MiniKrimi Adventskalender am 8. Dezember


Der heutige MiniKrimi stammt aus der Feder meiner österreichischen Schwester Lotte R. Wöss. Die Story ist aus „Mordszeit 3“ – Kurzgeschichten zugunsten der Österreichischen Kinderkrebshilfe von den KrimiautorInnen Österreich. Also: Obacht beim nächsten geschenkten Likör.

Kaffeelikör

Jedes Jahr laden der Chef und seine Frau Helga, ich nenne sie Xanthippe, die fünf Vorstandsmitglieder plus Chefsekretärin zum Weihnachtsessen ein.

Die Chefsekretärin, das bin ich. Und auch heuer wieder werde ich so tun, als wäre ich nur die Sekretärin.

Xanthippe nimmt mein Mitbringsel freudig entgegen. „Kaffeelikör! Und noch dazu meine Lieblingsmarke. Wie reizend von Ihnen.“

Mich hat es auch gereizt. Nämlich mein selbst extrahiertes Tollkirschenextrakt mit einer Spritze durch den Korken zu injizieren. Es ist lächerlich einfach gewesen.

Den ganzen Abend muss ich zusehen, wie Patrick seine Hauskrähe hofiert, ihr Küsschen auf die Wangen drückt und mit der Hand über ihrem Arm streicht. Wenn sie wüsste dass es genau dieselbe Hand ist, die noch heute Vormittag spezielle Stellen von mir berührt hat.

Als Abschluss kommt die Hausfrau mit dem traditionellen Tiramisu. Tradition! Lächerlich. Ich vermute, es ist die einzige Nachspeise, die sie hinkriegt.

Immerhin schmeckt sie. Rasch lenke ich mich mit einem weiteren Löffel der Creme ab, ehe ich mich noch durch meine sehnsüchtigen Blicke zu Patrick verrate.

Geduld! Bald gehört er mir allein.

Nun klopft Xanthippe ans Glas. Alle Köpfe heben sich, die meisten haben ihre Nachspeise beendet. „Ihr Lieben! Ich muss etwas sagen. Mein Mann betrügt mich.“

Totenstille.

„Ja, ich weiß es schon länger.“ Ihr Blick fällt auf mich. Mir ist auf einmal eiskalt, Schleier trüben meinen Blick.

 „Aber Helga, Mäuschen, ich bitte dich.“ Patricks Stimme klingt fast weinerlich. Er steht auf und streckt seiner Frau die Hände hin. Weichei!

Was ist das? Taumelt er etwa? Er muss sich an der Stuhllehne festhalten.

„Ihr wusstet es alle und habt euch hinter meinem Rücken über mich lustig gemacht.“ Gemurmel setzt ein. Prokurist Meier kippt vornüber, mit dem Gesicht in den Rest seines Tiramisus. Personalchefin Biederstädt verdreht die Augen und gleitet geräuschlos vom Stuhl. Und – nein – mein geliebter Patrick stürzt zu Boden wie ein gefällter Baum.

Weshalb sehe ich alles wie durch Milchglas?

„Schmeckt es euch? Heuer habe ich es mit einer neuen Zutat verfeinert. Gut, dass meine beste Freundin Apothekerin ist. Ihr werdet nicht leiden müssen, obwohl, verdient hättet ihr es.“

Das letzte, was ich sehe, ist Xanthippes gehässiges Grinsen, wie sie sich ein Gläschen eingießt. Aus meiner mitgebrachten Flasche.

Foto (c) Daniel Furxer.

Mehr Infos gibt’s auf ihrer Website:  https://lotte-woess.com

MiniKrimi Adventskalender am 7. Dezember

Wein mit Gläsern vor einem brennenden Kamin

Der zweite Advent! Zwei Kerzen brennen auf dem Tannenkranz, und können wir uns etwas Schöneres vorstellen, als beim munteren Flackern eines Kaminfeuers den schnell dunkelnden Tag ausklingen zu lassen? Ehm – ja. Und ihr auch, wenn Ihr den MiniKrimi von Lydia H. gelesen habt. Viel Spaß dabei!

Advent, Advent, das Lichtlein brennt

Sehr zum Leidwesen vieler Bewohner wurde bei der Errichtung des noblen Quartiers an der Minervastaße auf den Einbau von Kaminen verzichtet. Das entsprach nicht mehr dem Zeitgeist in einer auf Klimaneutralität bedachten Kultur.

So manche bayerische Kommune konnte seit der Energiekrise, ausgelöst durch Russlands Angriff auf die Ukraine, ein Lied davon singen. Plötzlich dienten die Kamine, in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts aus Gründen der Gemütlichkeit in viele Einfamilienhäuser eingebaut, den besorgten Menschen als Heizungsersatz, was bei einer Inversionswetterlage zu Feinstaubwerten wie im Ruhrgebiet führte. Dem hatte die Landeshauptstadt einen Riegel vorgeschoben und den Einbau von offenen Kaminen kurzerhand verboten.

Auch Clemens, 57 und erfolgreicher Notar, der zusammen mit seiner Frau Claire eine repräsentative 5 Zimmer-Wohnung in der Minervastraße sein Eigen nennen durfte, haderte damit, dass sein großbürgerliches Wohnzimmer ohne den Charme eines gemütlich prasselnden Feuers auskommen musste.

Claire, mit 33 Jahren deutlich jünger als ihr Mann, war eine ebenso schöne wie kapriziöse Pariserin aus guter Familie. Clemens hatte sie vor 6 Jahren während einer Geschäftsreise in der französischen Hauptstadt kennengelernt und war, nicht zuletzt aufgrund seiner Midlife Crisis, sofort ihrem Charme erlegen. Als Tochter eines seiner Businesspartner schien sie die ideale Wahl als beflügelnde Gefährtin für einen zweiten Frühling zu sein.

Die Scheidung von Karin, seiner ersten Frau, ging dank einer hohen Abfindung schnell vonstatten. Karin war eher erleichtert als betroffen gewesen und genoss ihre neue Freiheit in vollen Zügen. Lena und Leon, die erwachsenen Kinder des Paares, lebten schon lange ihr eigenes Leben. So stand einer romantischen Blitzhochzeit mit Claire nichts mehr im Wege. Vor fünf Jahren führte Clemens seine Eroberung vor den Traualtar.

Leider entwickelte sich die Ehe mit Claire bereits nach erstaunlich kurzer Zeit zu einem Desaster, und das in jeder Hinsicht. Schnell hatte Claire sich einen jungen Liebhaber zugelegt, so dass Clemens wenigstens an dieser Front seine Ruhe hatte. Denn mit Ende 50 wurde die Diskrepanz zwischen erotischen Fantasien und deren praktischer Umsetzung für ihn immer problematischer. Anders sah es allerdings in finanzieller Hinsicht aus. Clemens hatte die Ansprüche seiner neuen Ehefrau vollkommen unterschätzt. Er hatte schon immer einen gehobenen Lebensstandard gepflegt, mit einer schönen Villa am Münchner Stadtrand, teuren Autos, luxuriösen Reisen und allem, was man in München unternehmen konnte und musste, um seine Stellung zu demonstrieren und ein Teil der Crème de la Crème der Bussi-Bussi-Gesellschaft zu bleiben.

Aber dieses Leben und dieser Stil waren für Claire nicht ausreichend. Sie brauchte Designerkleider, exklusive Handtaschen und Schmuck. Zu jeder Jahreszeit und jedem Anlass. Faschingsbälle, Wagner-Festspiele, Filmfest, Wiesn, Kirchweih und, und, und. Ihre Shoppingtouren durch die Maximilianstraße raubten Clemens zunehmend den Schlaf. Und nicht nur den. Jüngst hatte sein Bankberater ihn darauf hingewiesen, dass die Ausgaben von Claire auf Dauer für ihn finanziell nicht tragbar sein würden. Dazu kam ihr unentwegtes Genörgel. Nichts war Claire gut genug. Besonders die gemeinsame Wohnung in der Minervastraße führte wieder und wieder zu fruchtlosen Diskussionen, die immer öfter in erbitterten und eskalierenden Streitereien mündeten. Jetzt in der Vorweihnachtszeit machte Claire ihre Unzufriedenheit mit der nicht standesgemäßen Wohnsituation am Fehlen eines schönen Kamins im Wohnbereich fest. „C’est insupportable“, sentenzierte sie und reiste am ersten Advent für eine Woche nach Paris zu Familie, Freunden und jeder Menge offener Kamine.

Clemens nutzte die Zeit für eine ausgedehnte Recherche nach einem Handwerksbetrieb, der für den fachgerechten Einbau von sogenannten Bioethanolkaminen mehrfach ausgezeichnet worden war. Und wurde fündig. Billig war diese Anschaffung nicht, aber das Resultat sprach für sich. Der Kamin aus norwegischem Fauskemarmor wirkte täuschend echt und war bei sachgemäßem Gebrauch selbstverständlich absolut sicher. „Idiotensicher“, wie der Handwerker lachend erläuterte, während er Clemens genau erklärte, wie er den Kamin ungefährdet bedienen würde. Denn ein Unfall, der bei unsachgemäßer Handhabung schnell geschehen konnte und tatsächlich immer wieder passierte, konnte zu schwersten Verbrennungen, oft auch mit Todesfolge, führen. „Die Zentren für Schwerbrandverletzte sind im Winter voll von unverantwortlichen Kaminbesitzern“, sagte der Handwerker und sah Clemens eindringlich an. „Normal people don’t burn“, lachte Clemens. „Keine Sorge, ich bin der normale in diesem Haushalt.“

Die wichtigste Lektion war, den Kamin immer erst vollständig auskühlen zu lassen, bevor wieder Bioethanol eingefüllt wurde. Durch die Resthitze im Kamin konnte es sonst zu einer tödlichen Stichflamme kommen.

Clemens saß mit einem Lagavulin auf dem Ledersofa vor dem Kamin, als Claire von ihrer Reise zurückkam. Er hörte das Stakkato ihrer Manolo Blahniks schon auf dem Hausflur, gefolgt von den akustischen Signalen des Key Pads. Mit einem lauten Knall fiel die Wohnungstür ins Schloss. Wie immer betrat Claire das Wohnzimmer auf ihren High Heels.  Auf das teure Eichenparkett nahm sie natürlich keine Rücksicht.

„Bienvenue, ma chérie“. Clemens lächelte sie liebevoll an und küsste sie mit zärtlicher Leidenschaft.  Dann zeigte er stolz auf den prachtvollen neuen Kamin. Einen Moment lang war Claire überrascht und nahm dann wohlwollend das Glas Burgunder an, dass er ihr entgegenhielt. 

„Ich habe extra auf Dich gewartet, um den Kamin einzuweihen. Was gibt es Schöneres an einem kalten zweiten Advent als ein gemütlich flackerndes Feuer? Chérie, da dieses Feuer deine Idee und dein Herzenswunsch war, darfst Du unseren Kamin jetzt in Betrieb nehmen.  Hier.“ Er gab ihr die elegante, bis zum Rand mit Bioethanol gefüllte Kanne in die Hand und schob sie zum Kamin.

Dass dieser gerade noch munter gebrannt hatte, erwähnte Clemens nicht. Manchmal ist Timing nicht nur das halbe, sondern sogar das ganze Leben.

MiniKrimi Adventskalender am 6. Dezember

Comic einer alten Dame neben einem großen Panettone

Mit ihrem Krimi -Auszug entführt uns Luzi van Gisteren nach Italien und praktisch ins Herz der „dolce“ und der „mala“ vita. Viel Spaß beim Lesen!

Madame Panettone

Weihnachten mit der Famiglia ohne die italienische Patronin an der Festtafel? „Auf keinen Fall!“, findet Bella und reist ihrer temperamentvollen Schwiegermutter postwendend nach Montegrotto hinterher. In diesem gediegenen Thermalort möchte Super-Nonna offensichtlich dem Weihnachtstrubel in Saarlouis entgehen, dabei ist in der Pizzeria Roma doch gerade zu Weihnachten so viel zu tun! 

