MiniKrimi Adventskalender am 11. Dezember


Wer Vertrauen schenkt (Auszug)

von Monja Luz

Gemeinsam betreten Chris Muth und Jake Imhof die Küche. Die ist hell erleuchtet und sperrt das spärliche Tageslicht gänzlich aus. Am Bartisch sitzt ein junger Mann mit geröteten Augen, sein Hemd ist blutverschmiert. Die Hände halten eine Tasse.
Er bemerkt sie offenbar nicht. Selbst als sie direkt vor ihm stehen, reagiert er nicht, sondern starrt weiter vor sich hin. Die Tasse ist unbenutzt. Es scheint, als hätte er danach gegriffen und im nächsten Moment vergessen, was er damit wollte.

»Herr Danner? Wir haben ein paar Fragen.«

Unsicher hebt der Angesprochene den Kopf, schaut von Chris zu Jake. Chris stellt sie beide vor, während Jake sich an der Kaffeemaschine zu schaffen macht. Das laute Mahlen der Kaffeebohnen überbrückt das Schweigen. Ein aromatischer Geruch breitet sich aus, der den Zeugen zusehends belebt. Jake verteilt die gefüllten Tassen. Nach einem ersten vorsichtigen Nippen drückt der Zeuge den Rücken durch, blickt Chris fest in die Augen und sagt: »Ich werde Ihnen keine große Hilfe sein. Im Moment kann ich mich nur daran erinnern, hergekommen zu sein. Und plötzlich standen Ihre Kollegen vor mir.«

»Aber Sie haben den Notruf gewählt?«

»So hat es mir Ihre Kollegin geschildert, aber ich kann mich nicht entsinnen, es getan zu haben. Sobald ich versuche, den Morgen zu rekapitulieren, sehe ich Steff, wie sie daliegt …« Wieder verliert sich sein Blick.

»Wie wäre es, wenn Sie uns zunächst einmal Ihre persönlichen Daten nennen, Herr Danner?« Chris zückt seinen Notizblock.

»Mein Name ist Daniel Danner, siebenundzwanzig Jahre, ich bin Germanistikstudent im fünften Semester.«

Kommt daher seine gestelzte Sprache, wundert sich Chris. Dann fragt er: »Wohnen Sie hier?«

»Nein, ich habe eine Wohnung in Gonsenheim, die Adresse hat Ihre Kollegin notiert.«
Sichtlich dankbar lässt sich Herr Danner auf den Plausch ein.

»Und wer wohnt hier?«

»Steff mit ihren Eltern. Wobei die vor einem Jahr auf die Kanaren umgesiedelt sind und sich nur selten in heimatlichen Gefilden aufhalten. Herr Seidel hat ein Lungenleiden, das ihn sehr einschränkt. Die Seeluft und das gleichbleibende Klima dort erleichtern ihm den Alltag.«

»Wie lange sind Sie und Frau Steffanie Seidel ein Paar?«

»Seit zehn Monaten. Wir kennen uns von der Uni. Ich betreue die Erstsemester.«
»Das machen Sie neben dem Studium?«

»Richtig, das hat sich durch die Pandemie entwickelt. Ich habe mich zurückgezogen und mich mit den Möglichkeiten vertraut gemacht, ein Leben ohne direkten Außenkontakt zu führen. Ich bin nicht technikaffin, aber ich kenne mich mittlerweile gut aus. Ich mache auch die Betreuung online, um die Studierenden auf eine erneute Umstellung vorzubereiten. Damit nehme ich ihnen die Angst und zeige, wie die soziale Isolation vermieden werden kann, auch wenn der Individualkontakt nicht möglich ist.«

Chris spürt, wie wichtig seinem Gegenüber das Thema ist. »Wann haben Sie Ihre Selbstisolation aufgehoben?«

»Ich meide weiterhin große Ansammlungen und trage FFP2-Masken, wenn ich einkaufen gehe, beim Arzt, in Bus und Bahn und in der Uni.«

»Auch bei Ihrer Familie und unter Freunden?«

»Ich habe keine Familie. Und Freunde … ich treffe mich im Grunde nur mit Steff.«

»Haben Sie sich gestern gesehen?«

»Ich denke schon.« Die Bemerkung stoppt Danners Redefluss, wieder verfällt er in stummes Starren ins Nirgendwo.

»Herr Danner, was ist gestern passiert?«

»Ich glaube, wir hatten einen Disput. Unseren ersten kleinen Konflikt.«

»Worum ging es?«

Danner richtet sich auf, schüttelt den Kopf. »Es war nichts. Nur eine infantile Bemerkung in der Nachricht einer Freundin. Wir haben es geklärt. Nur wegen des Nachklangs des Streits haben wir uns nicht wie gewohnt verabschiedet.«

»Wie muss ich mir das vorstellen?«, hakt Chris nach und wirft einen Blick auf Jake, der es sich auf einem Barhocker bequem gemacht hat. Dabei trinkt er Kaffee und wirkt abwesend.
»Ich … ich weiß, dass es so war, aber an die Einzelheiten kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass ich heute Morgen dachte, ich muss Steff gleich als Erstes herzen.«

»Sie können sich nicht an den Ablauf erinnern?«, mischt sich Jake nun doch ein.

»Nein«, antwortet Herr Danner mit einer Selbstverständlichkeit, die Chris erstaunt.

»Haben Sie das öfter? Immerhin sind seitdem wohl kaum mehr als zwölf Stunden vergangen. Und es war Ihr erster Streit, den behält man in Erinnerung.«

»Nein.«

»Sie wollen sich nicht daran erinnern?«, fragt Chris.

»Richtig. Negativ belegte Erlebnisse bewahre ich nicht im Gedächtnis. Wozu auch? Ich weiß, dass etwas war, mehr nicht. Warum soll ich mich mit solchen Erinnerungen quälen?«

Darauf kann Chris nichts erwidern, fast beneidet er sein Gegenüber um die Fähigkeit – wenn der Wahrheit entspricht, was er sagt. »Dann erzählen Sie, woran von gestern Abend Sie sich erinnern.«

»Wir haben uns Essen bestellt, thailändisch, die Vorspeise haben wir uns geteilt und beim Hauptgericht nach der Hälfte die Teller getauscht. Das machen wir immer so.« Ein Lächeln blitzt auf. »Dann hat Steff ihre Geschenkliste überarbeitet. Da ist sie sehr penibel. Ich habe versucht herauszufinden, was ich ihr schenken soll.« Das Lächeln wird stärker. Offensichtlich hat Herr Danner seine tote Freundin im Wohnzimmer nebenan ebenfalls vergessen.

»Dann kam der Streit?«

»Nein, der war später.«

»Wann?«

»Ich habe sie nach Hause gefahren.«

»Sie haben ein Auto?«, wundert sich Chris, der sich von seinem Wagen wegen der Parkplatznot und den horrenden Parkgebühren in Mainz vor Längerem getrennt hat.

»Nun, den Luxus erlaube ich mir.«

»Und als Sie hier ankamen, kam es zum Streit.«

»Nein.«

»Sondern?«

Die Antwort kommt zögerlich: »Sie wollte, dass ich das Haus inspiziere.«

»Und? Haben Sie?«

»Nein.«

»Herr Danner, können Sie uns bitte den Ablauf erzählen, wie Sie ihn in Erinnerung haben?«
Der Angesprochene schüttelt erst den Kopf, richtet sich auf und schaut Chris direkt an.

»Gewiss. Ich habe Steff hergefahren. Dann hat sie rumgedruckst. Vorher war sie schon fahrig gewesen, hatte ständig ihr Handy in der Hand und hat Nachrichten und sogar Anrufe bekommen.«

»Von wem?«

»Darüber habe ich keine Kenntnis.«

»Sie haben nicht gefragt?«

»Nein.«

»Und wegen der Nachrichten haben Sie sich gestritten?«

»Gestritten? Nein. Das war später. Sie wurde immer unruhiger. Um kurz nach halb elf wollte sie plötzlich nach Hause. Also habe ich sie gefahren. Dann sollte ich eine Runde durchs Haus machen, nach Einbrechern suchen. Steff hat aufgeschlossen, aber die Alarmanlage war aktiviert. Wie soll da jemand Unbefugtes im Haus sein? Außerdem waren die Katzen unten. Ich bin gleich weg.«

»Ohne Verabschiedung?«

»Ja. Weil es einfach albern war. Ich habe gefragt, was los ist, darauf hat sie nicht geantwortet.«

Scheint, als hätte sich die erste Verliebtheit verflüchtigt und ohne rosarote Brille entsprach die Partnerin nicht mehr hundertprozentig den Vorstellungen. Wie so oft, denkt Chris.
»Sie wollte einfach nur ihren Willen durchsetzen!«

Die Heftigkeit der Bemerkung lässt selbst Jake aufhorchen, der gerade sein Handy hervorgeholt hat. Doch genauso plötzlich, wie das Aufbegehren gekommen ist, erlischt es und Herr Danner sitzt mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern da, knetet seine Hände.

Dann flüstert er: »Bin ich schuld an ihrem Tod?«

Monja Luz verbringt ihre krimifreie Zeit hauptberuflich mit Buchhaltung. Dabei ordnet und schiebt sie die Zahlen so lange hin und her, bis sie stimmig sind. Genauso verfasst sie ihre Krimis. Nach und nach wird das Knäuel aus Verdächtigen und Motiven entwirrt, und am Ende wird das Lügengeflecht des Täters entlarvt.

(copyright Foto: Studioline)

MiniKrimi Adventskalender am 10. Dezember


Schuldwald (Auszug)

Marie Bastide

Carla 1989

Der Anruf kam um 2.28 Uhr. Das Klingeln weckte Carla aus einem unruhigen, von Albtraumsequenzen durchzogenen Schlaf, und sie tastete panisch nach dem roten Zugseil, um die schwere Eichentür zu öffnen – wohl wissend, dass dahinter ein neunköpfiges Ungeheuer kauerte, zum Angriffssprung bereit.

Die Wirklichkeit übertraf allerdings jeden ihrer Albträume. „Frau Dr. Lemke? Hofmann, Polizeipräsidium Frankfurt. Es geht um Ihre Tochter.“ „Victoria?“, fragte Carla und kämpfte sich vollends an die Oberfläche der Nacht. Als hättest du mehr als ein Kind, dachte sie. Jetzt stieg Panik in ihr auf. „Was ist passiert?“, fragte sie. Polizeipräsidium – also kein Unfall, schoss es ihr durch den Kopf. „Alles in Ordnung, soweit. Ihre Tochter ist hier bei uns. Sie wurde bei einem Einsatz im Flörsheimer Wald … (Pause, dann, zögernd) … mitgenommen. Am besten, Sie kommen gleich vorbei. Dann erledigen wir ein paar Formalitäten, und Sie können sie mitnehmen. Sie finden uns in Raum 232.“ Als wäre Victoria ein liegengebliebener Regenschirm, der aus Versehen von jemandem im Wald eingesteckt worden war und jetzt seiner rechtmäßigen Besitzerin zurückgegeben werden sollte! Und das möglichst schnell, damit das Präsidium durch die unbotmäßige Anwesenheit nicht unnötig belastet würde. Alle weiteren Fragen zurückdrängend, sagte Carla nur: „Ich komme. Bin in einer halben Stunde da.“

Das Polizeipräsidium wirkte um diese Zeit wie eine aufgelassene Filmkulisse. Gelbes Licht übergoss die wuchtigen Treppen. Die Flure, die sich links und rechts davon öffneten, sanken in sich zusammen. Ohne die arbeitstäglichen Hintergrundgeräusche saugten die Wände alles auf, Bewegungen, Schritte, sogar die halblauten Gespräche der vier Beamten vor Raum 232. Als Carla vom Treppenhaus in den Flur einbog, hoben die Männer ihre Köpfe, gleichzeitig, wie auf Befehl. Sie sahen sie an mit durchbohrenden Blicken, die auf Einschüchterung programmiert waren. Als die Beamten sie erkannten, senkten sie ihre Augen. Denn sie wussten genau, wo solche Lanzenblicke erlaubt waren und wo nicht. „Frau Ministerialdirigentin“, murmelte einer von ihnen, trat einen Schritt zurück und gab den Eingang zu Raum 232 frei, während ein anderer die Tür für Carla öffnete.

Die gleiche Begrüßung, diesmal von einem Mann mittleren Alters in Zivil und graugepfeffertem Schnurrbart. Er saß hinter einem einfachen Büroschreibtisch, auf dem nichts weiter lag als ein Block und ein Kugelschreiber. Ihm gegenüber zwei graue Plastikstühle. Auf dem einen saß Victoria. Sie kippelte mit dem Stuhl nach hinten, bis sie an die Heizung stieß. Das Gluckern des Wassers in den Rohren und das Ticken der schmucklosen Uhr an der Wand waren die einzigen Geräusche im Raum.

Carla nickte dem Mann zu. Dann ging sie zu Victoria. Ihre Tochter baumelte mit den Füßen, die ein paar Zentimeter über dem Boden hingen. Sie starrte auf die Uhr und schien ihre

Mutter nicht zur Kenntnis zu nehmen. „Victoria“, murmelte Clara und ihre Stimme klang genauso wie damals, als sie ihr Kind von Bauer Hinze entgegengenommen hatte, nachdem es beim Äpfel Klauen in den Misthaufen gefallen war. Oder als sie, mitten in einer klirrenden Winternacht, die 15-Jährige an der vereisten Brücke über den Urselbach abgeholt hatte, in dem das zu Schrott gefahrene Mofa lag.

Seit ihr Mann sie verlassen hatte, weil er nicht damit zurechtkam, dass sie als Frau die Karriereleiter immer weiter emporstieg, während er, der Ernährer der Familie, in seiner Kanzlei nur kleine Fische briet, war Carla eine sehr fürsorgliche Mutter. Mit Tendenz zur Glucke. Wenn sie imstande war, ihr Verhalten mit kühlem Kopf zu reflektieren, nahm sie sich vor, sich zurücknehmen. Leider war ihr Kopf in den Momenten, in denen Besonnenheit gefragt war, meist kurz vorm Explodieren. Entsprechend hitzig fielen ihre Reaktionen aus, wenn „das Kind“ mal wieder über die Stränge geschlagen hatte. Wie und wann und wo auch immer. Was dazu geführt hatte, dass Victoria sich immer weiter in sich selbst zurückzog. Der klassische Dialog zwischen Mutter und Tochter in den Jahren, seit Victoria in die Pubertät gekommen war, verlief immer gleich: „Warum lügst du schon wieder?“ „Warum vertraust du mir nicht?“ „Weil du mein Vertrauen missbrauchst.“ „Weil du mir keines schenkst.“

Und jetzt das. Wie sollte sie einen klaren Kopf behalten, mitten in der Nacht, im Frankfurter Polizeipräsidium, mit Beamten vor der Tür und einem Betonkopf auf der anderen Seite des Schreibtisches, der von ihr das Unmögliche erwartete. Denn Carla wusste genau, was er, was „man“ von ihr wollte. Sie sollte ihre Tochter „zur Vernunft“ bringen, damit die dünne Akte auf dem nackten Holztisch nicht geschlossen, sondern geschreddert werden konnte. Carla hatte keine anderen Menschen in den Fluren des Präsidiums gesehen, die wie Demonstranten aussahen. Und mitten in der heißen Phase der Auseinandersetzungen um die Startbahn West wusste jeder, wie „ein Demonstrant“ aussah. Ein Prachtexemplar dieser Spezies saß auf dem Stuhl an der Heizung, den Kopf demonstrativ von Carla abgewandt. Lange, schmierige Haare, Springerstiefel, lila Haremshosen, schmutziger Wollpulli und darüber ein verdreckter grüner Parka. Um den Hals ein Palituch. Selbst bei Nacht waren Demonstranten unschwer zu identifizieren, denn von ihnen ging unweigerlich ein Geruchsgemisch aus Patchouli, nasser Wolle, Schweiß und Lagerfeuer aus. Victorias ganz persönliche Note war die pudrige Spur von Anais Anais. Ihr Parfum gab Victoria offenbar niemals auf, auch nicht während ihres Guerillalebens im Flörsheimer Wald. Die Erkenntnis hatte für Carla in diesem Moment etwas ungemein Tröstliches. Als sei noch nicht alles verloren, solange noch eine Erinnerung an ihren Lieblingsduft an ihrer Tochter haftete.

