MiniKrimi Adventskalender am 21. Dezember


Heute gibt’s hier wieder einen Krimi aus meiner Feder. Mit Anklängen an meine väterlichen Wurzeln. Die liegen nämlich zum Teil in Süditalien… Viel Spaß beim Lesen und danke fürs Teilen und für eure Kommentare!

Engel mit schwarzen Locken

„Hallo, Kleine! Wie heißt du eigentlich?“

„Gemima.“

„Dsche… Aaaha. Und weiter?“

„Hagenrath“

„Und deine Mama?“

„Meine Mama und meine Mami heißen so wie ich. Hagenrath.“

„Und dein Papa?“

Stille. Dann: „Das weiß ich nicht.“

„Warum wollen Sie das wissen?“ Marlene Hagenrath steht an der Haustür, beladen mit Tüten und einem Kasten leerer Saftflaschen. Sie klingt barsch, und das liegt daran, dass sie diese Situation so oder ähnlich schon öfter erlebt hat, seit sie mit ihrer Frau Claudia und der gemeinsamen Tochter Gemima in die Minervastraße eingezogen ist. Zu oft, als dass sie dafür noch Toleranz aufbringen könnte.

„Man wird doch wohl noch fragen dürfen, oder? Schließlich hat jedes Kind eine Mutter und einen Vater. Das ist ein Naturgesetz.“ Frau Degenfeld ist pikiert. Erst gestern haben sie und ihre Freundinnen beim Mahjong-Nachmittag gerätselt, warum der Vater des süßen Mädchens mit den schwarzen Locken und den grünen Augen noch nie in der Siedlung aufgetaucht ist.

„Ich habe eine Mama und eine Mami. Mehr brauche ich nicht. Oder?“, fragt Gemima und schaut der älteren Dame mitten ins Gesicht. Unangenehm, dieser bohrende Blick. Der ist bestimmt antrainiert. Von einer der beiden Frauen, die sie Mama und Mami nennt.

„Zu meiner Zeit war das undenkbar. Zwei Mütter. Aber heute – vollkommen zerrüttet, die Moral bei den Jüngeren.“ Kopfschüttelnd geht Frau Degenfeld weiter Richtung Tiefgarage.

Es ist der 21. Dezember. In 3 Tagen beginnt die Weihnachtszeit. Überall in der Minervastraße leuchten Sterne und Jakobsleitern in den Fenstern, die Balkone sind mit Girlanden behängt, die meisten leuchten golden. Die einzige grellbunte auf der Terrasse gegenüber der Tarotlegerin Lenor wurde nach einem tragischen Tod entfernt.

Gemima sitzt am Küchentisch, lässt die Beine baumeln und sticht andächtig Plätzchen aus. Dabei schiebt sie voller Konzentration die gerollte Zungenspitze zwischen die Lippen.

„Woher hat sie das nur?“, fragt ihre Mutter Marlene sich zum x-sten Mal. Sie hat das Zungenroller-Gen nämlich nicht. „Muss der Spender sein“. Obwohl – der hatte es angeblich auch nicht. Unglaublich, was man bei angeblich anonymen Samenspenden heute für Informationen finden oder erfragen kann.

Da klingelt es an der Haustür. „Hallo?“, ruft Marlene in die Sprechanlage.

„Paket für Sie“, antwortet eine Männerstimme. „Ich lege es auf die Treppe.“

„Könnten Sie es mir nicht schnell raufbringen, bitte? Dritter Stock?“

„Sorry, zu viel Arbeit. Geht nicht. Schöne Weihnachten.“

Marlene seufzt, schlüpft in ihre Mules und springt die Treppe runter. Wo ist das Paket? Auf der untersten Treppenstufe liegt keines. Nur ein roter Umschlag mit einem bedruckten Weihnachtsmann und darauf ein in Cellophan verpackter Keks.

„Hahaha“, murmelt Marlene. Sie ist allerlei „Schabernack“ von den Nachbarn gewöhnt. Viele haben sich immer noch nicht damit abgefunden, dass ein weibliches Ehepaar mit Kind bei ihnen wohnt.

„Falscher Alarm. Aber leckerer Keks. Magst du ihn?“, ruft sie und schließt die Wohnungstür. „Gemima?“

Keine Antwort.

„Gemmi?“ Nichts. Sie schaut ins Kinderzimmer. Leer. Auch das Wohnzimmer. Der Küchenstuhl, auf dem das Mädchen gerade noch gesessen hat, ist umgekippt. Der Vorhang vor dem Küchenbalkon bauscht sich im Wind, und eine Handvoll Schneeflocken fliegt herein.