Zwischen den geheimnisvollen Quellen der euganeischen Hügeln, venezianischen Gondolieren und eidottergelben Weihnachtskuchen aus der Gefängnisbäckerei Paduas sucht die Deutsche nach Nonna Carmelina, doch leider fehlt von dieser auch nach Tagen noch jede Spur…

Ein weiteres turbulentes „Natale Fatale“ mit der Super-Nonna.

Die Gefängnisbäckerei lag etwas außerhalb des Centro von Padua. Das Taxi vom Bahnhof brachte mich in wenigen Minuten direkt vor die Patisserie, die sich als großzügige, moderne Manufaktur entpuppte: Ein transparenter Genuss-Tempel. Ich war enttäuscht, da ich eine Horde grobschlächtiger, verschwitzter Bäcker am Rand des Hochsicherheitstrakts erwartet hatte. Insgeheim hatte ich mir ausgemalt, wie ich den handgemachten Weihnachtskuchen aus Mörderhand überreicht bekommen würde. Meine Gefühle schwankten nach wie vor zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Vielleicht brauchte ich einfach eine gehörige Portion Adrenalin, um mein Gefühlschaos wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Wie auch immer – in Padua würde ich den erhofften Adrenalinkick jedenfalls nicht bekommen: Die Angestellten hinter dem Verkaufstresen entpuppten sich als blass und unauffällig und auch sonst ging es in dem geschmackvoll eingerichteten Café eher gediegen zu: Viel Glas, viel Licht, wenig Pompom. Wenn man allerdings einen Blick auf die Tresen warf, liefen einem förmlich die Augen über: Der Tresen bog sich förmlich unter der zentnerschweren Patisserie: Hier warteten feinste Mandelhörnchen, Törtchen mit Himbeerdeko und solche mit Schokoguss, bis ins feinste Detail verzierte Macarons, himmlische Originale aus der Orangen-und Ananas-Confisserie, puderbezuckerte Pralinés und diverse Zimtvariationen auf hungrige Mäuler – so wie meines. Ich konnte mich kaum sattsehen. Und dann stieß ich endlich auf den eigentlichen Grund meiner Reise: Nämlich auf das Regal mit den berühmt berüchtigten Panettoni aus der eigentlichen Gefängnisbäckerei, von welchen der Papst angeblich alljährlich 200 Stück für den Vatikan bestellte. 

Die Gefängniskuchen steckten allesamt in edlen Kartons und wiesen das Siegel auf „Hergestellt in der Gefängnisbäckerei von Padua“. Sie sahen ganz und gar nicht nach gebacken aus Knastbrüderhand aus. Ich kaufte trotzdem drei davon – einen für Nonna, einen für mich und einen auf Reserve. Ich überlegte, noch mehr zu nehmen, um beispielsweise auch Köchin Elena oder Pizzabäcker Patrice zu bescheren, doch ich hatte keinen Platz. Ich war gezwungen, mit leichtem Gepäck zu reisen. Es war besser so – die Bürde mit einer impulsiven italienischen Schwiegermutter, die mich bis aufs Äußerste reizte, war groß genug im Leben. 

Ich hatte in Venedig zwar ausgiebig gefrühstückt, doch nun gönnte ich mir eine Auswahl an Patisserie und bestellte mir einen Cappuccino. Es schmeckte alles ganz ausgezeichnet. Auf dem Corso Milano, vor dem das Café lag, herrschte geschäftiges Treiben. Immer wieder kamen Besucher herein, die sich hinter beschlagenen Brillengläsern einen Espresso an der Bar bestellten und sich tonnenweise Gebäck und Kuchen einpacken ließen. 

Ein untersetzter Mittsechziger mit Rauschebart gesellte sich zu mir. Obwohl es um uns herum noch genug freie Plätze gab, fragte er, ob er sich an meinen Tisch setzen könnte. Ich traute mich nicht, „Nein“ zu sagen, schwieg aber betont und starrte an die Wand gegenüber, während ich die Kuchen in mich hineinstopfte.

„Sie mögen wohl sehr gerne Süßes?“, fragte der Italiener und musterte mich interessiert.

Ich bejahte artig und versuchte es tunlich zu vermeiden, fortlaufend auf die dicken Löcher in seinem braunen Strickpulli zu starren, dessen Blütezeit, so wie sein Träger, längst verstrichen war. Eine Konversation bei Tisch war nicht abzuwenden. Der Strickpulli-Rauschebart stellte sich als Journalist eines Kulturmagazins vor. „Es ist in Italien ja einiges berichtet worden über die Pasticceria dal Carcere di Padova, wissen Sie“, fachsimpelte er und berichtete, dass jeder Häftling eine ganz bestimmte Rolle hätte, wenn es um die Herstellung von Panettoni, Grissini, Kekse und Kuchen ginge. „Wussten Sie, dass jedes Jahr 25 Häftlinge zu Konditoren ausgebildet werden?“

Ich schüttelte den Kopf und stieß ein unverständliches „Grmpffff“ heraus, da ich mir soeben das letzte Mandelplätzchen einverleibt hatte. 

„Und Sie sind aus rein kulinarischen Gründen hergekommen?“, fragte der Vielredner und bot an, an der Theke noch etwas Nachschub in Form von weiteren Patisserie-Stückchen zu besorgen. Ich winkte dankend ab, da mir Zucker und Sahne bereits aufstießen. 

„Wissen Sie – mich interessieren die Geschichten, die unter der Kuchenkuppel mit dem braun-goldenen Papierrand stecken“, fuhr der Journalist fort. „Certo – die Gefangenen werden für ihren luftigen Weinsauerteig jedes Jahr im Dezember geadelt, der Gefängniskuchen schafft es in die Bestenlisten. Aber was ist mit den Schicksalen dahinter, was mit den Familien der Insassen? Und was ist mit der Ehefrau die nun allein ist, weil ihr Mann seinen besten Freund erschlagen hat? Denken Sie dieser teure Pannettone spendet dieser einsamen Ehefrauen und Müttern Trost auf dem Gaumen? Sie wissen ja nicht mal, ob sie sie irgendwann nochmal außerhalb der Besuchszeiten wiedersehen? Sie wissen ja nicht einmal, wie sie die Geschenke für ihre Kinder bezahlen können, verstehen Sie?“

Ich nickte! Es gab schwere Schicksale – doch meines war auch nicht leicht. Ich blickte auf die Uhr und stellte mit Erschrecken fest, dass es längst Mittag durch war. Ich musste auf nach Montegrotto – Federicos Worte, die Nonna zu Weihnachten nach Hause zu bringen, hallten in meinem Ohr nach. 

„Sie müssen schon gehen?“, fragte der Journalist enttäuscht, als ich meinen Mantel von der Garderobe neben dem dezent geschmückten Tannenbaum holte. 

Ich bejahte und erklärte, dass gleich mein Zug nach Montegrotto fahren würde.

„Ach, Sie reisen nach Montegrotto?“, fragte der Vollbart, der mit seinem kugelrunden Gesicht auch als Weihnachtsmann hätte durchgehen können, wäre da nicht diese gewisse dunkle Aura in seiner Gegenwart gewesen. „Haben Sie Familie in Montegrotto?“

Die Neugier des Journalisten stieß mir fast mehr auf, als das Himbeertörtchen Doppelrahmstufe. Im Nachhinein weiß nicht, welcher Gaul mich geritten hat, meine Schwiegermutter und ihren Namen im Zusammenhang mit Montegrotto zu erwähnen – doch irgendwie war es mir rausgerutscht und sogleich biss ich mir auf die Zunge.

Der Reporter jedoch hatte Blut geleckt: „Carmelina Poletti? Ihre Schwiegermutter? Dieser Name…dieser Name…der sagt mir was. Stand Ihre Schwiegermutter vor ein paar Jahren nicht in Zusammenhang mit einem Mafia-Mord oder so?“ Der Vielredner redete sich um Kopf und Kragen.

Meine Schwiegermutter war keine Unbekannte – sie war nicht nur in einen Mafiamord südlich von Neapel, verstrickt, sondern ihr Name wurde in Kennerkreisen auch im Zusammenhang mit einer verschwundenen Schülerin in Verona und einer im toskanischen Weinfass ertrunkenen Schweizer Uhrenbaronessa erwähnt. Nonna besaß ein kriminelles Gen – aber das musste ich dem Reporter ja nicht auf die Nase binden.

Luzi van Gisteren (Bildquelle: privat)

Inklusive Original Nonna-Rezepten und weiteren italienischen Erzählungen aus der humorvollen Feder von Luzi van Gisteren.

www.autorin-luzi.de

Das Buch ist erhältlich bei

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MiniKrimi Adventskalender am 5. Dezember


Ihr Lieben, heute steckt hinter dem Türchen ein nicht ganz „Mini“-Krimi von mir. Mit etwas Magie, einer Prise Ironie und ein wenig Chi-Chi.

Viel Spaß beim Lesen – und ich freue mich über eure Kommentare und – ja! – auch über eure Kritik.

Der Tod steht im Tarot

Gerade mal vier Uhr nachmittags, und draußen kriecht schon die Dunkelheit um die Häuser. Lauert hinter Hecken und auf den kahlen Ästen der Linden im Park an der Minervastraße. In den Fenstern und an den Balkonen glimmen die ersten Lichter auf, die meisten in warmem Gold, nur die neuen Leute gegenüber haben eine von diesen bunt pulsierenden Leuchtketten um die Pfosten ihrer Terrasse gewunden. Wie geschmacklos, denkt Lenor und dann, zusammenhanglos, „wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.“

Naja, das Paar, das in die Wohnung im zweiten Stock genau gegenüber von Lenor auf der anderen Seite des gepflasterten Wegs eingezogen ist, hat ja nun eines. Ein Haus. Sozusagen. Oder die beiden wohnen in einem. Kommt aufs Gleiche raus, am Ende, oder? Lenor hält kurz inne. Immer öfter ertappt sie sich dabei, dass ihre Gedanken mäandern, wie die Wege in der Siedlung. Kürzlich hat sie während einer Legung zweimal dieselbe Karte gezogen und völlig unterschiedlich interpretiert. Frau von Westphal war darüber so irritiert, dass sie beinahe vergaß, Lenor den diskreten Umschlag auf die Biedermeierkommode im Flur zu legen. Ha, vergessen! Das Gedächtnis der – angeheirateten – Baronin funktioniert tadellos. Ohne Punkt und Komma rattert sie alle Neuigkeiten aus der Minervastraße herunter, derer sie habhaft werden konnte. Oft mit einer gehörigen Portion an Konjunktiven, dort, wo Halbinformationen auf Vermutungen oder Spekulationen treffen. Spekulatius, aber ohne Mandeln. Die muss Irina ihr unbedingt mitbringen, morgen, vom Edeka.

Ob ich vielleicht doch mal zu Dr. Möwenschwanz gehe? Die Frage taumelt ungebeten in ihr Bewusstsein. Und ja, sie weiß, dass die Ärztin Möwenbranz heißt. Meistens. Aber nein mit meinem Gehirn ist alles in Ordnung. Und wenn nicht, dann will ich es doch lieber gar nicht erst wissen. Einfach immer ein Stückchen weiter in den Nebel driften, die Gedanken verblassen lassen und die Bilder so nehmen, wie sie kommen. Unscharf, aber dafür ohne Ecken und Kanten. Das ist doch nicht unangenehm? Besser jedenfalls, als das Restleben mit einem Berg von Tabletten und einem aufwändigen Plan an Therapien verbringen zu müssen.

