MiniKrimi Adventskalender am 22. Dezember


Heute lest ihr hier einen – längeren – Ausschnitt aus einem Krimi meiner Mörderischen Schwester Uschi Lange: Bella und das geheimnisvolle Kästchen.

Bella und das geheimnisvolle Kästchen

Prolog

Nur das seidene Geschenkpapier knistert noch. Stille.

Die fünf Frauen hocken wie vom Blitz getroffen um einen niedrigen, mit Resten von Köstlichkeiten der asiatischen Küche bedeckten Tisch. Annabel schluckt krampfhaft, der letzte Bissen will wieder nach oben kommen. Sie sitzt neben der Gastgeberin, Frau Akiko Mitsui, und kann den Inhalt des Kästchens ganz genau in Augenschein nehmen. Sie blickt kurz zu ihrer Freundin Hisako Bergius, die ihr direkt gegenüber hockt in die Augen und sieht deren Entsetzen. Auch die beiden anderen Japanerinnen, Freundinnen der Gastgeberin, sitzen mit starrem Blick und bleichen Gesichtern da, wie eingefroren. Annabel schaut wieder zu Frau Mitsui, die versucht vorsichtig den Inhalt des Kästchens zu berühren.

In dem offenen Kästchen aus Holz, lackiert in Grün und goldfarben liegt auf einem schwarzen kleinen Kissen, aufgespießt mit einer gelben Nadel, mit der man eigentlich Schmetterlinge oder Käfer befestigte, ein gelblich, bläulicher Stummel eines Fingers. Genauer gesagt, ein zwischen dem zweiten und dritten Glied abgeschnittener Ringfinger, an dem noch ein Ehering festsitzt. Annabel kann es jetzt ganz genau sehen.

Frau Mitsuis Finger schwebt vorsichtig darüber. Noch ein kleines Stück. Aber bevor sie ihn berührt, zuckt sie erschrocken mit ihrem Finger wieder zurück. Da holt eine der japanischen Frauen plötzlich tief Luft und fängt an jämmerlich zu kreischen. Erst leise, dann immer lauter, bis sie erschrocken wieder verstummt. Das Entsetzen bricht sich jetzt fast lautlos seine Bahn. Die zweite von ihnen läuft grünlich an, will sich zitternd aufraffen und fällt auf der Stelle ohnmächtig zur Seite. Da erbricht sich die erblasste Hisako still auf ihren Teller. Sie legt diskret eine Serviette darüber. Annabel ist abgelenkt von den Reaktionen und weiß nicht, ob dieser Finger jetzt echt ist oder nur ein fieser Scherz sein soll. Sie und Frau Mitsui schauen erstaunt, aber gefasst, um sich. Die beiden Japanerinnen, wieder bei Sinnen, versuchen aufzustehen, können es aber nicht, oder trauen sich nicht. Annabel kann es nicht zuordnen. Zur Bewegungslosigkeit verdammt, heulen und jammern sie leise vor sich hin. Annabel und Frau Mitsui starren wieder fassungslos auf den Finger. Stummes Entsetzen.

Abrupt richtet sich Annabel auf, greift nach dem hellblauen Töpfchen vor sich und kippt sich den, noch warmen, Sake durch ihre Kehle. Frau Mitsui tut es gleichfalls, wie synchron und wird sofort vollkommen ernst. Niemand kommt, um nach ihnen zusehen. Plötzlich blickt Frau Mitsui jede der Frauen mit einem durchdringenden Blick an, hebt ihre Hand und augenblicklich verstummen sie alle. Sie hat sich wieder absolut im Griff und übernimmt das Kommando. Annabel wartet auf ihre Ansprache. Schnell hat Frau Mitsui das Kästchen wieder geschlossen und lächelt beruhigend in die Runde. Jetzt sieht das gruselige Geschenk recht harmlos aus. Annabel ist erstaunt über so viel Selbstbeherrschung. Hoffentlich ist es nur ein Scherz gewesen. Sie hört ihr Herz klopfen, so eine Überraschung hatte sie beim japanischen Treffen der Frauen ganz sicher nicht erwartet. Frau Mitsui will sprechen, doch da öffnet sich die mit Papier bespannte Türe des Raumes und der Geschäftsführer der exquisiten Sushi-Bar Herr Matsumoto steht in derselben, um nach ihrem Unbehagen zu fragen. Frau Mitsuis Gäste sind plötzlich ganz verstummt und haben den Blick gesenkt. Annabel hat ihre Hände unter dem Tisch verkrampft. Sie warten alle auf das, was Frau Mitsui, ihre Gastgeberin, sagen wird. Höflich hält er den Kopf gesenkt und wartet. Nur Annabel blinzelt gelegentlich nach oben, um zu sehen, was weiter passiert.

Akiko Mitsui ist ruhig und wählt ihre Worte sorgfältig und mit Bedacht.

„Keine Sorge, es ist alles in Ordnung, wir haben uns nur alle über das Geschenk so gefreut. Wir möchten noch etwas Sake nachbestellen, bitte.“ Niemand der anderen Frauen wagt etwas anderes zu behaupten.

Der Kopf von Herrn Matsumoto wippt nur leicht und er bestätigt: „Aber gerne, ehrenwerte Mitsui-san und verzeihen sie mein Eindringen. Die ängstliche Kellnerin für ihren Raum werde ich auswechseln lassen. Bitte verzeihen Sie. Der Sake ist selbstverständlich ein Geschenk des Hauses. Gomen nasai, ich bitte sie die Unterbrechung zu entschuldigen.“

Frau Mitsui wedelt nur fächerartig mit ihrer Hand und der Geschäftsführer verschwindet sofort. Annabel ist vollkommen überrascht von dem Geschehen, doch die japanischen Sitten gebieten ihr als Fremde, sich nicht zu äußern und abzuwarten. Schließlich war die Einladung hierher für sie ein Privileg. Hisako, ihre Freundin, hatte sie darauf vorbereitet, keinen Ton von sich zu geben, sofern sie nicht aufgefordert wurde, etwas zu sagen. Was ihr sehr schwer fällt. Sie hat sich bereits am Anfang der Zusammenkunft schon zweimal auf die Zunge gebissen, sodass sie jetzt mindestens doppelt so dick sein muss. Sie schmeckt bereits Blut, doch der warme Sake hat es mit seiner Schärfe überdeckt. Vielleicht fällt es ihr deshalb leichter nichts zu sagen, man hätte sonst gemerkt, dass sie bereits leicht beschwipst ist. Denn sie hat vergessen nach dem zweiten Glas, es umzudrehen und so füllt ihr ihre andere Tischnachbarin, eine der Japanerinnen, höflich immer wieder nach. Trotzdem arbeitet es in ihrem Kopf und sie fragt sich, was noch kommt. Eigentlich sollte sie die Polizei rufen, aber keine der anderen Frauen reagiert. Frau Mitsui umschließt das Kästchen mit ihren Händen und wartet, bis die neue Kellnerin den Sake bringt. Sie beginnt wieder zu sprechen:

„Ich bitte Euch kein Wort darüber zu verlieren. Meine Familie ist euch dafür sehr dankbar und ihr kennt meine Familie. Ihr seid meine Freundinnen und ich kann mich auf euch verlassen. Nun zu Ihnen, Annabel-san. Ich hoffe, Sie bekommen keinen falschen Eindruck von mir.“

Annabel schüttelt instinktiv mit einem kleinen Lächeln den Kopf. Sie denkt sich, die Frau muss sich aber sehr gut im Griff haben, Respekt. Was will Frau Mitsui bloß von ihr, sie hat nicht den leisesten Hauch einer Ahnung. Halte dich an Hisako, die sie gerade hypnotisch anstarrt, sie fühlt ihren Blick regelrecht, sag vorerst kein Wort. Annabel reißt sich zusammen, irgendwie muss sie versuchen, an den Finger zu kommen, um zu testen, ob er echt ist oder ein Fake. Sonst hat sie keine Ruhe. Sie versucht langsam ein und auszuatmen. So tief war sie auch nicht in die japanischen Sitten und Kulturen eingetaucht, als dass sie sich mit einem leichten Schwips aus der Schlinge ziehen könnte. Plötzlich fällt ihr der Film mit den betrunkenen Karatekämpfern ein, wie hieß der noch, ach ja, „Drunken Master“. Sie muss leise kichern. Ich werde jetzt nicht albern. Beherrsche Dich und nimm Dir ein Beispiel an Frau Mitsui. Schnell verstummt Annabel und hält sich die Hand vor den Mund. Sie hat sich wieder im Griff und sieht Frau Mitsui gefasst an. Dieser verflixte warme Sake haut aber auch rein. Annabel ist sonst nur Wein oder europäische Spirituosen gewohnt. Sie bemüht sich um Haltung und versucht ihren Rücken gerade zu machen. Die Pause dauert schön lange, aber Japaner sind ja höflich und warten, bis sich ihr Gegenüber wieder im Griff hat. Dann spricht Frau Mitsui äußerst freundlich weiter:

„Gomen nasai, Entschuldigen Sie, aber Sie sind keine von uns. Ich möchte Sie anschließend gerne unter vier Augen sprechen. Bitte trinken Sie ab sofort Mineralwasser, bitte. Domo arigato.“

Annabel wird schlagartig nüchtern, errötet leicht und nickt, daran hat sie auch schon selbst gedacht, denn dieser Sake ist echt heimtückisch. Sie schaut kurz zu Hisako hinüber, kann aber keinen Blick mehr von ihr erhaschen. Alle haben den Kopf leicht gesenkt vor Respekt. Als der Sake und das Wasser da sind und die Papierwand wieder geschlossen, wartet Frau Mitsui, bis sie sicher ist, dass niemand von draußen lauschen würde. Zuerst stellt Frau Mitsui Annabel lächelnd ein Mineralwasser hin.

„Vergesst das Geschehene, meine Familie wird das Regeln! Lasst uns in Ruhe den netten Nachmittag beenden und ohne Angst und mit einem gefüllten Bauch nach Hause gehen. Genki desu, mir geht es gut. Das Kästchen bedeutet nichts, meine Lieben. Lasst uns den Rest der Feier genießen. Alles ist gut!“

Der weitere Nachmittag verläuft, als wäre nichts passiert. Die anderen Frauen haben sich einfach frisch gemacht und unter dem strengen Blick von Frau Mitsui wieder an ihren Platz gesetzt. Obwohl, das Kästchen ist noch immer da. Es steht geschlossen vor Frau Mitsui inmitten der anderen Geschenke. Es fällt kaum auf zwischen den vielen Gaben, wenn nicht alle wüssten, was es beinhaltet. Während sie alle erst zögerlich, dann aber fröhlich weiter essen und trinken. Annabel wird fast übel vor so viel Beherrschung. Ihrer aller Blicke meiden den Kontakt zum Objekt, aber aus den Augenwinkeln haben Frau Mitsui und Annabel ihn immer fest im Auge. Ihr graust ein bisschen davor, nachher mit Frau Mitsui allein zu sein, lässt sich aber nichts anmerken. Bis dahin würde sie sich schon etwas überlegt haben, um den Finger zu überprüfen, zu können. Sie will Frau Mitsui dann unbedingt davon überzeugen, zur Polizei zu gehen. Sie trinkt jetzt nur Mineralwasser, von etwas anderem wäre ihr auch nur schlecht geworden. Es wird langsam Abend und zum Abschluss wird noch eine landestypische Haifischflossensuppe gereicht. Danach verabschiedet Frau Mitsui eine Frau nach der anderen. Als letzte geht Hisako, mit einem letzten aufmunternden Blick auf Annabel, die nun mit Frau Mitsui allein ist. Sie nickt Hisako zum Abschied beruhigend zu und wartet ab. Annabel ist Hisako unendlich dankbar, ihr so einiges an japanischer Sitte und Gebräuche gezeigt zu haben. Sie ist nicht mehr allzu unsicher, wie sie sich verhalten soll.

Annabel wartet geduldig darauf, dass Frau Mitsui sie anspricht. Sie ist etwas überrascht, als diese noch einmal Sake für beide bestellt. Als der Sake auf dem Tisch steht, nimmt Frau Mitsui ausdruckslos ihr kleines Glas und gibt Annabel das andere. Dann schaut sie ihr in die Augen, was für japanische Verhältnisse eher ungewöhnlich ist: „Auf ihre Verschwiegenheit!“ Sie setzen die leeren Gläser ab und Frau Mitsui bedeutet ihr, gegenüber Platz zu nehmen. Was soll das jetzt mit Verschwiegenheit, sie muss das doch der Polizei melden. Annabel setzt an, um zu fragen, doch Frau Mitsui bedeutet ihr zu schweigen. Annabel fängt an, sich unwohl zu fühlen, was will diese Frau jetzt bloß von ihr.

Dann erklärt ihr Frau Mitsui ihr Anliegen: „Sie werden sich wohl wundern, warum ich Sie, eine Doitsu-jin, allein sprechen will. Aber Ihre Freundin und meine Cousine vierten Grades, Hisako, hat mir beiläufig von ihrem Beruf erzählt.“ Sie seufzte und holte tief Luft. Es schien ihr unangenehm, eine Fremde um etwas zu bitten.

„Nun denn, ich möchte Sie engagieren meinen Gatten zu suchen. Der abgeschnittene Ringfinger in dem Kästchen ist von ihm, ich habe den Ehering erkannt und es bedeutet eigentlich seinen Tod. Doch ich bin von Natur aus misstrauisch, vor allem in einem fremden Land. Es könnte auch eine Entführung sein, mein Vater besitzt eine gut situierte Traditionsfirma in Japan mit großem Einfluss. Bitte verstehen Sie! Ich muss es ganz genau wissen, bevor ich meinen Vater kontaktiere. Er ist bereits sehr alt und krank. Er verträgt keine Aufregungen. Nur sie können mir dabei helfen. Kudasai, bitte!“

Frau Mitsui schaut sie bittend an, eine kleine Träne rollt ihre Wange herunter. Sie senkt verschämt die Augen, die Hände wie betend zusammengefaltet und verbeugt sich kurz vor ihr. Annabel bekommt Mitleid mit dieser eigentlich so selbstbewussten, starken Frau und fühlt sich mulmig bei diesem kleinen Gefühlsausbruch. Was kann schon passieren, Annabel ist zwar nur die Sekretärin, doch ihr Freund Tom ist der Detektiv mit Lizenz und die Detektei „Albatros“ war dem Mann doch schon wegen Unterschlagung auf der Spur. Sie soll doch Frau Mitsui nur seinen Aufenthaltsort liefern. Den Rest würde sowieso dann die Polizei erledigen. Dafür brauchen sie sicher auch diesen Finger. Der Auftrag dürfte doch einfach werden und Tom wird ihr bestimmt helfen. Der letzte Sake macht sie wieder mutiger, trotz des reichlichen Mineralwassers. Sie verbeugt sich respektvoll bis auf Schulterhöhe ihrem Gegenüber, eine Würdigung an die Gastgeberin, das hatte sie von Hisako gehört, etwa drei Sekunden lang und gibt Frau Mitsui eine formelle Zusage.

„Sehr verehrte Frau Mitsui, ich werde mein Möglichstes tun, um Ihnen zu helfen. Bitte seien Sie versichert, dass ich Ihnen den Beweis, oder Hinweis, auf den Verbleib ihres Gatten liefern werde. Um eines muss ich sie noch bitten, geben sie mir das Kästchen für die Polizei mit. Oder, noch besser, bringen sie es selbst zur Wache. Bitte! Eine Untersuchung des Fingers ist dringend notwendig. Schließlich müssen wir wissen, ob er wirklich von ihrem Mann ist oder nicht! Vielleicht dürfte ich mir den Inhalt schon einmal genau ansehen?“

Frau Mitsui gibt ihr zögernd das Kästchen in die Hand und will sie dabei beobachten. In diesem Augenblick öffnet die neue Kellnerin die Türe, um nach dem abschließenden Service zu fragen und sie dreht sich in Richtung der Schiebetüre. Mit einem kurzen Blick auf Annabel redet sie einige Minuten mit ihr. Das ist die richtige Ablenkung, denn anscheinend muss sie einiges klären. Annabel lächelt und nutzt den unbeobachteten Moment instinktiv. Das Kästchen steht geöffnet vor ihr auf dem Tisch, ihre Handtasche liegt auf dem Stuhl neben ihr. Sie stellt sich zwischen Tisch und Tür, sodass Frau Mitsui das Kästchen nicht mehr im Blick hat. Schnell zupft sie mit einer Pinzette aus ihrer Tasche etwas Hautfetzen von dem Fingerstumpf und lässt die Probe in ein Taschentuch gleiten. Dann dreht sie sich wieder um. Gerade rechtzeitig, denn Frau Mitsui unterschreibt die Rechnung und wendet sich wieder ihr zu. Annabel tritt schnell zur Seite, tut so, als ob sie sich die Nase putzt und steckt das Taschentuch wieder in ihre Tasche. Sofort streckt Frau Mitsui ihre Hand nach dem Kästchen aus und legt wieder den Deckel darauf. Sie wickelt eine der weißen Stoffservietten herum und steckt es vorsichtig in ihre Handtasche.