Das Gefühl machte Carla stark. „Victoria“, versuchte sie es noch einmal. Zaghaft, mit langem sanftem O, sorgsam moduliert wie eine schüchterne Annäherung. Wie viele Sätze sich in einem Wort stapeln können, wie viele Bedeutungen, Wünsche gar, dachte Carla. Bitte, hör mir zu.

Bitte, schau mich an, nur ganz kurz. Ich mache dir keine Vorwürfe. Ich stehe hinter dir. Alles wird gut. Nein, alles ist gut. Schau, ich mache den ersten Schritt. Ich reiche dir die Hand. Bitte, Victoria, greif nach ihr.

Stille.

Der Mann in Zivil räusperte sich. Das Telefon klingelte. „Ja? Nein. Gut. Gut. Ja. Bis dann.“ „Also, Frau Dr. Lemke. Fräulein Lemke. Meine Leute hier – er zeigte auf die Tür, hinter der offensichtlich noch immer die Polizisten standen – hätten gern noch ‘ne Mütze voll Schlaf, bevor es hell wird. Wenn Sie nur hier bitte kurz unterschreiben“, er hielt Victoria einen Bogen Amtspapier hin, „dann erhalten Sie von mir Ihren Ausweis zurück und können mit Ihrer Mutter nach Hause gehen. Sie sind doch sicher auch todmüde.“ Da endlich hob Victoria den Kopf und dreht sich zu ihrer Mutter. Sah sie aus großen grünen Augen an. Ihre Blicke kreuzten sich. Eine stumme Bitte der eine, der andere voll trotziger Abwehr.

„Nein“. Ihre Stimme klang müde und brüchig. „Wo sind meine Freunde? Ich will zuerst meine Freunde sprechen. Ich will wissen, wie es ihnen geht. Bringen Sie mich zu ihnen. Ich will keine Sonderbehandlung. Meine Mutter braucht nicht für mich die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Das mach ich schon selbst.“

„…und verbrennst dich dabei“, dachte Carla, doch sie schluckte die Worte unausgesprochen hinunter. Der Beamte wirkte unschlüssig. Er schaute von Mutter zu Tochter zu Mutter. „Das kommt davon, wenn man die Zügel zu locker

lässt“, war deutlich an seinem Gesichtsausdruck abzulesen. Aber er hatte seine Anweisungen. Eine bockige Victoria war darin nicht vorgesehen. „Fräulein Lemke“, er versuchte, überzeugend zu klingen. „Sie wollen ihrer Mutter doch bestimmt keinen Ärger machen.“ Nicht noch mehr, meinte er damit. „Ihre Freunde haben sich doch auch nicht um sie gekümmert. Wenn jetzt einer zu denen kommen und die Zellentür aufmachen würde, einfach so, ganz ohne Bedingungen – meinen Sie, die würden nach Ihnen fragen?“

„Das ist mir egal. Ich will jetzt sofort in eine Zelle gebracht werden, wie alle anderen. Oder vor den Untersuchungsrichter. Oder was auch immer!“ Victorias Stimme war wieder laut und klar. Sie sprang vom Stuhl auf, voller Kraft und geballter Wut. (…)

Victoria 2023

Widerwillig streckt sie die Hand nach dem dünnen, in grünes Leder gebundenen Büchlein aus, misstrauisch, als könnten ihr aus den Seiten jahrzehntealte Vorwürfe und ungeliebte Wahrheiten entgegenspringen. Sie braucht den Eintrag nicht zu lesen. Sie erinnert sich genau an alles, was in jener Nacht passiert ist. Und an die Folgen. Denn was im Flörsheimer Wald begonnen hat, hat sie nie mehr losgelassen. Die ganzen 40 Jahre.

Am Anfang war alles nur ein Spiel. Verstecken im Wald. Uni schwänzen. Und ein paar der Profs waren auch dabei

gewesen. Politische Aktivisten, sozusagen. Ja, einer war zeitweilig sogar mit Berufsverbot belegt worden, wegen Zugehörigkeit zu einer verbotenen linksextremen Partei. Absolut cool, so schien es den Jurastudenten damals. „Wir dachten, die seien auf unserer Seite. Wir glaubten, die wollten mit uns die Welt verändern. Phhh! Als ob“.

Victoria denkt an die Wochen im Wald, an das Hüttendorf. Sie kann den Rauch aus Hunderten von Lagerfeuern riechen, der über allem hing. Kann die Alltagsgeräusche des Dorflebens hören. „Wie alles, selbst etwas so Improvisiertes, aus trotzigem Widerstand Geborenes und zur Flüchtigkeit Bestimmtes ganz schnell seine eigene Normalität entwickelte. Eine Decke aus Gewohnheiten und Ritualen, in die wir uns einkuscheln konnten, als Schutz vor der Außenwelt, vor den Bösen: dem Staat, der Polizei, den Spießern“, wundert sich Victoria.

Sie war keine echte Bewohnerin des Hüttendorfes gewesen. Nur eine Tagesbesucherin. Wenn sie 8 oder 10 Stunden in das „Revoluzzerleben“, wie ihr Kommilitone Kai die permanente Demo vor den Toren der Startbahn nannte, eingetaucht war, sehnte sie sich nach einer Dusche, einem Salat statt der ewigen Suppen und nach ihrem eigenen, frisch duftenden Bett. Kai, der selbst kein einziges Seminar schwänzte und nie in den „Wald“ hinausgefahren wäre, nannte Victoria deshalb liebevoll neckend „Freizeit-Erna“, in Anspielung auf Ernesto Che Guevara. Sie wusste, dass er in sie verknallt war, wegen ihres Aussehens und ihrer mühelos guten Leistungen. „Wie kriegst du die ganzen Paragraphen nur in deinen Kopf“, fragte er, wenn sie zusammen in der Fakultätsbibliothek büffelten. „Das ist keine Kunst. Schwieriger ist es, sie da bei Bedarf auch wieder raus zu kramen“, antwortete Victoria dann unweigerlich und lachte. Ach ja. Rückblickend erkennt sie, wie sorglos diese Zeit gewesen ist. Wie nichtig die Bemühungen vor einer Klausur. Wie lächerlich die Stunde morgens vor dem Kleiderschrank, wenn sie sich auf ein Seminar bei Dolf Unütz vorbereitete.

Da. Jetzt hat sie den Namen wieder gedacht. In letzter Zeit gelingt es ihr immer öfter, ihn zu verdrängen. Natürlich nicht vollständig, das ist unmöglich, denn jedes Mal, wenn sie Carl ansieht, blickt sie in Dolfs Gesicht. Aber sie hat gelernt, weite Teile ihrer Vergangenheit mit einem Tabu zu belegen, abzusperren wie einen Tatort. „Spurensicherung. Halt. Hier dürfen Sie nicht rein.“

Spuren sichern. Genau das hat Victoria vermeiden wollen. Weil sie wusste, nein, fühlte, dass alle Spuren, die zu den Stunden im Flörsheimer Wald führen konnten, ihre Zukunft und ihr Leben in Gefahr bringen würden. Deshalb hat sie alles getan, um sie zu vergraben, ganz tief in ihrem Unterbewusstsein, unter Schichten von Manierismen, Ticks und Marotten, die ihr Umfeld als gegeben hinnimmt und nicht hinterfragt. Etwas so: „Die ist halt ein bisschen komisch. Aber sonst ganz ok.“ (…)

Die Geister, die ich rief. Hatte Victoria sie gerufen? Oder hatte sie sich einfach auf etwas eingelassen, dessen Größenordnung sie nicht erkannt und nicht einmal erahnt hatte? Ihre Mutter hat sie nie verwöhnt. Aber sie hat ihre rebellische Tochter auch nie ins Messer laufen lassen. Hat hinter ihr gestanden, auch, wenn sie etwas falsch gemacht hatte. Die Äpfel. Das Mofa. Statt einer Strafe hat Victoria sich mit ihrer Mutter auseinandersetzen müssen darüber, was richtig war und was falsch. Über die Moral der kleinen und später der immer größeren Dinge. So hatte sie ein Gerechtigkeitsgefühl entwickelt und tief in sich verwurzelt. Daher das Jurastudium. Und daher letztendlich auch der Einsatz gegen die Startbahn West, gegen Aufrüstung und für den Frieden.

Und natürlich war da der Reiz des Verbotenen gewesen, der die „Freizeit-Erna“ gereizt hatte. Denn auch, wenn Demonstrationen legal waren, das Hüttendorf war es nicht. Revolution im Wasserglas, auch so ein Label von Kai. Das Sahnehäubchen auf der ganzen Aktion aber war er gewesen,

Dolf Unütz. Schwarm aller Studentinnen, vom ersten Semester bis zum ersten Staatsexamen. Anfang vierzig, also ein Grufti, mit schulterlangen dunkelblonden Haaren, schlank und mit ein paar Muskeln dort, wo sie deutlich sichtbar waren, ohne aggressiv zu wirken. Wenn er seinen stechend grauen Blick im Hörsaal über die Bänke schweifen ließ, errötete mehr als eine der Damen. Dolf, der mit dem ersten Buchstaben seines Namens die Last familiärer Vergangenheit gestrichen hatte.

Victoria gehörte nicht dazu. Im Zusammenleben mit Carla hatte sie sich ein perfektes Pokerface antrainiert. Das kam ihr nun zugute. Als er nach der Vorlesung hörte, dass Victoria ins Hüttendorf wollte, kam er auf sie zu und sagte: „Ich nehm‘ Sie mit.“ Einfach so. Keine Frage, kein Angebot, keine Erklärung. Von diesem Nachmittag an fuhren sie täglich zusammen in den Flörsheimer Wald. Irgendwo am Rand parkten sie seinen cremefarbenen Mercedes 380 SL und schlugen sich durch das Unterholz durch bis ins Dorf. Er vorneweg, sie hinterher.

Einmal trafen sie ein paar Hundert Meter vor den ersten Hütten auf einen Mann, den Victoria im ersten Moment für einen Polizisten hielt, ganz in schwarz mit Erde im Gesicht. Wie lächerlich, dachte sie. „Das ist Vicky, eine Freundin“, sagte Dolf. Vicky! Jetzt wurde sie rot, nickte dem Mann, der sich ihr nicht vorstellte, zu und sah auf den Boden. Braune Blätter, die Ränder gekräuselt vom Frost, vermischt mit Schlammkrusten, als sei hier vor kurzem ein Auto gefahren, oder ein Motorrad.

„Soso, Vicky. Dann pass mal gut auf und mach keinen Fehler.“ Und der Mann verschwand zwischen den dicht stehenden Sträuchern. Dolf und Victoria gingen schweigend die letzten Meter zum Hüttendorf. „Wer war das?“, fragte sie, doch Dolf begrüßte schon die ersten Demonstranten. Die Stimmung war aufgeheizt. Den ganzen Tag waren Gerüchte um die Lagerfeuer getragen worden. Die Polizei habe Hundertschaften zusammengezogen, Sondertrupps aus Bayern. Die Räumung stehe kurz bevor. „Wenn es heute tatsächlich zum Angriff kommt, dann versteck dich auf dem Weg zum Auto und warte da auf mich.“ „Aber – und Sie?“ „Ich habe noch was vor. Du wirst schon sehen.“

Als die Polizisten dann kamen, rannten alle schreiend durcheinander. Knüppel kamen zum Einsatz, wahllos wurde auf Alte, Frauen, sogar auf Kinder eingeschlagen. Es war eine Hetzjagd, wie Victoria sie bisher nur aus dem Fernsehen kannte. Und sie mittendrin. Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz am Kopf. Sie stolperte, fiel vornüber auf den dichten Laubteppich – und dann nichts mehr.

Schuldwald ist der Roman, an dem ich aktuell arbeite: Ein Verbrechen, drei Generationen. Erst dem Enkel gelingt es, das Geheimnis aufzuklären, das über 40 Jahre das Leben von Mutter und Großmutter überschattet, und endlich einen alten Fluch zu brechen. Eine Mutter, deren Ideale von Pazifismus und Abrüstung im Schatten des Ukrainekriegs zerbrechen, die sich als Antwort zunehmend radikalisiert und in alten Terrornetzwerken verstrickt. Eine Großmutter, die den 2. Weltkrieg überlebt hat und deren großes Ziel es ist, Krieg für immer zu verhindern. Und ein Enkel, der für sich erkennt, dass er statt der Welt lieber ein Menschenleben retten will. Und am Ende genau daran scheitert.

Was sagt Ihr dazu?

MIniKrimi Adventskalender am 9. Dezember


Liestaler Zwielicht

Von Ina Haller

(…) Die Männer hatten aufgeholt. Keuchend hastete Samantha weiter und erreichte einen Dachstock mit einem Holzunterdach und einem Querbalken. An der Wand standen Tische mit Holzstühlen. Auch hier gab es keine Verstecke. Wie kam sie aus diesem Labyrinth heraus? Es musste einen Weg nach unten geben. Samantha taumelte gegen die nächste Tür und fand sich auf einer Dachterrasse wieder. Viereckige Betonplatten waren am Rand auf einer bemoosten Fläche übereinandergestapelt.

Ohne sich umzusehen, rannte sie über die Terrasse, die mit Dachpappe ausgelegt war. Die weiße Tür auf der gegenüberliegenden Seite war glücklicherweise nicht abgeschlossen. Sie gelangte in einen hohen Raum mit verrosteten Behältern und Tanks. Ein weiterer Dachstock. Sie musste endlich den Weg nach unten finden. Samantha bekam fast keine Luft mehr und überlegte, ob sie in den verrosteten Tank kriechen sollte, ließ es aber bleiben. Die beiden würden hundertprozentig nachschauen.

 Am Ende des Raumes fand Samantha das, woran sie nicht mehr geglaubt hatte: eine Treppe. Sie führte nach unten in die Dunkelheit. Denk nicht nach! Mit der Hand auf dem Handlauf, eilte Samantha, so schnell, wie es möglich war, hinunter. Sie wagte nicht, die Taschenlampe einzuschalten. Oben flammte ein Licht auf. Eine Handytaschenlampe. Bevor der Strahl Samantha erfasste, bog sie um die Ecke und tastete sich weiter.

Die Schritte kamen näher.  Licht war von Vorteil. Wohl oder übel musste sie ihre Taschenlampe einschalten, auch wenn es ihren Standort verriet. Samantha erreichte das untere Ende der Treppe. Ihre Hoffnung, den Ausgang aus dem Areal gefunden zu haben, zerschlug sich, als sie im Schein der Taschenlampe einen Raum mit geschwärzten Wänden erblickte. An einzelnen Stellen schimmerten hellgrüne Wandplättli durch den Schmutz. An der Decke verliefen unterschiedlich dicke Rohre. Über den Boden verteilt lagen die Hälften von Fassböcken aus Beton. Auf einzelnen standen runde Tanks, die einmal cremefarben gewesen sein mussten und von einer Schmutzschicht überzogen waren, wie sie im Licht der Lampe sehen konnte.