Therapien. Ich therapiere auch. Jede Legung/Lesung ist ein Schritt auf dem Weg zur Heilung. Wenn die Karten mitspielen. Lenor legt Tarot, seit sie denken kann. Hat es bei ihrer Großmutter gelernt, im Wasserschloss. Nein, das war nicht romantisch. Von unten leckte das Wasser ins Erdgeschoss, und von oben tropfte es durch die Löcher zwischen den Ziegeln. Wie das Geld in den Händen ihres Vaters. Schließlich hatte die Großmutter einen Bauwagen restauriert, eigenhändig, und war mit der jungen Lenor auf die Jahrmärkte gezogen. Benno, Anwalt aus gutem, aber vor allem geldigen Hause, hatte sein Schicksal besiegelt, als er den roten Samtvorhang beiseiteschob und in den Wagen stieg. Die Großmutter hat Lenor nie verraten, ob sie das Tarotdeck beim Legen manipuliert hat. Jedenfalls heiratete Benno Lenor praktisch vom Fleck weg, und die Großmutter durfte ihren Lebensabend in einer gemütlichen Wohnung in der Nähe ihrer Enkelin genießen.

Ach ja, Benno. Wir haben uns eigentlich immer ganz gut verstanden. Und dank der Karten hatte ich ihn immer fest im Griff. Schon komisch, wie abergläubisch intelligente und gebildete Männer sein können. Ob die Leute gegenüber gebildet sind? Hindert einen

Bildung nicht daran, solch scheußliche Lichterketten zu kaufen?

Sie hindert einen zumindest nicht daran, wenig Geld zu haben, denkt Lenor. Benno hat immer gearbeitet, aber er war kein Geschäftsmann, ebensowenig wie Lenors Vater. Ein paar falsche Aktienkäufe, und das Erbe seiner Eltern war verbraucht. Damals hatte es wohl großen Ärger mit einer entfernten Cousine gegeben, deswegen. Aber was genau vorgefallen war, hat Benno ihr nie verraten, nicht einmal auf dem Totenbett. Schade, eigentlich, sich auch noch auf dem Weg ins Jenseits mit Geheimnissen abzuschleppen.

Jedenfalls zahlt Lenor in der drei-Zimmer-Eigentumswohnung zwar keine Miete, aber die Ausgaben in der Siedlung sind so hoch, dass sie sich liebgewonnene Extras mit Tarot-Lesungen finanzieren muss. Einen Besuch in der Oper – Logenplatz, sonst kriegt sie ja nichts mit, Augen und Ohren sind schließlich mit ihr in die Jahre gekommen. Oder ein neues Paar Schuhe. Leider ohne hohen Absatz, dafür aus dem Sanitätshaus, aber die kosten gleich doppelt so viel wie die schönen High Heels in der Boutique in der Minervastraße. Oder ein Abendessen im Canale Grande, Bennos Lieblingsrestaurant. Nur gut, dass um sie herum einige Damen – und Herren – wohnen, die dem Tarot nicht abgeneigt sind. Erstaunlicherweise sind das nicht nur die Seniorinnen. Die lassen gerne die Männer, die die Agentur zweites Glück für sie ausgesucht hatte, vom Tarot auf Ehetauglichkeit prüfen. Aber es kommen auch jüngere Frauen, Singles auf der Suche nach dem Traummenschen, Ehefrauen mit unerfülltem Kinderwunsch, (ver)zweifelnde Verliebte und verzweifelte Bankrotteure.

Kurz, Lenor kann sich über Zulauf beklagen. Konnte. Inzwischen jedoch weist ihr Terminkalender immer größere Lücken zwischen den Sitzungen auf. Sie gibt sich alle Mühe. Dimmt das Licht, zündet duftende Kerzen an – außer, ihre Kundin ist Allergikerin, und mischt die Karten mit feierlicher Konzentration.

Und dennoch: kürzlich fing Frau M. kurz nach der zweiten Karte an, schrecklich zu husten. Ihr Gesicht wurde blassblau, und sie rang deutlich nach Luft. Lenor hatte die falschen Kerzen angezündet, und Frau M. konnte sich nur dank ihres Inhalators vorm Ersticken bewahren.

Bei Rosi P. brachte sie mehrmals die Augenfarbe des am Horizont wartenden Traummannes durcheinander. Aber schlimmer noch: das ist jetzt vier Wochen her, und der Typ hat Rosis Weg immer noch nicht gekreuzt. Wenn ich er wäre und Rosi sehen würde, würde ich mich sofort unerkannt aus dem Staub machen, denkt Lenor. Aber ihrem Geschäft sind solche Missgriffe abträglich.

„Ich habe jüngst gehört (fragen Sie mich nicht, von wem, das habe ich vergessen), dass man munkelt, Sie seien wohl zu alt fürs Kartenlegen,“ hat Frau von Westphal ihr bei der letzten Lesung erzählt. Bezeichnenderweise nach dem Fauxpax mit der doppelten Karte.

Und wenn sie mich dann fragt, woran ich meinen Gedächtnisschwund festmache? Ich kann Frau Dr. Möwenschwanz doch nicht sagen, dass ich beim Tarotlegen patze?

Lenor schaut aus dem Fenster. Die bunten Lichter flackern und flimmern. Sie kann gar nichts erkennen, draußen. Schlimm. Ob ich mal rübergehe und mit den Leuten rede? Oder ist das übergriffig? Lenor ist hin- und hergerissen. Und wie immer, wenn sie unschlüssig ist, nimmt sie ihr Tarotdeck zur Hand. Geübt mischt sie so lange, bis sie die Karten in ihren Händen vibrieren spürt. Es gibt immer welche, die gelegt werden wollen.

Lenor schließt die Augen. Legt die große Ouvertüre. Alles soweit im grünen Bereich. Dann die letzte Karte: der Tod. Lenor benutzt für sich das Crowley Thoth Tarot, während sie in ihren Legungen immer mit dem Rider-Waite-Deck arbeitet. So viel einfacher zu verdeutlichen, findet sie. Aber Lenor lebt von Kindesbeinen an mit den Karten. Sie schmiegt ihre Deutungen auch gerne an die okkulten Andeutungen des geltungssüchtigen Aleister Crowley an. Ein genialer Irrer – aber das macht ihn in ihren Augen sympathisch.

Der Tod, also. Neuanfang, Loslassen von dem, was zu schwer geworden ist. Blablabla. Der Tod hat für eine mit 78 auch eine ganz pragmatische Bedeutung. Und welche Karte hat sie direkt davor gezogen? Den Pik Buben. Soso.

Sie versucht es noch einmal. Sie weiß ja inzwischen, dass sie sich auf sich selbst nicht mehr immer und unbedingt verlassen kann. Aber hier: Pik Bube, gefolgt vom Tod.

Nachdenklich schaut Lenor aus dem Fenster. Inzwischen ist es stockdunkel draußen, die Häuser sind nur noch weiße Schatten entlang der Wege. Einzig der Balkon gegenüber flackert im tanzenden Licht der Girlanden, von grün zu rot, von gelb zu blau. Eine Form tritt hinaus, schmal und geschmeidig, die huschenden Farben malen Flecken auf ein düsteres Gesicht. Ein expressionistisches Gemälde, halb fertig. Da hebt der Mann die Augen und starrt Lenor an. Durch die Dunkelheit hindurch, über den Weg hinweg, als trennten sie keine Kälte, kein Fenster. Der Blick trifft sie als eisiger Hauch, Lenor fröstelt in ihrem warmen Wohnzimmer.

Wer bist du?, fragt sie. Und starrt zurück. Eine winzige Ewigkeit lang stehen sie sich gegenüber, zwei körperlose Duellanten, und messen ihre Kräfte. Wie kommt sie darauf?, fragt sich Lenor. Wieso Kräfte? Und wieso messen? Sein Blick brennt auf ihrer Stirn, und sie erkennt ihn. Er ist der Pik Bube.

Mit einem entschlossenen Griff lässt Lenor den Rolladen herunter. Fast scheint es ihr, als suchten die Augen des Mannes eine Ritze, ein Durchkommen. Aber nein. Sie hat ihn ausgesperrt. Nur – für wie lange? Sie weiß, was er vorhat. Diesmal haben die Karten sie nicht belogen, betrogen. Warum? Darum geht es nicht. Oder vielmehr: das ist egal. Fakt ist: sie muss sich entscheiden. Kämpfen oder…?

Am nächsten Morgen zieht Lenor sich mit besonderer Sorgfalt an. Nicht wie sonst die Leggins mit der Laufmasche, die muffeligen Wollstrümpfe und darüber einen karierten Rock, einen Baumwollpulli und eine löcherige Strickweste. Sie hat auch andere Kleidung, Die gute aus besseren Tagen, die sie für Besuche in der Stadt, in der Oper oder bei der Ärztin aufhebt. Was sie heute vorhat, ist genauso wichtig, nur leider nicht so glückverheißend wie ein Opernabend und noch unangenehmer als ein Arztbesuch. Und gefährlicher.

Es ist Sonntag, und die Siedlung liegt in tiefem Schlummer. Nicht mal Emma Peel und John Steed, die beiden Dobermänner der Agentur zweites Glück, sind wach. Schade, zwei Detektive hätte Lenor gut brauchen können. Stattdessen legt sie sich ihren Kaninchenkragen um. Er ist blassbraun und passt eigentlich nicht zum tiefroten Wollmantel. Aber wie die Tarotkarten wollte der Kragen mitgenommen und um ihren Hals getragen werden. Lenor hat sich noch nie darüber gewundert. Warum sollen Dinge keine Seele und ergo auch keinen eigenen Willen haben?

Die Lichter am Balkon gegenüber im zweiten Stock sind tagsüber stummgeschaltet. Als Lenor den Weg zwischen ihren Häusern überquert, löst sich ein schmaler Schatten von der Wand und geht in die Wohnung. Noch ehe Lenor die Klingel berührt, summt der Türöffner.

Willkommen in der Höhle des Löwen. Mach dir’s bequem, flüstert die Spinne. Auf dem Treppenabsatz ringt Lenor nach Atem. Den Aufzug hat sie vermieden. Man muss ja keine unnötigen Risiken eingehen.

„Guten Tag“, sagt der schmale Mann mit den schwarzen Augen und dem durchdringenden Blick. „Kommen Sie rein.“

Die Höhle des Löwen ist enttäuschend unspektakulär, auch wenn Lenor sich keiner klaren Erwartung bewusst ist. Keine Säbel an den Wänden. Kein Revolver auf dem Couchtisch. Nur eine Wohnlandschaft, eine schlichte Schrankwand, ein Picasso hinter Glas und eine Teekanne mit zwei Tassen. Gift also. Kluge Wahl und unter Umständen schwer bis gar nicht nachzuweisen.

„Tee?“, fragt der Mann und schenkt ein, ohne ihre Antwort abzuwarten. Natürlich lässt er ihr keine Wahl. Aber er ist höflich, das könnte ein Fehler sein. Leider kann Lenor ihre gute Erziehung nicht über Bord werfen, sich auf dem Absatz umdrehen und gehen. Das würde selbstverständlich auch nichts nützen, und bei der nächsten Gelegenheit würde er sie vielleicht, sehr wahrscheinlich sogar, unvorbereitet treffen.

„Sehr gerne, danke. Schwarz.“ Nur für den Fall, dass der Zucker vergiftet ist und nicht der Tee. Arsen? Daran kann man sich gewöhnen, und die Dosis, die für das Opfer tödlich ist, schadet dem Mörder nicht, so dass er als Täter ausscheidet, weil er ja den gleichen Tee getrunken hat.