„So, die Feier ist beendet und ich werde mich jetzt auf den Weg zur Polizei machen, wie sie es mir geraten haben. Nochmals, vielen Dank für ihre Hilfe und melden sie sich möglichst bald bei mir, Bachmann-san.“ Damit übergibt sie Annabel ihre Visitenkarte und verbeugt sich leicht mit einem kleinen Lächeln: „Domo arigato, danke schön!“

Frau Mitsui lässt ein Taxi für sich und eins für Annabel bestellen. Damit ist die Sache beschlossen. Sie fahren in entgegengesetzter Richtung fort.

Kapitel 1

Bella war froh, als sie zu Hause in ihren eigenen vier Wänden, der kleinen Dachgeschosswohnung, in der Altstadt ankam. Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich kurz mit dem Rücken an die Tür, in ihrem Kopf drehte sich alles. Was hatte sie sich dabei gedacht, diesen Auftrag anzunehmen! Sie war doch nur die Schreibkraft, aber der Gedanke an ihre Freundin hatte sie vorschnell handeln lassen. Nun konnte sie nicht mehr zurück. Sie fühlte sich erschöpft. Sie warf den Schlüssel mitsamt der Visitenkarte auf die Kommode im Flur, streifte ihre Schuhe nacheinander ab und ließ die Handtasche fallen. Die lag jetzt offen vor ihr und mit zwei Fingern nahm sie das Taschentuch mit der Probe heraus, ging in ihre kleine Küche und steckte es in eine Frischhaltetüte. Sie öffnete ihren Kühlschrank, da war sowieso nicht viel drin und legte die Tüte ins oberste Fach. Sie schlug die Tür mit einem Ruck zu und atmete tief durch. Morgen früh würde sie dieses widerliche Teil als erstes, nach einem kleinen Frühstück, bei ihrem befreundeten Techniker im Kriminallabor vorbeibringen. Sicher ist sicher. Hoffentlich ging Frau Mitsui mit dem Finger auch zur Polizei.

Worauf hat sie sich da bloß eingelassen!

Mit einem tiefen Seufzer ging Bella in ihr Schlafzimmer und sank in ihren Klamotten auf ihr Bett. Verzweifelt versuchte sie noch ihren Kollegen Tom anzurufen, sie brauchte ihn jetzt zum Reden, aber sein Handy war aus. Keine Antwort. Sie ließ ihr Handy auf den Nachttisch fallen und starrte an die Decke. Ihre Augen wollten nicht zufallen. Was würde Tom wohl dazu sagen, oder ihr Chef, oder gar Hisako. Hoffentlich hatte sie nichts Verkehrtes gesagt oder getan. Himmel, war das ein anstrengender Nachmittag. Alles drehte sich. Sie rannte zum Klo und übergab sich. Mühsam schlich sie zurück ins Bett.

Annabel Bachmann, genannt Bella, mittelgroß, grüne Augen, sportlich, dunkelblonde Haare, wälzte sich unruhig in ihrem breiten Bett hin und her. Nachdem sie sich im Bad erleichtert und wieder ins Bett gekrochen war, hatte sie mit zitternden Händen nach den Schlaftabletten im Nachtschrank gesucht. Die Ärztin in Hamburg hatte ihr das Valium für den Notfall mitgegeben, weil sie sich geweigert hatte auf Dauer Psychopharmaka zu nehmen. Bella hatte eine Aversion gegen Tabletten jeglicher Art. Bisher hatte sie ihre Angstdepression auch so im Griff gehabt und war lange stabil gewesen. Doch jetzt hatte dieser Vorfall sie überrollt. Sie hörte noch die eindringlichen Worte ihrer Ärztin, möglichst nur eine halbe Tablette zu nehmen und niemals mit Alkohol. Doch ihr Zittern hörte nicht auf und kalter Schweiß brach ihr aus, als sie sich wieder hinlegen und die Augen schließen wollte. Die gruseligen Bilder dieser Tee Party ließen sie nicht los. Das grausige Kästchen, die kalten, blauen Augen der Gastgeberin und die blassen, ängstlichen Gesichter der Japanerinnen schwebten auf dunklen Wolken durch ihren Kopf. Oh Himmel, geht doch einfach weg! Da würde eine halbe Tablette ihr wenigstens durchgehenden, hoffentlich traumlosen, Schlaf geben. Das Röhrchen lag in der hintersten Ecke ihres Nachttisches und beinahe wäre ihr der ganze Inhalt auf den Boden gefallen. Bella kniete vor ihrem Bett und versuchte sich zusammen zu reißen. Sie nahm mit zittriger Hand eine halbe Tablette mit viel Wasser und füllte die restlichen Tabletten wieder vorsichtig ein. Dann verschwand das Röhrchen wieder da, wo sie es versteckt hatte. Erleichtert legte sie sich auf ihr Bett und starrte wieder an die Decke. Aufregende Träume würden zwar dennoch kommen, aber sie hatte einen Trick im Schlaf, um sie abzumildern. Ihr Traumfahrstuhl, der sie in ein ruhigeres Level brachte. Die Tablette half ihr, nicht in Panik zu verfallen und verfrüht aufzuwachen. Endlich fielen ihr die müden Augen zu und sie hoffte, der nächste Tag würde ihr wieder Mut und Elan bringen. Dann hatte sie auch ihre Freunde, die ihr helfen würden, den Vorfall irgendwie zu verarbeiten. Endlich schlief sie erschöpft ein, wilde Träume von Samurai und Ninjas, denen ein Finger fehlte, verfolgten sie fast bis zum Morgengrauen, als sie endlich in ihren Fahrstuhl flüchten konnte. Danach atmete sie ruhiger, schlief tief und fest ein. Endlich.

In ihrem kleinen Appartement unterm Dach in der Düsseldorfer Altstadt wurde es langsam hell. Erste Sonnenstrahlen schienen durch das kleine Dachfenster in ihr Schlafzimmer, direkt auf ihr Gesicht. Sie hatte vergessen das Rollo zu schließen. Es war morgens früh um sieben. Die ersten Schwalben begrüßten den sommerlichen Tag. Abrupt waren auch ihre Alpträume vorbei, zuletzt von einem Ehemann, der merkwürdigerweise wie Tom aussah, und zwei kleine, schreiende Kinder in einem kleinen Reihenhaus. Na ja, wenigstens waren dadurch die Ninjas verschwunden, die versucht hatten, ihr die Finger mit ihren scharfen Schwertern abzuschneiden. Da war sie schnell in ihren imaginären Aufzug gestiegen und ihnen nur knapp entkommen. Die letzten paar Stunden hatte sie wenigstens erholsam schlafen können. Sie fühlte die Sonnenstrahlen wärmend auf ihren geschlossenen Augen und dämmerte noch etwas vor sich hin. Da klingelte der Wecker plötzlich penetrant. Sie rollte sich grummelnd auf die Seite und hieb mit ausgestrecktem Arm ihre Hand darauf, sodass er auf den Boden fiel. Gähnend rieb sie sich den Schlaf aus ihren Augen und richtete sich langsam auf. Alles war wieder gut, wenigstens hatte sie noch ein paar Stunden durchgeschlafen. Trotzdem fühlte sie sich gerädert, wie nach einem Marathon. Sie brauchte jetzt unbedingt einen starken Kaffee, eine Dusche und andere Kleidung. Merkwürdig, sie hatte gar keine Kopfschmerzen, nach diesem japanischen Reiswein. Das jährliche Familientreffen am vorherigen Wochenende in Hamburg, auf dem sie nie fehlen durfte und jetzt noch dieses japanische Frauentreffen, beides hatte sie doch sehr mitgenommen. Dann war da noch der kurze, besorgte Anruf ihrer Mutter am späten Abend, oder mitten in der Nacht, an den sie sich fast nicht mehr erinnern konnte. Bella stöhnte auf, das alles hatte sie innerlich ziemlich erschöpft. Sie erinnerte sich nur verschwommen, dass sie ihre Mutter auf einen Rückruf vertröstet hatte, weil sie todmüde und bereits im Halbschlaf gewesen war. Dabei war sie die Einzige der Familie, zu der sie noch regelmäßig Kontakt pflegte.

Nach dem Tod ihrer Zwillingsschwester hatte sie den Geburtsnamen ihrer Mutter angenommen, um nicht mehr mit der Reederei ihres Vaters in Verbindung gebracht zu werden. Sehr zur Freude ihres Bruders, der nun die Geschäfte leitete. Ihre Eltern verbrachten ihren Lebensabend in ihrer herrlichen Villa an der Außenalster, mit einer Haushälterin und einer examinierten Pflegerin. Der Vater saß seit einem Schlaganfall im Rollstuhl und war stolz auf seinen Sohn. Für ihn waren beide Töchter gestorben und niemand konnte ihn vom Gegenteil überzeugen, auch Annabel selbst nicht. Er erkannte sie nicht einmal, wenn sie zu Besuch da war, für ihn war sie eine Fremde. Bella hatte damit abgeschlossen und wollte wieder mehr vom Leben als nur die Tochter aus reichem Haus sein. Ihr waren diese gesellschaftlichen Intrigen zuwider und die affektierten Partys, auf denen sie kaum ehrliche Gespräche führen konnte. Ihre Schwester hatte es genossen und sich gerne über die Leute lustig gemacht, wenn sie beide abends noch zusammen in der Gartenlaube die Sterne betrachteten. Bella konnte dann wenigstens mit ihr darüber lachen. Jetzt gab es sie nicht mehr und Bella hatte festgestellt, dass der Tod schneller kommen konnte, als man dachte. Sie hatte Angst davor, das Schicksal ihrer verunglückten Schwester zu teilen, wenn sie nicht weit weg von zu Hause bliebe. Deshalb war sie auch sechs Monate in Therapie in einer Privatklinik gewesen. Ihre Ängste hatten sie zu stark blockiert und zerrten an ihrer Seele. Nur ihre Mutter hatte Verständnis für ihre Befindlichkeiten. Zu ihr hielt sie weiter heimlich Kontakt, die anderen Familienmitglieder ignorierte sie, um ihren Seelenfrieden und ihre Nerven zu schützen. Ihrem Bruder und seiner Frau war das nur Recht.

Hier in Düsseldorf hatte Bella ihr eigenes, unabhängiges Leben und liebe Freunde gefunden.

Bellas Glieder fühlten sich ein bisschen an wie Blei und ihre Muskeln ächzten nach Erholung. Bloß nicht hängen lassen, ihr Körper brauchte nur wieder Koffein. Wenigstens hatte sie ihre neugewonnene Selbstsicherheit zurück. Sie konnte alles schaffen, wenn sie aufmerksam war und sie hatte ihre Freunde, die sie unterstützen würden.

Seit einiger Zeit verlief ihre Woche doch recht anstrengend. An drei Tagen intensive Schreibarbeiten in der Detektei Albatros, die dann sogar oft bis kurz vor Mitternacht dauerten. Sonst war es nicht so zeitaufwendig, Berichte für das Büro nach Band zu schreiben und sie hatte öfters mal frei. Aber Erich Rothbaum, Chef der Detektei Albatros, war bei dem jetzigen Fall mit den Japanern recht penibel. Herrje, und ins Englische übersetzten sollte sie das auch noch. Dafür bekam sie allerdings extra Honorar. Obwohl sie einen Fond von ihrer Familie besaß, wollte sie finanziell so weit wie möglich unabhängig bleiben. Niemand wusste hier in Düsseldorf, wer sie in Wirklichkeit war und das sollte auch so bleiben. Nur ihr Chef Erich Rothbaum war im Bilde, ihr polizeiliches Führungszeugnis kam ja aus Hamburg und er schwieg eisern. Ihm konnte sie vertrauen. Ihr jetziges Leben gefiel ihr, so wie es war, unbeschwert, abwechslungsreich und unabhängig. Na ja, bis auf den vergangenen, gruseligen Zwischenfall.

In ihrer gemütlichen Wohnung stolperte Bella vom kleinen Schlafzimmer durch den Flur in die Wohnküche. Verflixt, dabei hatte sie sich ihren kleinen Zeh am Türpfosten gestoßen, sie biss die Zähne zusammen und humpelte bis der Schmerz langsam nachließ. Rasch räumte sie ein paar Sachen zur Seite und wollte die Tür zu ihrer kleinen Dachterrasse schließen. Sie hielt inne und lauschte. Die Terrasse hatte mal gerade Platz für einen Liegestuhl, zwei Klappstühle, einen kleinen Tisch und eine halb vertrocknete Palme. Hier ruhte sie gern abends aus, um vom Tag herunterzukommen und ihren Blick über den nächtlichen Rhein schweifen zu lassen. Nachts lullten sie dann die Geräusche bei offener Tür ein. Das Hupen der Berufsschiffer und das Schlagen der Wellen an die Uferböschung wirkten beruhigend nach einem ereignisreichen Tag. Die Geräusche erinnerten sie an zu Hause und nahmen ihr das Heimweh, das sie doch manchmal heimlich überfiel. Frühmorgens machte sie schon mal ein paar Dehnübungen, wenn es nicht regnete. Jetzt roch sie mit geschlossenen Augen die feuchte Luft, die vom morgendlichen Rheinnebel herüber wehte und atmete tief ein. Sie hatte heute keine große Lust auf sportliche Tätigkeiten, nach den Atemübungen fühlte sie sich bereits besser. Sie war versucht sich niederzulassen und die frische Luft noch länger zu genießen. Nichts da, wach bleiben und beeilen, sie wurde gegen Mittag im Büro erwartet und sie hatte doch vorher noch was Wichtiges zu erledigen. Entschlossen schloss sie mit einem lauten Ruck die Terrassentüre, ging zurück ins Bad und roch an ihren alten Klamotten. Pfui, sie rochen nach Schweiß, bestimmt Angstschweiß von gestern. Sie schaute in den Spiegel und erschrak über das graue Gesicht, dass ihr dort entgegenblickte. Dieser warme Sake hatte ordentlich Spuren hinterlassen, verflixt. Schnell unter die heiße Dusche. Sie ließ das heiße Wasser über ihren Kopf den Körper hinunterfließen und nahm ihr duftendes Shampoo zur Hand. Ach, herrlich, als ob sie sich alle Sorgen herunter wusch. Nach dem Abduschen schnell abtrocknen und dann fertig machen. Noch etwas Make-up half da sicher auch, etwas Tusche und Lippenstift, dann relativ frische Sachen an und wieder raus hier. Im Wohnraum stand der leere Kleiderständer, daneben der Wäschekorb, Mist. Bella wühlte darin und schlüpfte in eine dunkelblaue Jeans, schnüffelte an einem roten T-Shirt, sie sollte ein Neues anziehen, aber die Waschmaschine war noch immer nicht ausgeräumt. Heute Abend musste sie die Sachen unbedingt auf ihrer Terrasse zum Trocknen aufhängen, sonst hatte sie bald nichts mehr anzuziehen. Sie seufzte ärgerlich auf. Das rote Shirt roch jedenfalls nicht nach Angstschweiß, nur etwas muffig. Sie verzog trotzdem angewidert ihr Gesicht. Bella zog dann doch lieber das dunkelgrüne Shirt von vorgestern an, dass sie noch im Bad hatte, hängen sehen. Das roch jetzt wenigstens nach ihrem großartigen Duschgel. Sie sollte sich mal wieder etwas Schickes gönnen.