„Gemima, was machst du da draußen? Du wirst dich erkälten.“

Aber auch auf dem Balkon: keine Spur ihrer Tochter. Panik steigt in Marlene hoch. Als hätte sich die Kleine in Luft aufgelöst. Das geht entschieden zu weit. Das ist kein Scherz mehr. Wenn sie den findet, der dafür verantwortlich ist….

„Marlene, Gemmi, bin wieder daaa!“

„Claudia! Stell dir vor, Gemima ist verschwunden!“

Die beiden Mütter suchen die ganze Nacht hindurch nach dem Kind. In der Wohnung, im Haus, im Keller, auf dem Dachboden. Schließlich in der ganzen Siedlung. Und sie sind nicht allein. Zu Claudias und Marlenes Erstaunen helfen ihnen viele Nachbarinnen und Nachbarn. Sogar Frau Degenfeld und ihr Mann. Schließlich sollte das Mädchen bei der lebendigen Krippe, die die Bewohner der Minervastraße am ersten Weihnachtstag geplant haben, einen Engel spielen. „Sie wird ganz entzückend aussehen, mit diesen schwarzen Locken. Von wem sie die wohl hat?“

Am nächsten Morgen wird die Polizei eingeschaltet, doch auch sie findet Gemima nicht. Einzig ein Fußabdruck im Blumenbeet unter dem Küchenfenster – Größe 43 – und Sprossen einer offenbar zersägten Metalleiter im See weisen darauf hin, dass das Kind entführt worden ist.

Wer denkt in einer solchen Situation schon an einen ungeöffneten Brief? Als Claudia den roten Umschlag auf der Kommode im Flur sieht, nimmt sie ihn automatisch mit ins Wohnzimmer. Geistesabwesend reißt sie den Umschlag auf.

„Marlene! Woher kommt dieser Brief? Wer hat ihn dir gegeben? Seit wann hast du ihn? Warum hast du denn nichts gesagt?“

Marlene ist verwirrt. Todmüde, verängstigt und zermürbt von der erfolglosen Suche.

„Den? Ach, das ist doch bloß wieder so ein blöder Scherz von den Nachbarn. Ich wollte Ivan gestern noch danach fragen, aber…

„Nein! Das ist kein Scherz. Lies!“ Claudia hält Marlene den eng bedruckten Zettel unter die Nase.

Sie haben mich bestohlen. Jetzt hole ich mir mein Eigentum zurück. Versuchen Sie nicht, mich oder meine Tochter zu finden! Sonst wird das Kind einen tödlichen Unfall erleiden.

„Siehst du, das ist doch einer von diesen Scherzen. Nur viel gemeiner als sonst. Na warte, Ivan.“ Marlene greift zum Telefon, um ihren Nachbarn zur Rede zu stellen.

„Nein, Marlene. Ivan hat absolut nichts damit zu tun. Verstehst du denn nicht? Das ist ein Bekennerbrief von dem Menschen, der Gemima entführt hat.“

„Was? Du spinnst ja, Claudia! Ich habe den anonymen Spender aus der Datenbank von Neovita Labs. War teuer genug. Und absolut seriös. Das hat uns Dr. Wonnegrat ja schriftlich gegeben.“

„Dr. Wonnegrat. Nomen es Omen. Die Frau ist mir gleich suspekt gewesen. Einfach einen Tick zu seriös, wenn du weißt, was ich meine.“

„Nein, das weiß ich nicht. Und ich finde, du greifst nach Strohhalmen. Aber egal. Uns bleibt ja nichts anderes übrig. Die Polizei kommt nicht weiter. Wir fahren jetzt zu Neovita Labs.“

Ein kühles Ambiente in Pastelltönen. Gedämpfte Musik. Klassik, nichts Weihnachtliches. Dr. Wonnegrat empfängt Marlene und Claudia in ihrem Büro. Sie ist sichtlich nervös. Marlene, bleich, mit rotgeränderten Augen, kommt gleich zur Sache: „Unsere Tochter ist entführt worden. Von jemandem, der behauptet, ihr genetischer Vater zu sein. Wie ist das möglich? Sie haben mir versichert, die Spende sei anonym und man könne sie nicht auf den Samengeber zurückführen? Sie haben sie doch allein aus diesem Grund aus Zypern kommen lassen.“