„Sehr gern. Bitte, nehmen Sie doch Platz.“

„Danke. Bitte, darf ich fragen, ob wir uns kennen?“

„Ja, Sie dürfen. Und nein. Jedenfalls nicht persönlich.“

„Ah. Und warum?“

„Warum ich Sie töten werde?“

„Ja, genau. Sie scheinen nicht erstaunt darüber zu sein, dass ich das weiß.“

„Nein. Ihre Karten werden es Ihnen verraten haben. Damit habe ich gerechnet. Das ist ja sogar Teil meines Plans. Sie sind halt so. Neugierig und so unglaublich selbstsicher. Sie denken wahrscheinlich, Sie können in letzter Minute noch einen Trumpf aus dem Hut zaubern. Da muss ich Sie leider enttäuschen. Eine alte Dame besucht ihre Nachbarn. Die Frau ist nicht da, und um das Warten zu verkürzen, bietet der Mann der Damen einen Tee an. Sie trinkt ihn, und dann erleidet sie einen Herzanfall. Im Tee wird man später nichts finden, das ist ja klar. Kommen Sie, trinken Sie. Wir wollen das doch nicht unnötig in die Länge ziehen.“

„Natürlich nicht. Kluger Plan. Aber darf ich fragen, warum?“ Lenor blickt sich um. Das Gemälde kommt ihr bekannt vor.  Ein Picasso. Ja natürlich.

„Ah, Sie sind schon selbst drauf gekommen? Eigentlich ist es Onkel Bennos Schuld. Aber der ist ja nun schon tot. Also bleiben nur Sie. Nein, nein, ich weiß, dass Sie inzwischen arm wie

eine Kirchenmaus sind. Mir geht es nur noch um Rache. Manche Dinge dürfen einfach nicht ungestraft bleiben. Was schauen Sie mich denn so an? Sie wissen gar nicht, wovon ich rede? Dieser Benno! Hat er Ihnen nicht mal auf dem Totenbett gebeichtet, wie er seine Cousine, meine Mutter, übers Ohr gehauen hat? Am Ende fand er es sogar noch amüsant. Aber sie ist daran zugrunde gegangen.“

Lenor runzelt die Stirn. Sie versteht diesen Mann nicht. Was zum Teil auch daran liegt, dass er sich offensichtlich immer mehr in Rage redet. Seine Stimme kratzt, seine Augen sind gerötet. Jetzt hüstelt er auch noch. Ob sie ihm etwas Tee…?“

„Benno hat den Löwenanteil vom Erbe seiner Eltern bekommen. Klar. Aber seiner Cousine hatten sie im Testament den Picasso vermacht. Damit hat meine Mutter fest gerechnet. Sie führte ein großes Haus, meine Ausbildung an internationalen Schulen war auch nicht billig – kurz, sie wollte das Bild schnellstmöglich verkaufen.“

„Ah jaaaa.“ Langsam beginnt Lenor, zu verstehen.

„Ja, genau! Der Auktionator ließ das Bild natürlich schätzen. Und wissen Sie was?“

„Es war wahrscheinlich eine Fälschung,“ mutmaßt Lenor.

„Genau! Benno hatte das Original offenbar selbst schon zu Geld gemacht, nach seinem Aktienfiasko. Und meine…“ er unterbricht sich und hustet schwer. Sein Gesicht ist rot und geschwollen. „Meine Mutter“, röchelt er und greift sich mit beiden Händen an den Hals, „meine Mutter hat diese Schmach nicht ertragen. Sie hat sich.. um….ge….bracht“, flüstert er. Dann bricht er auf dem Boden zusammen.

Die Wohnungstür geht auf, eine junge Frau kommt herein. Sieht ihren Mann am Boden liegen, schreit auf, rennt aus dem Raum und kommt mit einem Autoinjektor zurück. Aber es ist schon zu spät. Panisch schaut sich die Frau im Wohnzimmer um. „Wo ist das Kaninchen? Er ist hochallergisch gegen Kaninchen.“

Lenor legt der jungen Frau kurz die Hand auf die Schulter und geht zur Tür. Beim Hinausgehen dreht sie sich nochmal um und sagt eindringlich: „Schütten Sie den Tee weg. Der ist kalt und absolut ungenießbar.“

MiniKrimi Adventskalender am 4. Dezember

Stadt am Wasser

Diesmal stammt der MiniKrimi von meiner Mörderischen Schwester Katja Kleiber. Wir wünschen spannende Unterhaltung. Vielleicht seid Ihr neugierig, wie es weitergeht? Der Spanienkrimi „Riskantes Erbe“ ist im Buchhandel erhältlich.

Riskantes Erbe ( Kapitel 9)

Ein untersetzter Mann in Blaumann fummelte am Schloss rum. Er lächelte Irene unsicher zu und setzte seine Arbeit fort.

Irene hatte sich ins Café an der Strandpromenade geflüchtet, während Carlos seine Helfer aktiviert hatte. Jetzt roch es im Apartment nach dem Zitronenaroma eines Bodenreinigers. Araceli hatte geputzt, und zwar gründlich. Die Staubschicht war von den Möbeln verschwunden, die Küche glänzte und die Fenster blitzten nur so vor Sauberkeit.

Der Blick aufs Meer war ungetrübt. Sie verlor sich in dem Anblick der blauen Weite.

Das Surren eines Akkuschraubers rief sie in den Moment zurück. Juan befestigte den Beschlag des Schlosses.

Irene fragte sich, ob sie ihm etwas zu trinken anbieten sollte. Sie nahm zwei Gläser aus dem Schrank, öffnete den Kühlschrank und griff nach der Colaflasche. Noch besser würde die Cola mit Eis schmecken. Sie öffnete die Klappe vom Gefrierfach. Tatsächlich fand sie dort eine Eiswürfelform, daneben eine Packung Spinat. Gedankenverloren brach sie einige Eiswürfel aus der Plastikschale und ließ sie in die Cola gleiten.

Spinat? Anders als sie hatte Hubert das Gemüse nie gemocht. Wenn sie Spinat zubereitete, musste sie für ihn extra etwas anderes kochen. Stand sein Flittchen auf Grünzeug? Die jungen Mädchen waren doch heutzutage alle Veganer.

Sie nahm die Packung. Ob der Inhalt noch genießbar wäre? Als sie sie in den Händen drehte, um nach einem Haltbarkeitsdatum zu suchen, sah sie, dass der Karton bereits aufgerissen war. Sie öffnete die Lasche.

Geldscheine. Anstelle eines gefrorenen Blocks pürierter Spinatblätter kamen ihr Scheine entgegen. Fünfziger, Hunderter, Fünfhunderter. Ein dicker Stapel Geld in dem Karton einer Packung Tiefgefrorenes.

Irene spürte auf einmal Juans Blicke in ihrem Rücken. Hektisch stopfte sie die Scheine zurück in die Packung und schob diese wieder ins Eisfach, das sie mit einem Knall schloss.

Dann drehte sie sich um und hielt dem Schlosser ein Glas Cola entgegen, in dem drei harmlose Eiswürfel schwammen: »Te apetece una Coca Cola?«

Verlegen nahm der Mann die Limonade an, trank in hastigen Zügen. Dann zeigte er auf das Schloss, legte ihr zwei nagelneue Schlüssel in die Hand. Er zückte sein Handy, tippte darauf herum und zeigte Irene die Anzeige eines Taschenrechners, in dessen Ergebnisfeld eine lächerlich geringe Summe stand.

Sie holte ihr Portemonnaie aus der Handtasche und gab ihm seinen Lohn, rundete ihn mit einem großzügigen Trinkgeld auf. Der Mann bedankte sich und ging.

Ob er die Scheine aus dem Kühlschrank gesehen hatte? Aber sie hatte ihm den Rücken zugewandt. Ihr Körper hatte vermutlich den Blick auf den Geldstapel versperrt.

Irene stürzte ihre Cola herunter, ging zur Tür und schloss zwei Mal ab. Der neue Schlüssel hakelte noch etwas.

Dann öffnete sie erneut das Eisfach, nahm die Spinatpackung heraus und holte die Scheine hervor. Sie setzte sich an den Esstisch und zählte. Bei hundertzwanzigtausend kam sie durcheinander und gab auf.

Woher hatte Hubert so viel Bargeld? Irene schluckte. Eine solche Menge Scheine hatte sie noch nie auf einmal gesehen. Sie brauchte Ruhe, um über den Fund nachzudenken. Nur eins war klar: Im Kühlschrank konnte der Schatz nicht bleiben, denn eventuell hatte Juan sie beobachtet. Sie musste sich ein besseres Versteck ausdenken.

Mehr über die Autorin und ihr Werk auf www.katja-kleiber.de

MiniKrimi Adventskalender am 3. Dezember

Frau sitzt am Computer

Diesmal wieder ein MiniKrimi aus der Siedlung an der Minervastraße. Eat the rich oder – Armut ist immer relativ. Kriminelles Lesevergnügen wünschen wir. Und Achtung: Nachahmung wird strikt untersagt…

Robin Hoods Erbin

Die Siedlung an der Minervastraße hat alles, was das Herz von wohlbetuchten Münchner*innen begehrt: zentral und doch mitten im Grünen, elegant im neoklassizistischen Stil und dabei mit allen Modcons, die ein luxuriöses Leben bietet, von Fußbodenheizung und dezent versteckten Aufzügen bis hin zur geräumigen Tiefgarage, in der auch ungeübte SUV-Fahrer ohne Schrammen einparken können. Mäandernde Wege führen durch einen gepflegten Park zu einem kleinen Teich, und wenn man vom Steg in die umsäumenden Tannen blickt, liegt nichts ferner als die – richtige – Vermutung, dass das Ganze erst vor ein paar Jahren angelegt wurde. Wie die Siedlung, so haben auch Park und See eine verwunschene Patina, die zum Träumen einlädt – komplett mit einer im letzten Winter dort versenkten Leiche. Romantik pur, eben.

Dr. Lukas Wentzel, 66, ist kein Romantiker. Aber seine Frau Sofia und seine Töchter Lina und Rita hatten sich sofort in das Anwesen verliebt, und als die opulente 5-Zimmer-Dachterrassenwohnung frei wurde, gab er den Bitten seiner Familie nach und kaufte sich in die Siedlung ein. Zu einem schwindelerregenden Preis. Aber als Zahnarzt mit einer renommierten Praxis im Herzen der bayerischen Landeshauptstadt war er nicht nur ein gern gesehenes Aushängeschild der Siedlung. Dank seiner souveränen Art und der herzlichen Überzeugungskraft seiner „Mädels“, wie er Frau und Töchter nannte, gewann er auch bald eine Reihe zahlungsfreudiger Patient*innen hinzu. Und um der Wahrheit Genüge zu tun, muss gesagt werden, dass Wentzel ein Meister seines Faches ist. Was immer sich seine Patient*innen wünschen – er erfüllt selbst die kühnsten gebisstechnischen Träume: ein blendendweißes Bleaching für das 30-jährige Plus-Size-Model, eine Komplettsanierung ausgeschlagener Ruinen für den Ex-Boxer auf Freiersfüßen, aber auch eine Vollprothese, mit der Frau von Westphal endlich wieder mit ihren Freundinnen in aller Öffentlichkeit Sachertorte essen kann, ohne dass die Zähne in der Konfitüre kleben bleiben. Voraussetzung für seine Behandlung ist natürlich die absolute Bonität der Patient*innen. Denn Wentzel überlässt nichts dem Zufall, weder in der Behandlung noch bei der Abrechnung.

Um sein Leben und den in nächster Zukunft geplanten Ruhestand gepolstert zu finanzieren, hat er jahrelang vertrauensvoll in einen seriösen ärztlichen Pensionsfonds eingezahlt. Er hält nichts von windigen Investitionen und riskanten Aktienkäufen und geht lieber auf Nummer sicher.

So dachte er, so plante er. Bis die Wirklichkeit ihn in Form eines harmlos im Briefkasten ruhenden grauen Umschlags einholt. „Aufgrund unvorhersehbarer weltpolitisch bedingter Schwankungen hat der Fonds leider einen erheblichen Teil seiner Investitionen eingebüßt (……). Wir bedauern außerordentlich, ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Ihre Rentenansprüche um bis zu 62% reduzieren müssen.“

„WAS?“ Wentzel schwankt, Nebel vor seinen Augen, Treibsand statt Parkett unter seinen Füßen.  „Lukas? LUKAS!“ Seine Frau kommt durch die Tür, streckt beide Hände nach ihm aus und hält ihn fest. Zusammen gleiten sie zu Boden. Dort kauert Wentzel eine kleine Ewigkeit, Kopf auf den Knien, unfähig, auch nur ein Wort der Erklärung von sich zu geben.