Ihr fiel plötzlich der jadegrüne Seidenanzug ein, den Frau Mitsui bei der Teegesellschaft getragen hatte. Der war bestimmt sündhaft teuer gewesen und sie hatte nicht einen Fleck nach dem aufregenden Ereignis darauf gesehen. Kein Soßenfleck oder so. Dabei hatte die Frau ihren Trinkbecher fast fallen lassen. Bella schüttelte ihren Kopf. Den Anzug hatte sie mal in rubinrot im japanischen Kaufhaus gesehen, wo die Japanerinnen meistens einkauften. Herrje, sowas gab es sicher auch in einer der kleinen Boutiquen, in Saphir-blau würde der ihr auch stehen. Bella nahm sich vor, gleich übermorgen einmal danach zu suchen. Doch jetzt musste sie sich sputen, Bella seufzte und lächelte zaghaft. Positive Gedanken würden ihr wieder Mut geben und die Vorfreude auf ein neues Kleidungsstück war doch positiv, oder?

Sie ging in die Küche. Der Kühlschrank könnte auch wieder mal Nachschub gebrauchen. Igitt, da lag ja die Tüte mit der Hautprobe. Eigentlich hatte sie sich gewünscht, das mit dem Kästchen hätte sie nur geträumt. Aber nun erschreckte es sie zum Glück nicht mehr so sehr. Verflixt, sie blickte auf ihre Uhr, sie musste sich wirklich beeilen und sofort damit ins Labor fahren, bevor sich da zu viele Leute tummelten. Es sollte doch niemand davon erfahren und Sebastian war eigentlich sehr verschwiegen, wenn ihn niemand bei einem Gefallen für die Detektei erwischte. Die Sache mit dem halben Finger machte sie wieder vollkommen nervös und ihr wurde leicht übel. Sie hatte einen bitteren, galligen Geschmack im Mund und spülte ihn schnell mit Mundspülung im Bad aus. Bella war froh, wenn sie die Tüte abgegeben hatte und nie mehr sehen musste. Sie blickte noch schnell in den Spiegel und war zufrieden.

Wieder in der Küche griff sie nach einer Schale, holte einen Esslöffel und öffnete den Schrank. Nach einem mageren Frühstück mit Haferflocken und Milch, Mist, die war schon wieder sauer, also mit Kranwasser, packte sie rasch ihre Sachen zusammen. Ihr Magen hatte wenigstens etwas zu verdauen und war beruhigt. Schon fühlte Bella sich fit genug, um loszustürmen. Na ja, ein starker Kaffee täte jetzt wirklich gut, aber sie hatte wie immer keinen im Haus. Gut, dass es unten Pedros Coffeeshop gab, bei dem holte sie sich, wie fast jeden Morgen, ihren Aufwachkick, Milchkaffee mit einem Schuss Karamell zum Mitnehmen. Pedro sorgte für sie, wie ein Vater und sie mochte seine große Familie. Seine Frau Maria achtete darauf, dass Bella mindestens abends eine warme Mahlzeit hatte. Bella packte jetzt die eklige Tüte mit der Gewebeprobe vorsichtig an, griff sich ihre Schlüssel von der Kommode und hob ihre braune Umhängetasche aus speckigem Leder auf, in der sie ihre lebensnotwendigen Utensilien, wie Deo, Handy, Pinzette und Pfefferminz-Bonbons befanden. Eine weitere Auflistung wäre zu umfangreich und sie kannte den Inhalt schon selbst nicht mehr genau. Bald brauchte sie eine Taschenlampe, um irgendetwas darin zu finden. Schnell ließ sie die eklige Tüte hineinfallen und warf sich die Tasche über die Schulter. Bella hoffte noch, dass alles ein makabrer Scherz war und das Ganze nur eine Prüfung ihrer Integrität oder die Abschreckung einer Gaijin war. Damit käme sie klar, aber sollte das Gewebe echt sein, fürchtete sie, dem nicht ohne Hilfe gewachsen zu sein. Ihr Chef wäre nicht besonders begeistert über ihren eigenwilligen Einsatz. Rasant hüpfte sie die Treppen der fünf Etagen runter, schon 8.30 Uhr. Warum gab es hier bloß keinen Aufzug? Wahrscheinlich würde der auch noch steckenbleiben bei ihrem Glück. Aber nachdenken sollte sie darüber, die alte Dame im vierten Stock kam kaum noch vor die Türe. Bisher hatte die Familie aus dem dritten Stock ihr immer geholfen und für sie eingekauft. Gelegentlich hatte auch Bella Besorgungen für sie erledigt. Jetzt ließ Frau Jovanovic sich oft die Sachen liefern. Das mit dem Aufzug würde sie später mal mit Pedro besprechen, denn insgeheim war sie zwar die Eigentümerin des Hauses, aber er kümmerte sich um alles Technische hier. Sie erreichte die letzten Stufen und wäre beinahe gestolpert, konnte sich aber gerade noch fangen. Bella hielt für einen Moment an und atmete tief durch. K a f f e e, ich brauche dringend Kaffee!

Gott sei Dank haben sie gestern Mittag vor ihrem japanischen Frauentreffen einen Parkplatz fast direkt vorm Haus gefunden. Ihre Freundin Hisako hatte sie mit dem Taxi abgeholt. Es hatte Bindfäden geregnet und sie war knapp zwischen den Regentropfen durchgeschlüpft, weil sie keinen Regenschirm besaß. Der warme Mai Regen wollte an dem Tag gar nicht aufhören. Sie hatte angemessene Kleidung anziehen müssen. Eine dunkle Hose und eine weiße Bluse, die sie sonst nur für Feiertage im Schrank hatte, mit einem schwarzen Jackett darüber. Jetzt wieder in ihren Alltagsklamotten, Jeans, T-Shirt und Turnschuhe, fühlte sie sich viel wohler.

Bella war unten angekommen, jetzt aber schnell in den Coffeeshop. Pedro hielt ihr den fertigen Kaffee schon grinsend entgegen. Er hörte sie immer die Treppe herunterrennen, weil sie es meistens eilig hatte. Sie nahm dankbar den Kaffee entgegen, aber beim Umdrehen rempelte sie mit einem jungen Mann zusammen, der eine Tüte mit frischen Brötchen in der Hand hielt und aus der Küche kam. Die Tüte riss und die Brötchen kullerten auf den Boden.

„Oh, entschuldigen sie, ich habe sie nicht gesehen!“

Blaue Augen schauten sie erst vorwurfsvoll an, doch dann lächelte der Typ wieder. „Kein Problem, Maria gibt mir neue Brötchen mit. Meine Tante ist da sehr penibel!“

Bella schaute ihn fragend an. „Ähem, ich bin Kai-Uwe und wohne in den Semesterferien bei meiner Tante, Frau Jovanovic, vierter Stock!“ Sie lächelte zurück und zwinkerte ihm zu: „Schön, ich bin Bella aus dem fünften Stock, dann sehen wir uns bestimmt noch ein paar Mal! Liebe Grüße an ihre Tante, ich muss jetzt aber los!“

Bella warf Pedro noch einen Handkuss zu und eilte mit dem Kaffee in der Hand zu ihrem Auto. Wenn sie so weiter machte, war sie bald am Coffeeshop beteiligt. Heute schien auch wieder die Sonne hinter den abziehenden Wolken und ließ die letzten Pfützen trocknen. An der Straße pustete Bella auf ihren Becher und nahm erst einmal einen großen Schluck Kaffee. Ihr Kreislauf begann wieder auf normal zu schalten. Sie atmete auf, erblickte erleichtert ihr Auto und lief langsam darauf zu. Sie schloss die Fahrertür auf und warf ihre Tasche auf den Beifahrersitz. Das Labor müsste jetzt bereits besetzt sein, hoffentlich war Sebastian Dragovic noch allein da. Er war mit ihrem Chef Erich Rothbaum aus der Detektei gut bekannt und hatte schon öfters versucht Bella zum Essen einzuladen. Bisher ohne Erfolg. Sie stand nicht so auf blonde Jungs. Aber für so einen Gefallen, würde sie es schon machen, war ja nichts dabei.

Mehr über die Autorin erfahrt ihr hier: www.uschilangesbuecherkrimis.jimdo.com

MiniKrimi Adventskalender am 21. Dezember


Heute gibt’s hier wieder einen Krimi aus meiner Feder. Mit Anklängen an meine väterlichen Wurzeln. Die liegen nämlich zum Teil in Süditalien… Viel Spaß beim Lesen und danke fürs Teilen und für eure Kommentare!

Engel mit schwarzen Locken

„Hallo, Kleine! Wie heißt du eigentlich?“

„Gemima.“

„Dsche… Aaaha. Und weiter?“

„Hagenrath“

„Und deine Mama?“

„Meine Mama und meine Mami heißen so wie ich. Hagenrath.“

„Und dein Papa?“

Stille. Dann: „Das weiß ich nicht.“

„Warum wollen Sie das wissen?“ Marlene Hagenrath steht an der Haustür, beladen mit Tüten und einem Kasten leerer Saftflaschen. Sie klingt barsch, und das liegt daran, dass sie diese Situation so oder ähnlich schon öfter erlebt hat, seit sie mit ihrer Frau Claudia und der gemeinsamen Tochter Gemima in die Minervastraße eingezogen ist. Zu oft, als dass sie dafür noch Toleranz aufbringen könnte.

„Man wird doch wohl noch fragen dürfen, oder? Schließlich hat jedes Kind eine Mutter und einen Vater. Das ist ein Naturgesetz.“ Frau Degenfeld ist pikiert. Erst gestern haben sie und ihre Freundinnen beim Mahjong-Nachmittag gerätselt, warum der Vater des süßen Mädchens mit den schwarzen Locken und den grünen Augen noch nie in der Siedlung aufgetaucht ist.

„Ich habe eine Mama und eine Mami. Mehr brauche ich nicht. Oder?“, fragt Gemima und schaut der älteren Dame mitten ins Gesicht. Unangenehm, dieser bohrende Blick. Der ist bestimmt antrainiert. Von einer der beiden Frauen, die sie Mama und Mami nennt.

„Zu meiner Zeit war das undenkbar. Zwei Mütter. Aber heute – vollkommen zerrüttet, die Moral bei den Jüngeren.“ Kopfschüttelnd geht Frau Degenfeld weiter Richtung Tiefgarage.

Es ist der 21. Dezember. In 3 Tagen beginnt die Weihnachtszeit. Überall in der Minervastraße leuchten Sterne und Jakobsleitern in den Fenstern, die Balkone sind mit Girlanden behängt, die meisten leuchten golden. Die einzige grellbunte auf der Terrasse gegenüber der Tarotlegerin Lenor wurde nach einem tragischen Tod entfernt.

Gemima sitzt am Küchentisch, lässt die Beine baumeln und sticht andächtig Plätzchen aus. Dabei schiebt sie voller Konzentration die gerollte Zungenspitze zwischen die Lippen.

„Woher hat sie das nur?“, fragt ihre Mutter Marlene sich zum x-sten Mal. Sie hat das Zungenroller-Gen nämlich nicht. „Muss der Spender sein“. Obwohl – der hatte es angeblich auch nicht. Unglaublich, was man bei angeblich anonymen Samenspenden heute für Informationen finden oder erfragen kann.

Da klingelt es an der Haustür. „Hallo?“, ruft Marlene in die Sprechanlage.

„Paket für Sie“, antwortet eine Männerstimme. „Ich lege es auf die Treppe.“

„Könnten Sie es mir nicht schnell raufbringen, bitte? Dritter Stock?“

„Sorry, zu viel Arbeit. Geht nicht. Schöne Weihnachten.“

Marlene seufzt, schlüpft in ihre Mules und springt die Treppe runter. Wo ist das Paket? Auf der untersten Treppenstufe liegt keines. Nur ein roter Umschlag mit einem bedruckten Weihnachtsmann und darauf ein in Cellophan verpackter Keks.

„Hahaha“, murmelt Marlene. Sie ist allerlei „Schabernack“ von den Nachbarn gewöhnt. Viele haben sich immer noch nicht damit abgefunden, dass ein weibliches Ehepaar mit Kind bei ihnen wohnt.

„Falscher Alarm. Aber leckerer Keks. Magst du ihn?“, ruft sie und schließt die Wohnungstür. „Gemima?“

Keine Antwort.

„Gemmi?“ Nichts. Sie schaut ins Kinderzimmer. Leer. Auch das Wohnzimmer. Der Küchenstuhl, auf dem das Mädchen gerade noch gesessen hat, ist umgekippt. Der Vorhang vor dem Küchenbalkon bauscht sich im Wind, und eine Handvoll Schneeflocken fliegt herein.

„Gemima, was machst du da draußen? Du wirst dich erkälten.“

Aber auch auf dem Balkon: keine Spur ihrer Tochter. Panik steigt in Marlene hoch. Als hätte sich die Kleine in Luft aufgelöst. Das geht entschieden zu weit. Das ist kein Scherz mehr. Wenn sie den findet, der dafür verantwortlich ist….

„Marlene, Gemmi, bin wieder daaa!“

„Claudia! Stell dir vor, Gemima ist verschwunden!“

Die beiden Mütter suchen die ganze Nacht hindurch nach dem Kind. In der Wohnung, im Haus, im Keller, auf dem Dachboden. Schließlich in der ganzen Siedlung. Und sie sind nicht allein. Zu Claudias und Marlenes Erstaunen helfen ihnen viele Nachbarinnen und Nachbarn. Sogar Frau Degenfeld und ihr Mann. Schließlich sollte das Mädchen bei der lebendigen Krippe, die die Bewohner der Minervastraße am ersten Weihnachtstag geplant haben, einen Engel spielen. „Sie wird ganz entzückend aussehen, mit diesen schwarzen Locken. Von wem sie die wohl hat?“

Am nächsten Morgen wird die Polizei eingeschaltet, doch auch sie findet Gemima nicht. Einzig ein Fußabdruck im Blumenbeet unter dem Küchenfenster – Größe 43 – und Sprossen einer offenbar zersägten Metalleiter im See weisen darauf hin, dass das Kind entführt worden ist.

Wer denkt in einer solchen Situation schon an einen ungeöffneten Brief? Als Claudia den roten Umschlag auf der Kommode im Flur sieht, nimmt sie ihn automatisch mit ins Wohnzimmer. Geistesabwesend reißt sie den Umschlag auf.

„Marlene! Woher kommt dieser Brief? Wer hat ihn dir gegeben? Seit wann hast du ihn? Warum hast du denn nichts gesagt?“

Marlene ist verwirrt. Todmüde, verängstigt und zermürbt von der erfolglosen Suche.

„Den? Ach, das ist doch bloß wieder so ein blöder Scherz von den Nachbarn. Ich wollte Ivan gestern noch danach fragen, aber…

„Nein! Das ist kein Scherz. Lies!“ Claudia hält Marlene den eng bedruckten Zettel unter die Nase.

Sie haben mich bestohlen. Jetzt hole ich mir mein Eigentum zurück. Versuchen Sie nicht, mich oder meine Tochter zu finden! Sonst wird das Kind einen tödlichen Unfall erleiden.

„Siehst du, das ist doch einer von diesen Scherzen. Nur viel gemeiner als sonst. Na warte, Ivan.“ Marlene greift zum Telefon, um ihren Nachbarn zur Rede zu stellen.

