Heute tretet ihr durch das Türchen mitten hinein in das bunte – und zuweilen auch tödliche – Leben im Schrebergarten meiner lieben Mörderischen Schwester Martina Pahr. Absolut lesenswert und vielleicht ja noch ein Last-Minute-Geschenk?
Nur die Wühlmaus war Zeuge (Kapitel 18: Valentina bei Wiggerls Nachbarn)
Ich amüsierte mich, wenn ich im Ausland bestätigt bekam, dass man andernorts ganz Deutschland auf sein Bundesland Bayern reduzierte und bei der Nennung von München sofort das Oktoberfest erwähnte. »Beer Festival!«, sagen sie lachend von Auckland bis Alaska, von Skandinavien bis Südafrika und von Myanmar bis Mexiko. Als Wahlmünchnerin schwanke ich dann immer zwischen Stolz und Scham. Freut man sich darüber, überall auf der Welt mit Betrunkenen in Tracht assoziiert zu werden, die sich vor laufenden Fernsehkameras einnässen und übergeben?
»Saufen und fressen, pissen und kotzen«, hatte mein Ex immer unvergleichlich charmant gesagt, wenn die Rede auf das traditionelle Fest im Herbst kam, das er inzwischen durch die gewiss gepflegteren Weinverkostungen in den Burgenländer Buschenschanken ersetzt hatte.
Aber ich lasse es mir nicht nehmen: München ist eine rundum schöne Stadt. Sie hat die meisten der Vorurteile nicht verdient, die ihr die Auswärtigen entgegenbringen: dass sie Schickeria ist und die Leute von oben herab, dass alle CSU wählen, Bier trinken und jeden Sonntag in Lederhose und Dirndl mit dem Cabrio zur Kirche fahren. Sicher ist die Cabrio-Dichte hier höher als anderswo, und sicher zeigen viele nur allzu gern das Geld her, das sie bei BMW, Siemens oder der Allianz verdienen.
Aber das wahre München, das besteht nicht nur aus Weißwürsten und Zwiebeltürmen. Das sind die Parktickets, die man überall zuverlässig nach nur einer Viertelstunde in der zweiten Reihe bekommt; das sind die Wohnungen, deren Mieten Geringverdienende nicht bezahlen können; das sind die Staus auf dem Mittleren Ring nicht nur zu Stoßzeiten; das sind die herzlichen Menschen, die gern lachen und gern essen; das sind die lauen Sommerabende, an denen man draußen vor den Bars und Cafés oder gleich in den Biergärten sitzt und das Dolce Vita in der »nördlichsten Stadt Italiens« genießt – und das sind nicht zuletzt die gesalzenen Preise, die man für diesen ganzen Genuss bezahlt.
Am Morgen nach dem Schlüsselfund radelte ich zu Wiggerls Wohnung im Westen Schwabings, dem Ort, wo er seine Winter verbracht hatte. Wirklich gelebt hatte er ja das restliche Jahr über im Garten. Es war nicht weit, und ich liebe die Stadtvormittage im Frühling und Sommer, wenn sich die Tage frisch und verheißungsvoll präsentieren. Früh am Morgen glaubt man noch, es könne einem nichts Schlimmeres passieren, als dass man eine Breze erwischt, die nicht resch, sondern letschert ist.
Bei dem Gebäude, in dem sich die Wohnung befand, handelte es sich um ein typisches Mehrparteienhaus, nicht schäbig, aber längst nicht nobel, an einer befahrenen Straße gelegen und weit davon entfernt, jene Anonymität zu garantieren, die man in einer soliden Großstadt erwarten würde. Davon halten wir in München nicht allzu viel. Und tatsächlich: Als ich drinnen vor der Wohnungstür stand, die mit einem Polizeiaufkleber versiegelt war, und über das weitere Vorgehen grübelte, steckte der Nachbar von nebenan die Nase aus seiner Tür.
»Sind Sie eine Verwandte vom Herrn Wetzstein?«
Fragen immer mit Gegenfragen kontern, hatte mir Friedl eingeschärft. Und die Medienanwältin meines Vertrauens hatte geraten, unverfänglich zu bleiben und keine konkreten Statements abzugeben, die später gegen mich verwendet werden könnten.