„Diese Idioten. Wie kann man nur so dumm sein?“ Dann: „Nein, das ist unmöglich. Da steckt ein Plan dahinter.“ Schließlich: „Diese Verbrecher. Haben sich auf unsere Kosten bereichert.“ Endlich: „Na warte. Das werdet ihr büßen. Aber sowas von!“

Seine Pläne. Seine Zukunft. Nicht nur seine. Auch die seiner Frau. Und seiner Töchter. Auslandsstudium. Startkapital für die eigene kleine Firma. Alles weg. Pulverisiert durch eine falsche, ach was, eine kriminelle Investitionspolitik von einer Handvoll selbstgerechter Fondsmanager. Es ist ausgeschlossen, erkennt Wentzel, dass Prof. Dr. Viktor Hesemann, Vorstandsvorsitzender des Ärztlichen Pensionsfonds und Mediziner, in völliger Ahnungslosigkeit sein, Wentzels, Leben und das von wer weiß wie vielen anderen Gutgläubigen ruiniert hat. Nein, das alles ist ein bis ins Kleinste geplanter Komplott, aus dem Hesemann mit mehrfach siebenstelligen Gewinnen und einer reinweißen Weste hervorgeht.

Er hat schließlich „nur beraten“, „nur ausgeführt“, „nur die Risiken falsch eingeschätzt“.

Und jetzt? „Wir müssen die Wohnung verkaufen. Sofort. Die Mädchen müssen sich ihr Studium selbst finanzieren. Das Wohnmobil setze ich gleich ins Internet.“ Wentzels Frau schaut ihren Mann an. Schweigend.

Dann sagt sie: „Gib mir mal alle Unterlagen, alles, was du vom Fonds hast. Und vom Vorstand.“

„Und dann?“

„Dann sehen wir weiter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die damit so ohne weiteres durchkommen.“

„Doch. Tun sie. Weil wir alle zu blöd waren, zu vertrauensselig. Weil wir ihnen Carte Blanche gegeben haben. Auf eine externe Wirtschaftsprüfung verzichtet haben. Aus Kostengründen. HAHA!“

Sofia vergräbt sich mit den Unterlagen im gemeinsamen Arbeitszimmer. Die Stunden vergehen. Irgendwann hält Wentzel es nicht mehr aus. Er kocht einen Tee – grün, im Beutel, um sich schon mal in Armut zu üben – und klopft. „Komm rein“, ruft Sofia.

„Und?“, fragt er.

„Hesemann hat tatsächlich an alles gedacht. Den kriegen wir nicht dran.“

„Dann kontaktiere ich am besten gleich einen Makler. Aber keinen von hier. Ich will nicht, dass die Leute mitkriegen, dass wir demnächst pleite sind. Meine Patienten! Ich hab‘ allen erzählt, dass ich spätestens in zwei Jahren in Rente gehe. Jetzt muss ich arbeiten, solange Augen und Bandscheibe mitmachen.“ Müde und mutlos lehnt Wentzel sich an die Wand.

„Also deine Patienten werden sich freuen, vor allem die Patientinnen“, lacht Sofia. „Schau mich nicht so bissig an. Um so höher du stehst, desto tiefer fällst du. Aber zum Glück hast du ja noch mich.“

„Mit deinen paar IT-Kunden wirst du uns kaum ernähren können“, murmelt Wentzel.

„Vielleicht nicht. Stimmt. Aber wer weiß – vielleicht doch. Ich habe da nämlich eine Idee. Allerdings nur unter einer Bedingung. Du musst herausfinden, welche deiner Kolleg*innen durch den Fonds die meisten Verluste erlitten haben. Also wirklich die, denen es am dreckigsten geht.“

„Warum?“

„Nenn mich Robin Hoods Erbin, Schatz. Und frag nicht weiter. Ich will dein Gewissen nicht unnötig belasten.“

II

„Das ist doch zu schön, um wahr zu sein. Wo ist da der Haken?“ Prof. Dr. Hesemann blättert den Hochglanzprospekt nochmal durch. Von vorne bis hinten. Kein Haken erkennbar. Das aufstrebende Bio Tech-Start Up mit dem wohlklingenden Namen „EnzyValion Therapeutics“ ist klein, innovativ und noch so unbekannt, dass er als early investor satt Profit machen kann. „Toller Tipp von der jungen Kollegin“, denkt Hesemann. Und er weiß, dass er seine Marke perfekt aufgebaut hat: der sichere Investor, risikofreudig, aber nicht blauäugig. Er kann sich nicht an die Frau erinnern, aber wenn die Investition so gut läuft, wie sie klingt, wird er sie nach er der ersten Million zum Essen einladen. Als Einzahlerin in den Ärztefonds wird sie sich das alleine wohl kaum noch leisten können.

Hesemann nimmt sich einen ganzen Tag Zeit, um EnzyValion Therapeutics zu durchleuchten. Google kennt das Start Up. Die Webseite ist clean, mit sympathischen Management-Gesichtern, vorwiegend junge Männer, eine Frau; ein minimalistisches Pitchdeck, ein schmaler Crunchbase-Eintrag („Seed Stage – undisclosed funding“), ein Eintrag in einem Startup-Katalog, eine kleine Liste von Partnern und eine Handvoll Presseartikel. Etwas Präsenz auf LinkedIn, sogar ein paar saubere FB-Profile – alles genau so, wie man es von einem „Early-Stage“-Start Up mit hoher Exklusivität erwartet. Ein halb gefülltes Ökosystem, typisch für Mini-Firmen. Und mit dem Versprechen von großen Gewinnen für ihn.

Am nächsten Tag unterschreibt Hesemann digital und überweist das Geld. Eine schwindelerregende Summe. Für ihn kein Problem, Fonds sei Dank. Um ganz sicher zu gehen, loggt er sich am Anfang stündlich in sein Investor-Dashboard ein. Alles wasserdicht und im leuchtend grünen Bereich: Anteile, Wertentwicklung, Schaubilder, Auszahlungsfunktionen, Transaktionsverlauf.

Als eines Morgens die Steuerfahndung bei ihm klingelt – was Hesemann längst mit einkalkuliert hat – setzt er seinen Escape-Plan um. Oder besser, er will ihn umsetzen. Jetzt nur noch schnell das Geld aus dem Start Up ziehen, und dann ab nach Zypern. Warum in die Ferne schweifen? Mit den richtigen Papieren liegt das Gute doch recht nah.

Doch nach dem Login bleibt der Bildschirm erstmal blank. Also black. Dann blue. Schließlich erscheint eine Anonymus-Maske und sagt: „Wir danken für die großzügige Spende und bitten um Verständnis dafür, dass wir keine Spendenbescheinigung ausstellen können. Wir bedauern außerordentlich, ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Ihre Investition zu 100% einbehalten mussten.“

Dr. Lukas Wentzel hat keinerlei Einwände, als seine Frau ihm mitteilt, dass das Kapital, das sie für ihn erwirtschaftet hat, exakt dem Betrag entspricht, den er durch den Ärztefonds verloren hat. Der Rest, das weiß er, bewahrt eine Handvoll Kolleg*innen vor dem sicheren Ruin. Und das ist gut so. In Zukunft wird er seine Geschäfte ganz in die Hände seiner Frau Sofia, Robin Hoods Erbin, legen. Auch das ist gut. 

MiniKrimi Adventskalender am 2. Dezember

Bild vom Kölner Dom

Heute lest ihr einen spannenden MiniKrimi von meiner Mörderischen Schwester Sigrun Dahmer. Vielleicht kennt ihr sie von unserer ersten Online Krimilesung am 27.11. Viel Spaß beim Lesen!

Hoch hinaus!

„157 Meter, 335 Stufen. Meine Damen und Herren: Willkommen bei Kölns härtestem Fitnesstraining. Aber Sie werden sehen, wer den mühsamen Aufstieg wagt, wird mit einem atemberaubenden Ausblick belohnt. Mein Name ist Hanna und heute vertrete ich meinen Kollegen Hannes.“

 „Sie wird wach“.  Walters Stimme. Ein Glück, dass ihr Mann bei ihr war. Hannas Kopf dröhnte. 

„Gut. Ich schaue mir die Patientin gleich an“. Sie nahm einen Hauch von Knoblauch wahr und   öffnete unter Schmerzen langsam die Augen. Eine weiße Fläche über, eine blaue Fläche neben ihr. Sie versuchte den Blick zu fokussieren, doch es wollte ihr nicht so recht gelingen. Frustriert ließ sie die Lider wieder zufallen. „Hanna“, hörte sie Jupp sagen und spürte, wie er ihre Hand nahm.

Plötzlich blitzte ein Erinnerungsbild von Jupp im Wohnzimmer in ihrem Kopf auf, kurz darauf spulte ihr Hirn den ganzen Film ab. Jupp unten im Wohnzimmer beim Skatspiel mit seinen Arbeitskollegen.  „Haben wir noch Chips?“ rief er ihr nach oben zu. Sie ärgerte sich. Er wusste so gut wie sie, in welchem Küchenschrank sich die Knabbereien befanden.  Etwas später rief er sie erneut: „Hanna, komm mal runter. Du hast Besuch!“ Keine Ahnung, wer das sein könnte. Neugierig öffnete sie die Tür. Vor ihr ein nervöser, angespannter Hannes. Seine Augen hinter einer dunklen Brille, Schmutzspuren auf dem Kragen seiner teuren hellen Jacke. Ohne Erklärung kam er sofort zur Sache: „Hanna, du musst morgen meine Schicht übernehmen!“

 „Komm doch erst einmal rein.“

 „Nein, ich hab keine Zeit. Morgen um 17.30 Uhr, Treffpunkt Domplatte.“

„Morgen ist der achte Dezember, oder?“

„Kannst du?“

Sie mochte den Südturm nicht, da oben auf der durchsichtigen Metalltreppe hatte sie schon häufiger unter Höhenangst gelitten. Um Zeit zu gewinnen, bat sie um mehr Informationen. „Was für Gäste sind das denn?“ 

„Privatführung.“ Hannes nahm die Brille ab und steckte sie auf sein raspelkurzes Haar. Moment mal, waren seine Augen geschwollen? „Hier, ich gebe dir auch Extrageld.“ Er zog hektisch seine Brieftasche aus der Hose, wollte ihr einen Schein in die Hand drücken, doch Hanna machte eine abwehrende Handbewegung. „Schon gut, schon gut. Ich mach`s, auch ohne dein Geld.“ „Danke“. Hannes drehte sich um und verschwand.

Und dann setzte wieder die Höhenangst an, alles begann sich zu drehen.  Hannas Ohren dröhnten so, als ob ein Schlagzeuger ihr Hirn als Trommel missbrauchte. Endlich überkam sie gnädiger Schlaf.  Zu dumm, dass Jupps Stimme sie kurz darauf, schon wieder zurückholte. “…so stolz …“ Er streichelte ihre Hand. Doch als sie die Augen unter großer Anstrengung öffnete, um ihn anzulächeln, saß nicht nur ihr Mann auf ihrem Bett, sondern auch der Blaue. „Frau Abel, hören Sie mich? Kann ich Sie vernehmen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr der Lästige auch schon fort. „Sie sind also Hausfrau von Beruf, arbeiten bis zu sechs Mal im Monat als Fremdenführerin. Ist das korrekt?“ Was wollte der von ihr? Warum schrie er so?

„Kommen Sie morgen wieder, die Patientin braucht Schlaf. Viel Schlaf.“ Ein weißer Mann kam auf sie zu, legte seine kühle Hand auf ihre Stirn.