„Nein, Marlene. Ivan hat absolut nichts damit zu tun. Verstehst du denn nicht? Das ist ein Bekennerbrief von dem Menschen, der Gemima entführt hat.“

„Was? Du spinnst ja, Claudia! Ich habe den anonymen Spender aus der Datenbank von Neovita Labs. War teuer genug. Und absolut seriös. Das hat uns Dr. Wonnegrat ja schriftlich gegeben.“

„Dr. Wonnegrat. Nomen es Omen. Die Frau ist mir gleich suspekt gewesen. Einfach einen Tick zu seriös, wenn du weißt, was ich meine.“

„Nein, das weiß ich nicht. Und ich finde, du greifst nach Strohhalmen. Aber egal. Uns bleibt ja nichts anderes übrig. Die Polizei kommt nicht weiter. Wir fahren jetzt zu Neovita Labs.“

Ein kühles Ambiente in Pastelltönen. Gedämpfte Musik. Klassik, nichts Weihnachtliches. Dr. Wonnegrat empfängt Marlene und Claudia in ihrem Büro. Sie ist sichtlich nervös. Marlene, bleich, mit rotgeränderten Augen, kommt gleich zur Sache: „Unsere Tochter ist entführt worden. Von jemandem, der behauptet, ihr genetischer Vater zu sein. Wie ist das möglich? Sie haben mir versichert, die Spende sei anonym und man könne sie nicht auf den Samengeber zurückführen? Sie haben sie doch allein aus diesem Grund aus Zypern kommen lassen.“

„Haben Sie uns zumindest gesagt“, wirft Claudia ein. „Und uns für Ihre Bemühungen eine astronomische Summe abverlangt. Und das, obwohl das Gesetz, nach dem Samenspenden im zentralen Register dokumentiert werden müssen, in Deutschland erst 2018 in Kraft getreten ist.“

Dr. Wonnegrat lächelt gequält. “Ja, das stimmt.“

„Und? Sie kennen den Spender!“ Marlene ist außer sich vor Wut. „Geben Sie’s zu!“

„Ja. Ich kenne ihn. Also, ich kannte ihn. Er musste sich einer Vasektomie unterziehen und wollte sicherstellen, dass er dennoch eine Erbin oder einen Erben hat.“


Die Frauen sind fassungslos. Wonnegrat erklärt, der Mann, ein italienischer Mafiaboss, habe sie unter Druck gesetzt. In der Hand gehabt. Um Leben und Tod sei es damals gegangen. Um ihr Leben oder ihren Tod. Die beiden seien für ihn das ideale Paar gewesen: rechtlich „angreifbar“, ohne einen großen Unterstützerkreis, in einem Umfeld, das juristisch und gesellschaftlich immer noch als „weich“ wahrgenommen wird.

„Finden Sie sich damit ab. Gemima ist längst in Süditalien, und die Adoption war schon in wenigen Stunden unter Dach und Fach. Sie haben keinerlei Rechte mehr an Ihrem Kind. Aber ich verstehe natürlich Ihren Unmut. Ich könnte Ihnen mit einer kostenfreien Samenspende entgegenkommen? Sie sind noch so jung…“

Geistesgegenwärtig verhindert Claudia, dass Marlene der Ärztin den Briefbeschwerer auf dem Schreibtisch ins Gesicht schleudert.

„Entweder Sie bringen uns Gemima zurück, oder Ihr Laden hier fliegt auf. München ist nicht Süditalien. Wenn wir auspacken, sind Sie geliefert. Sie verlieren nicht einfach Ihr Labor und ihre Approbation. Sie landen im Gefängnis. Und zwar für sehr, sehr lange.“

Stille. Schließlich sagt Wonnegrat: „Gut. Ich kann nichts versprechen. Aber ich tue mein Möglichstes.“

„Sie haben 24 Stunden Zeit. Dann gehen wir zur Polizei. Und an die Presse.“

Es ist der 23. Dezember. Ein Tag vor Heiligabend. Marlene und Claudia kauern auf der Wohnzimmercouch. Vor ihnen steht der Weihnachtsbaum. Ungeschmückt. „Unser Ultimatum läuft ab. Ich habe wirklich geglaubt, sie meint es ernst und gibt uns Gemima zurück. Anzeige, Verfahren, schlechte Medienberichte – das ist mir doch alles egal. Ich will nur meine Tochter.“

Es klingelt an der Tür. „Ein Paket für Sie.“ Wie in einem Déjà-vu rennt Marlene die Treppen hinunter, Claudia direkt hinter ihr. Nichts. Auf der untersten Stufe liegt ein roter Umschlag. Claudia reißt ihn auf. Ein Foto, mehr nicht. Eine Frau liegt mit dem Oberkörper auf einem Schreibtisch in einem pastellenen Büro. Überall Blut. Darunter der Aufdruck: Schweigt, oder es geht euch genauso.

Entsetzt gehen die beiden zurück in ihre Wohnung. Es zieht. Der Vorhang des Küchenbalkons flattert im Wind. Auf der Wohnzimmercouch liegt ihre Tochter. Sie schläft.

Am nächsten Morgen wird Gemima sich an nichts erinnern. Und ihre Mütter werden sie nichts fragen.

Und Marlene löscht die Mail, die in ihrem Posteingang war, als sie mit dem Foto in der Hand wieder in die Wohnung kam.

Ich habe Wort gehalten. Ein Neffe unseres gemeinsamen Bekannten schuldete mir noch einen Gefallen. Den habe ich eingelöst. Ich habe mich damit in seine Hände begeben. Ich hoffe, Sie wissen das zu schätzen. Er wird ihre Tochter zurückbringen lassen. Der Verlust des gerade erst wiedergefundenen Kindes wird für den todkranken Onkel so schmerzhaft sein, dass er sich das Leben nimmt. Das ist die Version des Neffen für die Medien. Mehr müssen Sie nicht wissen. So haben alle etwas davon, der Neffe die freie Bahn zur Spitze des Imperiums und Sie ihr Kind. Leben Sie wohl.
Dr. A. Wonnegrat

Nun, der Neffe ist der großen Aufgabe ganz offensichtlich gewachsen. Er geht keine unnötigen Risiken ein. Und er kann ganz sicher sein, dass alle Beteiligten schweigen. Für immer.

MiniKrimi Adventskalender am 20. Dezember


Heute lest ihr einen Auszug aus „Das verschwundene Gemälde“ von meiner Mörderischen Schwester Petra Haghjou. Das ist der zweite Band 2 der Krimi-Reihe „Eine mörderische Reportage“.

Das verschwundene Gemälde


Kurz vor ihrem Ziel zog ein winterliches Gewitter mit Schneegestöber über die Stadt. Fast fegte ein besonders heftiger Windstoß Charlotte von den Beinen, als sie mit Watsamon zur Haustür eilte. Sie ging schneller und stellte sich unter die Überdachung. Der Schlüssel entglitt Watsamons Fingern, die in schlüpfrigen Wollhandschuhen steckten, und fiel klirrend zu Boden. Eilends bückte sie sich und steckte den Schlüssel ins Schloss. Die Tür glitt nach einem kräftigen Stoß auf. Charlotte lief voran in das Hochparterre, den Gang entlang zu Sabrinas Wohnungstür und drückte auf die Klingel. Nichts tat sich. Verdammte Sabrina! Womöglich hatte sie es sich anders überlegt.

»Ich rufe sie an.« Charlotte wählte Sabrinas eingespeicherte Nummer. 
»Pscht!«, zischte Watsamon. »Ich glaube, es läutet unten im Keller.« 

Gedämpft hallte ein fetziger Klingelton durch das Treppenhaus. Sabrina, oder zumindest ihr Telefon, war im Keller. Charlotte hastete den Flur zurück und die Treppen hinunter. Im Halbdunkel erkannte sie eine schwere Tür. Watsamon öffnete sie mit ihrem Schlüssel und betätigte den Lichtschalter. Verstaubte Neonröhren schalteten sich ein, unter denen sich die Überreste von Insekten abhoben. Sie flimmerten altersschwach und spendeten trübes Licht.

»Hier links geht es zu unseren Kellerabteilen und auf der anderen Seite zum Heizungsraum.« Watsamon deutete auf eine zerkratzte Stahltür, die einen Spalt offenstand. 

»Sehen wir zuerst dort nach.« Charlotte drückte mit der Schulter die Tür auf und schlüpfte hindurch. 

Im Heizungsraum war einiges los. Das Gebrodel, das Blinken, die unzähligen Rohre und Lichter erinnerten Charlotte an Versuchslabore durchgeknallter Erfinder in alten Frankenstein-Filmen. Durchgeknallt musste auch derjenige sein, der für das verantwortlich war, was sich ihren Augen bot. Sabrina befand sich in einer halb knienden, halb gebeugten Haltung auf dem Boden neben einem verspinnwebten Hauptrohr. Das Gesicht steckte bis über die Ohren in einem Eimer mit der Aufschrift Gestalten Sie Ihr Zuhause schöner mit Color – Deutschlands beliebter Innenfarbe. Darunter klebte ein Etikett mit Apfelgrün.

»Das ist der Behälter mit meiner neuen Wohnungsfarbe«, rief Watsamon. »Was tut sie bloß darin?«

Charlotte zog scharf die Luft ein. »Sie steckt sicher nicht freiwillig im Farbeimer fest.«

Selbst in dieser unwürdigen Position wirkte Sabrina immer noch äußerst attraktiv – zumindest der sichtbare Teil. Die apfelgrüne Wandfarbe klebte dick und zäh am Hinterkopf, aber die rotgoldenen Locken breiteten sich in ihrer ganzen Pracht über den Rücken aus. Dazu trug Sabrina einen hautengen Minilederrock. Ihr Popo ragte dem Betrachter regelrecht entgegen. Charlotte kniete nieder und hob die lasch herabhängende Hand hoch. Sie klatschte auf den Boden zurück, sobald sie sie losließ. Es half alles nichts. Sie musste sich vergewissern, ob wirklich Sabrina in dem Farbeimer steckte. Beherzt griff Charlotte mit beiden Händen in den Topf, umfasste den Kopf und hob ihn hoch. Die apfelgrüne Farbe floss träge in Rinnsalen das Gesicht herab. Charlotte begann die zähflüssigen Masse wegzukratzen. Vorsichtig zog sie ein freigelegtes Lid hoch und entblößte ein starres lebloses Auge.

Foto (c) Tiziana Viviano

Mehr über die Autorin erfahrt ihr hier: Petra Haghjou – Die Mörderischen Schwestern Bayern

Und auf: 

https://www.instagram.com/petrahaghjou

Petra Haghjou

„Das verschwundene Gemälde“ ist erhältlich bei:…

Amazon.de
Thalia.de
Hugendubel.de
bookbeat.de 
skoobe.de

u.v.m.

MiniKrimi Adventskalender am 18. Dezember


Heute zeigt euch meine Mörderische Schwester Monika Buttler, was es mit der feinen englischen Art auf sich hat… Viel Spaß beim Lesen!

Auf die feine englische Art (Auszug Kurzkrimi)

von Monika Buttler

Als es passierte, an einem dieser englischen Tee-Nachmittage im Hotel „Vier Jahreszeiten“, da war ich ja nur Publikum. Was heißt ‚nur’ – geborgen im braunen Rund eines Chippendale-Chairs, hatte ich den besten Logenplatz meines nun 70-jährigen Lebens inne. Es war Adventszeit. Draußen, hinter den Scheiben, lag das Nachtgemälde der Alster, leuchtend im Schein einer Riesentanne, im schwarzen Himmel glühten Reklame-Sterne. 

Drinnen, in der Heimeligkeit roten Plüschs, dunklen Leders und dämpfender Teppiche beugte ich mich über das viktorianische Service und schenkte mir meinen „Classic English Tea“ ein. Kräftig aromatisch, aus Assam, Ceylon und Kenia, dazu ein wenig Sahne aus dem Kännchen, so wie es beim Afternoon-Tea nun mal dazugehört. Wohlig wälzte ich den Schluck im Mund und wartete. Worauf? Darauf, dass sich der Vorhang hob. Der unsichtbare Vorhang für eine Salonkomödie. Noch besser wäre natürlich eine Tragödie, denn meine reizarme Solo-Existenz brauchte dringend eine Auffrischung. Warum gönnte ich mir denn so oft diese kostspielige Tea-time mit Sandwiches, Scones, Clotted Cream and so on? Eben. Bestimmt nicht nur, weil ich mal Oberstudienrätin für Englisch war.Ich durchwitterte die Atmosphäre. Nein, das Licht des Kronleuchters flackerte nicht; der hanseatische Ratsherr im Goldrahmen blickte nicht düsterer als sonst, am Piano perlte wie immer Gershwin. So schaute ich wieder zu der silbernen Etagere auf meinem Tisch, von der mich Pikantes und Süßes verlockend anlachte. Gerade hatte ich mir ein Gurken-Sandwich auf den Teller bugsiert, als es im Tee-Salon plötzlich still wurde. Ein Auftritt! Und was für einer! Unser makel- und zeitloser Empfangschef geleitete eine Königin durch den Raum. Ja, die Samtkappe auf dem welligen Blondhaar musste eine Krone sein, denn die Dame ging nicht – sie schritt. Schwarz und samten auch das Kleid mit Spitzeneinsatz, weihnachtlich überglänzt von Juwelen. ‚Juwelen’, das klingt altmodisch, aber Diamanten und Brillanten konnte ich leider noch nie unterscheiden. An einem Vierer-Tisch, für mich in bester Bühnensicht, rückte ihr unser Empfangschef das Sesselchen zurecht.

Ich ließ mein Gurken-Sandwich ruhen und betrachtete sie. Diskret natürlich. Ein Gesicht, zart wie ein verblasster, alter Brief. Fünfzig plus sagt man heute, aber ich nenne es inbetween. Zwischen den Altern. Schon irreparabel verblüht, aber noch hungrige Hoffnung in den Augen. Das hatte ich zum Glück hinter mir. Ich schielte nicht zu Männern, sondern zu den aufgeschichteten Delikatess-Schnittchen.Ein Kellner brachte der Dame den dunklen Holzkasten. Zwölf Sorten Tee unter Glas – die „Speisekarte“. Sie tippte mit reich beringter Hand nach oben, offenbar mochte auch sie die „Classic“-Variante. Wenig später standen Stövchen, Kanne und Etagere auf ihrem Tisch. Sie hob die Tasse, und ich fing ihren Blick. Lebenshunger? Nein, ich musste mich geirrt haben, ihr Kleiderglanz war eine Täuschung. Bestürzend nackt erschien mir dieser Blick, wie preisgegeben, als könne sie nichts mehr verletzen. Jetzt schloss sie die Augen, schmeckte lange, lange den Tee. Nein, nicht genussvoll, sondern eher so, als schmecke sie ihn das letzte Mal. Schlucke des Abschiednehmens? Sie hielt sich gerade, aber ihre Geste war müde, als sie sich nun ein Sandwich nahm. Eine Einsame, dachte ich, Miss Einsamkeit persönlich. Ich würde sie Blanche nennen, so wie die Südstaaten-Schönheit in dem Drama von Tennessee Williams.

Ich hatte sie inzwischen mit einem Krabben-Sandwich überholt. Was feierte diese aufpolierte Lady da mit sich selbst? Ich wollte meine Neugier schon im Tee ertränken, als mich weitere Geschehnisse wieder aufstörten. Die Elegische hatte eine feinrandige Brille aufgesetzt und las, wiederkehrend wie bei einem Rosenkranz, die wenigen, auf einen fliederfarbenen Bogen geschriebenen Briefzeilen. Endlich steckte sie den Umschlag zurück in ihre Krokotasche. 

Das Ritual ihrer festlichen Teestunde hatte plötzlich einen Riss bekommen, sie rührte nichts mehr an. Ich dagegen war schon bei der mittleren Ess-Etage angelangt und holte mir Trüffel, kleine Windbeutel und Baisers auf den Teller. Ich kaute und wartete. Wartete mit Blanche, deren Blick zwischen Armbanduhr und Eingang pendelte. 

Der Kurzkrimi ist erschienen in:

Monika Buttler: Manchmal nützt nur Mord. Kriminalgeschichten de luxe. elbaol verlag hamburg, ISBN 978-3-384-32134-3, 174 Seiten, 13 Euro.

Dazu gibt es einen Ergänzungsband:

Monika Buttler: Tödliche Taten. Mehr Kriminalgeschichten de luxe. elbaol verlag hamburg, ISBN 978-3-384-31741-4, 194 Seiten, 14 Euro. 

Erhältlich im Buchhandel

www.monikabuttler.de

MiniKrimi Adventskalender am 16. Dezember


Jetzt hat es beinahe nicht rechtzeitig geklappt mit dem Türchen-Öffner. Mein Internet hat sich verabschiedet. Aber zum Glück habe ich noch einen Hot Spot im Ärmel. Also Daumen drücken, dass der bis 18 Uhr durchhält. Hier die Infos zum Krimi meiner lieben bayerischen Mörderischen Schwester Monika Nebl.

