Adventskalender MiniKrimi am 2. Dezember


Herr Qualkowitzer

An trüben Winternachmittagen besetzen die Schatten schon früh ihr kleines Zimmer. Sie nehmen von allem Besitz, was nicht aus sich heraus leuchten kann. Der Sekretär, die Kommode, das Klavier. Die einzelne Kerze auf dem kleinen Tisch kann nichts ausrichten gegen sie. Mara kauert mit hochgezogenen Knien im Ohrensessel. 

An Tagen wie diesem vermisst sie ihr Leben ganz besonders. Damals. Als ihr Vater ihr die Welt zu Füßen legte. Täglich von neuem. Als ihre Wünsche wahr wurden, kaum, dass sie sie ausgesprochen hatte. Damals gab es keine Schatten in ihrem Reich. Der Sekretär, die Kommode, das Klavier – sie leuchteten, und in ihrem Holz spiegelten sich die tanzenden Kerzen. 

Herr Qualkowitzer kam einmal im Monat. Aus seinem verbeulten, verkratzen geheimnisvollen Koffer holte er allerlei „Medizin“ für Maras Möbel heraus. Schellack in einer braunen Flasche, Bienenwachs in einer rostigen Dose, Rosenöl in einer kleinen Phiole. Er tränkte einen Lappen mit Schellack und rieb den Sekretär wie Aladins Wunderlampe. Kreisrunde Bewegungen, wieder und wieder. Bis das Holz glänzte und strahlte. Einmal klemmte die mittlere Schublade. Herr Qualkowitzer nahm ein dünnes Messer mit einer spitzen, scharfen Klinge und befreite eine braune Locke, die aus dem Geheimfach herauslugte und die Schublade verklemmt hatte. Mara schaute ihm aufmerksam zu und ahmte hinter seinem Rücken die kreisförmigen Bewegungen nach. Wieder und wieder. Als er auch die Kommode und das Klavier poliert hatte, packte Herr Qualkowitzer Lappen, Flaschen und Dosen wieder ein. Und ging.

Das Messer hatte Mara in ihrer Rocktasche verborgen. Falls sie mal etwas im Geheimfach verstecken wollte.

Der Vater starb und Mara heiratete Alexander. Doch schon bald nannte er sie nicht mehr „meine Prinzessin“, und er trug sie weder auf Händen noch legte er ihr eine Welt zu Füßen. Stattdessen setzte er sie ein paar Jahre nach der Hochzeit mit einem Koffer vor die Tür. Angeblich hatte er ihr gesamtes Vermögen verspekuliert. Sie kam in einem Mansardenzimmer unter, mitsamt dem Sekretär, der Kommode und dem Klavier. Mehr holte ihr Anwalt nicht aus Alexander heraus. 

Als Mara aus der psychiatrischen Klinik entlassen wurde, riet ihr Arzt ihr zu einer kleinen, leichten Beschäftigung, um wieder Fuß zu fassen. Das war das letzte, was Mara wollte. Aber sie fing an, im Villenviertel der Stadt Möbel zu polieren, mit kreisrunden Bewegungen. In den meisten Häusern wohnen inzwischen Fremde. Nur in der Villa ihres Vaters lebt jetzt Alexander. Die junge blonde Frau an der Tür ist begeistert. Dass es das heute noch gibt, wundert sie sich, während Maras Hände auf den modernen Holzmöbeln kreisen, wieder und wieder, wie die Krähen im bleiernen Himmel über den Bäumen im Park vor dem Haus. Alexanders neue Frau steht am Fenster und schaut hinaus. 

Herrn Qualkowitzers Messer ist scharf. Mara ist schnell. Die Frau sagt kein Wort. 

Bevor sie geht, schneidet Mara ihr eine blonde Locke ab. Sie weiß ein gutes Versteck dafür.

Adventskalender MiniKrimi am 18. Dezember


Der heutige MiniKrimi stammt aus der Feder von Dagmar alias Traumspruch. Mehr über sie und von ihr gibt’s auf ihrer Homepage.