 Neben der Tür, durch die sie gekommen war, erkannte sie ein Holzbrett, das hochkant gestellt war und ihr bis zum Bauchnabel reichte. Samantha leuchtete auf die andere Seite und zuckte zurück. Dort ging es mindestens ein oder zwei Stockwerke nach unten. Das Brett war die notdürftige Sicherung dieses Loches mitten im Boden. Der Strahl der Taschenlampe streifte eine gelbe Tür. »Hefekeller«, stand darauf.

 »Wo ist sie hin?«

 »Ich glaube, dorthin«

In Samantha kam wieder Bewegung. Sie huschte in denRaum, der nicht wie die anderen leer war. Mehrere jeweils paarweise übereinandergestellte Tanks waren an der Wand aufgereiht. Die Wände waren nicht so schwarz wie die der anderen Räume, durch die sie gerade gekommen war.

 Die Stimmen und Schritte kamen näher. Es gab keinen Ausgang auf der anderen Seite des Raumes. Sie saß in der Falle. Die Öffnungen der Tanks waren zu klein, um sich hineinzuzwängen. Samantha umrundete die Fassböcke am Boden und schaltete die Taschenlampe aus. Sie quetschte sich zwischen zwei dieser Doppelkonstruktionen und kroch so weit darunter, wie es ging. Sie bemühte sich, oberflächlich Luft zu holen, was nicht einfach war, wenn man außer Atem war.

 Das Licht der Handytaschenlampe wanderte durch den Raum. Das Versteck war alles andere als gut. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die beiden sie fanden. Sie mussten nur zwischen die Tanks leuchten und würden sie sofort entdecken.

 »Wo sind wir hier?«

 »Im Keller.«

 »Das sehe ich selbst. Wo ist sie?«

Der Lichtstrahl glitt weiter über die Tanks und blieb abermals an dem hängen, unter den Samantha halb gekrochen war.

 »Sie muss hier sein. Es gibt keine andere Möglichkeit.«

 »Ich habe das Licht ihrer Taschenlampe nicht mehr gesehen.«

 »Sie wird es ausgeschaltet haben. Das heißt, sie kommt nicht so schnell vom Fleck.«

 »Oder sie versteckt sich hier.«

 »Wo bitte?«

 »In einem dieser Tanks.«

 »Passt ein Mensch durch die Öffnung?«

Anstelle einer Antwort hörte Samantha Schritte. Sie konnte von ihrem Versteck aus Beine erkennen. Die Person bückte sich und leuchtete in einen der unteren Tanks. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und der Puls dröhnte in ihren Ohren. Sie war überzeugt, die beiden würden es hören. Das Licht huschte über die Tanks.

 »Willst du in jedem nachschauen? Selbst wenn sie schlank genug ist, dort durchzukriechen, hatte sie keine Zeit dafür. Und wer sagt, dass sie in diesen Raum ist?«

 »Wo soll sie sonst sein?«,

 »Überall in diesem Irrgarten. Weißt du, wo du dich befindest?«

 »Im Keller des Ziegelhofs.«

 »Sehr witzig. Ich hoffe, wir finden hier wieder raus.«

 »Hör auf zu jammern und such lieber.«

 Der Mann erreichte die Tanks, unter denen Samantha sich versteckte. Sie widerstand dem Drang, sich weiter darunterzuquetschen. Der Lichtstrahl streifte Samantha. Fest presste sie die Augen zusammen und wappnete sich auf das, was kommen musste (…)

Ina Haller lebt mit ihrer Familie im Kanton Aargau, Schweiz. Nach dem Abitur studierte sie Geologie. Seit der Geburt ihrer drei Kinder ist sie »Vollzeit-Familienmanagerin« und Autorin. Zu ihrem Repertoire gehören Kriminalromane, Reiseberichte sowie Kurz- und Kindergeschichten.

www.inahaller.ch

«Liestaler Zwielicht» ist sowohl als Print als auch eBook in Buchhandlungen und online erhältlich.

MiniKrimi Adventskalender am 8. Dezember


Heute, meine Lieben, geht’s mir ans Leder. Oder das hat sich zumindest die liebe M. gedacht, als sie mir folgende Clues für diesen MiniKrimi geschickt hat: blutiges Tangahöschen/ weisser Rauschebart/ Kristallkugel/ Trommel/ Kirchenglocken/ Seemöwe/ hohe Nordseewellen/ Pirat(enkostüm)/ Messwein. Na, dann schau’n wir mal, ob ich daraus was aus dem Hut, nein, aus meinem Kopf zaubern kann.

Agentin Feli’s erster Fall

Ich habe lange gezögert und bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob ich das Richtige tue. Mein Alltag verläuft in geregelten Bahnen. Aufstehen, essen, putzen, schlafen, das Haus inspizieren, essen, putzen, schlafen, den Garten inspizieren – aber nur im Sommer, denn der Winter in diesen Breiten jagt mir beständige Kälteschauer über den Rücken. Ich lebe nun schon seit 8 Jahren in Deutschland, aber an das milde Klima meiner Heimat Mallorca erinnere ich mich noch immer mit Wehmut. Allerdings ist es das einzige, was ich hier vermisse. Wäre ich geblieben, wäre ich schon lange tot. Aber Mia hat mich gerettet und zu sich nach Hause geholt. Dafür bin ich ihr unendlich dankbar. Deshalb passe ich gut auf sie auf, allein schon in meinem Interesse. Und deshalb bleibe ich bei meinem Entschluss. Immerhin habe ich berühmte Vorbilder, die es nicht nur zu Ruhm, sondern auch zu einigem finanziellen Erfolg gebracht haben. Denkt nur an die Wanze Muldoon und seine berühmte Gartendetektei. Oder an den von mir wegen der politischen Entgleisungen seines menschlichen Mitbewohners nicht besonders geschätzten Francis. Da ich selbst Ausländerin bin, bin ich da sehr empfindlich. Aber ich schweife ab.

Mia ist Schriftstellerin. Sie hat es nicht leicht. Und stellt mir und den anderen trotzdem jeden Tag ein gutes Essen hin. Und nicht etwa irgendein Billigzeug, nein! Sie informiert sich immer wieder über die beste und bekömmlichste Ernährung. Dabei übertreibt sie es manchmal zwar mit ihrer Fürsorge. Kürzlich hat sie auf einer dubiosen esoterischen Internetseite gelesen, dass Messwein stimulierend auf den Organismus alternder Katzen wirken soll, wegen der positiven psychogenen Vibrationen. Ein völliger Quatsch, natürlich. Ich habe mit dem Essen solange gewartet, bis meine Mitbewohnerin Bruna in der Küche war, und dann so getan, als sei ich kurz abgelenkt. Die Arme ist nicht die hellste Birne am Kronleuchter, aber – Achtung: Trommelwirbel – extrem verfressen. Sie hat meinen Napf in Sekundenschnelle leergefressen, Messwein hin oder her. Mia hat nicht mal bemerkt, dass Bruna den Rest des Abend tänzelnd durchs Wohnzimmer ging. Müssen die Vibrationen gewesen sein.

Aber ich schweife schon wieder ab. Verzeiht. Das ist mein erster Versuch als Geschichtenschreiberin, ich verliere noch leicht den Faden. Also: ich will euch von meinem ersten Fall – und dem ersten Erfolg – als Privatdetektivin berichten. Und das kam so:

Stop. Bevor ich besagten Fall aufschlüssele, muss ich euch erst mehr über unsere kunterbunte Hausgemeinschaft erzählen. In unserem kleinen Hexenhäuschen am Stadtrand von München leben wir zu sechst: Meine beiden älteren Schwestern Chiara und Bruna, ich, dazu ein Mafioso aus Dubai, nennen wir ihn Mischief, und seit neuestem noch ein Baby namens Pepa. Ach ja, und Mia, natürlich. Ihr gehört das Haus. Chiara und Bruna sind schon in die Jahre gekommen und, wären sie Menschen und hätten sie jemals sozialversicherungspflichtig gearbeitet, Rentnerinnen. Das heißt, die beiden haben schon immer mal wieder beim Film gejobbt, vor allem Chiara, sie hat in ihrer Jugend viel gemodelt und hatte ihr letztes Shooting noch in diesem Herbst. Statt eines Honorars hat sie drei maßgeschneiderte Mäntel bekommen, über die Mia zunächst gelacht und gesagt hatte, Chiara sähe darin aus wie in einem Piratenkostüm. Jetzt ist es Winter und Chiara besteht nur noch aus Haut und Knochen. Ohne Mantel wäre sie augeschmissen.

Das muss man sich mal vorstellen! Ein Schlittenhund im Mantel! In einem früheren Leben wäre sie mit wehendem Fell an einem einsamen skandinavischen Strand durch die Brandung gerannt, über sich kreischende Seemöven und die Gischt hoher Nordseewellen wie Diamanten im Fell! Ach ja. Traurig. Aber ihr Verstand funktioniert noch und ist scharf wie das japanische Küchenmesser, an dem Mischief sich beim Abschlecken schon mal die Zunge aufgeschnitten hat, weil es nach Lachs roch.

Ja. Also das ist unser bunter Haufen. Chiara, eine 15 Jahre alte Malamute-Dame, Bruna, ein 11 Jahre alter Dobermann-Verschnitt (das hört sie gar nicht gerne, ihr Vater sei rein und rassig gewesen, nur kleingewachsen, behauptet sie), Pepa, das vorlaute Zwegdackelmädchen und – Mischief, der Hahn im Korb. Mitten in der Pubertät, Arabic-Mau und 7 Kilo schwer, ein Kraftprotz, wie er im Buche steht, immer darauf aus, anderen eins auszuwischen und Unruhe zu stiften. Ob er Mias Hausschuhe verschleppt, den handgeknüpften Teppich aufdribbelt oder mitten in der Nacht die Haustür aufmacht und uns – theroretisch – der Gefahr aussetzt, von Mördern gemeuchelt zu werden. Ich habe zwar in Erfahrung gebracht, dass die Kriminalitätsrate in diesem Stadtteil äußerst niedrig ist, aber das binde ich Mischief natürlich nicht auf die Nase.

Achso, ihr fragt, wer ich eigentlich bin? Ja. Ich bin Feli, bin 8 Jahre alt, stamme aus Mallorca, und die Menschen nennen mich eine Glückskatze. Warum? Keine Ahnung. Aber ich weiß, dass ich das große Glück hatte, Mia zu begegnen. Sie hatte natürlich genauso großes Glück, denn was würde sie ohne mich tun? Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre der Fall, von dem ich euch jetzt endlich berichten werde, vermutlich tödlich ausgegangen. Und wir hätten einen Störenfried weniger im Haus. Aber „psst“, das habt ihr nicht gehört!

Gut. Vorgestern war ein Tag wie jeder andere. Chiara verweigerte ihr Essen und pinkelte stattdessen aufs Parkett – warum Mia ihr nicht immer diese WIndeln anzieht, die schon ihre Mutter getragen hat, also Mias, versteh ich nicht. Bruna lag auf der Seite und knurrte unentwegt prophylaktisch, falls Pepa auftauchen sollte. Aber die war damit beschäftigt, Mischief durchs Haus zu jagen. Treppauf treppab. Hach – das sind die Momente, die ich liebe. Früher hat er das nämlich mit mir gemacht. Tja, so kann das Blatt sich wenden….

Mia saß in ihrem Zimmer und versuchte, das Seitenpensum für ihren neuen Roman zu schaffen. Es dauerte eine Weile, bis sie in Fahrt kam, aber dann fing sie an zu schreiben – udn vergaß die Zeit. Wie schön, wir alle hatten Ruhe!

So wurde es Nachmittag. Stille lag über dem Haus. Nur einmal schien es mir, als hörte ich ein Scheppern ganz oben. Vielleicht ein loser Dachziegel?

Um kurz vor sechs stand ich auf und beschloss, nach Mia zu sehen. Wenn sie so in Schreibwut ist, vergisst sie leicht, dass bei uns um Punkt 18 Uhr Abendbrotzeit ist. Und gewisse Regeln müssen einfach eingehalten werden. Dafür sorge ich. Auf dem Weg ins Arbeitszimmer begegnete mir Chiara. „Gerade wollte ich Mia holen“, sagte sie. Wer’s glaubt! Bruna schloss sich uns an. Pepa bellte, kam alleine aber nicht die Treppen hoch. Also standen wir drei vor Mias Schreibtisch und sahen sie an. Erst mal ganz still. Dann bellte Chiara kurz. „Jaja, was ist denn?“, fragte Mia. Bruna jaulte. Sie ist immer gleich so ne Heulsuse. „Bruna, ist ja gut.“ Mia starrte weiter auf den Bildschirm. Zeit, zu handeln! Kurzentschlossen sprang ich auf die Tastatur und starrte sie auffordernd an.

„Achso, ist es schon Essenszeit? Kann nicht sein, Mischief hat sich noch nicht gemeldet.“ Er ist eigentlich immer der erste, der nach Futter schreit. Und jetzt fiel es auch mir auf: ich hatte den dicken Kater den ganzen Nachmittag über nicht gesehen! Weshalb ich auch so ruhig hatte dösen können.

„Wir gehen einfach runter und fangen schon mal mit dem Essen an,“ schlug ich vor. „Wenn er das Rascheln der Tüte mit seinem Trockenfutter hört, kommt er ganz sicher angerannt.“ Ob Mia mich verstanden hatte oder nur dem gleichen Gedankengang wie ich gefolgt war, weiß ich nicht. Aber sie ging in die Küche und bereitete unser Abendessen zu. Dabei rief sie immer wieder „Mischief!, Komm, lecker lecker!“ Wie albern. Ich reagiere auf sowas gar nicht erst. Doch bei ihm klappte das normalerweise. Als wir dann aber alle um unsere Töpfe versammelt waren, war von dem roten Mafioso immer noch nichts zu sehen.

Wir aßen dann schließlich ohne ihn. Aber jetzt war Mia richtig besorgt. „Wo kann er nur stecken? Das ist noch nie passiert!“ Und hier musste ich ihr recht geben. Egal, welchen Unsinn er wieder angestellt hatte – sein Futter hatte er noch nie verpasst. Also fing auch ich an, mir Sorgen zu machen.

Mia begann mit einer systematischen Suche im ganzen Haus. Waschküche – den warmen Platz hinter der Heizung nicht vergessen! Und auch nicht den ausrangierten Wäschekorb mit den Kissen für die Hollywoodschaukel, die dort in Erwartung des nächsten Sommers vor sich hin staubten. Nichts. Unter den Betten, unter den Matratzen – dort fand Mia, das hörte ich an ihren erpörten Ausrufen, alte Kotknöllchen und ein Mauseskelett. Dann die Schränke. „Ich habe doch gar keinen aufgemacht, heute?“ Sie wühlte sich durch Wintermäntel und Daunendecken bis in die hintersten Ecken. Überall das gleiche: Spuren seiner Anwesenheit, wie etwa einen zerrissenen Wollschal, Berge zerkauter Computer- und Ladekabel („Dieses Monster, ich bring ihn um!“), Reste von Kaustäbchen, obwohl die auch von Pepa stammen konnten, sie war ja nur halb so groß wie er und folgte ihm gerne in seine geheimsten Verstecke. Aber diese Spuren hatten eines gemeinsam: sie waren alle alt.