Mords-Engerl: Krimi-Minnies sechster Fall

Der Fall: Taschendiebe auf dem Wasserburger Christkindlmarkt, viel Blut in einem Parkhaus und ein schlimmer Fund auf der Kapuzinerinsel. Der neue Fall geht Minnie ans Herz und an die Nieren.

Im sechsten Band der humorvollen Reihe schlägt sich die töpfernde Hobbydetektivin und Autorin nicht nur in ihrem Plätzchenstand mit viel zu viel Geglitzer und Jingle Bells herum, zudem schmuggelt sich ein kleiner Engel in ihr Herz. Und wie soll sie Weihnachten genießen, wenn auch noch um den Christbaum gestritten wird?

Aus dem Kapitel „Spaziergang mit Schuss“ Hobbyermittlerin Minnie und ihr Freund Alex haben im Wasserburger Parkhaus Schüsse gehört und Verdächtige fliehen gesehen. Nun erscheinen die Polizeikollegen Gerhard und Sigi, die sich nicht mehr wundern, dass die Krimi-Minnie mal wieder vor Ort ist.

Der dunkle Fleck, den wir vorhin direkt hinter der Ausfahrkurve im Parkhaus bemerkt haben, ist natürlich Blut. Viel Blut! Dem Gerhard sind bei der Menge die üblichen Witze zu meinem unpassenden Auftauchen wohl im Hals steckengeblieben. Er schüttelt fassungslos den Kopf, während Sigi mit der Spurensicherung telefoniert.

»Kein Verletzter am Tatort. Mei, weit kann der ned kommen, mit dem Blutverlust.«

Er schaut mich nachdenklich an und nickt. »Wir haben Zeugen hier. Ja, bis gleich.«

Nun staubt er die Schaulustigen zurück und fertigt die anderen rigoros ab.

»Lasst euch abholen, an euer Auto könnt ihr aktuell ned ran. Außerdem wollt ihr doch ned durch das ganze Blut fahren, oder?«

Mit feinfühligen Zwischentönen hat es der Sigi nicht, da ist ja der Gerhard empathischer. Der nimmt mich jetzt ins Visier.

»Minnie, das kann ned wahr sein«, sagt er ein bisschen schwach für seine Verhältnisse. Ich sehe keinen Sinn darin, mich zu entschuldigen, nur weil ich – mal wieder – zur richtigen Zeit am falschen oder richtigen Ort war.

»Wir waren spazieren, haben den Schuss gehört und den Schrei einer Frau. Dann haben wir euch angerufen. Als sie noch mal geschrien hat, mussten wir doch nachsehen, ob wir helfen können.«

Nun stehen Gerhard und Sigi neben uns und nicken.

»Verständlich, trotzdem gefährlich«, meint der Sigi, dem man selten irgendeine Regung ansieht. Ich spähe an den Männern vorbei. So viel Blut! Aber nicht von der geflohenen Frau, da bin ich mir sicher. So kampfbereit und schnell verschwunden, wie sie war, würde ich sie nicht als schwer verletzt einschätzen.

Während Alex versucht, sie zu beschreiben – schwierig, denn außer Mütze, Augen und Blut gibt es da nichts –, und den zweiten Flüchtenden erwähnt, sehe ich in der Blutlache etwas schimmern.

»Da drüben liegt eine Patronenhülse.«

Sigi geht bis ans Absperrband ran. »Scharfe Augen, Minnie. Die kann sich die SpuSi dann aus der Lackn fischen.«

»Also ein Schütze, der ganz nah am Opfer stand?«, ist meine Folgerung. Schlagartig beginne ich zu zittern. Wenn ich mir das vorstelle!

»Wie wütend oder abgebrüht muss man sein, dass man aus einer solchen Nähe schießt?«, frage ich zähneklappernd in die Runde.

»Ziemlich, würd’ ich sagen«, ist Sigis nüchterne Erwiderung. »Ihr meint, die Frau war eher ned verletzt, und der andere ist zackig davon? Also wird es der Dritte gewesen sein, den die beiden Männer aus dem Queens gesehen haben, der viel Blut verloren hat.«

Alex und ich nicken. Meine Füße sind auf dem kalten Betonboden mittlerweile zu Eis erstarrt. Trotzdem tun sie weh. Gerhard bittet nochmals über Funk um eine Suchmannschaft. Für die Flüchtigen und vor allem für den »mutmaßlich« Schwerverwundeten. Die Antwort lautet, dass die Rosenheimer Kollegen gleich da sein müssten.

Als mein Zähneklappern im Parkhaus zu hallen beginnt, grinst der Sigi glatt, was mich aufrüttelt.

»Ja, dann gehen wir mal heim in die heiße Badewanne und zum Tee. Ich drück’ euch die Daumen«, grantele ich vor mich hin. Das Klack-klack erzeugt aber offensichtlich mehr Mitleid und Besorgnis als Neid.

»Ja, geht’s heim, Minnie. Bevor’s nächste Woche im Standerl keine Platzerl gibt«, Gerhards größte Sorge gilt wie immer dem Essen.

»Oder dich einer mit deinen rotnasigen Töpfertieren verwechselt«, witzelt der Sigi mit todernster Miene.

Sehr witzig. Leider sind Kiefer und Hirn gefroren, weswegen ich keine passende Antwort artikulieren kann.

In der Badewanne grummle ich wieder aufgetaut vor mich hin. „Du kriegst spezielle Platzerl von mir, Sigi. Da wirst schauen, wie rot die Augen werden, wenn ein bisserl Chilipulver im Teig verbaut und mit Lebensmittelfarbe getarnt ist!“

***

Natürlich bin ich dafür zu gutmütig, aber der Sigi zuckt tatsächlich mal mit der Wimper, als ich ihm ein paar Tage später eine Plätzchentüte vorbeibringe.

»Extra für dich, Sigi, für dein Einfühlungsvermögen. Lass es dir schmecken«, säusle ich auffällig süß. Was sein Misstrauen weckt.

»Äh, ich darf ned, wegen dem Zucker.«

»Ist gar ned so viel drin, ich habe mir etwas Neues einfallen lassen«, erwidere ich mit emporzuckenden Augenbrauen. Daraufhin reicht er die Tüte eilig an Gerhard weiter, der seine bereits nach Sekunden vernichtet hatte. Bevor ein Kollege reinkommt und was abhaben will.

Verlegen stottert der Sigi, der etwa Schrankgröße und -breite besitzt, mit roten Ohren: »Das blockiert meinen Muskelaufbau, der Gerhard legt da ned so viel Wert drauf wie ich. Aber vielen Dank, Minnie, das ist sehr nett von dir.«

Sei es, dass Gerhard mich besser einschätzen kann und darauf vertraut, dass ich Sigi nichts Böses will. Oder er hat einfach den üblichen Riesenhunger und geht daher das Risiko gern ein. Ich tippe auf Letzteres. Er verspeist den Tüteninhalt am Stück, grinsend, während Sigis Gschau immer düsterer wird.

»Ja, es freut mich, dass es dir schmeckt, Gerhard. Ich wünsch’ euch einen schönen Tag«, flöte ich und verlasse die Inspektion.

Fotos:

Autorenfoto: Fotoatelier G. Nebl

Cover: Bildnachweis: © stock.adobe.com: Jenny Sturm, John Cater und Roman Samokhin / © macrovector auf Freepik / © Fotoatelier G. Neb

Mehr zum Text:

Webseite: https://www.monika-nebl.de/humorkrimis

Erhältlich als Taschenbuch (978-3969667354) bei allen Buchhandlungen für 12,50 €, auch online, E-Book (Asin B0CFMWGY6X) bei Amazon und anderen.

MiniKrimi Adventskalender am 15. Dezember


Hochmut kommt vor dem Fall, heißt es. Meine Co-Autorin Lydia H. erklärt euch heute, warum…. Viel Spaß beim Lesen!

Let it snow

Katja

Katja, eine mehr schlecht als recht erfolgreiche bildende Künstlerin, hatte vor 6 Monaten eines der Ein-Zimmer-Appartements in der Minervastraße ergattert. Diese kleinen Wohnungen dienten meist gut betuchten Münchnern als Kapitalanlage. Manchmal bewohnte auch der eigene Nachwuchs nach dem Auszug aus der elterlichen Villa am Münchner Stadtrand eine der kleinen Wohnungen, als erster und wohlbehüteter Schritt in ein eigenständiges Leben. So waren die Sprösslinge auch während des Studiums noch unter elterlicher Beobachtung. Katja war dank ihrer Bekanntschaft mit Cosima zu einer der begehrten Wohnungen gekommen. Cosima, eine Kommilitonin an der Akademie der bildenden Künste in München, verbrachte gerade 2 Semester in Paris. Ein wahrer Glücksfall für Katja, die ohnehin nicht vorhatte, im Freistaat Wurzeln zu schlagen, sondern ihr Studium in Barcelona beenden wollte.

Daniela

Als Mitglieder der Düsseldorfer Haute Volée bewohnte das Ehepaar Hochmut nach dem Umzug in die bayerische Metropole natürlich eine der standesgemäßen Dachgeschosswohnungen in der Minerva-Siedlung.  Daniela Hochmut, eine elegante Erscheinung um die 40, und Ihr Mann Detlef, 53 und erfolgreicher Geschäftsmann aus dem Finanzsektor, hatten die Wohnung vor einem Jahr gekauft, wobei der Umzug nach München nicht ganz freiwillig gewesen. Mit seinem skrupellosen Geschäftsgebaren hatte sich Detlef in Düsseldorf und Umgebung nämlich nicht nur Freunde gemacht, vorsichtig ausgedrückt. Die Investitionen in seinen selbst kreierten Krypto Coin, zu denen er gefühlt Halb Düsseldorf verführt hatte, entpuppten sich nämlich als Totalverlust für die Anleger. Nur für die Anleger natürlich, denn das Ganze war von vornherein als Schneeballsystem gedacht gewesen.  Das Geld hatte Detlef schon längst in die Schweiz transferiert und in ihre neue Bleibe in der Minervastraße investiert. Nachdem das Hochmutsche Anwesen in Düsseldorf mit Farbe beschmiert und sogar die Reifen von Olafs Hummer zerstochen worden waren, stand fest, dass der Zeitpunkt für eine geographische Veränderung gekommen war.

Daniela allerdings war von dem notwendig gewordenen Umzug nicht begeistert gewesen.  Ihr fehlte die illustre Düsseldorfer Gesellschaft. Die ausgedehnten Shoppingtouren an der Königsallee, die Vernissagen, die Prosecco-geschwängerten Treffen mit ihren reichen Freundinnen. München dagegen konnte Daniela, die als repräsentative Ehefrau eines erfolgreichen Geschäftsmannes nicht erwerbstätig sein musste, nicht zufriedenstellen. Zu anders war die sogenannte Münchener Schickeria. Bunt, immer etwas schrill und meistens damit beschäftigt, sich selbst zu feiern, war sie das genaue Gegenteil der auf die strikte Einhaltung gesellschaftlicher Konventionen bedachten Düsseldorfer Haute Volée. In der Münchener Schickeria fanden allerlei „seltsame“ Gestalten eine Heimat. Schauspieler und solche, die sich dafür hielten, Transvestiten, Künstler aller Art und jede Menge Selbstdarsteller, alle vereint durch ein „Mir san mir“-Gefühl, an dem Daniela als „Zugroaste“ nicht teilhaben konnte.

Sogar ihre Nachbarschaft in der Minervastraße war vor solchen Gestalten nicht sicher. Direkt unter ihnen war jetzt ein derartiges Geschöpf eingezogen. Ärmlich gekleidet, meistens mit Farbe bekleckert, wohl eine brotlose Künstlerin. Besonders unangenehm war allerdings die Art, wie die Kleine Detlef im Hausflur anstarrte. Bei ihrer ersten Begegnung im marmornen Treppenhaus der Minervastraße war sie förmlich zur Salzsäule geworden und hatte ihn nur unverwandt angesehen. Natürlich war ihr Mann ein gut erhaltener und sehr gepflegter Vertreter seines Geschlechts, und Daniela war die bewundernden Blicke der Damenwelt durchaus gewohnt. Sie erfüllten sie sogar mit einem gewissen Stolz. Aber für dieses junge Ding war Detlef doch sichtlich zu alt. Und noch dazu in der falschen Liga.

Katja

Als Katja Herrn Hochmut zum ersten Mal in der Minervastraße sah, erkannte sie ihn sofort. Immerhin war er der Grund gewesen, warum sie nach dem Tod ihrer Eltern ihre Heimatstadt Düsseldorf verlassen hatte. Genauer gesagt, war er auch der Grund für den gemeinsamen Selbstmord ihrer Eltern gewesen. Nachdem die beiden, leidenschaftliche Wirtsleute und Inhaber einer gutgehenden Kneipe in der Düsseldorfer Altstadt, ihre gesamte Altersvorsorge in den hochgelobten  Krypto Coin des Betrügers investiert hatten, schien ein Jahr lang alles gut zu laufen. Die garantierte Rendite von 25 Prozent war sensationell und wurde in den ersten 5 Monaten auch pünktlich ausgezahlt. Katja Eltern waren von ihrem Investment so begeistert gewesen, dass sie mehrere enge Freunde von dem Krypto Coin überzeugt hatten. Doch dann folgte das böse Erwachen. Zunächst kamen die Renditeauszahlungen nur noch sporadisch, dann gar nicht mehr. Was Katjas Eltern besonders zu schaffen gemacht hatte, waren die Vorwürfe ihrer Freunde, welche sie zu der Investition in den Coin überredet hatten. Irgendwann hielten sie dem Druck von allen Seiten nicht mehr stand und beendeten ihr Leben mit einer Überdosis Schlafmittel. Den Prozess gegen Herrn Hochmut erlebten die beiden nicht mehr.  Katja dagegen schon. Er endete für Detlef Hochmut mit einem Freispruch mangels Beweisen für eine Betrugsabsicht. In dubio pro reo. In der Hoffnung, der Vergangenheit zu entfliehen, verließ Katja Düsseldorf kurz darauf in Richtung München.

Und nun das. Anstatt diese ganze ungerechte Tragödie hinter sich gelassen zu haben, würde sie nun fast täglich mit dem Verursacher konfrontiert sein. Ein unhaltbar Zustand. Gerade jetzt zur Weihnachtszeit vermisste Katja ihre Eltern besonders schmerzlich. In diesem Jahr sollte es nach Auskunft des Wetterberichtes sogar eine weiße Weihnacht geben.  Wie im Märchen. In Düsseldorf kamen weiße Weihnachten statistisch gesehen nur alle 20,4 Jahre vor. Überhaupt schneite es in Nordrhein-Westfalen so gut wie nie, und Katja, die die kalte Jahreszeit schon immer geliebt hatte, war nicht zuletzt wegen des Winterwetters nach München gezogen. Wie sehr hatte sie sich auf schneebedeckte Bäume und Eiszapfen an den Dächern gefreut. Stattdessen würde sie nun auf ihrem Futon hocken und Rachepläne schmieden.

Moritz

Auch Moritz, der Sohn von Albrecht und Martina Müller, studierte in diesen Tagen oft die Münchner Wetterkarte. In der Mittagspause stand er mal wieder vor dem elterlichen KFZ-Betrieb am Düsseldorfer Stadtrand, blickte versonnen in den Himmel und summte das Weihnachtslied „Let it snow“. Den Betrieb hatte Moritz, der eigentlich Maschinenbau studiert hatte, in diesem Jahr von heute auf morgen übernehmen müssen. Auch seine Eltern hatten ihre Altersvorsorge in den Krypto Coin von Detlef Hochmut investiert und einen Totalverlust erlitten. Nach dem skandalösen Ende des Prozesses vor dem Düsseldorfer Landgericht hatte Moritz Vater einen tödlichen Herzinfarkt erlitten. So stand Moritz nun tagein tagaus in der väterlichen Werkstatt. Wie das Leben so spielt.