„Haben Sie uns zumindest gesagt“, wirft Claudia ein. „Und uns für Ihre Bemühungen eine astronomische Summe abverlangt. Und das, obwohl das Gesetz, nach dem Samenspenden im zentralen Register dokumentiert werden müssen, in Deutschland erst 2018 in Kraft getreten ist.“

Dr. Wonnegrat lächelt gequält. “Ja, das stimmt.“

„Und? Sie kennen den Spender!“ Marlene ist außer sich vor Wut. „Geben Sie’s zu!“

„Ja. Ich kenne ihn. Also, ich kannte ihn. Er musste sich einer Vasektomie unterziehen und wollte sicherstellen, dass er dennoch eine Erbin oder einen Erben hat.“


Die Frauen sind fassungslos. Wonnegrat erklärt, der Mann, ein italienischer Mafiaboss, habe sie unter Druck gesetzt. In der Hand gehabt. Um Leben und Tod sei es damals gegangen. Um ihr Leben oder ihren Tod. Die beiden seien für ihn das ideale Paar gewesen: rechtlich „angreifbar“, ohne einen großen Unterstützerkreis, in einem Umfeld, das juristisch und gesellschaftlich immer noch als „weich“ wahrgenommen wird.

„Finden Sie sich damit ab. Gemima ist längst in Süditalien, und die Adoption war schon in wenigen Stunden unter Dach und Fach. Sie haben keinerlei Rechte mehr an Ihrem Kind. Aber ich verstehe natürlich Ihren Unmut. Ich könnte Ihnen mit einer kostenfreien Samenspende entgegenkommen? Sie sind noch so jung…“

Geistesgegenwärtig verhindert Claudia, dass Marlene der Ärztin den Briefbeschwerer auf dem Schreibtisch ins Gesicht schleudert.

„Entweder Sie bringen uns Gemima zurück, oder Ihr Laden hier fliegt auf. München ist nicht Süditalien. Wenn wir auspacken, sind Sie geliefert. Sie verlieren nicht einfach Ihr Labor und ihre Approbation. Sie landen im Gefängnis. Und zwar für sehr, sehr lange.“

Stille. Schließlich sagt Wonnegrat: „Gut. Ich kann nichts versprechen. Aber ich tue mein Möglichstes.“

„Sie haben 24 Stunden Zeit. Dann gehen wir zur Polizei. Und an die Presse.“

Es ist der 23. Dezember. Ein Tag vor Heiligabend. Marlene und Claudia kauern auf der Wohnzimmercouch. Vor ihnen steht der Weihnachtsbaum. Ungeschmückt. „Unser Ultimatum läuft ab. Ich habe wirklich geglaubt, sie meint es ernst und gibt uns Gemima zurück. Anzeige, Verfahren, schlechte Medienberichte – das ist mir doch alles egal. Ich will nur meine Tochter.“

Es klingelt an der Tür. „Ein Paket für Sie.“ Wie in einem Déjà-vu rennt Marlene die Treppen hinunter, Claudia direkt hinter ihr. Nichts. Auf der untersten Stufe liegt ein roter Umschlag. Claudia reißt ihn auf. Ein Foto, mehr nicht. Eine Frau liegt mit dem Oberkörper auf einem Schreibtisch in einem pastellenen Büro. Überall Blut. Darunter der Aufdruck: Schweigt, oder es geht euch genauso.

Entsetzt gehen die beiden zurück in ihre Wohnung. Es zieht. Der Vorhang des Küchenbalkons flattert im Wind. Auf der Wohnzimmercouch liegt ihre Tochter. Sie schläft.

Am nächsten Morgen wird Gemima sich an nichts erinnern. Und ihre Mütter werden sie nichts fragen.

Und Marlene löscht die Mail, die in ihrem Posteingang war, als sie mit dem Foto in der Hand wieder in die Wohnung kam.

Ich habe Wort gehalten. Ein Neffe unseres gemeinsamen Bekannten schuldete mir noch einen Gefallen. Den habe ich eingelöst. Ich habe mich damit in seine Hände begeben. Ich hoffe, Sie wissen das zu schätzen. Er wird ihre Tochter zurückbringen lassen. Der Verlust des gerade erst wiedergefundenen Kindes wird für den todkranken Onkel so schmerzhaft sein, dass er sich das Leben nimmt. Das ist die Version des Neffen für die Medien. Mehr müssen Sie nicht wissen. So haben alle etwas davon, der Neffe die freie Bahn zur Spitze des Imperiums und Sie ihr Kind. Leben Sie wohl.
Dr. A. Wonnegrat

Nun, der Neffe ist der großen Aufgabe ganz offensichtlich gewachsen. Er geht keine unnötigen Risiken ein. Und er kann ganz sicher sein, dass alle Beteiligten schweigen. Für immer.