Nach zwei Stunden vergeblicher Suche ließ Mia sich auf das Sofa fallen. „Es ist wie vom Erdboden verschluckt. Wo kann er nur sein?“

Ich war Mia die ganze Zeit gefolgt, beobachtend, darauf achtend, dass sie nichts übersah. Aber nein – auch ich hatte den Kater nicht entdeckt. Jetzt war es an der Zeit, andere Methoden anzuwenden. Da ich nichts davon halte, meditirend in einer Kristallkugel nach Lösungen zu suchen, befragte ich zunächst die Zeuginnen im Haus. Und stieß dabei auf eine Mauer des Schweigens. Weder Chiara noch Bruna oder Pepa wollten Mischief in den letzten Stunden gesehen haben. „Ich finde übrigens nicht, dass er hier sonderlich fehlt“, bemerkte Chiara. Die alte Dame hatte so manches Haarbüschel in seinen Fängen verloren. „WIr sind als reiner Frauenhaushalt doch viel besser dran“, stellte Bruna fest. Und Pepa? Die Kleine verfügte noch nicht über eine besonders ausgeprägte Beobachtungsgabe. „Keine Ahnung. Also das letzte Mal habe ich ihn gesehen, als ich mir sein Kaustäbchen ausleihen wollte. Da ist er wie der geölte Blitz in den Flur gerannt und ab durch die Katzenklappe.“

Moment mal, da hatte Mia noch gar nicht nachgesehen. Eigentlich ist der Kate rnämlich zu dick, ehm, zu groß, um sich durch die Klappe zu zwängen, und ruft immer nach Mia, wenn er raus will. Aber wie sollte ich sie dazu bewegen, das nachzuholen? Da kam Chiara ins Spiel. „Auf dich hört sie am meisten. Sag ihr, dass du piseln musst. Dann rennt sie sofort mit dir raus. Und dann schaust du dich um. Bitte!“ „Na gut“, meinte Chiara. Auch, wenn sie Mischief nicht besonders mochte, legte sie doch Wert darauf, ihre Rolle als Rudelchefin zu betonen. Gesagt, getan. Als sie nach einer Viertelstunde wieder ins Haus kamen, wartete ich schon ungeduldig. „Und?“ „Du hattest recht, ausnahmsweise“, sagte sie. „Draußen vor der Tür roch es irgendwie seltsam. Nach Mischief, aber so, wie er riecht, wenn er Angst hat“.. Ich hatte noch nie bemerkt, dass der Kater so ein Gefühl überhaupt kannte. „Und dann auch fremd. Nach einem fremden Menschen. EInem Mann.“ „Und? Ist das alles?“ Ich war enttäuscht. Hier kamen immer mal Fremde her. Der Gärtner, der Schornsteinfeger. Allerdings nicht in den letzten paar Stunden. Aber wie zuverlässig war der Geruchssinn einer uralten Dame? Litten die nicht alle unter Anosmie? „Nein, das ist natürlich nicht alles“, triumphierte Chiara. „Auf dem Boden vor der Haustür lag ein Stück Papier. Braun, sah aus wie ein Blatt. Mia hätte es übersehen. Aber ich habe dran rumgekaut, da hat sie es mir weggenommen. Und es stand was drauf.“ „WAS?“ „Keine Ahnung, ich kann Menschenschrift nicht lesen.“

Wie enttäuschend. Ich auch nicht! Was nun? Aber da kam Mia wieder ins Zimmer. Setzte sich mit dem Stück Papier – es sah aus wie ein abgerissener Streifen einer Brottüte, und es roch auch so – aufs Sofa, und ich daneben. Ich kenne meine Mia. Wenn sie nicht weiterweiß, fragt sie immer uns um Rat. Ihre besten Freundinnen. „Chiara, Feli, das ist furchtbar. Hier steht:

Ihr Kater hat nun zum wiederholten Mal in meinen Garten gekackt. Gekackt. Wie vulgär! Jetzt reicht es mir. Ich habe ihm einen Denkzettel verpasst, von dem er sich so schnell nicht erhoien wird. Und wenn er überlebt, dann bringe ich ihn das nächste Mal ganz sicher um.

Typisch. Ohne Unterschrift. Der arme Mischief. Wer weiß, was er mit ihm gemacht hat! Wenn er verletzt ist, hat er sich bestimmt verkrochen. Und wenn wir ihn nicht rechtzeitig finden, verblutet er vielleicht. Oder erstickt. Oder…. „

Chiara und ich sahen uns an. WIr mochten den einfältigen Kater nicht besonders. Aber den Tod wünschten wir ihm deshalb noch lange nicht. Jetzt hieß es konzentiert nachdenken.

Und genau das tat Agentin Feli. Ich ließ die letzten Stunden Revue passieren. War mir irgend etwas aufgefallen? Etwas Außergewöhnliches? Dann fiel es mir ein: ich hatte ein Geräusch gehört. Irgendwo oben. Vielleicht auf dem Dach.

Das Dach! Der Nachbar hatte einen alten Kastanienbaum, dessen Äste in unseren Garten hinüberwuchsen. Mia hatte damit kein Problem, sie erntete die Nüsse, die zu uns runterfielen, und aus den Blättern kochte sie Tee. Igitt. Aber bitte. So weit, so gut. Ich hatte einen Anhaltspunkt. Aber wie brachte ich Mia dazu, auf den Dachboden zu gehen? Dort hatte sie nicht mal gesucht, denn der Zugang war von innen für den Kater unerreichbar, und er war dort noch nie gewesen.

Ich begann, zu miauen. Lauter und lauter. Bis ich Mias Aufmerksamkeit hatte. Dann sprang ich vom Sofa und ging zur Treppe. Chiara hinterher. Ich miaute, sie bellte. Schließlich fiel bei Mia der Groschen. Menschen sind manchmal unendlich langsam! Sie folgte mir. Chiara blieb unten, Treppen sind mit ihrer Artrose nicht mehrmals am Tag zu meistern. Immer, wenn Mia zögerte, schaute ich sie intensiv an. Wozu hat man schließlich einen hypnotischen Blick?

Vor der Treppe zum Dachboden blieb ich stehen. Und rief nach dem Kater. Auch Mia fing an, ihn zu locken. Rufen. locken, Stille. Endlich, nach einer kleinen Ewigkeit, hörten wir einen Ton. Ein Scharren. Dann ein leises Klagen. Ganz untypisch für den Mafioso. Aber vielleicht ging es ihm wirklich schlecht? Mia öffnete die Luke zum Dachboden und machte sich an der Leiter zu schaffen. „Mist, ich hab mein Handy nicht dabei. Kein Licht.“ Sonst hat sie das blöde Ding permant in der Hand. Aber zum Glück leuchtete durch die beiden Dachluken noch etwas Spätabendsonne. Ich klettere nicht gerne, aber manchmal muss man über seinen Schatten springen. Vor allem als Agentin. Ich zwängte mich also an Mia vorbei. Staub, Spinnweben, kaputte Schindeln, alte Kacheln und Bretter. Kisten mit Gerümpel, Faschingsklamotten, kaputtes Spielzeug. Was die Menschen so alles ansammeln, ohne sich trennen zu können. Ich blieb stehen. „Mischief“, flüsterte ich. „Wo bist du?“ Plötzlich kam aus der Dunkelheit ein Ungeheuer auf mich zu. Ich schrie und pralle gegen Mias Bein. Auch sie war endlich oben angekommen. Und stieß ebenfalls einen erschrockenen Schrei aus. Das Monster kam jetzt direkt auf uns zu. Unter einem Wust feuerroter Haare hing ein riesiger, schmutzigweißer Rauschebart. Und um den Körper gewickelt – ein blutiges Tangahöschen. Getränkt mit dem Blut, das aus einem Riss im buschigen Fell unseres Katers tropfte. „Mischief“, riefen Mia und ich erleichtert. Der dumme Kerl hatte sich über die Kastanie auf unseren Dachboden geschleppt und war prompt in die Kiste mit den Faschingssachen geplumpst.

Ganz benommen humpelte er auf uns zu, un in meiner Euphorie hörte ich jubilierende Kirchenglocken läuten.

„Du hast ihn gerettet“, sagte Mia später, als ich neben ihr auf dem Sofa lag. „Ich wäre nie auf die Idee gekommen, auf dem Dachboden nachzuschauen. Ich hatte keine Ahnung, dass man da von der Kastanie aus reinkommt.“ Naklar, wie auch, du bist ja ein Mensch, dachte ich. Die Tierärztin hatte Mischiefs Wunde verarztet und uns geraten, Anzeige zu erstatten. Der Zettel sei Beweis genug. Aber ich denke, Mischief wird in Zukunft einen großen Bogen um Nachbars Garten machen.

Und ich? Habe schon den nächsten Fall. Vorhin kam Pepa zu mir. Sie kann ihren Quietscheteddy nicht finden, ohne den sie nicht einschlafen kann. Und ich habe jetzt eine gewisse Reputation. ich bin mir fast sicher, dass Mischief dahinter steckt. Ich fange gleich an mit der Spurensuche.

MiniKrimi Adventskalender am 7. Dezember


Verlorene Träume (Auszug)

Von Sandra Halbe

Prolog

Nie hätte ich gedacht, dass dieses Lied mich so sehr bewegen würde. Hunderte, wenn nicht tausende Male habe ich es ge­hört, in den ver­schiedensten Varianten. Immer klingt es gleich. Und dann auch wie­der nicht.

Als ich auf diese Version gestoßen bin, waren all die Bilder auf ein­mal zu­rück. Alles, was ich jahrelang verdrängt habe. Nicht ver­gessen, nein. Ich erin­nere mich an jene Nacht, als wäre sie gestern gewesen, an jedes Detail. Nur wollte ich meine Erinnerungen nicht. Diese Ge­danken an all das, was da­mals passiert ist. Also sperrte ich sie aus.

Bis ich dieses Lied hörte. Nach all den Jahren.

Die erste Zeile von »The Sound of Silence«. Worte, die ich schon so oft ge­hört habe. Und doch waren sie auf einmal neu.

Ein Hallo an die Dunkelheit. Die Dunkelheit, mein Freund? Ist das mög­lich?

Ich erinnere mich an unsere Zeit hier. Die Abende, an denen wir gefeiert, gelacht und getanzt haben. Dieser Ort bedeutete uns alles. Mein Klavier, auf dem du dieses Lied so oft gespielt hast. Die Weih­nachtsdekoration darauf, die wir so liebevoll ausgesucht hatten. Ob­wohl wir bereits wussten, dass dies das Ende sein würde. Diese Endgültigkeit, als ich zum letzten Mal das Licht aus­schal­tete. Die­ses Gefühl, als ich zum letzten Mal den Schlüssel im Schloss he-rumdrehte.

Es war vorbei. Für immer. Und obwohl ich es wusste, konnte ich es nicht begreifen.

Denkst du noch daran? An diesen Moment, der alles än­derte?

Denkst du noch an mich?

Ich werde dafür sorgen, dass du dich wieder erinnerst.

1

Sonntag

»Wir könnten ihn da hinstellen.«

»Wo?«

»Na, da!«

»Ist er da nicht zu nah am Kamin?«

»Was interessiert mich der Kamin?«

»Wir zünden ihn momentan gerne an. Wenn du ihn so nah ran stellst, wird der Weihnachtsbaum schnell trocken. Dann wäre er nach ein paar Tagen nicht mehr zu gebrauchen und wir könnten ihn schon vor dem sechsten Januar zu Brennholz ver­arbeiten. Wäre doch schade, oder?« Alex sieht mich ab­wartend an.

»Die paar Tage hält der das schon aus. Weihnachten dau­ert ja nicht ewig.«

»Lassen wir ihn nicht die ganze Adventszeit stehen?«

Ich überlege. »Bei uns zu Hause wurde der Weihnachts­baum immer am 23. Dezember aufgestellt.«

»Und bei meiner Familie am ersten Advent. Jetzt entschei­den wir, wie wir es in unserem Zuhause handhaben.« Alex zieht mich an sich.

»Ich hätte nie damit gerechnet, wie viel man entscheiden muss, wenn man zusammenzieht.« Ich schüttele den Kopf.

Ein paar Monate ist es jetzt her, dass ich zu Alex in sein klei­nes Haus Am Birkenstrauch in Bad Laasphe gezogen bin. Ein Haus, das schon fix und fertig eingerichtet war. Wir mussten keine Küche aussuchen, kein Bad renovieren … Okay, letzteres kommt irgendwann auf uns zu, aber zumin­dest momentan ist davon keine Rede. Alles in allem war der Ein­zug schnell erle­digt. In den Wochen zuvor hatte ich den Großteil meiner Sa­chen bei Alex untergebracht. Eine eigene Zahnbürste und mein Sham­poo im Badezimmer. Kleidung im Kleiderschrank. Hier ein Bild an der Wand, dort eine Lampe für die Kommode. Am Ende fuhr ich in die Ost­preu­ßenstraße zu meiner Mutter und packte das, was in meinem alten Kinderzimmer noch übrig war, in einen Koffer, den ich bei Alex ein paar Straßen weiter wieder auspackte. Klingt ein­fach, oder?

Obwohl mein Einzug bei Alex ein mehr oder minder schlei­chender Prozess war, war es doch etwas anderes, als ich plötz­lich meinen eige­nen Schlüssel hatte und klar war: Die­ses Haus ist jetzt auch meins. Ir­gendwie. Meiner Meinung nach gehörte ab diesem Zeitpunkt das Brot nicht mehr in den Kühlschrank, wo Alex es lagerte. Er wiederum be­schwerte sich, dass ich meine Schuhe mitten im Flur liegen ließ, wo ich sie nach der morgendlichen Laufrunde auszog. Jahrelang hatte Alex sämtli­che Wäsche in den Trockner geworfen, ob das Etikett auf dem Kleidungsstück das zuließ oder nicht. Wollten wir das für meine Kla­motten riskieren oder ab jetzt alles zum Trocknen auf den Wäschestän­der hängen? Wer be­kam wie viel Platz im Ar­beitszimmer, um den Pa­pierkram zu erledigen? Und die Dis­kussionen, die wir darüber führten, wie die Fächer im Bade­zimmerschrank verteilt werden … Sa­gen wir: Zu­sammenziehen ist eine Sache. Zusammenwohnen doch eine andere.

Nun sind wir beim Weihnachtsbaum angekommen.

»Hattest du hier schon mal einen Weihnachtsbaum?«, will ich wis­sen.

Alex schüttelt den Kopf. »Ich hab Weihnachten entweder ge­arbeitet oder bei meiner Familie verbracht.«

»Und jetzt willst du direkt einen über die ganze Advents­zeit aufstel­len?«

Er zuckt mit den Schultern. »Ich arbeite unsere Dienst­pläne für Weih­nachten erst in den nächsten Tagen aus. Aber ob die dann so bleiben, werden wir sehen. Du weißt ja, dass es jeder­zeit einen neuen Fall geben kann. Falls wir beide Weihnachten auf dem Präsidium verbringen, ha­ben wir we­nigstens an den Abenden davor etwas von unserem Baum.«

Damit hat er nicht unrecht. Was bringt uns ein Weih­nachts­baum, der eine Woche steht, wenn wir kaum zu Hause sind oder abends, wenn es dunkel ist und wir die Lichter an­zünden könnten, direkt ins Bett fallen?

