Heute lest ihr den Prolog des 6. Bandes der Sara Konrad Thriller von Marley Alexis Owen. Die Verurteilung am Ende einer Gerichtsverhandlung in Russland ist der Anfang einer spannenden Story rund um Sara Konrad. Viel Spaß beim Lesen!
Der Russe
Sie hatte sich fest vorgenommen, nicht zu weinen. Trotzdem konnte sie ihre Anwältin jetzt nur verschwommen erkennen. Sie hätte es auf das zentimeterdicke Panzerglas schieben können, doch das Brennen ihrer Augen war nicht zu leugnen.
Verteidigerin. Diese Bezeichnung hatte die Frau schlicht nicht verdient. Sie war zwar faktisch ihre juristische Vertreterin, hatte aber während des gesamten Prozesses kaum mehr als einmal das Wort ergriffen. Und auch da hatte sie nur eine Stellungnahme verlesen, die ihre Mandantin zuvor selbst verfasst hatte.
Kein Plädoyer. Keine Einsprüche. Keine juristischen Kniffe, die in letzter Sekunde für Gerechtigkeit sorgten, so wie jene, die sie aus den amerikanischen Gerichtssendungen kannte, die sie in ihrer Jugend auf illegal gebrannten DVDs gesehen hatte. Nichts.
Sie blinzelte und straffte ihre Schultern, im verzweifelten Versuch, wenigstens äußerlich die Fassung zu bewahren.
Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn sie reich gewesen wäre? Wenn sie ihr mehr Geld hätte bezahlen können? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Hier trat sie gegen Mächte an, die nicht nur ihre Entschlossenheit parierten, sondern über Ressourcen verfügten, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte.
Ihr Blick sprang durch den Raum wie ein Eichhörnchen, das einen Ausweg aus dem Käfig suchte.
Die Zuschauerbänke waren bis auf wenige regimetreue Journalisten leer. Wo während der ersten Verhandlungstage noch ihr Herausgeber und einige Kollegen gesessen hatten, um ihr stumm Mut zuzusprechen, waren nach und nach alle bekannten Gesichter verschwunden.
Ihre Freunde hatten es nicht einmal für nötig gehalten, zur Eröffnung des Verfahrens zu erscheinen. Wenig überraschend, blieben sie jetzt auch der Urteilsverkündung fern.
Mit ihr befreundet oder gar verwandt zu sein, wäre einer Mitschuld gleichgekommen – und ihre Schuld wollte niemand teilen.
Sie wusste, dass Alexander, ihr Chefredakteur, zwischenzeitlich verhaftet worden war. Das hatte ihr ein Vögelchen im Gefängnis gezwitschert. Kein Wunder also, dass die anderen auch nicht mehr erschienen – wer konnte, war spätestens nach ihrer Anklageverlesung untergetaucht. Zumindest hoffte sie das inständig.
Obwohl sie nur ein T-Shirt trug, klebte ihr der dünne Stoff am Rücken. Gern hätte sie ihn abgezupft, weil es sie kitzelte, aber sie rührte sich nicht, um nicht zappelig auszusehen.
Konzentriert ließ sie ihren Blick weiter durch den Gerichtssaal schweifen. Der Raum war klein und wirkte beengt, aber vermutlich war das albern. Im Vergleich zu den Zellen, in denen sie seit einer gefühlten Ewigkeit hauste, glich er in der Größe eher einem Tanzsaal.
Der dunkle, rotbraune Lack der Richterbank schimmerte im künstlichen Oberlicht wie frisches Blut. Ihr schlanker Körper erzitterte und zur Abwechslung lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.
Die Pappkartons, die neben dem Ankläger standen, waren angeblich voller Beweismaterial gegen sie. Sie hatte nichts davon zu Gesicht bekommen. Ebenso wenig wie ihre Anwältin, wie sie vermutete. Im digitalisierten Russland war diese Zurschaustellung von Papier antiquiert und lächerlich. Alles Show. Wie der ganze Prozess.
Man wollte sie einschüchtern. Brechen. Sie sollte sich schuldig bekennen. Schuldig des was? Die Wahrheit zu sagen, war ihr von frühester Kindheit an anerzogen worden – seit wann stand darauf eine Strafe für Hochverrat?
Von allen Anwesenden unbemerkt hob sie das Kinn. Nicht einmal die beiden bewaffneten Soldaten, die links und rechts von ihrem Glasgefängnis Wache standen, reagierten auf ihren Haltungswechsel. Doch ihre Tränen versiegten und ihre Wut verdrängte die Angst.
Sie war Lenya Vasilieva Kusnezowa. Sie war freie Journalistin. Und keine Gefängnisgitter, kein Urteil und auch sonst nichts würde an dieser Tatsache etwas ändern.
Und wenn es ihr Opfer forderte, um der Wahrheit ans Licht zu verhelfen, dann würde sie es erbringen.