MiniKrimi Adventskalender am 9. Dezember

Ein Paar im Café

Ihr Lieben, heute gibt es wieder eine Cosy Crime Story aus der Siedlung an der Minervastraße. Obwohl er nicht für alle Beteiligten „cosy“ endet. Lest selbst. Danke für eure Kommentare. Und sagt mir doch, ob ihr erfahren wollt, wie oder ob es mit „Falk“ weitergeht.

Manche Dinge regeln sich ganz von selbst

„Ich verstehe nicht, warum Frauen ständig zur Kosmetik laufen müssen. Für das Geld, dass du über die Jahre für Maniküre, Pediküre und was weiß ich noch alles ausgegeben hast, hätten wir uns eine schöne Finca auf Mallorca kaufen können – und müssten uns nicht im Münchner Winter die Zehen abfrieren.“

Helene Müller-Vorfeld schaut ihren Mann an. Wortlos. Dann dreht sie sich um und verlässt das Schlafzimmer, im dem ihr Mann noch zwischen hoch aufgetürmten Kissen und weichen Decken liegt. Vor zwölf steht er nicht mehr auf. Dann trinkt er einen Espresso und setzt sich mit der Tageszeitung auf die beheizte Loggia, um das Kommen und Gehen in der Siedlung an der Minervastraße zu beobachten. Kürzlich hat er sich im Internet eine Drohne gekauft, angeblich, um die Zugvögel besser observieren zu können. „Wohl eher, damit er einen ungehinderten Blick in die Badezimmer der Nachbarinnen hat, vor allem der jüngeren“, mutmaßt seine Frau.

„Du bist ja noch gut zu Fuß. Ich dagegen kann mich sogar in der Wohnung nur noch mit Gehhilfen bewegen. Warte bloß ab, bis er dir so geht wir mir“, sagt er immer.

„Das wird nicht passieren. Ich gehe regelmäßig zur Podologin und mache täglich mein Stuhl-Yoga“, antwortet seine Frau ihm. „Auch heute. Das ist keine Kosmetik, sondern medizinische Fußpflege. Damit mir die Zehennägel nicht so einwachsen wir dir. Weshalb ich noch so gut laufen kann.“

„Papperlapapp“, kontert Herr Vorfeld. Widerspruch hat er noch nie geduldet, und seine Stimmung verschlechtert sich proportional zu seinem Gesundheitszustand.


„Es ist eigentlich gar kein Auskommen mehr mit ihm“, berichtet Helene beim Tee ihrer Bekannten Elvira Obermaier, der Inhaberin der Agentur zweites Glück. Sie sitzt jetzt immer öfter bei ihr auf dem gemütlichen Sofa und blättert versonnen in dem großen, prall gefüllten Ordner, den Elvira beiläufig auf den Couchtisch gelegt hat.

„Der sieht ja interessant aus. Ist der neu?“, fragt Frau Müller-Vorfeld und betrachtet lange das Ganzkörperfoto eines Mannes mit graumelierten Schläfen und imposantem Sixpack, das von einem Seidenhemd vorteilhaft umspannt wird. Blaue Augen mit gewinnenden Lachfalten, ein sinnlicher Mund und Hände, die so aussehen, als könnten sie zärtlich zupacken. Vor allem steht er fest und sicher auf zwei muskulösen Beinen.

„Das ist Falk. Ja, er ist erst seit einer Woche in meiner Kartei. Gefällt er Ihnen?“

„Ja. Schon,“ Frau Müller-Vorfeld zögert. „Der ist sicher sehr gefragt?“

„Hm. Schon. Aber ich könnte Ihnen ganz kurzfristig ein unverbindliches Date mit ihm vermitteln. Wann sind Sie denn wieder in der Stadt?“

„Ich war gerade erst zur Fußpflege. Aber nächste Woche muss ich zum Orthopäden am Odeonsplatz…“

„Wunderbar. Dann reserviere ich doch einfach einen Tisch im Tambosi. Sagen wir um 14 Uhr?“

„Perfekt.“

„Und…. Ihr Mann?“ Elvira ist ihren Kundinnen gegenüber stets ein Muster an Taktgefühl. Aber als Geschäftsfrau möchte sie natürlich wissen, wie ernst es Frau Müller-Vorfeld prinzipiell mit einem Kennenlernen ist. Schließlich führt sie eine Partneragentur und kein Datingportal für Kaffeekränzchen.

„Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Manche Dinge regeln sich ganz von selbst.“

Elvira lächelt. Sie mag Helene Müller-Vorfeld. Sie mag eigentlich alle ihre Kundinnen. Die meisten haben in ihren letzten Ehejahren durch ihre Männer viel schlucken, ertragen und erdulden müssen, und es ist mehr als verständlich, wenn sie sich für ihren Lebensherbst etwas liebevolle Zuwendung ersehnen. Ja, die Agentur ist für Elvira mehr als nur ein Geschäftsmodell, wenn auch ein überaus erfolgreiches. Sie freut sich jedes Mal, wenn es ihr gelingt, mit ein wenig Geschick – und für ein gutes Honorar – ein leises Feuer in den Augen der Damen zu entfachen, die vordem nur noch erwartungslos in eine trübe und trostlose Zukunft geblickt haben.

Herr Vorfeld ist ein echter Tyrann mit einem Frauenbild aus den 1960er Jahren. Seine Gattin ist seine Sklavin und hat ihm jeden Wunsch zu erfüllen. Gottlob beschränken sich seine fleischlichen Bedürfnisse inzwischen auf die Mahlzeiten. Aber er hält seine Frau an der kurzen Leine, kontrolliert jede ihrer Ausgaben und mäkelt an allem herum, während er sich jeden Luxus gönnt. Vom exklusiven Parfum und den modernsten Hörgeräten über die teure Drohne bis hin zur neuesten Musikanlage. Aber wehe, Helene  geht zur Podologin.

Nein, genug ist genug. Die Äußerung über ihre angeblich exorbitant extravaganten Kosmetik-Ausgaben hat das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. Na warte, denkt Frau Müller-Vorfeld. Dir zeig ich, was Extravaganz bedeutet.

Sie plündert ihre Geheimschatulle – Euro für Euro abgespart vom mageren Haushaltsgeld –

und geht einkaufen. Ein Paillettenkleid mit tiefem Dekolleté, ein paar lackrote Pumps und eine blonde Lockenperücke später kommt sie fröhlich summend nach Hause.

„Wo warst du denn so lange? Ich wollte gerade eine Vermisstenmeldung aufgeben – wenn du das Telefon nicht schon wieder außer Reichweite abgelegt hättest. Es ist fünf nach sechs. Du willst wohl, dass ich verhungere? Das könnte dir so passen.“

„Lieb-ling“, flötet Frau Müller-Vorfeld und dehnt beide Silben, so lang ihr Atem reicht. „Entschuldige! Ich dachte, du würdest es noch alleine vom Sofa in die Küche schaffen. Das tut mir so leid! Wie gut, dass morgen die Ärztin vom Medizinischen Dienst kommt. Die muss dir unbedingt diesen elektrischen Rollstuhl für die Wohnung bewilligen. Sonst müssen wir ihn selbst kaufen.“

„Was? Ich hab‘ Millionen in die Pflegeversicherung einbezahlt (sicher nicht, denkt seine Frau), da werden die mir doch wohl so einen mickrigen Rollstuhl finanzieren! Ich bleib morgen direkt im Bett. Wenn die Ärztin kommt, sieht sie gleich, dass ich mich nicht mehr alleine bewegen kann.“

„ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Nicht, dass sie dich dann für kränker hält, als du bist…“

„Papperlapapp. Du hast ja keine Ahnung. Du bist eben dumm.“

„Wie du meinst, Lieb-ling. Ich mach dir jetzt schnell dein Abendbrot. Möchtest du vielleicht ein Glas Wein dazu?“

Der Beaujolais ist ausnehmend süffig. Herr Vorfeld trinkt fast die ganze Flasche und fällt dann wie ein Stein ins Bett. Er schläft tief und fest. Er träumt, dass jemand ihm zärtlich über den Kopf streicht und ihn dann an den Füßen kitzelt. Es ist ein schöner Traum, und er lächelt, ohne aufzuwachen. Das wäre bei der Menge an Schlafmittel, den er im Wein zu sich genommen hat, auch äußerst unwahrscheinlich.

Als die Dame vom Medizinischen Dienst um neun Uhr vor der Tür steht, entschuldigt sich Frau Müller-Vorfeld wortreich. Ihr Mann liege immer noch im Bett. Er schlafe neuerdings extrem viel. Überhaupt sei er nicht mehr er selbst. Er halluziniere, vergesse immer öfter, wer er sei. Und neuerdings behauptet er immer wieder, seine eigene Mutter zu sein.