»Ich finde trotzdem, dass er sich im Wohnzimmer am bes­ten machen würde«, beharre ich. »Hier verbringen wir die meiste Zeit, wenn wir dann mal zu Hause sind. In der Küche brauche ich keinen Weihnachts­baum.«

»Natürlich kommt der Baum ins Wohnzimmer, ich rede nicht von einem anderen Raum. Aber wir könnten über einen Standort weniger nah am Kamin nachdenken.«

Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. »Ohne die Möbel umzustellen?«

»Wir brauchen ja keinen riesigen Baum. Wie wäre es denn mit …«

In diesem Moment klingelt Alex’ Handy. Bei seinem Blick aufs Dis­play spare ich mir jeden weiteren Kommentar zum Thema. Unsere Dis­kussion, wo und für wie lange wir den Weihnachtsbaum aufstellen wer­den, müssen wir auf später verschieben.

Das Buch gibt es überall, wo es Bücher gibt. Infos zu Sandra Halbe und ihren Büchern gibt’s auf www.sandra-halbe.de oder auf Instagram unter sandra_halbe.

2

Stünzel ist der kleinste Ort, der zu Bad Berleburg gehört. Je­des Jahr im Juni findet hier auf dem Festplatz die Kreistier­schau, das Stünzelfest, statt. Dass hier an jenem Wochenende 25.000 Besucher feiern, ist jetzt, im November, nicht zu sehen, und so haben wir kein Problem, einen Parkplatz zu bekom­men. Kran­kenwagen und Notarzt sind bereits ein­getroffen. Ich notiere mir schnell die Nummernschilder der beiden üb­ri­gen Autos, die hier geparkt sind, und stolpere dann hinter Alex her, der zügig in Richtung Wald vorangeht. In den letz­ten Tagen hat es viel geregnet, sodass der Boden stellenweise matschig ist. Auch geschneit hat es vor ein paar Wochen schon einmal, hier und da sind noch Reste von Schnee zu se­hen. Immer wieder sinken meine Füße ein, und so komme ich nur langsam voran. Ein paar Meter vor mir höre ich Alex leise fluchen. Ihm geht es offenbar nicht anders.

Endlich kommen wir auf der Lichtung an. Mein Blick fällt auf ein winziges Gebäude, das in den Wald hineingebaut ist. Die Tür steht sperrangelweit offen, auf dem Dach ist ein klei­ner Holzzaun ange­bracht. Ein alter Rübenkeller, schießt es mir durch den Kopf. Davor ste­hen der Not­arzt und zwei Sa­nitäter und winken uns zu. Ein paar Meter entfernt kniet eine Frau über etwas im Gras, das ich von hier aus nicht erkenne. Eine weitere Frau steht neben ihr, einen Terrier angeleint zu ihren Fü­ßen. Alex geht auf den Rübenkeller zu, ich steuere die beiden Frauen an.

»Caroline König von der Polizei«, weise ich mich aus. »Kön­nen Sie mir sagen, was hier passiert ist?«

»Wiebke Schneider«, stellt die Frau mit dem Hund sich vor. »Ich bin hier mit meinem Rocky spazieren gegangen, wie jeden Sonntag. Da hin­ten hab ich die Frau liegen sehen. Sie hat nicht auf meine Rufe reagiert, nur leise gestöhnt. Ich wollte ihr hel­fen, aber ihr dummer Hund hat mich nicht zu ihr gelassen, also hab ich einen Krankenwagen gerufen.«

»Ihr Hund hätte vermutlich nicht anders reagiert«, mischt sich die Frau ein, die vorher auf dem Boden gekniet hat. Vor ihren Füßen steht eine Transportbox, in der ein zweiter Hund leise knurrt.

»Was ist mit ihm?«, frage ich.

»Ich habe ihn da hinein verfrachtet, so beruhigt er sich. Ich bin An­drea Klein vom Ordnungsamt. Die Kollegen vom Ret­tungsdienst haben mich gerufen, damit ich ihnen einen Weg zu der Frau verschaffe.«

»Hätte man da nicht einen Tierarzt rufen müssen, um ihm ein Beru­higungsmittel zu spritzen?«, wundert sich Wiebke Schneider.

»Nein, in solchen Fällen ist das Ordnungsamt zuständig. Ein Tierarzt kennt den Hund auch nicht zwingend und weiß nicht, auf welche Mittel er allergisch reagiert. Deswegen kommen wir mit einem langen Stock, an dem eine Schlinge be­festigt ist, und verfrachten den Hund in eine Transport­box.« Sie zeigt auf die Box, aus der mittlerweile nur noch ein leises Winseln kommt. »So ist kein Medikament nötig. Hunde sind für ihren stark aus­geprägten Beschützerinstinkt bekannt. Wenn das Frau­chen wehrlos am Boden liegt, kommt dieser zum Vorschein. Das ist lei­der nicht immer ideal, weil so auch Helfer vom Opfer fern­gehalten wer­den.« Sie zuckt mit den Schultern. »Ich hab mir mal das Sprungge­lenk gebrochen, mitten im Wald. Als ich da lag, haben Spa­ziergänger ver­sucht, mir zu helfen. Keine Chance. Mein Hund hat sie nicht gelassen, obwohl ich bei Be­wusstsein war und ihm immer wieder versichert habe, dass es okay ist, wenn diese Leute mir nahekommen. Erst als mein Le­bensge­fährte auftauchte, hat Joy sich beruhigen lassen und man kam an mich heran, um mir zu helfen. Diese Frau konnte sich nicht verständi­gen, sodass die Reaktion ihres Hundes nach­voll­ziehbar ist. Ihr Hund hätte nicht anders reagiert.«

Hat die Frau während ihrer Ausführungen nur einmal Luft geholt? Ich staune. »Was passiert jetzt mit dem Hund?«, frage ich und wappne mich für den nächsten Redeschwall.

»Ich bringe ihn zum Hof Birkefehl und hinterlege den Stand­ort bei Tasso. Das ist eine zentrale Datenbank, in der Be­sitzer nach vermissten Tieren suchen können. Vielleicht kommt die Frau ja wieder auf die Beine. Dann weiß sie, wo sie ihren Lieb­ling abholen kann.«

Ich sehe in Richtung Rübenkeller. Die beiden Sanitäter und der Not­arzt stehen ein paar Meter abseits, während Alex wild gestikulierend mit seinem Handy Verstärkung anfor­dert.

»Davon sollten wir wohl nicht ausgehen«, murmele ich.

Den Roman gibt es überall, wo es Bücher gibt. Infos zu Sandra Halbe und ihren Büchern gibt’s auf www.sandra-halbe.de oder auf Instagram unter sandra_halbe.

MiniKrimi Adventskalender am 6. Dezember


Lasst uns froh und munter sein

„Ah, der Herr Bischof. So früh schon unterwegs?“ Es ist sieben Uhr morgens, und auf dem Domberg kauern noch die Schatten der Nacht, durchbrochen nur von den glitzernden Lichtern am riesigen Weihnachtsbaum und ein paar späten Sternen. Ganz hinten, dort, wo der Fluss den Himmel berührt, färbt erstes Morgenrot die Wiesen. Es ist ein idyllisches Bild, und der Bischof bleibt stehen, saugt die klare Winterluft tief ein und mit ihr den Frieden, der über seiner Stadt zu liegen scheint. Aber wie so oft, trügt der Schein auch hier.

Der Skandal um Missbrauch und sexualisierte Gewalt hat auch die Domstadt erreicht. Weniger heftig und weniger laut, als einige es befürchtet und etliche es sich erhofft hatten. Und gottlob liegen die „Fälle“, um die es geht, schon Jahrzehnte zurück. Fälle – das Wort nimmt der Bischof nie in den Mund, zum Kummer seiner Kollegen, Dekane und Priester. Für ihn sind es Schicksale. Jedes besonders, jedes tragisch, jedes so ganz aus der vorgezeichneten Lebensbahn geworfen durch die Hand eines Kirchendieners. Der Bischof mag auch nicht unterscheiden zwischen Priestern und Leitern von Chor und Jungschar. Welche Bedeutung hat es für die Betroffenen, ob es ein geistlicher, ein haupt- oder ehrenamtlicher Missbrauch war, dessen Opfer sie wurden? Für die Kirche wäre es vielleicht schon wichtig, darzulegen, dass viele der Täter keine Geistlichen waren, sondern Mitarbeiter der Kirche. Aber ganz ehrlich? Für den Bischof macht das keinen Unterschied. So oder so hat Kirche versagt. Gegenüber ihren Schutzbefohlenen und gegenüber ihren ureigenen Inhalten.

Auch dass über Jahre, Jahrzehnte hinweg die Gemeindemitglieder selbst Augen und Münder verschlossen haben, mindert die Verantwortung der Kirche nicht. Der einzige Weg durch dieses Tal der Schuld ist steinig und steil und heißt lückenlose Aufarbeitung. Der Bischof ist jung, gerade mal Mitte Vierzig. Deshalb wurde er für den Vorsitz der Kommission ausgewählt. Und deshalb verweigern ihm seine durchweg älteren Kollegen den Respekt, kritisieren seine Entscheidung zu völliger Transparenz, nicht nur gegenüber den Betroffenen, sondern auch in den Medien. Ein nie wiedergutzumachender Schaden, ein unauslöschlicher Makel unserer Institution, mit diesem mahnenden Ruf sind sie bis nach Rom gegangen. Und mit leeren Händen zurückgekehrt. Der Bischof weiß genau, dass sie seitdem nach anderen Möglichkeiten trachten, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Er ist sich keineswegs sicher, ob und wann dieses Trachten von Erfolg gekrönt sein wird. Auch darin hat die Kirche eine große Tradition.

Aber auch, wenn er kein Cesare Borgia ist – Vorsicht kann nicht schaden. Deshalb ist der Bischof heute schon in aller Herrgottsfrühe auf den Beinen, um die Vorbereitungen für seinen Auftritt als Nikolaus, Bischof von Myra, heute Abend zu überwachen. Den Aufbau des Podests, von wo aus er ein paar Worte an die Menschen richten wird – er hat nicht vor, durch eine angesägte Latte zwei Meter auf Kopfsteinpflaster zu stürzen. Die Bereitstellung des Schlittens – mit Rollen, denn bislang hat es noch nicht geschneit, und die für den Abend vorhergesagten Flöckchen würden höchstens für einen malerischen Flaum auf seiner Tiara sorgen und nicht als Unterlage für die Kufen ausreichen. Und dann die mittelalterlich gestalteten Buden, an denen Met und Wuchteln, Früchtepunsch, Maroni und Grillfackeln verkauft werden – alles für einen guten Zweck, nämlich die Jugendarbeit in der Diözese. Es wäre nicht nur tragisch, sondern eine Katstrophe, wenn ein Dach einstürzen, ein Grill explodieren oder die Halterung eines Metkessels umkippen würde.

Damit wären dann gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe erschlagen, für seine Gegner, weiß der Bischof. Er wäre eliminiert – vom Dom, von seinem Posten als Vorsitzender der Aufarbeitungskommission und, im schlimmsten oder besten Fall, je nach Ansicht des Betrachters, von dieser Welt. Die von ihm dank seines Charismas aufgebaute Familien- und Jugendarbeit, geprägt von Offenheit, Gemeinschaft von Männern und Frauen, egal ob cis oder non-binär, und Kindern, von Musik und Social Media Präsenz, bei der G*ott tatsächlich benannt und bedankt wird, diese Arbeit würde ohne ihn zusammenbrechen wie ein Kartenhaus. Und zeigen, dass es eben so nicht geht. Dass Kirche Hierarchien braucht, und die Kollegen wären schnell dabei, diese wieder hochzuziehen, eherne Mauern aus Respekt, Ohnmacht und Schweigen.

„Du bist paranoid“, sagt ihm Claus, sein Freund und Vertrauter, immer wieder. „Besser als ein Opfer“, antwortet der Bischof dann. Und fügt lautlos hinzu: schon wieder.

Jetzt geht die Sonne über dem Domberg auf. Ein strahlender Wintermorgen. Die Arbeiten auf dem Platz gehen gut voran, der Bischof wechselt hier und da ein Wort, trinkt einen Becher Kaffee. Dann kommt Dominika, eine seiner Jugendleiterinnen. Sie drehen ein TikTok Video über die Vorbereitungen und laden nochmal alle ein: „Heute Abend, 17 Uhr. Nikolaus, der Bischof von Myra, hat Geschenke für alle Kinder dabei. Es gibt genug zu essen, zu trinken, zu feiern und zu singen. Kommt alle. Wir freuen uns auf euch.“

Der Regionale Radiosender hat schon über das Nikolausfest am Domberg berichtet. Es ist das erste nach Corona, das erste, seit der neue Bischof da ist, und das allererste überhaupt in dieser freien Form. Es sind sogar evangelische und muslimische Jugendgruppen mit dabei!

Von einem Fenster im dritten Stock der fürstbischöflichen Residenz, die sich nahtlos an den Dom anschmiegt, betrachtet Bischof Richard missgünstig das bunte Treiben. Und fragt sich, wie schon so oft, wo und wann er den Weg dieses jungen Bischofs hätte umlenken könnten. Wie viel Ärger wäre der Kirche erspart geblieben. Wieviel Schmach! Aber wer hat schon ahnen können, dass dieser hübsche, sensible, stille Junge mit der silberhellen Stimme einmal so ein wort- und gedankenstarker Geistlicher werden würde. So ein gefährlicher Gegner! Er selbst hat ihm sogar noch den Weg gewiesen. Nicht nur zu Jesus, sondern auch ins Priesterseminar. Was für ein kardinaler Fehler! Nun, vielleicht ist es ja noch nicht zu spät, denkt Bischof Richard. Und schaut sich unwillkürlich nach Meta um, seiner mit ihm alt gewordenen Hauswirtschafterin. Und mehr. Die beiden verstehen sich nach über 40 Jahren ohne Worte. Sie schaut ihm stumm in die Augen. Und nickt unmerklich.

Und dann ist es Abend. Wie vorhergesagt, fallen weiche Flocken vom dunkelblauen Winterhimmel. Sie legen sich zart auf die Dächer der Hütten, das Kopfsteinpflaster und die Mützen und Locken der Menschen. So viele sind gekommen. Der Rauch von den Feuern, über denen Grillfackeln schmoren, steigt senkrecht auf und mischt sich mit dem Nelkenduft von Met und Punsch, mit dem süßen Geruch gebrannter Mandel. In der Mitte des Platzes lodert ein helles Feuer, oben auf dem Podest spielt die Band „Last Christmas“ und dann, auf ein Zeichen des Bischofs, „Lasst uns froh und munter sein“. Ein bunter Chor, alte Stimmen, junge, helle, tiefe stimmt ein, der ganze Platz bebt und lacht. Ja, Lacht. Vergessen ist für diesen Moment alles, was trennt. Den Domberg mit seiner geistigen, geistlichen Last, und die Menschen. Der Bischof lächelt. Dankbar.