»Vielleicht können Sie mir ja sagen, wo er steckt?«, fragte ich deshalb. »Kennen Sie ihn denn gut? Und warum ist seine Wohnung versiegelt?« Ich war ja wohl in Topform!
Der Nachbar, ein Herr Metzger, wie sein Türschild verriet, murmelte ein paarmal: »Schlimm, ganz schlimm.« Dann bat er mich auf einen Kaffee in seine Wohnung.
Als er mir zu dem starken Gebräu nicht nur Waffelröllchen, sondern auch einen vormittäglichen Eierlikör reichte, war mir klar, dass er mir die Nachricht vom Tode meines vermeintlichen Verwandten schonend beibringen wollte. Eine Aufgabe, mit der er vollkommen überfordert schien. »Meine Frau ist beim Arzt, so ein Jammer. Hoffentlich kommt sie bald.«
Ich beschloss, ihm ein wenig die Hand zu reichen. »Nur freiheraus, lieber Herr Metzger. Telefonisch ist Ludwig nicht zu erreichen, und jetzt klebt ein Polizeisiegel an der Tür. Ich kann mir schon denken, dass da etwas passiert ist.«
Einen Augenblick lang starrte mich Herr Metzger fassungslos an, dann griff er nach dem Gläschen Likör, das er mir hingestellt hatte, und trank es auf ex. Was bei einer dickflüssigen Masse wie einem Advocaat eine wenig elegante Angelegenheit ist. Dann berichtete er in wenigen ungelenken Sätzen, dass vor Kurzem die Polizei vor der Tür gestanden sei und ihm mitgeteilt habe, dass der freundliche Herr Wetzstein von nebenan tot in seinem Garten aufgefunden worden sei.
»Tot?«, markierte ich die Überraschte. »Woran ist er denn gestorben? Ein Herzinfarkt?«
»Jede Menge Fragen haben die gestellt, das können Sie sich nicht vorstellen«, wich Herr Metzger meiner Frage aus. »Wissen Sie, wenn man jahrelang Wand an Wand lebt, nimmt es einen schon mit, wenn man auf einmal mit einer solchen Nachricht konfrontiert wird. Ich werde Ihnen die Nummer des zuständigen Polizeibeamten geben.«
Demnach war den Metzgers nicht aufgefallen, dass die Wohnung neben ihnen bereits seit eineinhalb Jahren leer stand. Herr Metzger stand auf und kramte in der Kommode in der Diele, dann kam er mit einer Visitenkarte zurück, die er neben meine Kaffeetasse legte.
»Den Sommer über hat man ihn eh nie zu Gesicht bekommen, da war er in seinem Garten«, fuhr er fort. »Aber ich weiß noch, dass ich schon im vorletzten Winter zu meiner Frau gesagt habe, dass man vom Herrn Wetzstein gar nichts mehr sieht und hört. Aber die hat dann gemeint, dass sie ihn erst kürzlich gesehen hat.«
Ich horchte auf. In diesem Augenblick, wie aufs Stichwort, kam Frau Metzger nach Hause.
Doch, den Herrn Wetzstein habe sie Anfang des letzten Jahres noch gesehen. Da habe es recht spät im Frühjahr einen kurzen Kälteeinbruch mit Schnee gegeben, daran erinnere sie sich genau. Und einen Witz habe sie gemacht, über die schwarze Maske, die er getragen habe. Corona schön und gut, aber schwarz?
»›Ist denn jemand gestorben?‹, hab ich ihn noch gefragt.«
Ja, es war jemand gestorben. Und derjenige, der sich hinter der Maske verborgen hatte, hatte ihn höchstwahrscheinlich auf dem Gewissen. Das sollte Frau Metzger, die gute Haut, aber nicht erfahren. Ich lächelte freundlich und fragte: »Was hat er denn darauf gesagt?«
»Nichts, nur gelacht hat er«, sagte Frau Metzger. »Hatte tüchtig zugelegt über den Winter, das ist mir aufgefallen.« Sie wiederholte: »Eine schwarze Maske, stellen Sie sich das vor. Und Kapuze und Schal, regelrecht vermummt ist er gewesen. Der Polizei hab ich es auch erzählt. Da hat er noch gelebt, hab ich gesagt.«
»Werden Sie alles erben?«, erkundigte sich ihr Mann.