„Interessant. Wie äußert sich das?“

„Sehen Sie selbst“, sagt Frau Müller-Vorfeld und öffnet die Tür zum Schlafzimmer. Dort liegt ihr Mann auf dem Bett, sorgfältig geschminkt, in einem schillernden Paillettenkleid, mit einer blonden Perücke auf dem Kopf und grellen Pumps an den Füßen.

„Um Himmels Willen!“, sagt die Dame vom Medizinischen Dienst. „ich sehe schon, da besteht dringender Handlungsbedarf. Ich kümmere mich gleich darum.“

So kommt es, dass Helene Müller-Vorfeld eine Woche später frisch frisiert, manikürt und pedikürt – man kann ja nie wissen – im Café Tambosi mit einem gut aussehenden Herren eine Flasche Prosecco trinkt, während ihr Noch-Ehemann – sie hat die Scheidung schon eingereicht – in der beschützenden Abteilung einer Seniorenresidenz versucht, Pflegepersonal, Ärztinnen und Ärzte davon zu überzeugen, dass er das Opfer eines teuflischen Komplotts geworden ist.

MiniKrimi Adventskalender am 16. Dezember


Tödliche Erinnerung/II

Lucia

Lucia ist überwältigt. Von der letzten Nacht, davon, wie einfach ihr mit heißer Nadel gestrickter Plan funktioniert hat – und von ihren Gefühlen. Die letzten 2 Wochen waren ein ständiges Auf und Ab, ein Hin und Her zwischen Verzweiflung, Angst und dem unstillbaren Hunger nach Rache. Dieser Hunger hat sich durch ihr Herz gefressen, bis er ihr Denken beherrschte. Rache. Vergeltung. Auge um Auge. Dieses Gefühl ist neu für Lucia, und sie staunt über sich selbst. Darüber, zu wieviel Hass sie fähig ist und darüber, wie präzise sie diese Aktion geplant und umgesetzt hat.

Aber vielleicht ist das so, wenn dein ganzes Leben plötzlich wie ein Kartenhaus über dir zusammenfällt, wenn nichts mehr ist, wie es war, wenn du alles verlierst, was dir Halt gegeben hat.

Lucias Leben ist in geregelten Bahnen verlaufen. Sie hat die Abwesenheit eines Vaters nie als schmerzhaft empfungen. Laura, ihre Mutter, und die Großeltern Angela und Pietro waren immer für sie da, liebevoll und fürsorglich. In den 1980ern durchlebten die Frauen in Italien eine Welle der Emanzipation, zumindest gefühlt. Eine „ragazza madre“ zu sein, eine ledige Mutter, war kein Makel, sondern ein Zeichen von Stärke. Jedenfalls in den Kreisen, in denen Laura sich bewegte. Als Lucia in den Kindergarten kam, fing Laura wieder an, als Anästhesistin in einer großen Klinik in Florenz zu arbeiten. Ihre Tochter blieb bei den „nonni“ – auch das war durchaus üblich. Die Familie war groß, Lucia hatte genug Cousins und Cousinen, Freundinnen und Freunde. Sie war beliebt, auch in der Schule und später an der Uni.

Ihr Leben was das eines normales italienischen Mädchens, später einer jungen Frau, des italianischen Bürgertums. Gut behütet und dann nach und nach immer mehr den eigenen Regeln folgend. Der Kontakt zur Mutter blieb eng, aber beiläufig. Jede lebte ihr Leben.

Bis zu jenem Freitag vor 2 Wochen. DIe Großmutter rief Lucia an, mitten im Unterricht. Lucia lehrt Italienisch für Ausländer an einer internationalen Sprachenschule in Siena. „Nonna, was ist passiert?“ Es musste etwas Schlimmes sein. Sonst hätte Angela sie nicht bei der Arbeit gestört.

„Es ist Laura. Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Nein, sie wurde rechtzeitig gefunden! SIe liegt jetzt im Krankenhaus. Aber ich glaube, es wäre gut, wenn du kämest. Ach ja, und schau nicht in die Online Nachrichten, kauf keine Zeitung,“

Lucia fuhr sofort los, und natürlich scannte sie die Online-Nachrichten auf ihrem Smartphone. „Schon wieder ein Fall von gefälschter Approbation. Florentiner Ärztin mit sofortiger Wirkung entlassen. Laura C. droht eine saftige Freiheitsstrafe“, titelten bereits die „cronache nere“, die Boulevardblätter. Das Foto ihrer Mutter war alt, sicher hatte ein missgünstiger Kollege es gleich der Presse verkauft. Aber Laura war deutlich zu erkennen.