Kurz nach dem Prozess hatte die Rheinische Post über den Fall geschrieben und erwähnt, dass der von allen Vorwürfen freigesprochene Angeklagte Hochmut seinen Wohnsitz nach München verlegen wollte, um den Schikanen der zu Unrecht erbosten Anleger zu entfliehen.  Wie der Zufall es wollte, war am selben Tag ebendieser Herr Hochmut in Moritz Werkstatt gekommen, um noch vor seinem Umzug nach München winterfeste Reifen aufzuziehen. Man wusste ja, in München wehte wettermäßig ein anderer Wind, schwadronierte er selbstgefällig, und da wolle er lieber schon gut ausgestattet ankommen. Es war eine ganz spontane Idee von Moritz gewesen, anstellte der Winterreifen Sommerräder auf den teuren Geländewagen zu montieren.

Der erste Schnee fiel heuer in München und den Bergen früh und reichlich. Sehr zum Gefallen des Ehepaares Hochmut. Hatten sie sich doch eine sündhaft teure Skiausrüstung zugelegt und brannten darauf, sie bei einem eleganten Einkehrschwung in Elmau zu präsentieren. Sogar Daniela war von der Idee begeistert gewesen. Leider wurde schon die erste Kehre den Hochmuts zum Verhängnis. Der schwere Geländewagen schlitterte über den Straßenrand, riss die Leitplanke mit, überschlug sich mehrmals und stürzte in die Tiefe. Die Flachlandtiroler wieder, hieß es bei der herbeigerufenen Bergwacht in Garmisch-Partenkirchen nur lapidar.   

Hochmut komm vor dem Fall.

MiniKrimi Adventskalender am 14. Dezember


Heute tretet ihr durch das Türchen mitten hinein in das bunte – und zuweilen auch tödliche – Leben im Schrebergarten meiner lieben Mörderischen Schwester Martina Pahr. Absolut lesenswert und vielleicht ja noch ein Last-Minute-Geschenk?

Nur die Wühlmaus war Zeuge (Kapitel 18: Valentina bei Wiggerls Nachbarn)

Ich amüsierte mich, wenn ich im Ausland bestätigt bekam, dass man andernorts ganz Deutschland auf sein Bundesland Bayern reduzierte und bei der Nennung von München sofort das Oktoberfest erwähnte. »Beer Festival!«, sagen sie lachend von Auckland bis Alaska, von Skandinavien bis Südafrika und von Myanmar bis Mexiko. Als Wahlmünchnerin schwanke ich dann immer zwischen Stolz und Scham. Freut man sich darüber, überall auf der Welt mit Betrunkenen in Tracht assoziiert zu werden, die sich vor laufenden Fernsehkameras einnässen und übergeben? 

»Saufen und fressen, pissen und kotzen«, hatte mein Ex immer unvergleichlich charmant gesagt, wenn die Rede auf das traditionelle Fest im Herbst kam, das er inzwischen durch die gewiss gepflegteren Weinverkostungen in den Burgenländer Buschenschanken ersetzt hatte. 

Aber ich lasse es mir nicht nehmen: München ist eine rundum schöne Stadt. Sie hat die meisten der Vorurteile nicht verdient, die ihr die Auswärtigen entgegenbringen: dass sie Schickeria ist und die Leute von oben herab, dass alle CSU wählen, Bier trinken und jeden Sonntag in Lederhose und Dirndl mit dem Cabrio zur Kirche fahren. Sicher ist die Cabrio-Dichte hier höher als anderswo, und sicher zeigen viele nur allzu gern das Geld her, das sie bei BMW, Siemens oder der Allianz verdienen. 

Aber das wahre München, das besteht nicht nur aus Weißwürsten und Zwiebeltürmen. Das sind die Parktickets, die man überall zuverlässig nach nur einer Viertelstunde in der zweiten Reihe bekommt; das sind die Wohnungen, deren Mieten Geringverdienende nicht bezahlen können; das sind die Staus auf dem Mittleren Ring nicht nur zu Stoßzeiten; das sind die herzlichen Menschen, die gern lachen und gern essen; das sind die lauen Sommerabende, an denen man draußen vor den Bars und Cafés oder gleich in den Biergärten sitzt und das Dolce Vita in der »nördlichsten Stadt Italiens« genießt – und das sind nicht zuletzt die gesalzenen Preise, die man für diesen ganzen Genuss bezahlt. 

Am Morgen nach dem Schlüsselfund radelte ich zu Wiggerls Wohnung im Westen Schwabings, dem Ort, wo er seine Winter verbracht hatte. Wirklich gelebt hatte er ja das restliche Jahr über im Garten. Es war nicht weit, und ich liebe die Stadtvormittage im Frühling und Sommer, wenn sich die Tage frisch und verheißungsvoll präsentieren. Früh am Morgen glaubt man noch, es könne einem nichts Schlimmeres passieren, als dass man eine Breze erwischt, die nicht resch, sondern letschert ist. 

Bei dem Gebäude, in dem sich die Wohnung befand, handelte es sich um ein typisches Mehrparteienhaus, nicht schäbig, aber längst nicht nobel, an einer befahrenen Straße gelegen und weit davon entfernt, jene Anonymität zu garantieren, die man in einer soliden Großstadt erwarten würde. Davon halten wir in München nicht allzu viel. Und tatsächlich: Als ich drinnen vor der Wohnungstür stand, die mit einem Polizeiaufkleber versiegelt war, und über das weitere Vorgehen grübelte, steckte der Nachbar von nebenan die Nase aus seiner Tür. 

»Sind Sie eine Verwandte vom Herrn Wetzstein?« 

Fragen immer mit Gegenfragen kontern, hatte mir Friedl eingeschärft. Und die Medienanwältin meines Vertrauens hatte geraten, unverfänglich zu bleiben und keine konkreten Statements abzugeben, die später gegen mich verwendet werden könnten. 

»Vielleicht können Sie mir ja sagen, wo er steckt?«, fragte ich deshalb. »Kennen Sie ihn denn gut? Und warum ist seine Wohnung versiegelt?« Ich war ja wohl in Topform! 

Der Nachbar, ein Herr Metzger, wie sein Türschild verriet, murmelte ein paarmal: »Schlimm, ganz schlimm.« Dann bat er mich auf einen Kaffee in seine Wohnung. 

Als er mir zu dem starken Gebräu nicht nur Waffelröllchen, sondern auch einen vormittäglichen Eierlikör reichte, war mir klar, dass er mir die Nachricht vom Tode meines vermeintlichen Verwandten schonend beibringen wollte. Eine Aufgabe, mit der er vollkommen überfordert schien. »Meine Frau ist beim Arzt, so ein Jammer. Hoffentlich kommt sie bald.« 

Ich beschloss, ihm ein wenig die Hand zu reichen. »Nur freiheraus, lieber Herr Metzger. Telefonisch ist Ludwig nicht zu erreichen, und jetzt klebt ein Polizeisiegel an der Tür. Ich kann mir schon denken, dass da etwas passiert ist.« 

Einen Augenblick lang starrte mich Herr Metzger fassungslos an, dann griff er nach dem Gläschen Likör, das er mir hingestellt hatte, und trank es auf ex. Was bei einer dickflüssigen Masse wie einem Advocaat eine wenig elegante Angelegenheit ist. Dann berichtete er in wenigen ungelenken Sätzen, dass vor Kurzem die Polizei vor der Tür gestanden sei und ihm mitgeteilt habe, dass der freundliche Herr Wetzstein von nebenan tot in seinem Garten aufgefunden worden sei. 

»Tot?«, markierte ich die Überraschte. »Woran ist er denn gestorben? Ein Herzinfarkt?« 

»Jede Menge Fragen haben die gestellt, das können Sie sich nicht vorstellen«, wich Herr Metzger meiner Frage aus. »Wissen Sie, wenn man jahrelang Wand an Wand lebt, nimmt es einen schon mit, wenn man auf einmal mit einer solchen Nachricht konfrontiert wird. Ich werde Ihnen die Nummer des zuständigen Polizeibeamten geben.« 

Demnach war den Metzgers nicht aufgefallen, dass die Wohnung neben ihnen bereits seit eineinhalb Jahren leer stand. Herr Metzger stand auf und kramte in der Kommode in der Diele, dann kam er mit einer Visitenkarte zurück, die er neben meine Kaffeetasse legte. 

»Den Sommer über hat man ihn eh nie zu Gesicht bekommen, da war er in seinem Garten«, fuhr er fort. »Aber ich weiß noch, dass ich schon im vorletzten Winter zu meiner Frau gesagt habe, dass man vom Herrn Wetzstein gar nichts mehr sieht und hört. Aber die hat dann gemeint, dass sie ihn erst kürzlich gesehen hat.« 

Ich horchte auf. In diesem Augenblick, wie aufs Stichwort, kam Frau Metzger nach Hause. 

Doch, den Herrn Wetzstein habe sie Anfang des letzten Jahres noch gesehen. Da habe es recht spät im Frühjahr einen kurzen Kälteeinbruch mit Schnee gegeben, daran erinnere sie sich genau. Und einen Witz habe sie gemacht, über die schwarze Maske, die er getragen habe. Corona schön und gut, aber schwarz? 

»›Ist denn jemand gestorben?‹, hab ich ihn noch gefragt.« 

Ja, es war jemand gestorben. Und derjenige, der sich hinter der Maske verborgen hatte, hatte ihn höchstwahrscheinlich auf dem Gewissen. Das sollte Frau Metzger, die gute Haut, aber nicht erfahren. Ich lächelte freundlich und fragte: »Was hat er denn darauf gesagt?« 

»Nichts, nur gelacht hat er«, sagte Frau Metzger. »Hatte tüchtig zugelegt über den Winter, das ist mir aufgefallen.« Sie wiederholte: »Eine schwarze Maske, stellen Sie sich das vor. Und Kapuze und Schal, regelrecht vermummt ist er gewesen. Der Polizei hab ich es auch erzählt. Da hat er noch gelebt, hab ich gesagt.« 

»Werden Sie alles erben?«, erkundigte sich ihr Mann. 

Und Frau Metzger fragte fast zeitgleich: »Ziehen Sie jetzt hier ein? Das würde uns freuen. Wir wussten ja gar nicht, dass er Familie hat.« 

»Die Leute sterben wie die Fliegen«, sagte Herr Metzger. »Da dachte man, Corona würde die Alten niederstrecken, aber die Nachbarin von unten ist in ihrer Wohnung gestürzt und der Wetzstein in seinem Garten.«

Und seine Frau bohrte nach: »Sind Sie die Tochter?« 

Ich parierte mit einer Gegenfrage. »Warum fragen Sie?« Was Besseres fiel mir nicht ein. 

»Na, so was interessiert einen doch! Bisher sind ja noch nie Angehörige aufgetaucht.« 

»Zu den Kindern von Ludwig habe ich gar keinen Kontakt.« 

»Und in welchem Verhältnis stehen Sie zu ihm?« Frau Metzger ließ nicht locker. 

Es wurde knifflig. Doch dann erinnerte ich mich an die alten Familiengeschichten meiner Mutter. Wohlgemerkt: nicht nur Geschichten unserer Familie, sondern sämtlicher Familien, von denen sie je erfahren hatte und deren Historie sie in irgendeiner Form bemerkenswert fand. Ich pfiff auf die Empfehlungen von Friedl und der Lerche und legte los: »Ludwig ist gar nicht mein richtiger Onkel, sondern der Adoptivbruder von einer Tante, Tante Helene. Und Tante Helene ihrerseits ist nicht blutsverwandt, sondern hat in unsere Familie eingeheiratet, nämlich den Schwager meines richtigen Onkels, also des Bruders meiner Mutter.« 

Herr Metzger sah beunruhigt aus. Seine Frau dagegen war auf der Höhe der verwandtschaftlichen Verhältnisse und erklärte ihm: »Der, den sie geheiratet hat, das ist der Bruder der Frau des Bruders ihrer Mutter.« 

»Die Frau des Bruders, also die Schwägerin meiner Mutter, heißt übrigens auch Helene«, fuhr ich gnadenlos fort. »Das hat bei uns in der Familie immer für Verwirrung gesorgt, zwei Schwägerinnen mit demselben Namen, das geht ja gar nicht. Also hat man zur Schwägerin meiner Mutter immer Neni gesagt und zur anderen Helen.«

»Das ist ja auch irgendwie ungeschickt, dass keine der beiden Frauen ihren richtigen Namen benutzen konnte, wenn man’s recht betrachtet«, mischte sich Herr Metzger ein, und ich nickte eifrig. 

»Helen ist blutjung in den Norden gezogen, Ludwig derweil in München geblieben. Die beiden haben zeitweise völlig den Kontakt zueinander verloren. Da war nämlich Eifersucht im Spiel, glaube ich. Ludwig war zwar immer sehr verträglich, aber mit dem Mann von Helen hat er ums Verrecken nicht gekonnt.« 

Ich holte tief Luft. Die Blicke der Metzgers waren teils aufmerksam, teils überfordert. Das reichte, um voller Elan fortzufahren: »Möglicherweise hatte Ludwig ja selbst ein Auge 

auf Helen geworfen, aber das hat er dann unterdrücken müssen, weil sie ja seine Adoptivschwester war. Und das könnte der Grund dafür gewesen sein, weshalb er Onkel Heinrich, den Mann von Helen, nicht leiden mochte. Jedenfalls war der Kontakt völlig eingeschlafen, bis dann Onkel Heinrich vor wenigen Monaten gestorben ist. An Krebs.« 

Das Ehepaar Metzger gab Laute der Anteilnahme von sich. 

»Und deshalb habe ich keinen Kontakt zu den Kindern, ja ich weiß nicht einmal, ob Ludwig überhaupt welche hatte. Ich war gerade in der Gegend und wollte ihn besuchen.« 

Die Metzgers ließen mich gern und in Frieden ziehen. Sie wagten es offensichtlich nicht, mir weitere Fragen zu stellen. 

Fotos:

Im Anhang – Bildrechte Cover emons Verlag, Bildrechte Autorin Marion Vogel

Hier geht#s zu Martinas Webseite: www.martinapahr.de

Das Buch ist erhältlich im gutsortierten Buchhandel oder direkt bei der Autorin (mit SIgnatur!) über  info@martinapahr.de.

MiniKrimi Adventskalender am 13. Dezember


Heute gibt’s was für die Hundebubble! Da Bruna, Pepita und Giove, meine drei Hunde, auf Instagram kürzlich die 2000 Follower-Marke geknackt haben, hier was für all ihre zwei und vierbeinigen Freundinnen und Freunde. Aber ich hoffe, auch ihr anderen habt etwas Spaß und seht es meinem Zwergdackel nach, dass sie beim Erzählen immer mal auf eine andere Spur gerät.

Pepita Holmes oder die ersten Karafghanen

Mein Name ist Pepita. Ich bin zwar in Frankreich geboren, lebe aber schon seit meinem 2. Lebensmonat in der Minervastraße. Das ist an sich eine schöne Gegend. Viele Büsche direkt vor der Tür, ideal für das schnelle „Bieseln“, und nach einem kurzen Stück durch die Siedlung kommt man an einen kleinen See. Kein Badesee, an dem Hunde von Mai bis September verboten sind – als würden wir nicht genauso gerne schwimmen wie die Menschen, also die meisten von uns und die meisten von denen. Gut, im Sommer wird der Steg hartnäckig von ein paar „Gottesanbeterinnen“, wie, Chris, meine Besitzerin, sie nennt, belagert. Ich habe mich bei Emma Peel, der klugen Dobermannhündin in der Agentur zweites Glück, informiert. Gottesanbeterinnen sind Insekten. Auf dem Steg jedoch liegen Frauen zwischen 30 und 50. Eindeutig keine Fangschnecken, was sie der Ordnung nach wären. Oder doch? Chris hat eine scharfe Zunge, im übertragenen Sinn, und vielleicht besteht die Ähnlichkeit in ihren Augen darin, dass besagte Frauen ihre bräunenden Gliedmaßen so lange männlichen Seebesuchern entgegenrecken, bis einer sie vom Steg pickt und auf den mäandernden Wegen der Siedlung zum Traualtar führt.  