Zingiber Officinale 

Ja, sie war ziemlich stolz auf ihre selbstgezüchtete Ingwerpflanze. Vorgestern hatte sie sich mit ihrem Nachbarn darüber unterhalten. Der war ja eigentlich ein Muffel und redete mit keinem der anderen Anwohner. Ein Eigenbrötler, aber stinkreich und geizig, so sagte man. Nicht einmal eine Zugehfrau leistete er sich, obwohl er alleinstehend war. 

Als er vom Fenster gegenüber auf ihrer Fensterbank die ungewöhnliche Pflanze entdeckt hatte, rief er sie an, einfach so. Und sie unterhielten sich gut. Nicht nur, das sie quasi Garten an Garten, Fenster an Fenster wohnten, sie bemerkten, dass sie einige gemeinsame Interessen hatten. Aber leider mussten sie das Gespräch bald beenden, denn Herr Schneider, so hieß der Nachbar, hatte noch eine ebay-Auktion laufen, um die er sich nun würde kümmern müssen. Ein Sammlerstück, das er gerne in seinen Besitz bekommen würde. Quasi ein Schnäppchen, so schwärmte er ihr gestern noch vor. Heute war sie mit ihm verabredet. Er wollte sich ihre kuriose Ingwerpflanze, die auf der Fensterbank so gut gedieh, mal genau anschauen und würde deshalb zu Besuch kommen.

Leider erschien er nicht. 

Denn bereits kurz nach Ablauf der ebay-Auktion erhielt Herr Schneider selbst Besuch.

Noch am Nachmitag wollte der Verkäufer der kostbaren Uhr diese persönlich überbringen. Herr Schneider war nicht argwöhnisch, so würde der edle Chronograph beim Versenden keinen Schaden nehmen können. Auch die beiläufige Frage nach den Nachbarn, die man unter Umständen durchs Fenster sehen könnte, ließ keinen unguten Gedanken bei Herrn Schneider aufkommen.

Auf die Frage gab Schneider kurz zur Antwort, da wohne nur eine blinde Frau.  

Aha, die sieht uns also eh nicht, lachte der Schurke, und bedrohte Herrn Schneider plötzlich mit einer Waffe, die er statt der zu liefernden Uhr aus der Jackentasche zog. Unbeobachtet und in aller Ruhe fesselte er das Opfer und machte sich schließlich ebenso beruhigt mit dem Diebesgut davon.   

Sie war nur ein klein wenig enttäuscht, dass ihr Nachbar sie versetzt hatte. Das kannte sie ja schon. Die Leute wussten nicht, wie man mit einer Blinden umgeht.

Man nahm sie oft nicht für voll. Ja ja, diese Behinderte, die konnte doch froh sein, wenn man sich ihr überhaupt mal zuwendete. So überspielten manche die eigene Unsicherheit gekonnt mit einem Scheinargument. Da käme es doch nicht auf den Tag an, sie säße doch sowieso immer zuhause. Draußen sei es für sie zu gefährlich, da würde sie sich doch nicht mehr zurecht finden… so argumentierte man. 

Aber von diesem feinen Herrn hätte sie das nicht erwartet. Der hatte eigentlich einen netten Eindruck auf sie gemacht. Eigentlich, ja, eigentlich.

Aber Tatsache war, er hatte sie versetzt.

Es war zwar erst mitten am Nachmittag, aber er wollte doch seinen Besuch bei ihr noch bei Helligkeit abstatten. Jetzt wurde es bald dunkel – er würde nun nicht mehr erscheinen. 

Das sollte ihr jedoch die Laune nicht verderben. Würde sie halt ein bißchen twittern. Dort gab es bestimmt jemanden, mit dem sie sich unterhalten konnte. Und so war es. Bald hatte sie einen interessanten twitter-Austausch über Gewürzpflanzen. Auch über ihren Ingwer.

