweg dauerte oft etwas länger. Und das alles im Rhythmus der Gezeiten, d.h. sie mussten rechtzeitig vor der Flut zurück sein.

„Guten Morgen“, sagte sie mit strahlendem Lächeln und frischem Ton. „Ich bin Telse, eure Wattführerin. Normalerweise duzen wir uns hier, im Watt, vor allem wenn wir mehrere Stunden miteinander verbringen und wahrscheinlich keine anderen Lebewesen treffen werden, abgesehen natürlich von Möwen, Austernfischern, Krabben, Muscheln, Wattwürmern, Quallen, vielleicht ein paar jungen Plattfischen, und wenn wir Glück haben, sehen wir vielleicht auch einen Seehund oder einen Katzenhai.“

Bei dem Wort Hai erstarb auf einigen Gesichtern das Lächeln.

„Keine Angst“, lachte Telse, „wir gehen ja auf dem Watt. Die Katzenhaie und andere gefährliche Tiere sind nur in den Prielen.“

„Was ist ein Priel?“, kreischte eine junge Stimme dazwischen. Telse sah sich um. Sie sah sich das Mädchen an, überlegte, wie alt sie wohl war und ob sie die lange Wanderung durchhalten würde.

„Alles in Ordnung“, sagte der Mann neben ihr, „das ist meine Tochter Levke, sie hat heute Geburtstag, ist gerade 13 geworden. Die Wanderung ist ihr Geburtstagsgeschenk. Sie will Biologin werden.“

„Aha“, sagte Telse.  „Herzlichen Glückwunsch. Gute Frage! Was ist ein Priel? Damit fangen wir gleich an. Da unten seht ihr schon einen.“ Sie zeigte auf einen kleinen gekrümmten Wasserlauf, der eher einer Pfütze ähnelte.

Telse wies noch einmal alle Teilnehmer darauf hin, dass sie, wenn sie barfuß gingen, ihren Blick immer auf den Boden richten mussten, um sich nicht an einer Muschel zu verletzen. Sie hatte zwar Leuchtkugeln, Pflaster, Mullbinden und Jod dabei. Aber auf Blutvergiftungen war sie nicht scharf.

Sie erklärte kurz, was Ebbe und Flut ist, und nannte auch die Uhrzeiten aus dem Gezeitenkalender. „Wir wollen ungefähr eine Stunde vor der Tiefebbe, oder Hohlebbe, wie wir hier sagen, auf der Muschelbank von Blauortsand sein, damit wir dann gefahrlos den Rückweg schaffen.“

Auf den ersten hundert Metern zeigte sie die Buhnen und Lahnungen, kleine Zäune aus Reisigbündeln, die vom Deich ins Meer streben und als Wellenbrecher und zur Landgewinnung dienen. Hinter der letzten Buhne trafen sie auf den ersten richtigen Priel, der sich tief eingegraben hatte und seine unterschiedlich gefärbten Schichten an der Abbruchkante zeigte.

„Die Priele sind wie kleine Flüsse, über die das Wasser kommt oder abfließt. Dadurch wechseln sie alle sechseinhalb Stunden die Fließrichtung. Hier sammeln sich besonders gern die Muscheln, seit einiger Zeit auch viele Austern“, erzählte Telse weiter.

„Wenn die Austernmuscheln offen sind, haben sie diese leuchtende Perlmuttbeschichtung, die ihr sicher alle kennt. Man sieht sie oft schon von Weitem leuchten, aber sie sind sehr scharfkantig, also passt auf eure Füße auf!“

„Da hinten leuchtet was, aber das sieht eher golden aus als weiß oder perlmutt“, rief Levke, die in bester Geburtstagslaune war.

Sie folgten dem Priel, der an seiner Außenkurve besonders hoch abfiel und zwischen der hellen und der dunklen Schlick-Schicht leuchtete tatsächlich etwas Goldenes. Ein gebogenes Stück Metall, wie ein umgeknicktes dünnes Wasserrohr. Levke hockte schon davor und versuchte, es heraus zu ziehen. Aber es steckte zu fest. Als die ganze Gruppe da war, staunten alle das Stück Gold an. Auch Telse.

„Goldsucher im Watt“, sagte einer, „das ist mal was!“

„Das ist kein Gold“, brummte ein Mann aus der hinteren Reihe, „das ist Messing. Das gehört zu einer Trompete oder so etwas Ähnlichem.“

Alle sahen sich nach ihm um und betasteten dann das Metallstück. Ja, der Mann hatte recht, wie hatte er das aus der Entfernung so schnell erkennen können? Plötzlich erwachte bei allen eine Schatzsucher-Mentalität.

„Hier soll ja irgendwo mal eine versunkene Stadt gestanden haben“, sagte eine Frau und sah sich suchend um.