Aber ich schweife ab. Was nichts damit zu tun hat, dass ich mir immer einen schönen, fedrigen Schweif gewünscht habe. Wie den von Soraya, der wundervollen Afghanin – ich meine die Rasse, ihr wisst schon, die, denen manche Besitzer immer einen Schal um die Ohren wickeln, mit dem sie aussehen wie Witwe Bolte. Kennt ihr die? Die ist aus dem schlimmsten Thriller überhaupt, Max und Moritz. Meine Besitzerin liest mir manchmal daraus vor und zeigt mir schlimme Bilder, damit ich nicht auf dumme Streich-Gedanken komme.

Soraya also. Eine Schönheit. Sie ist recht neu in der Siedlung, und beinahe wäre aus dem Umzug nichts geworden, weil ihre Besitzer, Daniel und Horst, beim Besichtigungstermin Emma Peel und ihrem Bruder John Steed begegnet sind und Soraya John gleich in ihr weißes Herz geschlossen hat. Das geht aber leider gar nicht, denn ihre Besitzer haben Großes mit ihr vor. Kein Wunder, Soraya hat mir in einer gemeinsamen Pinkelpause erzählt, dass sie soviel gekostet hat wie ein Kleinwagen. Deshalb soll sie schon dieses Jahr Welpen bekommen. So richtig professionell. Ihre Besitzer wollen mit ihr die Afghanenzucht „vom Minvervatempel“ starten. Puh! Bin ich froh, dass ich nur ein Zwergdackel bin und mehr mit Tümpeln als mit Tempeln zu tun habe. „Du bist mir ja ‚ne Tümpelratte“, hat meine Besitzerin erst kürzlich gerufen, als ich aus einem Schlammloch am Minervasee aufgetaucht bin. Leider ohne die Maus, die ich verfolgt hatte. Pepita von den schlammigen Tümpeln – das wär’s doch, oder? Aber ich soll nicht zu Zuchtzwecken „verwendet“ werden. Und das ist gut so. Wenn ich läufig bin, habe ich nämlich immer so ganz arge Bauchkrämpfe. Kennen die Frauen unter euch wahrscheinlich. Nee, das muss ich nicht immer haben.

Soraya also. Die mit dem schönen Schweif. Wie bin ich nochmal auf sie gekommen? Wisst ihr, Dackel sind von Natur aus nicht so gradlinig. Wir spüren ja Fährten auf, immer mit der Nase ganz nah am Boden – deshalb haben wir ja auch so kurze Beine, damit wir immer ganz nah dran drin. Fährten verlaufen nicht gerade. Also laufen auch wir im Zickzack. Und irgendwie hat sich das auf unser Denken übertragen. Ich hoffe, ihr seht es mir nach.

Fährten. Ja, genau. Läufige Hündinnen hinterlassen sehr markante Fährten, also Spuren. Duftspuren. Und nun stellt euch vor, was in unserer Siedlung passiert ist!

Soraya war läufig. Beim nächsten Mal soll sie gedeckt werden. Also haben die Besitzer auf sie aufgepasst wie die Schießhunde – wo kommt diese Redewendung bloß her? Ich kenne keinen Hund, der schießen kann, sie haben also aufgepasst, dass ihre Hündin ja keinem Rüden begegnet. Oder von ihm „erkannt wird“, wie es in diesem alten Buch steht, das meine Chris manchmal liest. Da steht auch sowas drin wie „der Mensch denkt, und Gott lenkt“. Hahahaa, in diesem Fall haben die Menschen gedacht – und die Hunde gelenkt.

Soraya war es nämlich irgendwann leid, mit Windelhöschen zuhause rumzusitzen. Plötzlich schwebten von draußen allzu verlockende Gerüche in ihren Garten. Und siehe da, der hohe Zaun war für die stolze Afghanin kein Hindernis. Mit einem majestätischen Satz überwand sie ihn, und nur ihr rosa Höschen mit der weißen Spitze blieb daran hängen. Was aber kein Verhängnis war, denn so eine Hundewindel hat angeblich noch keinen heißen Rüden abgehalten. Sagt zumindest John Steed. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob seine Aussage glaubwürdig ist, denn als Kastrat kann er da eigentlich nicht wirklich mitreden, oder?

Ups, schon wieder ne falsche Fährte. Also wieder zurück. Die Duftspur führte Soraya direkt runter zum Minervasee. Und dort nahm das Verhängnis – aus Sicht der Besitzer – bzw. das Verhältnis – aus Sorayas Sicht, nun tatsächlich seinen Lauf. Angelockt durch Sorayas Pheromonspur, war Hasso, der „gespitzdackelte Windhund“, was soviel bedeutet wie Promenadenmischung, vom Schrottplatz auf der anderen Seite der Bahnlinie zum See geeilt. Rüden riechen eine paarungsbereite Hündin auf Kilometer, und der große schwarze Hasso, der aussah wie ein Höllenhund, hatte kein Problem mit Entfernungen, genauso wenig wie mit Erziehung.

Nun, es kam, wie es kommen musste und von der Natur vorgesehen ist. Soraya und Hasso hatten ihren Spaß. Allerdings nur so lange, bis die Besitzer der Stammesmutter „vom Minervatempel“ herbeigeeilt kamen. Leider, oder, aus Sicht der beiden Hunde, zum Glück kamen sie ein paar Sekunden zu spät. Und es sei Hasso verziehen, dass er nicht länger als nötig bei seiner Eroberung blieb, sondern vor den beiden wutschnaubenden Menschen die Flucht zurück zu seinem Schrottplatz antrat. Alles, was Soraya und ihren Besitzern blieb, war ein Handy-Schnappschuss von ihr und ihrem Hasso, als er gerade von ihr abstieg.

Just dieses Foto wurde zum zentralen Beweisstück in der Schadenersatzklage, die Horst und Daniel gegen den Schrottplatzkönig Hans H. anstrengten. Das weiß ich aus erster Hand, denn die verzweifelte Soraya berief schon kurz nach ihrem Liebesglück eine Krisensitzung in der Siedlung ein, an der Emma, John und ich teilnahmen. Das ging über ein paar Zäune und Stockwerke hinweg und war ziemlich laut, könnt ihr euch denken!

Jedenfalls berichtete Soraya mit tränenerstickter Stimme, dass sie „guter Hoffnung“ sei. Wir alle gleich: „Wow, Gratulation!“. Aber sie: „Nein! Horst und Daniel wollen mir die Babys wegmachen lassen.“ Ok, nicht so toll. Warum?, wollte ich wissen. Weil, erklärte Soraya, ein Hund, der von einem Mischling gedeckt worden ist, nicht mehr zur Zucht zugelassen wird, wenn er, also sie, Mischlingswelpen geworfen hat. „Horst will jetzt von Hassos Besitzer Zehntausende Euro. Weil so ein Schrottplatz ja viel abwirft. Dabei hat Hasso mir gesagt, dass er manchmal nicht mal was zu fressen bekommt, so wenig Geld hat der Hans.“

Hm, wunderte ich mich. Zeit zum Reden hatten die beiden also auch? Sie haben sich wohl öfter getroffen? Und vielleicht hat dieser Hans nicht zu wenig Geld, sondern zu wenig Interesse an Hasso?

Wie dem auch sei: Soraya brauchte Hilfe. Sie wollte in einer Nacht-und-Nebel-Aktion – wörtlich, um nicht gefunden zu werden – zu Hasso flüchten. Dann würden sie gemeinsam in die Welt hinausziehen und sich ein neues Zuhause suchen.

Ich liebe mein Zuhause. Mein Körbchen vor dem Kamin, meinen Platz unter „Mamas“ Bettdecke (sagt ihr ja nicht, dass ich sie Mama genannt habe. Das kann sie gar nicht leiden). Ich könnte mir nicht vorstellen, das alles zu verlassen. Vor allem, weil es draußen oft so schrecklich kalt ist. Aber Soraya war verzweifelt. Also versprachen wir, einen Schlachtplan zu entwerfen. Schlacht fand ich jetzt nicht so toll. Vor allem, weil ja ihre Welpen… aber egal. Bin schon wieder auf ‘ner falschen Fährte.

Wir waren ehrlich gesagt noch nicht sehr weit mit unseren Fluchtplänen, als ich Soraya ganz aufgelöst beim Gassigang auf der Hundewiese traf. Am Abend zuvor war es bei ihr zu einem Beinahe-Showdown gekommen. Hans stand plötzlich am Gartentor. Mit zwei riesigen Männern und einer Knarre. So nennen die in den Filmen, die meine Chris dauernd schaut, eine Waffe. „Wenn du deine Klage nicht sofort zurücknimmst, knallen wir erst deinen Dreckshund ab und dann dich“, hat er wohl zu Horst gesagt. Und hat Soraya als Warnung ganz brutal in die Seite getreten. Als Daniel dazwischen wollte, hat einer der beiden anderen ihn mit einem Faustschlag einfach umgehauen.

„Was mache ich jetzt?“, fragte Soraya. Sie war völlig fertig. Sie wollte ihre Besitzer nicht in Gefahr bringen, aber auch nicht ihre Welpen. Und ihre große Liebe, Hasso. „Wer weiß, vielleicht hat Hans ihn schon umgebracht“, jammerte sie.

Sie tat mir entsetzlich leid. Und dann hatte ich plötzlich eine Idee.

Das ist jetzt schon ein halbes Jahr her. Gerade komme ich mit meiner „Mama“ von einem ganz besonderen Besuch.

Aber der Reihe nach. Ich hatte mich an zwei Damen erinnert, die ganz in der Nähe eine Hundepension haben. Dort nehmen sie Hunde auf, die ihre Besitzer aus welchem Grund auch immer nicht mitnehmen können, wenn sie in Urlaub fahren, oder auf Geschäftsreise. Oder so. Meine „Mama“ nimmt mich immer überall mit. „Wozu hab‘ ich dich denn sonst?“, fragt sie. Aber ich weiß, dass das wirklich nicht immer und bei allen geht. Die Hundepension soll toll sein, das hat mir Emma Peel berichtet, die mal mit John eine Woche dort war, als Elvira, ihre Besitzerin, ins Krankenhaus musste. Dorthin durften die beiden Dobermänner nicht mit. Doof, oder? Egal – Emma schwärmte in höchsten Tönen von Claudia und Ulrike. Angeblich hatten sie dort jeden Tag jede Menge Leckerli bekommen, Streicheleinheiten und sogar lange Spaziergänge, obwohl die Pension mitten in einem großen Wald liegt.

Daran erinnerte ich mich und wusste sofort: das ist das ideale Versteck für Soraya und Hasso. Denn in diesem Wald hatten Claudia und Ulrike auch eine Hütte, komplett mit Hundebetten, Wasser und allem, was Vierbeiner halt so brauchen. Oder sich wünschen. Vielleicht sollte ich auch mal dort „Urlaub“ machen? Hm… halt, falsche Fährte, schnell wieder zurück.

Ich erspare euch die Details darüber, wie unser Liebespaar zur Hütte gelangte. Claudia und Ulrike entdeckten die beiden natürlich, aber da Soraya inzwischen sichtbar trächtig war, behielten sie sie erst einmal da. Die zwei sahen nach ihrer Odyssee über Straßen, einen Bach und durch dichtes Gestrüpp sehr verwahrlost aus, außerdem hatten sie beide kein Halsband an, und immer, wenn Claudia nach dem Chip am Hals suchen wollte, wurde Hasso richtig wütend. Überhaupt kümmerte er sich zärtlich um seine Soraya. Wirklich, Leute, die große Liebe gibt’s auch bei Hunden!

Und dann waren die Welpen da. Sie waren wunderschön, mit langem, seidigem schwarz-weißem Fell, niedlichen Ohren und riesigen pechschwarzen Augen. Die tollste Mischung aus beiden Eltern.

Bei der Geburt hatte die Tierärztin es geschafft, Sorayas Chip auszulesen. Und so kamen bald darauf Daniel und Horst in die Hundepension. Was soll ich euch sagen? Sie haben sich sofort in die Welpen verliebt und wollten sie gleich samt der Mama mit nach Hause nehmen. Aber da hatten sie die Rechnung ohne den Papa gemacht. Und auch Soraya weigerte sich, ohne Hasso auch nur einen Schritt zu gehen.

Tja. Und gerade eben kommen „Mama“ und ich von einem Besuch bei Soraya zurück. Sie lebt jetzt mit ihren Welpen und Hasso bei Daniel und Horst. Die beiden haben auf das Schmerzensgeld verzichtet und im Gegenzug Hasso bekommen. Jetzt züchten sie eine neue Rasse, die Karafghanen. Die Tierärztin hat nämlich erkannt, dass Hasso gar kein Mischling ist, sondern ein reinrassiger Karakatschan-Schäferhund. Da staunt ihr, was?

Allerdings habe ich bei unserem Besuch erfahren, dass Hans, der Schrotthändler, jetzt vielleicht seinerseits klagen will, auf die Herausgabe der neuen Rasse-Welpen. Oder so.

Doch das wäre eine neue Geschichte. Oh – ihr sagt, das heute sei gar kein richtiger Krimi? Hm, da ssehen Soraya und alle Hunde in der Minervastraße aber ganz anders. Außerdem: Weihnachten ist doch die Zeit der Wunder, oder?

Übrigens habe ich jetzt einen Zweitnamen. Ich heiße Pepita Holmes. Na, wie findet ihr das?

MiniKrimi am 12. Dezember


Heute lest ihr den Prolog des 6. Bandes der Sara Konrad Thriller von Marley Alexis Owen. Die Verurteilung am Ende einer Gerichtsverhandlung in Russland ist der Anfang einer spannenden Story rund um Sara Konrad. Viel Spaß beim Lesen!

Der Russe

Sie hatte sich fest vorgenommen, nicht zu weinen. Trotzdem konnte sie ihre Anwältin jetzt nur verschwommen erkennen. Sie hätte es auf das zentimeterdicke Panzerglas schieben können, doch das Brennen ihrer Augen war nicht zu leugnen.

Verteidigerin. Diese Bezeichnung hatte die Frau schlicht nicht verdient. Sie war zwar faktisch ihre juristische Vertreterin, hatte aber während des gesamten Prozesses kaum mehr als einmal das Wort ergriffen. Und auch da hatte sie nur eine Stellungnahme verlesen, die ihre Mandantin zuvor selbst verfasst hatte.

Kein Plädoyer. Keine Einsprüche. Keine juristischen Kniffe, die in letzter Sekunde für Gerechtigkeit sorgten, so wie jene, die sie aus den amerikanischen Gerichtssendungen kannte, die sie in ihrer Jugend auf illegal gebrannten DVDs gesehen hatte. Nichts.

Sie blinzelte und straffte ihre Schultern, im verzweifelten Versuch, wenigstens äußerlich die Fassung zu bewahren.

Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn sie reich gewesen wäre? Wenn sie ihr mehr Geld hätte bezahlen können? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Hier trat sie gegen Mächte an, die nicht nur ihre Entschlossenheit parierten, sondern über Ressourcen verfügten, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte. 

Ihr Blick sprang durch den Raum wie ein Eichhörnchen, das einen Ausweg aus dem Käfig suchte.

Die Zuschauerbänke waren bis auf wenige regimetreue Journalisten leer. Wo während der ersten Verhandlungstage noch ihr Herausgeber und einige Kollegen gesessen hatten, um ihr stumm Mut zuzusprechen, waren nach und nach alle bekannten Gesichter verschwunden.

Ihre Freunde hatten es nicht einmal für nötig gehalten, zur Eröffnung des Verfahrens zu erscheinen. Wenig überraschend, blieben sie jetzt auch der Urteilsverkündung fern.

Mit ihr befreundet oder gar verwandt zu sein, wäre einer Mitschuld gleichgekommen – und ihre Schuld wollte niemand teilen.

Sie wusste, dass Alexander, ihr Chefredakteur, zwischenzeitlich verhaftet worden war. Das hatte ihr ein Vögelchen im Gefängnis gezwitschert. Kein Wunder also, dass die anderen auch nicht mehr erschienen – wer konnte, war spätestens nach ihrer Anklageverlesung untergetaucht. Zumindest hoffte sie das inständig.

Obwohl sie nur ein T-Shirt trug, klebte ihr der dünne Stoff am Rücken. Gern hätte sie ihn abgezupft, weil es sie kitzelte, aber sie rührte sich nicht, um nicht zappelig auszusehen.