Sie zuckte zusammen, erinnerte sich an die Hand vom grauen Mann an ihrer Kehle. Es war dunkel, das Dämmerlicht in der steinernen Wendeltreppe gab nur ein Minimum von Konturen preis. Sie hatte Hannes Truppe geführt, Dombesteigung. Eine Tour, die sie überhaupt nicht mochte. Das Treppenhaus war viel zu klein und eng. Und dann noch dieser Gegenverkehr. Sie spürte, dass ihr Kreislauf nicht mehr richtig funktionierte, Graffitis an den Wänden, Schweißgeruch in der Nase. Plötzlich tauchte da dieser unheimliche Mann auf. Er gehörte nicht zu ihrer Truppe und fragte sie dennoch immer wieder „you Hannes?“ Irgendwann hatte sie genervt genickt Hanna, Hannes. Egal, sie wollte nichts anderes mehr, als diese lästige Führung zu Ende zu bringen. Und so war sie so schnell, wie es ihr unter den Umständen möglich war, vorangeschritten, als der Graue sie auf einmal in eine Einbuchtung abdrängte und versuchte, ihren Hals in den Würgegriff zu nehmen. Er war entsetzlich stark und sie bekam kaum noch Luft, konnte fast nicht mehr atmen …

Hannas Herz pochte. Sie musste fliehen, durfte nicht liegenbleiben. Doch als sie sich bemühte, aufzustehen, bemerkte sie, dass sie ihr linkes Bein nicht bewegen konnte. Der Schmerz war so überwältigend, dass sie laut aufstöhnen musste. Der Blaue beugte sich über sie und zeigte sich unbeeindruckt. „Frau Abel. Kennen Sie diesen Mann?“ Sie wollte einfach nur, dass er Ruhe gab und sie endlich wieder weiterschlafen ließ.  Aber, seine Augen sahen sie so eindringlich, fast fanatisch an, dass ihr, um ihn loswerden, nur die Möglichkeit blieb, auf seine Forderung einzugehen. Insofern riss sie sich zusammen, richtete ihren Oberkörper ein wenig auf und schwieg und konzentrierte sich auf das Foto vor ihr. Schicke Kleidung. Kurze Haare. „Hannes.“

„Hat er sich so genannt?“, fragte der Blaue sie aufgeregt. Ihr gelang ein Nicken. Er bemühte sich um einen ruhigeren Tonfall: „Ein Tarnname. Ihr Kollege heißt nicht so. Sein wirklicher Name … egal, das Wichtige ist: Dieser Mann ist gefährlich. Wir haben ihn zur Fahndung ausgeschrieben.“ Hanna drehte den Kopf zur Seite, versuchte die Informationen zu verarbeiten, was nicht leicht war, da ihre Ohren wie verrückt brummten, läuteten. Kino. Brad Pitt. Das konnte doch nicht wahr sein. Träumte sie?  Hannes zur Fahndung ausgeschrieben? Ihr Arbeitskollege, mit dem sie auf der letzten Weihnachtsfeier so herrlich über den Knipswahn der Touristen hergezogen war?  „Und …“ Die dringliche Stimme des Blauen schob sich erneut in ihre Gedankenwolken. „Und Frau Abel, und vielleicht kennen Sie auch diesen Mann?“  Sie wollte erst nicht hinsehen, doch ihr Kopf drehte sich automatisch zum zweiten Foto hin.Panik überkam sie. Sie schlug die Hand vor den Mund. Das war er. 

Er hatte zugedrückt bis dieser Tourist vorbeigekommen war und sie höflich gebeten hatte, ihn durchzulassen. Die ganze Attacke war ihr so unwirklich erschienen. Sie, Hausfrau aus Köln, erwachsene Kinder, wer sollte ihr etwas wollen? Ihre Gast-Truppe wartete schon oben auf der Plattform auf sie. Ganz in der Nähe. Alles nur ein Missgeschick. Doch sobald der Tourist weitergegangen war, sah sie den entschlossenen Blick ihres Angreifers. Kein Zufall. Ganz im Gegenteil. Sie befand sich in höchster Gefahr. Fliehen! Panisch hechtete sie nach oben zu ihrer Gruppe. Hilfe holen. Dann hörte sie ein kurzes, böses Lachen, sah ein ausgestrecktes Bein und stolperte, fiel die Stufen hinunter.

 „Hanna? Alles klar?“, schrie ihr jemand aus ihrer Reisegruppe von der Balustrade oben zu. Der Würger zog sie hoch, nahm sie in den Schwitzkasten. Er rief etwas nach oben, was sie nicht verstand. Ihre Lippen formten bereits das Wort „Hilfe“, als sie spürte, wie sich ein kühles Metallrohr gegen ihre Hüfte schob. „Move. A place where it is just you and me.“

Herzrasen, Panik. Endlich gelang es ihr zu schreien. Man wollte sie umbringen. Sie sollte sterben!

„Ganz ruhig, Frau Abel. Jetzt sind Sie in Sicherheit vor dem Auftragskiller.  Aber keine Sorge, er war nicht auf Sie, sondern auf Ihren Kollegen angesetzt…“

“Schluss jetzt”, hörte sie den Weißen sagen. Der Blaue gab Ruhe. „Ruhen Sie sich aus, Frau Abel.“ Endlich konnte sich ihr erschöpfter Körper den tiefen, traumlosen Schlaf holen, den er brauchte. 

Als sie das nächste Mal aufwachte, stand Jupp mit einem Strauß Rosen an ihrem Bett. „Guten Morgen, mein Schatz.“ „Guten Morgen“, flüsterte Hanna. Ihr ging es bereits viel besser, die Medikamente wirkten. Statt eines bombastischen Geläutes im Kopf nur noch ein leises Fiepen. „Du kannst wieder sprechen?“ Jupp küsste sie vorsichtig auf die Wange. „Schau mal!“. Er reichte ihr die Tageszeitung. Auf dem Titelblatt ein Foto vom decken Pitter, der berühmtesten Glocke im Kölner Dom.

Ihr Angreifer nötigte sie, die Tür zur Glockenstube aufzuschließen. Kluges Manöver, dachte Hanna noch. Für Hannas Gäste musste es so aussehen, als würde er sie nach dem Sturz einfach nur stützen wollen. Obwohl ihr Kopf dröhnte, zwang sie sich, die Uhrzeit von seiner Rolex abzulesen. Noch zwei Minuten.  Er schob sie vor sich her, überließ ihr aber die Führung. Unter Röcheln schleppte sie ihn an den Gussformen für die Domglocken, die alle ordentlich in einer Reihe standen, vorbei.

 „So Hannes, say good-bye“. Er musste schreien, um sich verständlich zu machen, da es in dem knarrenden Gebälk der anschwingenden Glocken wie immer sehr laut war. Immerhin hatte er sie losgelassen. Langsam drehte sie sich um, unterdrückte sowohl die Schmerzen als auch ihre Genugtuung. Er sollte nicht merken, dass er genau da stand, wo sie ihn hatte haben wollen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich eine der schwersten Glocken der Welt ebenfalls zu bewegen begann.  Mit dem Rücken zum Pitter erhob er seinen Arm, um seine Pistole hochkonzentriert präzise auf ihre Stirn auszurichten. Hanna betete, dass ihr Plan aufgehen würde. Er befand sich an der einzigen Stelle, wo die Schutzabsperrung eine Lücke aufwies. Sie begann zu zittern, kämpfte aber mit aller Willenskraft gegen den Schwindel an. Halte durch, sagte sie sich. Gleich ist es soweit! Sie schloss die Augen, zählte die Sekunden und dann geschah es endlich: Der dicke Pitter schwang aus. 24 000 Kilo in 22 Meter Durchmesser krachten in den Rücken ihres Angreifers. 

„Frau Abel. Ich sehe schon, Sie sind auf dem Weg der Besserung. Ich lasse Sie jetzt eben kurz allein, um den Wachleuten zu zeigen, wo unser Kaffeeautomat steht. Herr Abel, kommen Sie doch auch bitte eben mit, damit ich Ihnen eine Vase geben kann.“ Hanna schloss erschöpft die Augen. Der Spuk war vorbei. Gleich würde Jupp wieder zurück sein. Sie entspannte sie sich und fühlte, wie ihr Körper allmählich immer schläfriger wurde. Es war warm und weich im Bett und das schwere Plümeau beschützte sie. Doch dann hörte Hanna, fast schon im Halbschlaf, wie die Tür leise aufgeschoben wurde. Seltsam, Jupp war doch sonst nicht so rücksichtsvoll. Sie hatte ihm wohl einen ziemlichen Schrecken eingejagt. In Gedanken daran, wie stolz er sie über den Zeitungsrand hinweg angesehen hatte, schlug sie ihre schweren Lider auf, um ihm liebevoll zuzulächeln. Doch im Türrahmen stand nicht Jupp, sondern der Kollege, der sich ihnen allen als Hannes vorgestellt hatte.

Mehr erfahrt ihr auf Sigruns Webseite

MiniKrimi Adventskalender am 1. Dezember

Vorhänge vor einem Fenster.

So, let the tale begin. Herzlich willkommen zum MiniKrimi Adventskalender 2025.

Meine Co-Autorin Lydia H. und ich entführen euch in diesem Dezember wieder in die schicke Siedlung an der Minervastraße am Stadtrand von München. Dort leben ganz unterschiedliche Menschen. Alte und junge, schöne und unscheinbare, frohe und traurige. Und wie in jeder Siedlung passieren dort viele Geschichten. Die einen schön, die anderen schaurig. Aber immer ein wenig geheimnisvoll.

Der letzte Vorhang

Ein lautes Klirren erschütterte das elegante Erdgeschoss der Minervastraße 7. „Neiiiin!“, entfuhr es Lisa. „Nicht das Porzellan meiner Oma.“ Fassungslos starrte die junge Frau erst auf den Umzugskarton, der ihr gerade aus den Händen geglitten war, und dann auf den Mann, der wie aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht war.

Dr. Best, ohne Zweifel.  Dieselbe arrogante Ausstrahlung wie früher.  Vor Lisas innerem Auge zogen sofort die Geschehnisse der letzten 5 Jahre vorüber. Geschehnisse, die letztendlich zu ihrem Auszug aus der Minervastraße geführt hatten.  Aus ihrer Oase. Aus ihrem sicheren Hafen. Hier hatte sie sich zum ersten Mal seit ihrer Scheidung wieder zu Hause gefühlt. Hier hatte sie neue Leute getroffen, zaghafte Freundschaften geknüpft. Wieder begonnen, dem Leben zu vertrauen.

Und jetzt stand ausgerechnet der Mensch vor ihr, dessen Behandlungsfehler dazu geführt hatte, dass sie alles verloren hatte. Schon wieder.  Dass sie noch einmal vor den Scherben ihrer Existenz stand – und nicht wusste, ob sie genug Kraft für einen weiteren Neuanfang haben würde.

„Entschuldigung“, sagte der Mann zu ihr. „Ich bin, glaube ich, ihr Nachmieter. Die 3 Zimmer Wohnung im dritten Stock?“ Lisa konnte es nicht fassen. Der Typ erkannte sie nicht einmal mehr.  Nach all dem, was er ihr angetan hatte! Und nun nahm er ihr auch noch ihre Wohnung weg. Ihren letzten Rückzugsort. „Ja“, antwortete sie kurz angebunden, dreht sich um und trug den Karton mit dem zerbrochenen Porzellan zu den Mülltonnen. Nichts als Scherben, dieses Leben.