Im gleichen Moment fiel ihr ein, dass genau das eben nicht passieren könnte, wenn sie heute verurteilt und weggesperrt werden würde. Die Wahrheit wäre mit ihr begraben. Ihr Artikel würde nie erscheinen. Weder gedruckt noch in den Portalen des Internets. Ihr Opfer wäre völlig sinnlos.
Hoffnungslosigkeit umschloss, wie mit kalten Fingern, ihre Kehle und sie schnappte unwillkürlich nach Luft.
Währenddessen lauschte ihre Anwältin regungslos dem Urteil des Richters. Lenya nicht.
Sie konnte überhaupt nichts hören, so sehr konzentrierte sie sich darauf, das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu halten.
Diese steckten in Handschellen, als wäre sie eine psychopathische Massenmörderin, die bei der erstbesten Gelegenheit jemanden anspringen würde, um ihm die Halsschlagader durchzubeißen. Auch das hatte sie irgendwann mal in einem Film gesehen. Hannibal hatte der Charakter geheißen und Lenya musste schmunzeln bei dem Gedanken. Doch kaum war er vorüber, spürte sie ihre Knie, die drohten, jeden Augenblick unter ihr nachzugeben.
Sie fuhr sich mit der trockenen Zunge über die spröden Lippen und zwang sich, langsam ein- und auszuatmen. Panik nützte jetzt auch nichts. Jetzt nützte überhaupt gar nichts mehr.
Eine Träne gewann den Kampf gegen ihren Stolz und rann ihr aus dem Augenwinkel über die Wange. Mit einer knappen Bewegung wischte Lenya sie beiseite und fuhr sich bei der Gelegenheit auch gleich über das andere Auge.
Die aufwallende Wut über die aussichtslose, und schlimmer noch, ungerechte Situation, gab ihr genug Kraft für ein letztes Gefecht und sie fixierte den Ankläger mit einem feurigen Blick aus ihren hellgrauen Augen.
Sie sollten nicht glauben, dass sie aufgeben würde, nur weil sie sie diffamierten. Weil sie ihre Arbeit verunglimpften. Sie der Lüge und des Hochverrats bezichtigten. Nein, sie würden sie nicht mit ihrem Schauprozess brechen.
Der Urteilsspruch erging.
Im Raum wurde es erst einen Moment still, dann begann das Rascheln und Rauschen. Ankläger und Anwältin nickten dem Richter zu und fingen an, ihre Unterlagen zu ordnen und einzupacken.
Die Journalisten tippten eifrig in ihre Smartphones oder warteten auf bereits gewählte Verbindungen.
Niemand beachtete Lenya.
Nur langsam und zeitverzögert drangen die Worte »Arbeitslager – lebenslänglich« in ihr Bewusstsein.
Der Wachhabende, der näher zur Tür stand, wandte sich um, ohne sie anzusehen, und machte sich daran, die Panzerglastür aufzuschließen.
Lenyas Körper wurde von einem Beben ergriffen. Verzweiflung schoss ihr wie heiße Lava die Kehle hoch und brach sich ihren Weg. Mit aller Macht warf sie sich mit erhobenen Fäusten gegen das Panzerglas, das unter dem Aufprall sonor vibrierte.
Aus Leibeskräften schrie sie: »Ihr werdet mich nicht mundtot machen! Ihr könnt mich in den Gulag werfen, aber ihr könnt mich nicht aufhalten! Ihr könnt die Wahrheit nicht begraben! Sie wird ans Licht kommen. Die ganze Welt wird erfahren, was ihr getan habt!«
Ihre Stimme brach.
Die Anwältin, die ihr am nächsten stand, hatte auf- und sie flüchtig angesehen. Nun schüttelte sie jedoch den Kopf und senkte den Blick ebenso rasch wieder auf ihre Aktentasche.
Weder der Richter noch andere Anwesende hatten auf ihren Ausbruch reagiert.
Atemlos und außer sich vor Zorn, schlug Lenya mit beiden Fäusten gegen das Glas. Jetzt trat der Wachhabende neben sie und beschwichtigte sie.
»Kommen Sie, es hat doch keinen Zweck.« In seinen Augen lag weder Feindseligkeit noch Ärger. Nur Resignation und eine Spur Mitleid. Auch er sah rasch beiseite, während er sie am Arm aus der Zelle führte.
Lenya war auf die Fußballen zurückgesunken und keuchte. Es war, als entwiche alle Kraft aus ihr, während sie einen kleinen Schritt zur Tür machte.
Wieder war es eine Filmszene, die ihr in den Sinn kam. Von einer schottischen Königin, die am Ende ihrer jahrzehntelangen Haft schließlich zum Schafott geführt wurde.
»Ich werde nicht wie Maria Stuart enden«, schwor sie so leise, dass nicht einmal die Wachen ihre Worte hörten, die sie an beiden Armen hielten.

Bild (c) mao_autorin.
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