Konzentriert ließ sie ihren Blick weiter durch den Gerichtssaal schweifen. Der Raum war klein und wirkte beengt, aber vermutlich war das albern. Im Vergleich zu den Zellen, in denen sie seit einer gefühlten Ewigkeit hauste, glich er in der Größe eher einem Tanzsaal.

Der dunkle, rotbraune Lack der Richterbank schimmerte im künstlichen Oberlicht wie frisches Blut. Ihr schlanker Körper erzitterte und zur Abwechslung lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.

Die Pappkartons, die neben dem Ankläger standen, waren angeblich voller Beweismaterial gegen sie. Sie hatte nichts davon zu Gesicht bekommen. Ebenso wenig wie ihre Anwältin, wie sie vermutete. Im digitalisierten Russland war diese Zurschaustellung von Papier antiquiert und lächerlich. Alles Show. Wie der ganze Prozess.

Man wollte sie einschüchtern. Brechen. Sie sollte sich schuldig bekennen. Schuldig des was? Die Wahrheit zu sagen, war ihr von frühester Kindheit an anerzogen worden – seit wann stand darauf eine Strafe für Hochverrat?

Von allen Anwesenden unbemerkt hob sie das Kinn. Nicht einmal die beiden bewaffneten Soldaten, die links und rechts von ihrem Glasgefängnis Wache standen, reagierten auf ihren Haltungswechsel. Doch ihre Tränen versiegten und ihre Wut verdrängte die Angst.

Sie war Lenya Vasilieva Kusnezowa. Sie war freie Journalistin. Und keine Gefängnisgitter, kein Urteil und auch sonst nichts würde an dieser Tatsache etwas ändern.

Und wenn es ihr Opfer forderte, um der Wahrheit ans Licht zu verhelfen, dann würde sie es erbringen.

Im gleichen Moment fiel ihr ein, dass genau das eben nicht passieren könnte, wenn sie heute verurteilt und weggesperrt werden würde. Die Wahrheit wäre mit ihr begraben. Ihr Artikel würde nie erscheinen. Weder gedruckt noch in den Portalen des Internets. Ihr Opfer wäre völlig sinnlos.

Hoffnungslosigkeit umschloss, wie mit kalten Fingern, ihre Kehle und sie schnappte unwillkürlich nach Luft.

Währenddessen lauschte ihre Anwältin regungslos dem Urteil des Richters. Lenya nicht.

Sie konnte überhaupt nichts hören, so sehr konzentrierte sie sich darauf, das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu halten.

Diese steckten in Handschellen, als wäre sie eine psychopathische Massenmörderin, die bei der erstbesten Gelegenheit jemanden anspringen würde, um ihm die Halsschlagader durchzubeißen. Auch das hatte sie irgendwann mal in einem Film gesehen. Hannibal hatte der Charakter geheißen und Lenya musste schmunzeln bei dem Gedanken. Doch kaum war er vorüber, spürte sie ihre Knie, die drohten, jeden Augenblick unter ihr nachzugeben.

Sie fuhr sich mit der trockenen Zunge über die spröden Lippen und zwang sich, langsam ein- und auszuatmen. Panik nützte jetzt auch nichts. Jetzt nützte überhaupt gar nichts mehr.

Eine Träne gewann den Kampf gegen ihren Stolz und rann ihr aus dem Augenwinkel über die Wange. Mit einer knappen Bewegung wischte Lenya sie beiseite und fuhr sich bei der Gelegenheit auch gleich über das andere Auge.

Die aufwallende Wut über die aussichtslose, und schlimmer noch, ungerechte Situation, gab ihr genug Kraft für ein letztes Gefecht und sie fixierte den Ankläger mit einem feurigen Blick aus ihren hellgrauen Augen.

Sie sollten nicht glauben, dass sie aufgeben würde, nur weil sie sie diffamierten. Weil sie ihre Arbeit verunglimpften. Sie der Lüge und des Hochverrats bezichtigten. Nein, sie würden sie nicht mit ihrem Schauprozess brechen.

Der Urteilsspruch erging.

Im Raum wurde es erst einen Moment still, dann begann das Rascheln und Rauschen. Ankläger und Anwältin nickten dem Richter zu und fingen an, ihre Unterlagen zu ordnen und einzupacken.

Die Journalisten tippten eifrig in ihre Smartphones oder warteten auf bereits gewählte Verbindungen.

Niemand beachtete Lenya.

Nur langsam und zeitverzögert drangen die Worte »Arbeitslager – lebenslänglich« in ihr Bewusstsein.

Der Wachhabende, der näher zur Tür stand, wandte sich um, ohne sie anzusehen, und machte sich daran, die Panzerglastür aufzuschließen.

Lenyas Körper wurde von einem Beben ergriffen. Verzweiflung schoss ihr wie heiße Lava die Kehle hoch und brach sich ihren Weg. Mit aller Macht warf sie sich mit erhobenen Fäusten gegen das Panzerglas, das unter dem Aufprall sonor vibrierte.

Aus Leibeskräften schrie sie: »Ihr werdet mich nicht mundtot machen! Ihr könnt mich in den Gulag werfen, aber ihr könnt mich nicht aufhalten! Ihr könnt die Wahrheit nicht begraben! Sie wird ans Licht kommen. Die ganze Welt wird erfahren, was ihr getan habt!«

Ihre Stimme brach.

Die Anwältin, die ihr am nächsten stand, hatte auf- und sie flüchtig angesehen. Nun schüttelte sie jedoch den Kopf und senkte den Blick ebenso rasch wieder auf ihre Aktentasche.

Weder der Richter noch andere Anwesende hatten auf ihren Ausbruch reagiert.

Atemlos und außer sich vor Zorn, schlug Lenya mit beiden Fäusten gegen das Glas. Jetzt trat der Wachhabende neben sie und beschwichtigte sie.

»Kommen Sie, es hat doch keinen Zweck.« In seinen Augen lag weder Feindseligkeit noch Ärger. Nur Resignation und eine Spur Mitleid. Auch er sah rasch beiseite, während er sie am Arm aus der Zelle führte.

Lenya war auf die Fußballen zurückgesunken und keuchte. Es war, als entwiche alle Kraft aus ihr, während sie einen kleinen Schritt zur Tür machte.

Wieder war es eine Filmszene, die ihr in den Sinn kam. Von einer schottischen Königin, die am Ende ihrer jahrzehntelangen Haft schließlich zum Schafott geführt wurde.

»Ich werde nicht wie Maria Stuart enden«, schwor sie so leise, dass nicht einmal die Wachen ihre Worte hörten, die sie an beiden Armen hielten.

Bild (c) mao_autorin.

Hier geht’s zur Webseite: www.melanieamelieopalka.de

Mehr zum Buch: als eBook erhältlich bei Amazon, als Taschenbuch und Hörbuch überall, wo es gute Bücher gibt.

MiniKrimi Adventskalender am 11. Dezember


Na, jetzt aber mal Hand aufs Herz: Habt ihr im fast vergangenen Jahr zugenommen? Und für die Zeit nach Weihnachten schon feste Abnehmpläne geschmiedet? Bitte: nehmt auch die folgende Geschichte von Lydia H. und mir nicht zum Vorbild.

Ho, Ho, Ho oder das letzte Geschenk

Mit geschlossenen Augen stand Karina da. Unbeweglich, als sammele sie Kraft für die bevorstehende Herausforderung. Dann begann sie langsam hin und her zu wippen. Vielleicht würde die Bewegung das Ergebnis positiv beeinflussen? Wahrscheinlich hätte sie die Jalousien vor dem großen Badezimmerfenster schließen sollen. Wer weiß, welchen Einfluss die im Winter zwar seltenen, dafür aber besonders penetranten Sonnenstrahlen auf die unerbittliche Digitalanzeige der neuen Waage haben könnten. Schließlich ergab Katarina sich ins Unvermeidliche und öffnete die Augen.  Sofort wurde sie von der aggressiv neongrünen Zahl angesprungen, während eine in ihren Ohren süffisant klingende Computerstimme nüchtern feststellte: 104,5 kg. Karina war am Boden zerstört. Über 100 kg. Dieser Höchststand auf der Waage war ihr persönlicher Untergang. Und das vor Weihnachten.

Die High Tech Körperfettwaage war ein Nikolausgeschenk von Karinas Mann Olaf gewesen. Ein weiterer Seitenhieb auf ihr Gewicht, das tatsächlich mittlerweile sogar den beleibten Nikolaus schlank aussehen lassen würde. Zwei ganze Tage war Karina um die Waage herumgeschlichen. Gestern hatte sie nur 2 Äpfel zu sich genommen, in der irrigen Hoffnung, das Ergebnis noch positiv, bzw. in ihrem Fall negativ, beeinflussen zu können.

Dabei war Olaf nicht immer so humorlos und gemein gewesen. Als er noch im Vertrieb eines Biotech Unternehmens tätig war, hatte auch er durchaus einige Kilos zu viel auf den Rippen. Wie das halt so passiert in einer Ehe, nach 10 gemeinsamen Jahren, 2 gemeinsamen Kindern und vielen gemeinsamen Stunden auf dem heimischen Sofa mit Chips, Schokolade und Wein. Normal.

Doch dann beschloss Olaf eines Tages, sein Leben umzukrempeln. Plötzlich war er geradezu von der sogenannten Longevity Bewegung. Es begann zunächst ganz harmlos mit einer Fitnessuhr, gefolgt von Smoothies, Unmengen an Nahrungsergänzungsmittel und Jogging fünf Mal die Woche. Doch bald reichte das Olaf nicht mehr. Er fing an, jeden noch so abwegigen Artikel zu Thema „lange leben“ zu verschlingen. Olafs Tagesablauf drehte sich von nun an nur noch darum, sich im Hinblick auf die Erreichung von Unsterblichkeit zu optimieren. Eisbaden am Morgen, Meditation am Mittag, Powernap am Nachmittag sowie stundenlange Workouts im Gym am Abend. Das ganze dauerüberwacht von dem neuesten Fitnesschronografen. Vor 3 Monaten dann hatte Olaf seinen gut bezahlten Job an den Nagel gehängt, um sich von nun an als Fitnesstrainer und Ernährungsberater zu verwirklichen. Sein Verdienst deckte seither nicht einmal mehr die Wohnkosten der Eigentumswohnung in der Minervastraße. Das Projekt Unsterblichkeit verschlang inzwischen nicht nur Unsummen an Geld, Zeit und Nerven – vor allem Karinas, sondern brachte auch nichts ein. Jedenfalls kein Geld. Als erfolgreiche Managerin eines mittelständischen Unternehmens verdiente Karina zwar gut genug, um die finanziellen Einbußen abzufangen, doch so hatte sie sich ihr Leben in der Post-Erziehungs-Phase nicht vorgestellt.

Leider beließ es Olaf nicht dabei, seine Lebenspanne gefühlt täglich zu erweitern. Er war, wie die meisten von Fanatismus beseelten Zeitgenossen, außerdem von einem geradezu missionarischen Eifer besessen. Als seine Ehefrau war Karina natürlich sein vorrangiges Opfer und Projekt. Nachdem Olaf ein Jahr lang vergeblich versucht hatte, seine Frau von der neuen Lebensweise zu überzeugen, schlugen seine Bemühungen allerdings erst in Verachtung, dann in blanken Hass um. Das Familienleben wurde für Karina zu einem täglichen Spießrutenlauf. Sex fand gar nicht mehr statt, weil Olaf sich vor seiner Frau ekelte. Nicht nur zu Hause, sogar vor den gemeinsamen Freunden überschüttete er Karina immer öfter mit Häme. Jeder Bissen wurde von ihm zynisch kommentiert. Natürlich verfügte Olaf mittlerweile über einen gestählten Körper, aber sehr zu seinem Leidwesen verweigerte ihm dieser die letzte Perfektion in Form perfekt definierter Muskeln und eines sichtbaren Sixpacks. Trotz exzessiven Trainings wurde er die letzten Fettzellen um Bauch und Taille einfach nicht los.

Nach dem morgendlichen Waage-Schock beschloss Karina, ihr Gewicht nicht nur in ihrer Fantasie, sondern auch aktiv und praktisch zu reduzieren. Eine Flut von Diäten und Wunderpülverchen auf bunten Internetseiten waren allzu offensichtlich nur auf das Geld der verzweifelten Dickerchen aus. Doch dann stieß Karina ein wirklich verführerisches Angebot. Ozempic. Sie hatte natürlich schon davon gehört und wusste, dass dieses eigentlich gegen Diabetes Typ 2 entwickelte Semaglutid wahre Abnehmwunder bewirkte. Die vorher/nachher Bilder und Videos waren beeindruckend, und Karina bestellte kurzerhand ein paar fertige Spritzen. Online, natürlich. Dabei musste sie bei der Selbstauskunft bezüglich ihres Gewichts nicht einmal schwindeln, wie sie es kürzlich im Fernsehen in einer Reportage über eine junge magersüchtige Frau gesehen hatte. Sie war tatsächlich übergewichtig. Und wie. Endlich würde sie ihr Wunschgewicht erreichen und sich damit gleichzeitig auch um manch anderes Problem erleichtern. Und das ganz ohne schweißtreibendes Training, Hungern und weitere Streitereien mit dem lieben Olaf. Karina würde allen ein Schnippchen schlagen.

Als das Paket ankam, nahm Olaf es ahnungslos entgegen. Als freiberuflicher und nicht sonderlich gefragter Trainer verfügte er über viel Freizeit, die er hingebungsvoll der stetigen Optimierung seines Körpers widmete, während Karina im Büro saß und den Lebensunterhalt verdiente. Kein Wunder, dachte Olaf, dass seine Frau so fett war. Ein richtiger Wal. Wenn man den ganzen Tag nur auf dem Hintern saß, wurde dieser eben immer dicker. 

Neugierig öffnete er das Paket. Das Ehepaar hatte schließlich keine Geheimnisse voreinander, und in dieser adventlichen Plätzchen- und Glühweinzeit hätte der Inhalt durchaus etwas Verderbliches sein können. Stollen oder Baumkuchen, vielleicht sogar Met. Olaf kannte die ewigen Gelüste seiner Frau. Umso überraschter war er über den tatsächlichen Inhalt des Pakets. Ozempic! Wie genial! Seine Frau machte offensichtlich endlich Ernst damit, ein paar Kilos loswerden zu wollen. Und, typisch für sie, natürlich ohne Kraftanstrengung und Training.

Gut. Das Paket enthielt genug einsatzbereite Ozempic Spritzen, um Karina von Hundert auf fast Null zu bringen. Gerade zu Weihnachten ist Geben doch schöner als Nehmen, dachte Olaf. Er kniff sich in die letzten Fettreste an seinem durchtrainierten Körper, und sein Entschluss stand fest. Karina würde ihm, wenn auch ungefragt, ein paar ihrer Spritzen abgeben.

Als Karina nach einem stressigen Arbeitstag nach Hause kam, war die ganze Wohnung dunkel. Ihr Mann schien nicht da zu sein. Wollte er sich vielleicht mal wieder vorm gemeinsamen Abendessen drücken, um ja kein Gramm zuzunehmen? Wut stieg in ihr auf.  Sie betrat das Schlafzimmer, betätigte den Lichtschalter – und erstarrte. Olaf lag zusammengekrümmt auf dem Ehebett. Leblos. Karina verständigte sofort den Rettungsdienst und leistete ihrem Mann erste Hilfe. Vergeblich. 30 Minuten später stellte der Notararzt den Tod fest. Die Obduktion von Olaf ergab, dass der Tod durch eine Dosis Ozempic ausgelöst worden war. Bzw. handelte es sich um eine unglückliche Wechselwirkung zwischen dem Abnehmmedikament und einem der vielen Nahrungsergänzungsmittel, die Olaf täglich zu sich nahm. Offensichtlich hatte ihr Mann den Beipackzettel dieses hochwirksamen Insulinpräparates nicht gelesen, was, wie man ihr versicherte, leider immer wieder vorkam.

Da die Polizei keinerlei Ermittlungen anstellte, kam nie ans Licht, dass Karina den Zustelldienst extra angewiesen hatte, das Paket mittags und persönlich auszuliefern. Sie kannte ihren Mann offensichtlich noch besser als er sie.