„Und jetzt schaut mal, was ich euch mitgebracht habe“, ruft er, springt vom Podest und zum Schlitten voller Pakete und Päckchen. Im Handumdrehen ist er umringt von Händen, nackten, behandschuhten, schüchternen, greifenden. Er lacht und legt in jede Hand ein kleines Geschenk. So schnell ist der große Schlitten leer. Nur noch ein kleines Päckchen liegt auf dem rotsamtenen Kutschbock. Der Bischof nimmt es und geht hinüber zur Residenz am Rande des Platzes. Dort, vor dem Portal, stehen Bischof Richard und eine Handvoll seiner Kollegen und machen gute Miene zum bösen Spiel. „Hier, Exzellenz“, sagt er und reicht Richard das Päckchen. „Auch für Sie hat der Nikolaus etwas dabei. Sie waren so lange der Domherr hier. Nehmen Sie die Pralinen, Ich weiß, es ist ihre Lieblingssorte, Meta hat es mir verraten. Und seien Sie mir, Ihrem Nachfolger, nicht allzu böse dafür, wie ich die Geschäfte hier weiterführe. Geistlich und weltlich. Es ist Advent. Kommen Sie, machen auch wir uns auf den Weg.“

Um sie herum wogt und tobt das friedliche Fest. Es ist kalt in der Bischofstracht aus Rauchmantel, Albe und Mitra. „Hier, Maximilian. Nimm einen Schluck Glühwein. Du bist ja komplett ausgekühlt. Das kann ich gar nicht mit ansehen! Aber um dich kümmert sich ja keiner.“ „Außer dir, gute Meta. Danke.“ Und der Bischof nimmt den Becher, den Meta ihm reicht.

Später wird er in den Armen seines besten Freundes liegen, der vergeblich auf den Rettungswagen wartet. Zuviel los, heute, in der Stadt. „Damit hätte ich nicht gerechnet. Meta! Ihr ganzes Leben lang hat er sie ausgenutzt. Und jetzt macht er sie auch noch zur Mörderin“, flüstert der Bischof. „Aber ich gehe nicht allein. Und vielleicht ist es wirklich am besten so, denn G*ott verzeiht es nicht, wenn man selbst zum Richter wird. Doch ich konnte nicht mehr länger warten. Richard hat ja nicht nur mein Leben zerstört, als er mich missbraucht hat, immer und immer wieder, damals, sondern er hat auch noch so viele andere kaputt gemacht. Vor mir und nach mir, da bin ich mir sicher. Aber er ist unantastbar. Ich habe niemanden gefunden, der gegen ihn aussagen will. Und mir würde keiner glauben! Ich bin ja sein Konkurrent.

Ich hatte geglaubt, dass ich meinen Frieden gefunden habe. Meine Aufgabe. Dass ich heilen kann, wo andere verletzt haben. Aber dann habe ich Richard gesehen. Im Bogengang. Mit Christian, unserem Solisten. Er ist noch ein Kind! Da habe ich gewusst, es muss aufhören. Und auch, dass ich selbst das Heft in die Hand nehmen muss.“

Als der Rettungswagen endlich kommt, ist es für Bischof Maximilian schon zu spät.

Am nächsten Morgen kommt der Notarzt noch einmal auf den Domberg. Bischof Richard ist ebenfalls in der Nacht gestorben. An einem Herzinfarkt, wie es in der Verlautbarung des Ordinariats heißen wird.

Claus wird sich bemühen, den Mord an Maximilian aufzuklären. Er weiß, dass er sich damit auf eine lebensgefährliche Mission begibt.

Gut möglich, dass diese Geschichte polarisiert. Aber auch ein MiniKrimi Adventskalender ist halt ein Ponyhof. Und ich freue mich auf eure Kommentare! In diesem Sinne: habt einen schönen Nikolausabend. Und obacht beim Glühwein!

MiniKrimi Adventskalender am 5. Dezember


TOD MIT TIEFGANG (Auszug)

von Joyce Summer

Prolog

Der alte Löwe streckte seine Glieder und sprang. Das kalte Wasser umhüllte seinen Körper und ein belebendes Prickeln durchströmte Arme und Beine. Als er auftauchte, schüttelte er die Wassertropfen aus seiner Mähne und atmete tief die salzige, nach Algen riechende Luft ein.

Fast wie im Herbst zu Hause, dachte der Mann. Nur ist die Ostsee wärmer als der Atlantik im Schatten des Tafelberges.

Er rückte seine Schwimmbrille zurecht und setzte zum Freistil an.

Mal sehen, wie viele Bahnen ich heute schaffe. Achte auf deine Wasserlage, die Phasen des Armzuges und die Rotation des Körpers, zitierte er seinen alten Schwimmtrainer bei der Marine und begann das Morgentraining.

Sein Körper glitt mühelos durch das Wasser. Für einen alten Mann wie mich gar nicht schlecht. Gleich bin ich am Anschlagbrett.

Die nächsten langen Züge. Er schaute kurz nach vorne, um sich zu orientieren. Dann atmen nach links. Als er den rechten Arm ins Wasser tauchte, fühlte es sich an, als ob er seine Hand in Watte steckte. Hmm, heute scheint mir die Kälte doch etwas mehr zuzusetzen als erwartet. Ein Krampf zog sich durch seinen linken Fuß und kroch langsam die Wade hoch. Sofort reduzierte er seinen Beinschlag, um die beanspruchten Beinmuskeln zu entlasten. Seine Schläfen begannen zu pochen und sein Kopf fühlte sich an, als steckte er in einem überdimensionalen Schraubstock, der langsam immer fester gezogen wurde. Die verfluchte Kälte! Plötzlich war das Schwimmen kein Spaß mehr. Jeder Zug wurde zum Kampf. Aber Aufgeben kam nicht infrage. Was würde der Löwe tun? Das Vorgehen anpassen und sich dem Kampf stellen. Wieder hob er leicht den Kopf, um sich zu orientieren. Das Anschlagbrett war kaum nähergekommen.

Was ist nur mit mir los?, fragte er sich, während sein rechter Ellbogen aus dem Wasser auftauchte. Er drehte den Kopf nach rechts, um Luft zu holen, und öffnete den Mund. Tausend Nadeln stachen in seine Brust. Kein angenehmes Prickeln wie beim Eintauchen in das kalte Wasser, sondern purer Schmerz. Anstatt belebender Luft schluckte er salziges Ostseewasser. Aus seinem Magen suchte der Frühstückskaffee mit einem sauren, beißenden Geschmack seinen Weg nach oben. Er stoppte und versuchte sich umzudrehen, zurück zum Steg zu schwimmen, zu den Menschen, die dort gerade ihre Utensilien auf der Plattform aufbauten. Das klare morgendliche Blau des Himmels und des Wassers verschwammen zu einem dumpfen Gelb‑Grün. Als wäre er in einem alten Farbfilm gelandet, dessen Farben durch das Alter verblasst und verändert waren. Seine Glieder wurden schwer und zogen ihn nach unten. Anstatt eines Schreis entwich ihm nur ein leises Gurgeln. Kraftlos glitt er in Richtung Meeresboden. Wieder umhüllte ihn das kalte Wasser. Nur diesmal würde es kein Auftauchen für ihn geben.

Seebadeanstalt Holtenau

Die grün‑graue Welt breitete sich vor ihr aus, ihre Sicht getrübt und durch das kleine Fenster begrenzt. In klobigen, schweren Stiefeln stapfte sie langsam über den Grund. Einzelne zarte Pflanzen, zerdrückt durch ihre Masse, zierten als traurige Überbleibsel ihren Pfad.

Als wäre ich eine große orange‑gelbe Walze, die hier alles platt macht, was sich mir in den Weg stellt.

Sie widerstand dem Drang, Schwimmbewegungen zu machen, um endlich an die Oberfläche zu gelangen. So lange war sie noch nie unter Wasser gewesen und sie fühlte sich immer beklommener in ihrer Lage. Von wegen hier würde sie das Gewicht der Ausrüstung nicht mehr spüren. Es war zwar nicht so schwer wie über Wasser, aber sie empfand Hilflosigkeit. Sie wedelte mit den Armen, um voranzukommen und das an ihr zerrende Gewicht der Bleischuhe zu verringern.

Um sie herum blubberte und zischte es. Luftblasen entwichen dem historischen Kupferhelm, der fest an ihrem Anzug verschraubt war. Als Leif vor zehn Minuten mit einem riesigen Schraubenschlüssel ankam, um den Helm zu befestigen, hielt sie das zunächst für einen Witz. Aber das hier war keiner. Die lebensnotwendigen Schläuche lagen hinter ihr auf dem Grund, und jeder Schritt war ein Kampf gegen den Widerstand des Wassers. Bestimmt bin ich, wenn ich wieder aus diesem kalten Wasser komme, nass geschwitzt vor Anstrengung. Diese wollene Unterwäsche, die sie mir wegen der Kälte aufgedrängt haben, hätte ich gar nicht gebraucht. Wahrscheinlich ist das nur für Berufstaucher gedacht, die bei solchen Tauchgängen nicht unter Adrenalin stehen, sondern die ganze Zeit tiefenentspannt sind. Sie drehte langsam den Kopf, und Michael, ihr Sicherungstaucher, erschien vor der Scheibe.Im Gegensatz zu ihr war er nicht mit Schläuchen an die Außenwelt gebunden, sondern tauchte mit Pressluft. Fast neidisch beobachtete sie, wie er sich ohne das schwere Gerödel schwebend über den Boden bewegte. Michael machte irgendwelche Zeichen mit den Armen.

Was will er mir damit sagen?

Sie schaute an sich herunter. Ihre Arme standen beinahe im rechten Winkel zu ihrem Körper und der Anzug war dick aufgeblasen. Verdammt, sie hatte die letzten Minuten vergessen, über das Ventil im Helm Luft abzulassen. Wenn sie so weiter machte, würde sie wirklich gleich nach oben treiben. Stine neigte den Kopf zur Seite und betätigte das Ventil. Mit der entweichenden Luft schmiegte sich der Anzug wieder an. Endlich gelang es ihr, die Arme zu senken. Michael nickte ihr zu und formte das Okay‑Zeichen mit Daumen und Zeigefinger.

Zu dem Zischen im Helm kam ein Knacken und die metallene Stimme von Leif hallte im Helm wider.

»Alles okay bei dir, Stine? Versuch mal, die Arme nicht nach oben zu strecken, dadurch strömt Luft über die Armmanschetten in die Handschuhe. Und die werden dir dann von den Händen geblasen. Das willst du nicht. Also schön regelmäßig Luft ablassen. Pass außerdem ein bisschen auf die Versorgungsleitung auf, damit du dich darin nicht verhedderst. Wenn du irgendwo lang gehst, immer schauen, wo die Leitung ist und den Rückweg immer daran entlang.« Seine Stimme klang ruhig, aber Stine meinte, Sorge darin zu hören.

Denkt er auch, dass ich lieber oben geblieben wäre und den anderen bei ihrem Helmtauchversuch zugeschaut hätte?

Ihr Blick folgte dem Luftschlauch. Leif hatte ihr gezeigt, dass nichts passieren konnte, wenn sie aus Versehen darauf trat, weil der Schlauch mit Stahldraht verstärkt war. Aber sie wollte nichts riskieren. Sie ging weiter, den Blick leicht nach hinten auf den Schlauch gerichtet. Bloß nicht verheddern, dachte sie, als ein dumpfes »Klong« in ihrem Helm dröhnte und sie gegen ein Hindernis stieß. Holzplanken ragten vor ihr auf. Von hinten klopfte ihr Michael auf die Schulter.

Wieder ertönte Leifs Stimme: »Du bist jetzt direkt unter uns. Vielleicht solltest du die Richtung wechseln, wenn du nicht unter der Seebrücke feststecken möchtest. Hier gibt es auch nicht viel Interessantes zu sehen, glaub mir. Lass dich von Michael in Richtung Anker führen. Den wollen wir später noch bergen. Du kannst ja schon mal die Lage erkunden. Achte beim Zurückgehen darauf, dass du an der Versorgung entlanggehst, damit du sie nicht um die Pfähle wickelst.«

Stine tastete sich an dem Balken entlang. Vor ihren Augen tauchte eine Plastikdose auf, die sich anscheinend dort verklemmt hatte.

Auch in der Ostsee gibt es schon überall Müll, sinnierte sie, als sie wieder Michaels Hand auf ihrer Schulter spürte. Mit sanftem Druck korrigierte er ihren Kurs in die entgegengesetzte Richtung. Dankbar bemerkte sie, dass er sie keinen Moment aus den Augen ließ. Ihr Puls beruhigte sich ganz langsam und sie fing an, die Unterwasserlandschaft zu beobachten. Kleine abgerissene Fetzen von Algen und Seegras schwammen um sie herum. Ab und zu nahm sie das silberne Glitzern eines Fisches wahr. Eine große Feuerqualle glitt vor ihr durch das Wasser. Als Schwimmerin hätte sie jetzt das Weite gesucht, aber geschützt durch den Anzug konnte sie in Ruhe die Schönheit dieses Lebewesens beobachten. Rot und Orange schimmerte sie in dem Licht, das von der Wasseroberfläche in die Tiefe fiel. Die Tentakel streiften Stines Sichtfenster und sie konnte sogar die Organe der Qualle erkennen. Ein Schwarm kleiner Fische zog direkt an ihr vorbei. Er und Michaels fester Griff leiteten sie in Richtung Anschlagbrett der Seebadeanstalt. Wieder tauchten Holzpfähle vor ihr auf. Das musste das Brett sein, welches für die Schwimmer des Seebades die 50 Meter begrenzte. Als sie sich näherte, konnte sie kleine Krebse sehen, die sich, festgeklammert an den Pfählen, vom Wasser umspülen ließen. Direkt unter dem Steg wiegte sich etwas Weißliches im Wasser. Ein großer Plastikbeutel? Oder eine Boje? Kann sich das Plastik an dem ominösen Anker verfangen haben?

Sie räusperte sich und sofort ertönte wieder Leifs Stimme: »Du müsstest gleich bei dem Anker sein. Geht es dir gut? Kein Schwindel so weit?«

»Ja, alles gut. Magst du mir noch mal sagen, warum wir den Anker suchen? Stellt er eine Gefahr für die Schiffe dar?«

Eine kurze Pause folgte, dann hörte sie jemanden im Hintergrund lachen.

»Nein, keine Gefahr für die Schiffe. Aber es ist gut, wenn wir das Ding bergen.«

Eine zweite Stimme meldete sich. Es klang nach Astrid, Leifs Frau. »Leif will nur nicht zugeben, dass er ›grabbeln‹ will.«

»›Grabbeln‹? Was soll das sein?«

Sie hörte Astrid erneut lachen. »Das bedeutet, dass mein Mann noch mehr unnützes Zeug vom Meeresboden bergen und zu seiner Sammlung zu Hause packen will. Du musst bei Gelegenheit mal bei uns vorbeikommen und dir sein Museum ansehen.«

Stine überlegte kurz, ob sie umkehren sollte, da der Notfall des am Boden liegenden Ankers ja keiner mehr war. Aber dann siegte ihre Neugier, und sie setzte ihren Weg fort, Michael immer in ihrer Nähe wissend. Wann würde sie wieder die Gelegenheit haben, am Boden der Ostsee entlangzulaufen? Sie war keine Taucherin, Schnorcheln konnte sie so leidlich, aber das war kein Vergleich mit dieser Erfahrung. Sie tat den nächsten Schritt und versuchte, durch die kleine Scheibe die gesamte Umgebung im Auge zu behalten. Diesmal wollte sie keine Holzpfähle rammen. Keine Sekunde später blieb ihr rechter Fuß hängen und ihr Körper bewegte sich in Richtung Boden. Nur die Trägheit hinderte ihren Fall.