Und Frau Metzger fragte fast zeitgleich: »Ziehen Sie jetzt hier ein? Das würde uns freuen. Wir wussten ja gar nicht, dass er Familie hat.«
»Die Leute sterben wie die Fliegen«, sagte Herr Metzger. »Da dachte man, Corona würde die Alten niederstrecken, aber die Nachbarin von unten ist in ihrer Wohnung gestürzt und der Wetzstein in seinem Garten.«
Und seine Frau bohrte nach: »Sind Sie die Tochter?«
Ich parierte mit einer Gegenfrage. »Warum fragen Sie?« Was Besseres fiel mir nicht ein.
»Na, so was interessiert einen doch! Bisher sind ja noch nie Angehörige aufgetaucht.«
»Zu den Kindern von Ludwig habe ich gar keinen Kontakt.«
»Und in welchem Verhältnis stehen Sie zu ihm?« Frau Metzger ließ nicht locker.
Es wurde knifflig. Doch dann erinnerte ich mich an die alten Familiengeschichten meiner Mutter. Wohlgemerkt: nicht nur Geschichten unserer Familie, sondern sämtlicher Familien, von denen sie je erfahren hatte und deren Historie sie in irgendeiner Form bemerkenswert fand. Ich pfiff auf die Empfehlungen von Friedl und der Lerche und legte los: »Ludwig ist gar nicht mein richtiger Onkel, sondern der Adoptivbruder von einer Tante, Tante Helene. Und Tante Helene ihrerseits ist nicht blutsverwandt, sondern hat in unsere Familie eingeheiratet, nämlich den Schwager meines richtigen Onkels, also des Bruders meiner Mutter.«
Herr Metzger sah beunruhigt aus. Seine Frau dagegen war auf der Höhe der verwandtschaftlichen Verhältnisse und erklärte ihm: »Der, den sie geheiratet hat, das ist der Bruder der Frau des Bruders ihrer Mutter.«
»Die Frau des Bruders, also die Schwägerin meiner Mutter, heißt übrigens auch Helene«, fuhr ich gnadenlos fort. »Das hat bei uns in der Familie immer für Verwirrung gesorgt, zwei Schwägerinnen mit demselben Namen, das geht ja gar nicht. Also hat man zur Schwägerin meiner Mutter immer Neni gesagt und zur anderen Helen.«
»Das ist ja auch irgendwie ungeschickt, dass keine der beiden Frauen ihren richtigen Namen benutzen konnte, wenn man’s recht betrachtet«, mischte sich Herr Metzger ein, und ich nickte eifrig.
»Helen ist blutjung in den Norden gezogen, Ludwig derweil in München geblieben. Die beiden haben zeitweise völlig den Kontakt zueinander verloren. Da war nämlich Eifersucht im Spiel, glaube ich. Ludwig war zwar immer sehr verträglich, aber mit dem Mann von Helen hat er ums Verrecken nicht gekonnt.«
Ich holte tief Luft. Die Blicke der Metzgers waren teils aufmerksam, teils überfordert. Das reichte, um voller Elan fortzufahren: »Möglicherweise hatte Ludwig ja selbst ein Auge
auf Helen geworfen, aber das hat er dann unterdrücken müssen, weil sie ja seine Adoptivschwester war. Und das könnte der Grund dafür gewesen sein, weshalb er Onkel Heinrich, den Mann von Helen, nicht leiden mochte. Jedenfalls war der Kontakt völlig eingeschlafen, bis dann Onkel Heinrich vor wenigen Monaten gestorben ist. An Krebs.«
Das Ehepaar Metzger gab Laute der Anteilnahme von sich.
»Und deshalb habe ich keinen Kontakt zu den Kindern, ja ich weiß nicht einmal, ob Ludwig überhaupt welche hatte. Ich war gerade in der Gegend und wollte ihn besuchen.«
Die Metzgers ließen mich gern und in Frieden ziehen. Sie wagten es offensichtlich nicht, mir weitere Fragen zu stellen.

Fotos:
Im Anhang – Bildrechte Cover emons Verlag, Bildrechte Autorin Marion Vogel
Hier geht#s zu Martinas Webseite: www.martinapahr.de
Das Buch ist erhältlich im gutsortierten Buchhandel oder direkt bei der Autorin (mit SIgnatur!) über info@martinapahr.de.