Im Krankenhaus erfuhr Lucia, dass ihre Mutter sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Mit zwei senkrechten Schnitten. Sie hatte es also ernst gemeint. Wenn Angela nicht zufällig vorbeigekommen wäre, wäre Laura jetzt tot. Lucia sah ihre Mutter an, blass, an Schläuche angeschlossen. Sie sah aus wie eine Fremde. Sie WAR eine Fremde. Oder eben eine andere, als sie ihre Tochter in immerhin 40 Jahren hatte glauben lassen. Laura war unruhig. SIe murmelte Unverständliches. Und dann, plötzlich, klar und deutlich: „Lukas.“

Lucia fuhr nicht zurück nach Siena, sondern übernachtete in der Wohnung ihrer Mutter. In den Räumen ihrer Kindheit. Aber auch hier kam ihr plötzlich alles fremd vor. Und sie wusste: sie musste dem Geheimnis ihrer Mutter auf die Spur kommen, wenn sie selbst jemals wieder frei atmen und unbeschwert leben wollte. Sie musste verstehen, warum ihre Mutter mit gefälschten Papieren über 30 Jahre lang als Ärztin gearbeitet hatte. Und – sie musste endlich wissen, wer ihr Vater war. Lucia hatte das Gefühl, dass die Antwort auf beide Fragen ein und dieselbe sein würde.

Sie durchsuchte die Wohnung. Sie fand Lauras Tagebuch. Sie las die ganze Nacht und den halben Morgen hindurch. Bis es Zeit war, wieder ins Krankenhaus zu fahren. Am Bett ihrer Mutter nahm sie die immer noch bleiche Hand, küsste sie, strich über Lauras graue Locken und flüsterte: „Adesso so tutto, mamma.“ Jetzt weiß ich alles, Mamma. „E lui pagherà.“ Und er wird bezahlen.

Der Rest ist ein Kinderspiel gewesen. Laura hatte alle Einladungen zu den Treffen der Tedeschi aufgehoben. Dass das nächste genau zwei Wochen später in Marina di Pisa stattfinden würde, hat Lucia als Wink des Schicksals gesehen.

Es war so einfach. Ihr Auftritt im Lokal. Lukas, der sich sofort in sie verliebt hatte – Lucia sieht ihrer Mutter sehr ähnlich, und an diesem Nachmittag unterstrich sie die Ähnlichkeit noch. Gleiches Makeup, gleiche Frisur. Gleicher Kleidungsstil. Sie war erstaunt, dass Lukas‘ Freundin ihr so gar nichts entgegengesetzt hatte. Aber um so besser.

Nur dass Ingo sich an sie drangehängt hat, das hat Lucia nicht geplant. Andererseits – in den Aufzeichnungen ihrer Mutter steht, dass er damals mitgemacht hatte. Wenn schon Rache, dann am besten gleich als Rundumschlag.

Sie fuhren an eine einsame Stelle am Strand, die Lukas noch von damals kannte. Sie hatten Prosecco dabei. Und Lucia dazu noch Rohypnol. Zahn um Zahn. Bei Lukas setzte die Wirkung sehr schnell ein. Bei Ingo leider nicht. Er merkte, dass etwas nicht stimmte. „Ich rufe die Carabinieri“, sagte er. Da konnte Lucia nicht anders. Sie versetzte ihm einen Schlag mit der Proseccoflasche. Dann schleppte sie Lukas, der gerade noch stolpern konnte, über den Strand zu einer versteckten Grotte. DER Grotte, in der er vor 40 Jahren gemeinsam mit seinen Freunden Laura vergewaltigt hatte, nachdem er sie mit Rohypnol betäubt hatte.

Das ist jetzt 5 Stunden her. Lukas schläft immer noch, wird aber langsam unruhig. Als es hell wurde, ist sie, weil Lukas noch schlief, an den Strand gelaufen. Von Ingo keine Spur! Das heißt, dass sie sich beeilen muss mit dem, was sie noch vorhat, bevor Ingo Hilfe holt. Wenn er sich an irgendwas erinnert.

Später hat Lucia in ihrem Versteck in der Grotte Sirenen gehört. Carabinieri und eine Ambulanz. Sie fuhren Richtung Tirrenia. Aber danach ist kein Wagen mit Sirene zurückgefahren. Haben sie Ingo gefunden? Dann müssten sie ihn ins Krankenhaus gefahren haben. Oder ist er tot?