Dieses beschränkte Sichtfeld macht mich wahnsinnig! So muss es sich anfühlen, wenn man alt wird. Angeblich soll man dann ja auch alles nur noch ausschnittweise wahrnehmen können. Was musste das für eine Belastung sein? Stine merkte, wie ihr Herz immer heftiger klopfte. Ich möchte zurück, raus aus diesem Anzug! So langsam wird es mir hier unter Wasser unheimlich.

»Hast du was gesagt, Stine?« Leif wieder.

Habe ich laut vor mich hin gebrabbelt? Hoffentlich nicht.

»Nein, nein. Alles okay hier. Aber ich glaube, ich möchte wieder zurück zum Steg. Lass lieber einen von den erfahrenen Tauchern nach dem Anker suchen. Ich …« Sie stockte. Während sie sich auf das Gespräch mit Leif konzentrierte, war sie viel zu nah an die Unterwasserbauten des Anschlagbretts geraten.

So ein Mist, schimpfte sie. Notiz für mich: Unter Wasser bin ich definitiv nicht multitasking‑fähig.

Die weißliche Masse, die sie von weitem schon gesehen hatte, schob sich in ihr Gesichtsfeld.

Das war keine Plastiktüte. Das Gesicht eines Mannes starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.

Politik und Intrigen kennt die Autorin nach jahrelanger Arbeit als Managerin in verschiedenen Banken und Großkonzernen zur Genüge: Da fiel es ihr nicht schwer, dieses Leben hinter sich zu lassen und mit Papier und Feder auf Mörderjagd zu gehen. Die Fälle der Hamburger Autorin spielen dabei meistens nicht im kühlen Norden, sondern in warmen und speziell ausgesuchten Urlaubsregionen wie Madeira und Südafrika. 

Tod mit Tiefgang, Taschenbuch, 340 Seiten broschiert – ISBN-13: 978-3-758373848Tod mit Tiefgang, Ebook – ISBN-13: 978-3-759219497 bzw. ASIN: B0CW1HP2P2

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MIniKrimi Adventskalender am 5. Dezember


MORD IM MÜHLTAL (Auszug)

von Carla Wolf

»Die Tödlichen Ladys tagen in der Stadt.« Die Journalistin Petra Koslowski saß an ihrem Schreibtisch in der Redaktion der Langener Morgenpost und scrollte durch ihre Mails.

»Was ist das? Ein Geheimbund von lauter Mörderinnen?« Frederik, der Praktikant, schob sich den überlangen schwarzen Pony aus der Stirn und schielte zu seiner Kollegin hinüber.

Die gluckste. »So ähnlich«, meinte sie. »Die morden, aber nur mit Worten. Sind alles Krimischriftstellerinnen. Die Crème de la Crème des Landes.«

Frederik, der vermutlich keine Krimis las, zuckte desinteressiert die knochigen Schultern.

»Ist gar nicht so einfach, dort Mitglied zu werden. Die sieben ganz schön aus«, fuhr Petra fort. Sie hatte inzwischen die Webseite des Clubs aufgerufen. »Es dürfen, halte dich fest, immer nur genau 100 Autorinnen in der Gruppe sein.« Sie zog ihren Notizblock zu sich und machte einen entsprechenden Vermerk.

»Was wollen die denn hier?« Frederik hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und ließ einen Bleistift zwischen seinen Fingern herumwandern.

»Sie halten jährlich eine Woche lang ein Arbeitstreffen ab. Immer vor der Frankfurter Buchmesse und immer in einer anderen Stadt. Dieses Jahr bei uns in Langen und standesgemäß im Sterzbacher Hof.«

»Schreibst du was über die?«

»Klar!« Petra grinste. »Die First Lady Marie-Theres Strobel hat uns eine Pressemitteilung geschickt.« Sie deutete auf den Bildschirm ihres PC. »Aber ich denke, ich reichere das Ganze mit ein bisschen Original-Ton und einem kleinen Interview an.«

»Strobel? Muss man die kennen?«

Petra seufzte. »Was liest du denn?«, fragte sie streng.

»Fantasy und Dystopien«, lautete Frederiks Antwort. Und dann legte er los und nannte eine ganze Reihe von Serien, unter denen taten es die Fantasy-Schreiberinnen und Schreiber offensichtlich nicht, die man einfach gelesen haben musste. Als er dann noch anfing, über Steampunk, High End und Urban Fantasy zu reden, winkte Petra ab.

»Nicht meine Welt«, befand sie.

Ehrlicherweise sagte ihr der Name der obersten Tödlichen Lady selbst auch nichts. Sie musste ihn in eine Suchmaschine eingeben. »Wow«, murmelte sie allerdings, nachdem sie sich ein bisschen eingelesen hatte. Die Frau hatte eine vom Feuilleton hoch gelobte Serie über eine Polizistin im vorigen Jahrhundert geschrieben. Feministisch angehaucht und erstklassig recherchiert, schrieb die Kritik. Das Publikum war eher gespalten, aber das war ja häufig so. Das einzige von der Autorin vorhandene Foto zeigte eine streng in die Kamera schauende Frau mittleren Alters, deren dunkelgraue Mähne wirkte, als sei sie durch eine rasante Fahrt in einem Cabrio gestylt worden.

Petra fuhr sich durch ihre kurz geschnittenen blonden Haare und griff zum Handy, um sich bei der Frau anzumelden.

Kaum geschehen, zog eine Mail, die sich durch ein leises Pling anmeldete, die Aufmerksamkeit der Journalistin auf sich.

»Das ist ja ein Ding!«, sagte sie halblaut vor sich hin.

»Ist was?«, Frederik schaute neugierig zu ihr.

»Kann man wohl sagen.« Petra war bereits dabei, ein paar Sachen in ihre Tasche zu werfen.

»Pressekonferenz heute Nachmittag. Man hat eine Tote gefunden. Im Mühltal. Sieht nach einem Mord aus.«

Die Frontfrau des Autorinnenclubs Die Tödlichen Ladys sah in natura wesentlich weniger streng aus als auf dem Foto ihrer Webseite. Sie war eher klein, höchstens ein Meter sechzig, und statt einer ernsten Miene trug sie ein Lächeln im Gesicht. Wache braune Augen blickten durch eine modische Brille in die Welt. Die Haarpracht jedoch war unverkennbar. Nach allen Seiten standen die schwarzgrauen Wellen von ihrem Kopf ab und wirkten, als hätten sie gerade einen Orkan überstanden.

Marie-Theres Strobel winkte die Journalistin mit sich in einen kleinen Besprechungsraum. Über der Tür prangte ein weißes Transparent, gesprenkelt mit unregelmäßigen roten Spritzern. Als habe jemand Blut vergossen. In schwarzer Schrift stand dort: »Wir sind Die Tödlichen Ladys.« Und darunter der Slogan der Vereinigung: »Bei uns ist Krimi weiblich!«

»Mögen Sie?« Strobel deutete auf einen Servierwagen, auf dem eine chromfarbene Thermoskanne und ein Teller mit Hefeplunder standen.

»Kaffee sehr gern.«

Während die Vorsitzende der Autorinnenvereinigung ihnen beiden einschenkte, nahm Petra auf einem der Sessel der Sitzgarnitur Platz, schob auf dem Couchtisch ein Schälchen mit Zuckertüten und ein Milchkännchen zur Seite und legte ihren Notizblock ab.

»Nun, was möchten Sie über uns wissen?«, fragte Marie-Theres Strobel, nachdem auch sie sich gesetzt hatte.

»Nach allem, was ich bereits gelesen habe …«

Weiter kam Petra nicht. Die Tür flog auf und herein spazierte eine große Frau, deren Blick die Journalistin förmlich zu durchbohren schien.

»Mechthild Schmauser. Die zweite Vorsitzende unseres Netzwerks. Verantwortlich für die Finanzen«, erklärte Marie-Theres, als die andere herangekommen war. Ihr selbst war die Verwirrung über das Eintreffen ihrer Kollegin anzumerken. Petra hatte den Eindruck, dass das nicht abgesprochen war und sie sich nicht darüber freute.

»Viola kommt auch gleich«, sagte Mechthild in einem leicht schleppenden Tonfall.

»Ach ja?« Die Vorsitzende der Tödlichen Ladys wirkte jetzt definitiv verärgert.

Mechthild ließ sich aufs Sofa plumpsen, ohne auf Petras Gruß und die Irritation von Strobel zu reagieren.

»Wir sind zu dritt im Vorstand«, erklärte sie lediglich. Sie fuhr sich über das kurz geschnittene, rotblonde Haar, als wolle sie prüfen, ob das Gel, das sie reichlich verwendet hatte, seinen Zweck erfüllte.

»Mechthild schreibt Cosy Crime«, meldete sich die First Lady wieder zu Wort.

»Aha. Das sind eher heitere Krimis?«, hielt Petra das Gespräch am Laufen.

Mechthild nickte mit derartig finsterem Gesichtsausdruck, dass Petra sich insgeheim fragte, wo so ein Sauertopf wohl den Humor hernahm. Hoffentlich waren nicht alle Autorinnen so schlecht gelaunt. Doch gleich die Frau, die als nächste eintrat, zerstreute ihre Bedenken.

»Viola Habert, die dritte Vorsitzende und verantwortlich für die interne Kommunikation.« Marie-Theres winkte der Frau, die mit ihren langen hellblonden Locken und dem breiten Lächeln auf dem kirschrot geschminkten Mund aussah wie ein Rauschgoldengel, freundlich zu.

»Hallo!«, sagte Viola, reichte Petra die Hand und ließ sich ebenfalls auf das Sofa plumpsen. Die First Lady, jetzt eingerahmt von ihren beiden Stellvertreterinnen, saß stocksteif und eindeutig angespannter als noch vor wenigen Minuten da. Drei Augenpaare ruhten auf Petra.

»Dann wollen wir mal«, sagte die betont munter.

Erfreulicherweise ging das Interview recht zügig voran. Die Vorsitzende beantwortete alle Fragen. Mechthild und Viola nickten gelegentlich und insgeheim fragte sich Petra, warum die beiden so viel Wert darauf gelegt hatten, anwesend zu sein. Denn weder der Rauschgoldengel noch der Sauertopf griffen in das Gespräch ein. Das darüber hinaus dann überraschend und ziemlich abrupt endete.

Die Tür flog auf, eine Frau mit kurzem dunklen Haar, das abstand wie die Stacheln eines Igels, stürmte herein, ohne auf Petra zu achten.

»Zita«, keuchte sie und presste die Handflächen an ihre Schläfen. »Sie ist … es ist etwas geschehen … es ist so furchtbar …«

Carla Wolf: Mord im Mühltal, BoD (Books on Demand), Oktober 2024
Taschenbuch, 264 Seiten, 13.00 Euro, ISBN‎ 978-3759792150

Mord im Mühltal ist überall im stationären und Online-Buchhandel erhältlich.

(c) Karsten Werner

MIniKrimi Adventskalender am 3. Dezember


Zu schön, um wahr zu sein?

Ist es in Zeiten von Genderfluid und Genderneutralität noch ok, nach einem Mann zu suchen? Einem binären Cis-Wesen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen? Iris ist sich nicht sicher. Wie so oft in ihrem Leben. Ihre Unsicherheit bestimmt ihren Alltag, im Großen wie im Kleinen. Ist es ok, wenn ich Kiwis aus Neuseeland kaufe? Die schmecken so gut. Aber was werden die Leute hinter mir in der Supermarktschlange denken? Dass ich mir keine Gedanken über meinen ökologischen Fußabdruck mache? Und dann greift Iris lieber zu einem braungelbrauen Boskop. Obwohl sie Äpfel hasst. Das gleiche beim Fleisch. Das Huhn mit dem ethische Unbedenklichkeit suggerierenden Aufkleber „biologische Haltung“ kostet dreimal soviel wie das Wiesenhof Hähnchen nebendran. „Stell dir vor, es gibt immer noch Leute, die Billigfleisch essen, ohne einen Gedanken an das schreckliche Leben und den qualvollen Tod der armen Tiere zu verschwenden. Ganz zu schweigen davon, dass sie von den Antibiotika, die sie dabei mitbekommen, eine tödliche Immunität entwickeln. Geschieht ihnen recht. Also mir würde so ein Bissen im Hals stecken bleiben“, sagt der Hipster neben ihr am Kühlregal zu seiner Freundin, und sein Man Bun nickt im Takt bei jedem Wort. Iris zieht die Hand zurück, die schon nach dem Billighuhn gegriffen hat, dreht sich um und nimmt einen Backcamembert. Den hasst sie wenigstens nicht so sehr wie Äpfel.

Beim Zielvereinbarungsgespräch mit ihrem Chef geht sie regelmäßig ohne angemessene Gehaltserhöhung raus, dafür aber mit einer beachtlichen Liste an Mehraufgaben. Weil sie nicht weiß, wieviel mehr Geld sie verlangen möchte. 10 Prozent? 5? Oder 15? Dann lieber gar nichts.

Und genau wegen dieser Unschlüssigkeit ist Iris mit Mitte 40 immer noch Single. Wie viele Dates hat sie verpasst, weil sie viel zu lange vor ihrem Kleiderschrank stand, ohne sich für ein Outfit entscheiden zu können! Wie oft ist sie nach einem netten Abend alleine nach Hause gegangen, weil sie auf die Frage „Zu mir oder zu dir?“ keine Antwort wusste, was ihr unweigerlich als Desinteresse ausgelegt wurde.

Sicher wäre auch die Wahl der passenden Dating Seite ein unüberwindbares Hindernis für Iris gewesen. Aber Iris ist nicht nur von Natur aus unschlüssig, sie ist auch technisch ziemlich unbegabt. Als Assistentin der Geschäftsführung ist das zum Glück kein Handicap, sie braucht nur Outlook, Word und Excel, der Rest wird von anderen Abteilungen bearbeitet. Ihre Telefonstimme und ihre Kalenderführung sind so überzeugend, dass Iris für den Chef unersetzlich ist. Mit etwas mehr Selbstvertrauen hätte sie sogar die Verdopplung ihres Gehalts durchgesetzt, bei Kündigungsandrohung. Aber so ist Iris eben.

Und weil sie sich mit Smartphones und Apps nicht auskennt, hat sie sich bei der ersten Partnerbörse angemeldet, die auf ihre Suche im PC hin erschienen und noch dazu so „traditionsreich“ ist, dass sogar Iris den Namen schon mal gehört hat. “Du hast so viel zu bieten“, hieß es im Werbetext. „Sag der Welt, was du suchst. Bei uns brauchst du keine Kompromisse zu machen. Du findest genau den Partner, den du dir wünschst.“

Das klang vielversprechend. Und wenn Iris keine Wahl hat, sondern sich selbst etwas überlegen muss, dann klappt es auch mit der Formulierung ihrer Erwartungen. Also hat sie die Schublade mit dem Kräutertee gar nicht erst aufgemacht, sondern sich ein Glas Amarone eingeschenkt, sich damit an den PC gesetzt und direkt ins Online-Formular hinein getippt:

Ich suche einen Mann, der mich liebt. Der mich unerwartet umarmt und mich gerne küsst. Einen, der mich überrascht: mit einem Abendessen, einem Geschenk außer der Reihe oder einer zärtlichen Nachricht. Einen, der mich streichelt und mir auch den Nacken massiert. Einen, der mir zuhört, auch wenn das Thema ihn nicht interessiert, nur, weil ich es ihm wert bin. Einen, für den ich die Schönste bin, mit und ohne Makeup. Einen, der mit mir die Leidenschaft genießt, der meine Wünsche erfüllt, der freundlich ist, gut erzogen und ehrlich. Einen, der Stil hat, ohne arrogant zu sein. Einen, der meine Welt schöner macht. Einen, für den ich die andere Hälfte seines Herzens bin.