Abwechselnd zogen und zerrten sie an dem Teil, das aber mit beiden Enden tief im Watt steckte und sich offensichtlich im Schlick festgesogen hatte.  Doch irgendwann lockerte es sich und gab nach. Levkes Vater, der gerade daran gezogen hatte, fiel mit einem Schwung nach hinten, ins nasse Watt und in das Prielwasser.  Er saß nun zwar mit dem Hinterteil im Wasser, hatte aber zufrieden ein Stück Messing in der Hand, zwei lange hohle Stangen, die durch eine Rundung miteinander verbunden waren.

„Keine Trompete“, brummte nun der Experte, „das ist der Zug einer Posaune!“

Die Gruppe sah ihn an. Er schien wirklich ein Experte zu sein. Wenn vorhin noch Telse alles erklärte, so hingen sie jetzt an seinen Lippen. „Jetzt ist er hin, der Zug. Voller Sand. Das rutscht nie wieder glatt.“

„Zug einer Posaune?“

„Ja, das ist der Teil der Posaune, den man hin und her zieht oder schiebt, dann kommen die unterschiedlichen Töne heraus.“ Er klang etwas ungeduldig. „Habt ihr noch nie eine Posaune gesehen?“

Nach zwei weiteren Stunden des Stapfens durch den Schlick, des Muschelnsammelns und Staunens über spritzende Pfahlmuscheln und sandige Ringelhaufen produzierende Wattwürmer hatte die Gruppe schließlich die Sandbank fast erreicht.

„Blauortsand ist eine Muschelbank“, erklärte sie dann, „man sieht sie schon von weitem schneeweiß in der Sonne glänzen. Sie wird bei leicht höherem Hochwasser überflutet, deshalb wachsen hier keine Pflanzen, kein Strandhafer, keine ….“

„Aber da hinten, ganz rechts, da ist doch so ein Grasbüschel“, rief Levke. Sie hatte offensichtlich von allen die besten Augen.

Telse holte ihr Fernglas aus der Tasche und sagte: „Ja, stimmt, das ist seltsam. Vielleicht eine Ansammlung von Tang. Wir gehen mal dahin.“

Um das Gras- oder Tangbüschel hüpften auch ein Paar Möwen herum und suchten wohl nach Krebsen oder anderem Getier. So wurde die Gruppe kurz vor dem Ziel wieder munter und begann schneller zu gehen. Das Grasbüschel zog sie an oder die Aussicht auf die lang ersehnte Mittagspause. Als sie näherkamen, sah das Grasbüschel nicht mehr grün aus, sondern eher braun oder auch grau. Levke war wie immer als erste am Ort und stieß einen Schrei aus.

Dann rannte sie zurück zu ihrem Vater, der ihr schon entgegenlief. „Was ist los?“

Levke riss nur den Mund auf und versuchte geordnet zu atmen.

Inzwischen waren die anderen auch dort angekommen. Es war kein Gras, es war ein Büschel Haare, das an der Grenze zwischen Watt, Sand und Muschelbank herausragte, und die Haare hingen an einer kleinen Beule aus Sand, aus der ein spitzes Rohr herausragte, das nach unten aber breiter wurde. Etwas Glänzendes, Goldenes. Alle standen starr vor dem Anblick, niemand wollte das neue Goldstück anfassen. Bis Telse mit ihrem Kescher etwas Sand wegschabte. Nun sah man eine Ohrmuschel, an der kleine Schnecken klebten. Das Goldene sah aus wie ein umgestülpter Filter. Aber niemand fasste es an, niemand wollte es herausziehen.

„Vielleicht der Schallbecher“, sagte der Posaunen-Experte.

„Am besten, wir fassen hier gar nichts mehr an“, sagte Telse, mit leicht versagender Stimme. Ich rufe jetzt die Küstenwache an, oder besser erst mal die Polizei.“

Die ältere Dame mit den Nordic Walking Sticks war mittlerweile auch herangekommen und stieß einen schrillen Schrei aus, der sofort von den Möwen beantwortet wurde. Telse hatte sich inzwischen auf den höheren, trockenen Teil der Muschelbank gesetzt und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. So etwas war ihr noch nie passiert. Sie holte mit zittrigen Fingern ihr Handy heraus und rief die 110 an. „Ich glaube, hier liegt eine Leiche mit einer Posaune am Ohr“, stotterte sie. „Nein, keine ganze Posaune, nur so ein Trichter, oder so. Ist ja auch egal. Nur die Haare und das Ohr gucken raus. Keine Ahnung, wo der Körper ist. Auf Blauortsand.“

Die Posaune im Watt, 2024. Kulturmaschinenverlag

Gesa Schröder (geb. 1952) lebt als Autorin und Literaturübersetzerin in Venedig und an der Nordsee.

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