Jetzt wollte ein Twitterer sogar ein Foto sehen. Ob sie das hinbekäme? Ja klar, sie sah zwar nicht, was sie fotographierte, aber das iPhone lässt sich auch blind gut bedienen. Kamera starten, Kameramodus auswählen, Blitz aus, damit es keine Spiegelung gibt, Bild aufnehmen, Doppeltipp. Fertig. Sie würde gleich ein Bild von ihrer Pflanze machen und twittern. 

Das war dann doch nicht so schnell bewerkstelligt. Als sie das Foto samt Bildbeschreibung online gestellt hatte, war ihr Bekannter bei twitter offenbar bereits offline. Er reagierte jedenfalls nicht auf ihre Nachricht. Nun, er würde das Bild ja dann in der timeline finden. 

Es war schon ein wenig knifflig, so die richtige Einstellung zu finden, damit alles auf dem Bild zu sehen sein würde. Normalerweise stellte sie auch nicht einfach mal so eine Aufnahme ins Netz, bevor nicht ein Helferlein einen Blick darauf geworfen und das Go gegeben hatte. Mittlerweile hatte sie geübt, dass nicht auf jedem Schnappschuss ihre Füße zu sehen waren, oder der unaufgeräumte Esstisch, oder irgendein Gegenstand, der mehr über sie verraten würde, als ihr lieb wäre. Aber bei der Grünpflanze konnte sie nichts verkehrt machen. Ihre Füsse steckten in fotogenen Wollsocken, das breite Fensterbrett war aufgeräumt, und der Bildhintergrund war in diesem Fall sowieso egal. Es ging nur um die schilfartigen Blätter, die aus der Knolle wuchsen.  

Sie war gespannt was…@GrünerDaumen zu ihrem Ingwersprössling sagen würde.

Lecker, wie der Tee schmeckte, den sie am Montag gekauft hatte. Teetrinken und abwarten, das war eine gute Einstellung. Die Gedanken kommen lassen, die Gedanken ziehen lassen. Achtsamkeit. 

Ein Klingeln an der Haustür ließ sie aufschrecken. 

Ein Polizist verlangte Einlass. Sie war sehr skeptisch, sie liess nicht einfach so fremde Menschen in ihre Wohnung. Moment! Einen Moment würde man schon warten müssen. Sie würde die Nachbarin von nebenan anrufen und diese bitten, doch mal eben rüber zu kommen. Nicht alle Polizeidienstausweise hatten eine Braillebeschriftung. Da brauchte sie sehende Unterstützung, der sie vertrauen konnte. Gerade kletterte die Nachbarin über den niedrigen Zaun, der die beiden Grundstücke seitlich trennte. An der Straße fuhr ein Streifenwagen vor. Ein weiterer Polizist betrat das Grundstück. Nachdem die Dienstausweise gecheckt waren, gewährte sie den Ordnungshütern Einlass. 

„Na, da hat ihr Nachbar aber noch mal Glück im Unglück gehabt“ erläuterte der zweite Beamte. „Dank ihrer Aufnahme, die sie in twitter gestellt haben und aufgrund der wir alarmiert wurden, konnte Herr Schneider gerade noch rechtzeitig befreit werden. Er hatte vor lauter Aufregung einen Asthmaanfall und konnte gefesselt keine Hilfe rufen. 

Die Sammler-Uhren ist er zwar los. Der Räuber hat bereits das Weite gesucht. Das sollte aber jetzt kein Problem sein, denn wir haben ja ein excellentes Fahndungsfoto, der Dieb ist gut zu erkennen; auch wenn unscharf im Vordergrund des Fotos irgendwelche grüne Blätter abgebildet sind.“ 

Mit dem Beweisfoto war sogar eine ganze Fotoreihe ausgelöst worden. Das würde die Fahndung wesentlich erleichtern. 

So hatte man den Dieb bereits dingfest gemacht, als sich Herr Schneider am übernächsten Tag bei ihr zu einer Tasse Tee und zur Begutachtung der seltenen Grünpflanze anmeldete und seinen versäumten Besuch nachholte.

copyright: Traumspruch