In den nächsten Tagen war Lisa mit der Einrichtung der neuen Wohnung beschäftigt. Ein Zimmer am Stadtrand von München.  In einer der neu aus dem Boden gestampften Siedlungen, die den Mietnotstand mindern sollten. Die meisten der Wohnungen waren für Menschen mit einem sogenannten Wohngeldanspruch des Jobcenters oder des Sozialamtes reserviert. Menschen wie Lisa, die seit der Katastrophe vor 5 Jahren zu 100 Prozent erwerbsgemindert war. Dazu kamen Langzeitarbeitslose, Rentner und Geflüchtete. Leute, die das Stadtbild störten. An den Rand geschoben. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Lisas persönliche Katastrophe, lebensbedrohlich, physisch wie psychisch, hatte vor Gericht nicht mal zu einem Bußgeld für den verantwortlichen Arzt Dr. Best, bzw. Dr. Biest, wie Sie ihn getauft hatte, geführt. Das beauftragte Gutachten kam zu dem Schluss, dass es sich um eine Verkettung unglücklicher Umstände gehandelt hatte. Eine Krähe…, das kennt man ja. Dr. Biest, bei dem Lisa 15 Jahre in Behandlung war, hatte es schlicht versäumt, ihr jemals den Blutdruck zu messen – wofür er nicht belangt werden konnte. Wie hätte er als ihr Hausarzt, auch auf den Gedanken kommen können, dass eine schlanke, sportliche Frau in der Mitte ihres Lebens einen Bluthochdruck entwickeln könnte. Das bisschen Schwindel, naja, das kennt man doch bei Single Frauen. Schlechter Sex vielleicht, oder gar keiner. Hysterie, typisch weiblich. Hat ja schon Freud so erkannt. Ein fataler Fehler, wie sich herausstellte.  An einem schönen Junimorgen vor 5 Jahren brach Lisa mit unerträglichen Schmerzen zusammen und wurde mit Blaulicht ins nächste Krankenhaus gefahren. Dort stellte sich heraus, dass sie an einem Aortenaneurysma litt, welches an diesem Morgen gerissen war. Die Ursache war zweifelsfrei ein jahrelang nicht erkannter und folglich nicht behandelter Bluthochdruck.

Nachdem Lisa unter laufender Reanimation ins Krankenhaus eingeliefert worden war, folgten Notfalloperation, Herzkreislaufstillstand, wieder Reanimation, die allerdings erst nach 7 Minuten erfolgreich war, und ein Schlaganfall. Wie durch ein Wunder erwachte Lisa auf der Intensivstation. Sie hatte überlebt. Aber um welchen Preis! Körperlich ein Wrack, konnte sie ihren Job als Bereiterin in einem Gestüt ab sofort nicht mehr ausüben.  Es folgten traumabedingte Depressionen und letztendlich die Aussteuerung aus dem ersten Arbeitsmarkt.  Massive finanzielle Einbußen, Schulden… und das Ende ihrer Zeit in der geliebten Minervastraße. Ihre Bekannten hatten sich da längst nach und nach verabschiedet. Die Gespräche mit einer traumatisierten, verhärmten und mit ihrem Schicksal hadernden Frau waren mehr Qual als Freude.

Nun also ein neuer Lebensabschnitt. Der letzte Vorhang? Hier zwischen den Ausgestoßenen fühlte sich Lisa zumindest unter ihresgleichen. Und wenn sie kaum einen der Wortfetzen verstand, die ihr auf den Fluren entgegenflogen? Egal. Sie hatte längst die Fähigkeit verloren, zu kommunizieren.

Der Plan entstand beim Putzen des Fensters ihrer Einzimmerwohnung. Quadratisch, praktisch, nicht sehr gut. So anders als die liebevoll gestalteten Fenster in der eleganten Minervastr. 7, die die letzten 15 Jahre ihr Zuhause gewesen war. Doppelflügelig und groß. Und nicht leicht zu reinigen. Es war immer ein beinahe akrobatischer Akt gewesen, dieses Balancieren auf einer Leiter, um auch die oberen Rahmen zu erreichen. Ein Lächeln huschte über Lisas Gesicht.  Zumindest dieses Problem hatte sie jetzt nicht mehr. Dafür aber Dr. Biest. Die Idee war Lisa fast zwangsläufig gekommen. Sie war einfach naheliegend. Und den Schlüssel zur Wohnung hatte sie auch noch. Die Übergabe sollte erst am nächsten Tag stattfinden. Erst? Oder schon?

Um 19:00 h stand Lisa in ihrer ehemaligen Wohnung.  Wehmut überkam sie, als sie ein letztes Mal auf den blühenden Garten schaute, auf das sanfte Grün und hinüber bis zum tannenumstandenen Teich. Aber sie hatte keine Zeit, sich in Erinnerungen zu verlieren. Sie nahm den mitgebrachten Schraubenzieher und machte sich ans Werk.  10 Minuten später verließ Lisa die Minervastraße zum letzten Mal. Die Rückfahrt vom noblen Münchner Stadtteil zu ihrem Zuhause, für das ein Acker hatte weichen müssen, gestaltete sich als noch beschwerlicher als die Hinfahrt. Eine schnelle Anbindung an den ÖPNV war zwar angedacht, hatte aber bei der dort angesiedelten Klientel offenbar keine Priorität für die Verkehrsplanung. Und Lisas kleiner roter Sportwagen war leider schon lange Vergangenheit.  So wie ihr gesamtes Leben.

Ein paar Tage später las Lisa die kurze Notiz in ihrer Tageszeitung: „In der noblen Minervastraße kam es gestern zu einem tragischen Haushaltsunfall. Der neue Mieter einer Wohnung im dritten Stock verlor scheinbar das Gleichgewicht, als er schwere Gardinen anbringen wollte. Diese waren offensichtlich zu schwer für den Fensterrahmen, so dass sich dieser von der Wand löste. Den Sturz aus dem dritten Stock auf den Gehsteig hat der Mieter, ein bekannter Münchner Internist, nicht überlebt.“

MiniKrimi Adventskalender am 23. Dezember


Ein Blaulicht zuviel

von Rebecca Schneebeli

Harald bog mit dem Auto in die schmale Ortsstraße ein, die zu seinem Haus führte. Hätte er nicht mit den Händen das Lenkrad festgehalten, hätte er sich die Finger gerieben. Dieser Bruch war echt glatt gelaufen. Er hatte gar nicht das große Besteck auspacken müssen. Das hatte ihm die gestresste Verkäuferin des Juwelierladens abgenommen. Sie war so in Eile gewesen, an Heiligabend nach Hause zu kommen, dass sie den Schlüssel nur einmal herumgedreht hatte. Der Rest war ein Kinderspiel gewesen.

Heute Abend würde er unter dem Tannenbaum die Beute zählen und morgen kam schon Boris vorbei. Dann war alles noch vor dem 2. Weihnachtstag über die Grenze bei seinem Hehler.

Harald drehte das Autoradio an. Ihm war nach positiver Weihnachtsstimmung. „Last Christmas“ schallte es ihm entgegen. Spielten die diese langweilige Kamelle wirklich immer noch jedes Jahr? Er wechselte den Kanal: Nachrichten. Mal wieder ging es um die Neuwahlen. Er stellte das Radio schnell wieder ab. Politik war nicht sein Ding. Daheim würde er sich gleich erstmal seine eigene Weihnachts-CD auflegen mit „Jingle Bells“ und „Coming home for Christmas“.

Doch was war das? Ein blaues Leuchten einige Häuser weiter. War das nicht gegenüber von seinem Haus? Harald wurde heiß und kalt. Die Bullen. Sie waren schon bei ihm daheim, ehe er nur mit der Beute vorgefahren war. Scheiße!

Abrupt drehte er um, was seinen Wagen auf der vereisten Fahrbahn leicht ins Schlingern brachte. Nichts wie weg hier!

Einige Straßen weiter überlegte er. Was sollte er tun? Heim konnte er mit einem Kofferraum voll geklautem Schmuck nicht mehr. Sollte er das Auto irgendwo in der Stadt abstellen und mit dem Bus heimfahren? Aber was, wenn jemand auf den Wagen aufmerksam wurde? Zudem waren die Bullen ihm bereits auf der Spur und sie kannten dementsprechend sicher auch sein Nummernschild.

Ihm kam ein Plan. Wenn er den Schmuck zurückbrachte, konnte man ihm nichts zur Last legen. Ohne Diebesgut, kein Einbruch. Gesagt, getan. Harald brach das zweite Mal an Heiligabend in den bereits geschlossenen Schmuckladen ein, diesmal ging es noch etwas schneller. Schwieriger wurde dabei, den Schmuck wieder korrekt an Ort und Stelle zu räumen. Wo hatten noch mal die Ohrringe gelegen und wo das Diamantcollier? Notdürftig breitete er die Schmuckstücke in den diversen Auslagen aus.

Endlich war er fertig und nassgeschwitzt. Während der Einbruch schnell vonstattengegangen war, hatte das Verräumen des Schmucks schier ewig gedauert. Als er wieder in seinem Auto hinterm Lenker saß, zitterten seine Hände. Nun wollte er nur noch heim und sich einen Beruhigungsschnaps gönnen. Er zwang sich zur Lässigkeit, als er in seine Straße einbog und sich seinem Haus und dem beunruhigenden Blaulicht näherte. Aber jetzt konnten ihm die Bullen nichts mehr. Er wusste, er war nicht gesehen worden und Schmuck hatte er auch keinen mehr dabei.

Erst wenige Meter vor dem Haus stellte er fest, dass das blaue Licht nicht ein Polizeiwagen, sondern ein überlebensgroßer Schneemann im Garten des Nachbarn ausstrahlte.

„Wie findest du meine neuste Errungenschaft?“, fragte dieser ihn beim Aussteigen und grinste.

„Sollten Schneemänner nicht weiß sein?“, knurrte Harald. Diese blöde Weihnachtsdeko hatte ihn einen lukrativen Bruch gekostet.

„Ach, das wäre doch langweilig“, scherzte der Nachbar und Harald verschwand schnell ins Haus, ehe der Drang, diesen zu erwürgen, zu groß wurde.

Dort goss er sich einen Schnaps ein und direkt einen zweiten hinterher. Das brauchte er jetzt.

Da klingelte es an der Tür. War das etwa noch einmal der Nachbar? Der sollte was erleben.

Doch vor seiner Tür standen zwei uniformierte Polizisten, hinter sich ein Polizeifahrzeug, ganz ohne Blaulicht.

„Harald Krieger?“, fragte der erste.

„Richtig.“ Harald schluckte hart. Was wollten die denn jetzt hier? Es gab doch nichts mehr, was sie ihm noch zur Last legen konnten.

„Dürften wir reinkommen? Sie wurden gesehen, wie Sie in ein Juweliergeschäft eingebrochen sind und dort Schmuck einräumten. Wir haben ja schon viel erlebt, aber das müssen Sie uns erklären.“

Harald schluckte erneut. Jetzt war er dran – und das nur wegen eines blauen Schneemanns. Er hasste Weihnachten.

Mehr über Rebecca Schneebeli erfahrt ihr auf der Webseite der Mörderischen Schwestern:  https://www.moerderische-schwestern.eu/wer-wir-sind/autorinnen/s/rebecca-schneebeli/

MiniKrimi Adventskalender am 22. Dezember


Rache ist stärker als der Tod

Endlich. Die längste Nacht des Jahres. Genug Zeit und genug Bewegungsfreiheit. Livia schickt dem Ausgrabungsteam, das ihr das Schloss von den Füßen entfernt hat, einen innigen Dankesgedanken. Und die Archäologen haben sie auch umgedreht. Statt bröckeliger Erde sieht Livia nun eine Welt, die sich in 400 Jahren sehr und gleichzeitig kaum verändert hat. Der Friedhof mit dem eingezäunten Bereich, wo neben Livia noch andere Männer, Frauen und Mädchen begraben waren, die von den Dorfbewohnern als Vampire gefürchtet und mit entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen begraben wurden, sieht noch so aus wie damals. Ein kleiner Hügel mit struppigem Gras, fetter Erde und ein paar zerzausten Tannen. Unten sieht man das Dorf, und auch das hat sich von hier oben betrachtet kaum verändert. Niedrige Häuser ducken sich rund um das trutzige Steinkirchlein. Die Straßen bestehen immer noch aus Erde und Sand. Nur um die Kirche herum haben sie den Platz gepflastert. In den Häusern flackert Licht, und überall stehen Masten mit Leitungen. Aus den Schornsteinen quillt Rauch, und es riecht nach Holzfeuer. Livia hat auch nach dieser langen Ruhezeit keine Schwierigkeiten, sich in ihrer Heimat zurechtzufinden.