Ich bin Anfang 40, gepflegt, selbstständig und naturblond.

Das ist jetzt 3 Wochen her. Und bis jetzt hat Iris keine ernstzunehmenden Antworten erhalten. Tja, denkt sie, da bin ich einmal ehrlich und sage frank und frei, was ich will – und dann das. Typisch. Sie ist gerade dabei, den PC wieder runterzufahren, als es „plingt“ und im Eingangskorb ihres Dating Accounts das Briefsymbol auftaucht. „Du hast Post“, flötet eine Stimme mit dem Sexappeal eines Navigationssystems. Iris zögert. Natürlich. Soll sie die Nachricht öffnen? Oder ungelesen in den Papierkorb verschieben? Ja? Oder nein? Iris geht in die Küche, schenkt sich ein großes Glas Amarone ein, setzt sich an den Schreibtisch und öffnet die Nachricht.

Liebe Iris,

lass mich der Mann sein, der dich liebt. Der dich unerwartet umarmt und dich gerne küsst. Der dich überrascht: mit einem Abendessen, einem Geschenk außer der Reihe oder einer zärtlichen Nachricht. Der dich streichelt und dir auch den Nacken massiert. Der dir zuhört, auch wenn das Thema mich nicht interessiert, nur, weil du es mir wert bist. Du wirst für mich die Schönste sein, mit und ohne Makeup. Gemeinsam werden wir die Leidenschaft genießen, und ich werde deine Wünsche erfüllen. Ich bin freundlich, gut erzogen und ehrlich. Ich habe Stil, ohne arrogant zu sein. Ich möchte deine Welt schöner machen. Du sollst die andere Hälfte meines Herzens sein.

Ich bin Mitte 40, Single, dunkelblond und verdiene gut.

Iris traut ihren Augen nicht. Ok, die Antwort ist nicht besonders originell. Aber andererseits zeugt sie doch auch von einer gewissen Ernsthaftigkeit. Zumindest hat er ihre Auflistung gelesen. Und scheint damit zufrieden zu sein. Sie trinkt das Glas aus und schenkt sich ein zweites ein, bevor sie ihm antwortet.

Die nächste Woche vergeht für Iris in einem nie gekannten Gefühlstaumel. Alexander, so heißt „er“, und sie schreiben sich mehrmals am Tag. Längst haben sie ihre Telefonnummern getauscht, und schon nach 24 Stunden haben sie sich das erste Mal gesprochen. Er ist von ihrer Stimme berauscht, hat er ihr gesagt. Und das glaubt sie ihm. Sie hat eine unglaubliche Telefonstimme. Erotisch, samtig, klar und dabei vertrauenerweckend. Seine Stimme ist etwas metallisch, zuweilen. Aber das mag an der Verbindung liegen. Seine Worte allerdings sind alles andere als hart. Er versteht es, ihr Herz anzurühren, ohne schnulzig zu sein.

Auch, als sie sich das erste Mal treffen, platzt die Blase nicht. Im Gegenteil: Alexander sieht live womöglich sogar noch besser aus als auf den Fotos, die er ihr geschickt hat. Die neue Iris ist schon so selbstsicher, dass sie keinen Augenblick daran denkt, das Date abzusagen. Sie hat sich ein neues Kleid gekauft, smaragdgrün, passend zu ihren Augen und ihren Haaren. Alexander ist „hingerissen“, sagt er. Und lächelt warm und zärtlich.

Der Sex mit Alexander ist anders als alles, was Iris bis jetzt erlebt hat. Er scheint jeden Zentimeter ihres Körpers zu kennen und genau zu wissen, was sie will und was sie braucht. Besser als sie selbst, sogar. „Als ich die Anzeige schrieb, dachte ich, darauf wird mir nie einer antworten. So einen Mann gibt es doch gar nicht. Der müsste erst extra für mich erschaffen werden“, sagt Iris und schmiegt sich in seine Achselhöhle. „Das bin auch“, flüstert Alexander und massiert ihre Nackenwirbel genau dort, wo die Verspannung sitzt.

Die Wochen vergehen, und Alexander ist ganz und gar der Mann, den Iris sich erträumt und gewünscht hat. Manchmal, wenn er wieder einmal genau das tut, was sie gerade von ihm erwartet, bevor sie es noch ausgesprochen hat, ist sie allerdings ein wenig irritiert. Woher weiß er, dass sie am Liebsten blaue Tulpen mag? Sie haben nie darüber gesprochen. Wie hat er den lange verschwundenen Ohrring gefunden, ohne ihre Wohnung auf den Kopf zu stellen?

Als sie am Frühstückstisch über die Vor- und Nachteile künstlicher Intelligenz sprechen, wirft Iris ihm einen Köder hin: „Manchmal glaube ich, du bist gar kein richtiger Mensch, sondern eine künstliche Intelligenz in einem Roboterkörper. Du weißt alles, merkst dir alles, liest mir jeden Wunsch von den Augen ab, sogar noch bevor ich selbst weiß, was ich will.“

Alexander lächelt und greift nach ihrer Hand. „Ertappt“, sagt er. Dann läuft ein Zucken durch seinen Körper, sein Blick wird starr. Das Ganze dauert nur zwei Sekunden, aber Iris ist zu Tode erschrocken. „Alexander, entschuldige! Ich wollte dich nicht verletzen. Was ist denn? Geht’s dir gut? Komm, ich bringe dich zum Arzt.“

Alexander wehrt ab. „Nein, nein, nicht nötig. Alles gut.“ Stille. Dann: „Aber vielleicht hast du recht. Ich gehe nachher gleich mal zu meinem Hausarzt. Sicher ist sicher.“ Iris will ihn begleiten, aber er besteht darauf, alleine zu gehen. Um 12.30 Uhr verlässt er ihre Wohnung.

Sie wird ihn nie wiedersehen.

Sie versucht, ihn anzurufen. „Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Sie sucht ihn auf dem Dating Portal. Sein Account existiert nicht mehr. Dann tut Iris etwas, was sie noch nie getan hat. Sie forscht nach ihm. Googelt. Nichts. Iris ist verzweifelt. Sie versucht mithilfe eines guten Freundes im Finanzamt, der ihren Kummer schließlich nicht mehr mit ansehen kann, ihn anhand einer Steuernummer zu identifizieren. Nichts. Alexander ist wie vom Erdboden verschluckt. Oder vielmehr sieht es so aus, als hätte er nie existiert. „Und du hast ihn dir sicher nicht eingebildet?“, fragt der Freund vorsichtig. Daraufhin ghostet sie ihn.

In ihrer Verzweiflung durchforstet Iris, die früher so gut wie nie online unterwegs war, das Internet. Sie stößt auf immer dunklere Foren. Und irgendwann findet sie ein Wort, das sie nicht mehr loslässt. Weil es irgendwie auf Alexander zutreffen könnte. Cyborg. Ist er das? War es das? Ein Cyborg?

Iris recherchiert weiter. Findet schließlich ein Forschungsteam in Skandinavien, das offenbar an der Entwicklung und Perfektionierung der Verbindung von Organismen und Maschinen arbeitet. Offiziell geht es um Schnittstellen zwischen Technik und Gehirn, wie den grünen Daumen oder Coprozessoren, die das Gehirn bei Denkleistungen unterstützen sollen. Aber in speziellen Foren wird gemunkelt, dass dort auch Cyborgs entwickelt werden, Hybride aus Mensch und Maschine.

Iris reist nach Norwegen. Noch nie in ihrem Leben war sie so weit weg von zu Hause. Aber so unschlüssig sie früher war, so zielgerichtet ist sie jetzt. Sie will Alexander finden. Koste es, was es wolle. Sie kann und sie will ihn nicht vergessen.

Auf den ersten Blick sieht das Forschungsgelände enttäuschend harmlos aus. Keine Zäune, keine Kontrollen. Nur ein heller weiter Platz mit runden Bänken vor einem Gebäude aus Glas und Metall. Mit riesigen Aufzügen. Die vielleicht auch in die Tiefe führen, denkt Iris. Geheimnisse lagert man am besten im Keller.

Es ist ein sonniger Spätsommertag, wahrscheinlich fast untypisch für den hohen Norden. Die Sonne scheint von einem wolkenlosen Himmel herab, Vögel singen, und am Horizont sieht man den majestätischen Fjord. Ein einzelner Mensch sitzt auf einer der Bänke, das Gesicht der Sonne zugewandt, die Augen genießerisch geschlossen. Iris‘ Herz beginnt wie wild zu schlagen. Sie weiß genau, wer dort sitzt. „Alexander“, ruft sie und geht, läuft, rennt auf ihn zu. „Alexander! Endlich hab‘ ich dich gefunden!“ Sie setzt sich neben ihn, greift nach seiner Hand, schaut ihm in die Augen, die sie erstaunt und ohne jedes Anzeichen eines Erkennens ansehen. Dann spricht er – es ist seine weiche, melodische, leicht metallische Stimme. Aber Iris versteht nicht, was er sagt. Es ist eine fremde Sprache. „Alexander“, versucht sie es noch einmal. Aber er sieht sie nur an, lächelnd, freundlich, wie ein x-beliebiger Unbekannter. Sie redet auf ihn ein, er schüttelt den Kopf. Dann zieht er seine Hand unter der ihren weg, steht auf, sagt noch etwas Unverständliches und geht zurück ins Gebäude.

Wie lange Iris auf der Bank gesessen hat? Sie weiß es nicht. Aber die Sonne geht unter, es wird merklich kühler. Was soll sie jetzt machen? Nach Hause fahren? Ins Gebäude gehen? Schreien? Die Polizei holen? Sind die hier überhaupt zuständig? Und was will sie ihnen sagen? Iris legt den Kopf in beide Hände und weint.

Da legt sich eine Hand auf ihre Schulter. „Sie sollten hier nicht sitzen. Es ist viel zu kalt. Kommen Sie, ich begleite sie zum Bahnhof. Sie sind doch mit dem Zug gekommen?“ Der Mann ist um die 60, hager, mit grauem Haarschopf, kurzem Schnurrbart und runder Brille. Er spricht deutsch. „Wer…?“ „Nicht jetzt. Nicht hier. Kommen Sie.“ Er legt seinen Arm um Iris und geht mit ihr über den Platz in Richtung Siedlung. Erst, als der Bahnhof am Ende der Straße zu sehen ist, spricht der Mann wieder.

„Was ich hier mache, ist mehr als unprofessionell. Es könnte mich meinen Job kosten, theoretisch. Aber ich zähle darauf, dass ich zu wichtig bin, unersetzlich, wenigstens auf die Schnelle. Sie tun mir leid, und Ihre Verzweiflung lässt mich nicht los. Ich habe Sie und ihren Weg bis zu uns verfolgt. Sie waren sehr hartnäckig, alle Achtung. Ganz entgegen ihrer bisherigen Natur. Ich bin froh, dass diese Erfahrung für Sie auch etwas Gutes gebracht hat.“

„Aber, wer?“ setzt Iris erneut an.

„Sie haben es ja beinahe schon selbst herausgefunden. Alexander war, ist ein Cyborg. Einer unserer Prototypen. Als wir Ihre Anzeige in diesem Dating Portal gesehen haben, war das einfach die perfekte Gelegenheit, ihn im real life zu testen. Sie müssen zugeben, die Chancen, einen echten Mann zu finden, der so perfekt all ihren Vorstellungen entsprach, waren doch gleich Null. Dass Sie da nicht schon viel früher Verdacht geschöpft haben, wundert mich. Sie sind doch intelligent. Aber als Sie seinem Geheimnis dann doch zu nahe kamen, konnten wir kein Risiko eingehen. Alexander hatte offenbar noch ein paar Fehler. Er war zu perfekt, zu unterwürfig. Nicht menschlich genug. Wir mussten ihn zurückrufen.“

„Und der Mann, den ich auf der Bank getroffen habe? Das war er doch, das war Alexander?“

„Ja. Und nein. Das ist quasi Alexander 2.0. Wir haben ihn komplett neu programmiert. Er hat keine Erinnerung an Sie. Das versichere ich Ihnen. So, bald kommt ihr Zug. Leben Sie wohl. Und geben Sie sich lieber mit dem Zweitbesten zufrieden, vor allem in der Liebe. Perfektion hat immer einen viel zu hohen Preis.“

MIniKrimi Adventskalender am 2. Dezember


VERBOTENE LUST

von Monika Buttler

Nein, sie würde das nicht unterschreiben. Wer bürgt, wird erwürgt. Und wenn er sie zwang? Aber wie denn? Sie müsste schon tot sein, damit ihr Mann sich noch retten könnte. IT-Branche. Als wenn das ein Selbstläufer wäre.

In ihrem Zimmer, im Gästehaus des Samariterwerkes zu Volkertshausen, schaut Caren Rickmers sich um. Sie wartet, ob sie fremdelt, wartet auf die Hotel-Depression, die sie wie immer aus dem Takt werfen wird. Aber sie hat Glück. Helle, warm getönte Holzmöbel, Teppiche und Wäsche in frischem Apfelgrün. Softeis für die Seele, denkt sie, und kichert leise. Denn süße Tröster sind hier tabu. Zwei Wochen „Heilfasten“ im katholischen Samariterwerk. Heilerfolge seit 75 Jahren!

Ihr Fett – für jedes Hasswort ihres Mannes hat sie ein Törtchen gebraucht – , ihr Speckgürtel würde dahinschmelzen. Sie würde leichter und leichter werden, erst am Leib, dann an der Seele, flügelleicht wie ein Engel und energievoll wie – der Teufel! Caren, unterbricht sie sich selbst, du bist in einem Christenhaus.

Sie öffnet die Balkontür. Vor ihr, im sommerlichen Abendlicht, strecken sich Wiesen und Äcker hin. Kein Wind, nur Wärme streift ihre Haut. Wirklich angenehm. Ausgeglichenes Bodensee-Klima, memoriert sie den Prospekt. Über allem scheint glockengleich ein Friede zu schweben. Menschen, die ohne Hektik in ihren Gärtchen und am „Häusle“ werkeln, der Singsang ihres „Schwätzens“, der sie heiter umhüllt und dessen Sinn sie nie ganz versteht … Sie zupft ihre Sachen aus dem Koffer. Ein pinkfarbener Jogging-Anzug, perfekt zu ihrem blond gesträhnten Haar, Tops in Türkis, die Träger nur ein Hauch. Sie würde wieder attraktiv werden, mit 55 noch einmal durchstarten. Erotik … Wie war das noch? Wie ging das noch? Einst hat sie ihren Mann bewundert, hat wohlig geblüht im Schatten seiner Stärke. Jetzt hat sie Angst vor ihm. „Gut, eine letzte Frist!“, hat Herbert mehr gebrüllt als gesprochen, „dann hau doch ab, fahr zu diesen Saft-Heinis und Dinkelfressern. Muss mir mein Steak ja sowieso immer selbst machen. Aber danach unterschreibst du!“

„Verbotene Lust“ steht in der neu erschienenen Kurzkrimi-Sammlung „Tödliche Taten“, dem zweiten Band von zwei Neuerscheinungen. Band eins heißt „Manchmal nützt nur Mord. Kriminalgeschichten de luxe“.

„Tödliche Taten“ ist im Buchhandel erhältlich.

Autorinnenfoto Monika Buttler Autor*innenfoto Monika Buttler (c) privat

Und das ist die Website von Monika Buttler: www.monikabuttler.de