Sie klettert aus ihrem Grab, sammelt sich und betrachtet in einer Pfütze ihr Gesicht. Ein kleines Mädchen schaut sie an. Mit langen, wirren Haaren und einer vergilbten Kappe bis knapp über den stechend grauen Augen. Ein blasser, zusammengekniffener Mund im bleichen Gesicht. Ihr schwarzes Kleid ist von Würmern durchlöchert, die Schuhe verschimmelt.

Es gibt Schlimmeres. Wie zum Beispiel eine Sechsjährige zu einem Vampir abzustempeln, nur, weil sie ihren Bruder, den ersehnten Stammhalter, aus Eifersucht in den Hals gebissen hat. Livia hat damals ein Gespräch ihrer Eltern belauscht. „Zwei Kinder können wir nicht ernähren und standesgemäß aufziehen. Die Felder haben schon das dritte Jahr in Folge kaum Ernten erbracht, die Bauern können ihre Pacht nicht zahlen. Aber Theo brauchen wir, er wird meine rechte Hand und mein Nachfolger. Also: das Mädchen muss weg“, sagte der Vater.

„Aber wie willst du das anstellen?“, fragte die Mutter. Du kannst sie nicht einfach weggeben oder gar töten. Die Bauern würden das als Grund zum Aufstand nehmen.“

„Du wirst sehen, die Bauern werden die ersten sein, die ihren Tod fordern.“

„Wie das?“

„Ich erzähle im Wirtshaus, natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass ich fürchte, Livia sei zum Vampir geworden. Du erinnerst dich doch an den Tagelöhner, der mir im Sommer mit den Pferden geholfen hat?“

„Ja. Livia mochte ihn sehr. Sie saß abends oft bei ihm, wenn er auf der Mandoline spielte.“

„Genau. Ich sage, dass sie einmal nach Hause kam und zwei rote Flecken am Hals hatte. Und dann erzähle ich, wie sie Theo gebissen hat.“

„Die Bauern haben furchtbare Angst vor Vampiren! Sie werden sie steinigen. Das arme Kind!“

„Soweit lassen wir es nicht kommen. Wir geben ihr einen Trank mit Fingerhut, so dass sie im Schlaf stirbt. Man wird keine Verletzung an ihr finden, und das wird ein weiterer Beweis dafür sein, dass sie ein Vampir ist. Lass die Bauern sie begraben, mit allen nötigen Schutzmaßnahmen, damit sie nicht aus dem Grab aufstehen kann.“

Obwohl Livia vorgewarnt war, hat sie den Kakao getrunken, den ihr ihre Mutter ein paar Wochen später hinstellte. Als besondere Belohnung, weil sie den Bruder nicht mehr gebissen hat.

Dann lief alles so ab, wie der Vater es vorhersehen hatte. Livia starb, wurde begraben – und konnte erst jetzt, 400 Jahre später, ihr kaltes, dunkles Grab verlassen, in dem sie, mit dem Gesicht nach unten, damit sie nur in die Erde und nie wieder in einen Menschen beißen,  und mit einem schweren Schloss an den Füßen, damit sie nicht weglaufen konnte, gefangen war.

Aber jetzt ist sie endlich frei. Heute ist der Tag ihrer Rache.

Sie geht hinunter ins Dorf. Es ist stockdunkel in dieser längsten Nacht des Jahres. Und auch, wenn aus den Fenstern die bunten Bilder der Fernseher flackern und draußen die Straßenlampen ein gespenstisches Licht auf die Häuser werfen – die Angst vor Vampiren und Untoten ist lebendig in diesem kleinen polnischen Dorf, in dem die Neuzeit nur einen dünnen Mantel über Glauben und Bräuche des Mittelalters geworfen hat.

 Der Weg bis zu ihrem Elternhaus ist weit. Aber Livia spürt weder Kälte noch Furcht. Hier steht es, groß und stark hinter dem hohen Eisentor. Das Gutshaus, zu dem das Dorf und alle Ländereien gehören. Sie geht durch das Tor, als sei es nicht verschlossen. Drinnen auf dem gepflasterten Hof sieht es allerdings deutlich anders aus als im übrigen Ort. Große Kutschen stehen dort, aber ohne Kutschbock. Dafür glänzen sie in schwarz und blau. Aus den Ställen dringt Licht und Musik. Scheinbar leben dort jetzt Menschen und kein Vieh mehr.

Sie geht auf das Haupthaus zu. Links neben dem Eingang war der Küchengarten, den Livia besonders liebte. Jetzt hasst sie ihn, denn dort hat ihre Mutter den Fingerhut gepflückt, mit dem sie ihre Tochter getötet hat. Welche Mutter tut so etwas?

Vor der schweren Eichentür steht ein Mann. Groß, mit dunklen Haaren und einem kurzen dunklen Bart. In der einen Hand hält er etwas, das Ähnlichkeit mit den Zigarren hat, die ihr Vater – als einer der ersten in ganz Polen – rauchte. Er spricht in einen kleinen Kasten in seiner rechten Hand. Livia kennt das. Auf dem Friedhof machen das die meisten.

Da schaut der Mann auf und sieht Livia. „Nanu,“ sagt er. „Wo kommst du denn her? Wer bist du?“ Livia versteht seine Sprache, auch, wenn sie etwas anders ist als das Polnisch ihrer Zeit. Der Mann mustert sie. „Du warst wohl auf einer dieser Geisterparties zur Wintersonnenwende? Hast du dich verlaufen?“

Weil Livia nicht weiß, was sie antworten soll, verdreht sie die Augen und lässt sich stocksteif zu Boden fallen.

„Herrje, die Kleine ist ohnmächtig geworden. Ich muss Schluss machen, Oleg.“

Dann hebt der Mann Livia auf und trägt sie ins Haus. In den nächsten Stunden bemühen Andrej, so heißt er, und Olga, seine Frau, sich um das Mädchen. Sie flößen ihr Wasser und dann Brühe ein. Als sie die Augen aufmacht, tragen sie sie ins Badezimmer und legen sie in eine Wanne voll duftendem Schaum. So etwas gab es bei Livias Eltern noch nicht!

Sie schließt die Augen und hört Andrej und Olga flüstern. „Ja, ich weiß, wir sollten sie der Polizei melden. Aber sieh nur, wie sie ausschaut. Als sei sie gerade dem Tod entronnen. Wir kümmern uns erst mal um sie. Wir wollten doch schon immer ein kleines Mädchen haben, oder? Und natürlich schauen wir ins Internet, ob irgendwo ein Kind vermisst wird.“

„Wer lässt seine Tochter schon mitten in der Nacht alleine? Solche Eltern haben das Kind sowieso nicht verdient. Gut. Wir machen das so, wie du vorgeschlagen hast. Und wenn jemand fragt, dann ist sie das jüngste Kind deiner Cousine. Etwas behindert. Das erklärt, warum sie nicht spricht. Sie soll ein paar Monate bei uns auf dem Land bleiben.“

Und so lebt Livia von Stund an bei Olga und Andrej. Mit der Zeit „taut“ sie auf und beginnt sogar, zu sprechen. Ihren Plan, in ihrem Elternhaus zurück in die Vergangenheit zu gehen und sich an ihren Eltern für den Mord an ihr zu rächen, hat sie aufgegeben. Jetzt geht es ihr gut. Endlich. Und hat sie nicht ein Recht darauf, nach 400 Jahren in einem modrigen Grab?

Heute ist es genau ein Jahr her, dass Livia zu Andrej und Olga gekommen ist. Im Dorf haben sie die „Nichte“ schnell akzeptiert. Sie geht sogar zur Schule. Sie trägt die schönste Kleidung, ganz anders und viel bequemer als das, was sie in ihrem ersten Leben anziehen musste.

Sie sitzen beim Abendessen. Der Tisch ist besonders festlich gedeckt – zur Feier des Tages. „Nun bist du schon ein Jahr bei uns, liebe Livia. Du hast uns so glücklich gemacht. Du bist unser Sonnenschein. Olga und ich haben so lange vergeblich versucht, ein Kind zu bekommen. Und dann standst du auf einmal vor unserer Tür!“

„Ja, du bist unser großes Glück. Und ich bin überzeugt, dass das, was wir dir jetzt gleich erzählen werden, auch nur deshalb passieren konnte, weil du bei uns bist. Schau, Livia, du wirst einen kleinen Bruder bekommen. In einem halben Jahr bist du die große Schwester. Freust du dich?“

Livia starrt Olga und Andrej an. Es ist, als würde ihre Lebensgeschichte noch einmal von vorne beginnen. Sie steht auf, ohne zu bemerken, dass sie dabei den Stuhl umstößt. Sie rennt die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Ihr altes Zimmer. Ihr neues Zimmer mit allem darin, was ein Mädchenherz sich nur wünschen kann. Aber wie lange wird es ihr noch so gut gehen? Livia weiß, was passiert, wenn ein zweites Kind in die Familie kommt.

Doch diesmal ist sie vorgewarnt. Diesmal wird man sie nicht überraschen. Überrumpeln.

Livia lässt sich Zeit. Ein halbes Jahr lang tut sie so, als freue sie sich auf den Nachwuchs. Und als Konstantin dann auf der Welt ist, beobachtet sie ihre neuen Eltern sehr genau. Ja, es ist so, wie sie befürchtet hat. Alles dreht sich plötzlich um den Kleinen. Gut, Andrej fährt sie weiterhin zum Ballett und zum Reiten. Olga liest ihr jeden Abend eine Gutenachtgeschichte vor. Und sie hat die beiden noch nie dabei belauscht, wie sie Pläne schmieden, um Livia wieder loszuwerden. Aber das bedeutet gar nichts. Sicher hat sie es nur nicht mitbekommen.

Dann, eines Tages, ist es soweit. „Livia, wir müssen für eine Woche nach Frankreich. Arbeit. Konstantin nehmen wir mit. Aber du musst hierbleiben. Du hast Schule, Reiten, Ballett. Olgas Freundin Nadja wird auf dich aufpassen. Und wir sind in einer Woche wieder da und bringen dir was ganz Tolles mit. Was wünscht du dir am meisten? Eine große Mickey Maus? Oder einen Tüllrock?“

Livia schaut die beiden aus ihren großen, stechend grauen Augen an.

Später, als Konstantin seinen Mittagsschlaf hält, schleicht sie zu ihm ins Zimmer. Wie friedlich er da liegt. Ein rosa Gesichtchen, umrahmt von blonden Locken. „Er ist viel schöner als ich“, denkt Livia. „Ich hasse ihn.“

Sie beugt sich zu dem Baby hinunter. Und beißt zu. Kräftig. Das Blut schmeckt süß. Sie kann gar nicht genug davon trinken.

Dann geht sie in ihr Zimmer. Zieht an, was sie trug, als sie aus dem Grab gestiegen ist. Hinauf auf den Hügel, zum Friedhof, in den Teil für Vampire. Sie legt sich in ihr Grab. Mit dem Gesicht nach unten. Das Schloss umschließt ihre Füße. Aber den Schlüssel gräbt sie in die Erde unter sich ein. Sie wird noch ein paar Jahre warten. Jahrhunderte, vielleicht. Und es noch einmal versuchen, mit ihrer Rache.

Konstantin, der offenbar am plötzlichen Kindstod gestorben ist, wie die Eltern sagen, wird auch auf dem Friedhof begraben, nicht allzu weit von Livia entfernt. „Das war bestimmt ein Vampir“, flüstern die Alten. „Habt ihr gesehen, wie blass das Kind war? Und wieso ist das kleine Mädchen so plötzlich verschwunden, gleichzeitig mit dem Tod des Jungen?“ Aber wer hört schon auf sie?

Diese Geschichte ist entstanden, nachdem ich vom Fund eines „Kindervampirs“ in einem polnischen Dorf gelesen habe.