Lukas wird unruhig. „Was? Wo?“ fragt er. Und bemerkt, dass er sich nicht bewegen kann. Lucia hat ihn mit Kabelbindern an Knöcheln und Handgelenken gefesselt.

„Ciao Lukas. Oder soll ich sagen Papà?“ „Wie? Wer?“ Lukas ist noch benommen. Aber er wird schon wach werden, wenn sie ihm Lauras Tagebuch vorliest.

…..

Inzwischen ist es Spätnachmittag. Lucia klappt das Tagebuch zu. Lukas ist wach. Er war wütend, wollte schreien, da hat Lucia ihn geknebelt. Seit ein paar Stunden ist er einfach nur noch still. Ergeben? Er hat sich eingenässt. Es macht ihm nichts aus. Ist er immer noch so voller Arroganz?

„Du warst ihr Freund. Warum habt ihr sie mit Rohypnol betäubt? Warum hast du erlaubt, dass deine Freunde sie vergewaltigen? Warum hast du dich danach nicht mehr bei ihr gemeldet? Erst Jahre später? War es dir egal, dass du vielleicht eine Tochter hast?“

Jetzt stöhnt Lukas. Schüttelt den Kopf. Keine Tochter?

„Ah, du hattest damals schon eine Vasektomie machen lassen? Dann hast du meine Mutter also nur deshalb vergewaltigen lassen, weil du es konntest? Einfach so? Meine Mutter war von eurer Tat so aus der Bahn geworfen, dass sie ihr Studium nicht mehr aufnehmen konnte. Sie ist nach Südamerika gereist, hat sich dort bis zu meiner Geburt mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten und meinen Großeltern bei ihrer Rückkehr eine herzzerreißende Geschichte über einen reichen Brasilianer erzählt, der ihr alles Glück der Erde versprochen und sie dann hochschwanger verlassen hat. In Brasiien hat sie sich eine gefälschte Approbation besorgt und damit bist vor 2 Wochen gearbeitet. Dann ist sie aufgeflogen. Irgendein blödes Datenleck. Jetzt liegt sie nach einem Selbstmordversuch auf der Intensivstation. Und an all dem bist NUR du schuld.“

Lukas starrt sie an. Unverwandt. Und nickt. Nickt. Und zuckt die Schultern. Dreht den Kopf weg. Nicht sein Leben. Nicht sein Problem. Lucias Geschichte hat seine schönen romantischen Erinnerungen an die Zeit in Pisa zerstört. Das gefällt ihm nicht. Was will diese Frau von ihm? Er ist ganz bestimmt nicht schuld daran, dass ihre Mutter zu schwach war, einfach aufzustehen und weiterzugehen.

Lucia sieht ihm an, was er denkt. Sie nimmt einen Stein. Schlägt Lukas damit an die Schläfe. Als es dunkel geworden ist, schleppt sie ihn mit der Sackkarre an den Strand, Zur alten, gesperrten Mole. Ein Sturm ist aufgekommen. Kein Mensch ist zu sehen. Sie kippt ihn hinunter. Ins Meer. Wenn er rechtzeitig aufwacht, hat sie ein Problem. Aber sie geht nicht davon aus.

Danke euch allen für die vielen spannenden Tipps. Ich habe sie in den zweiten Teil des Thrillers eingearbeitet.

MiniKrimi Adventskalender am 12. Dezember


Leben und sterben lassen

Helena arbeitet gerne beim ärztlichen Bereitschaftsdienst. Für die Chirurgin in einer großen Klinik sind die Einsätze die wenigen Momente, in denen sie nicht nur einen Körper „bearbeitet“, sondern den ganzen Menschen erlebt. Die vierfache Mutter, die so viel mit den Kindern zu tun hatte, dass sie ihren Husten so lange verdrängte, bis sie keine Luft mehr bekam. Den Rentner in seiner kleinen Wohnung, in der sie durch Zeitungsstapel waten und einen fauchenden Kater umgehen musste, um bis zu der Eckbank vorzudringen, wo er, vor Gallenschmerzen gekrümmt, kauerte. Das Pärchen in einer schicken Villa im Nobelviertel, das sich in Abwesenheit der Eltern mit Magic Mushrooms in einen Rausch katapultiert hatte, der bei einer der beiden in einen massiven Verfolgungswahn umgeschlagen war.

Ihre Arbeit beim ärztlichen Bereitschaftsdienst motiviert sie, weiterzumachen, wenn der Klinikalltag mit Bürokratie, engstirnigem Regelwerk und ständiger Bevormundung durch die dienstälteren Kollegen unerträglich zu werden droht.

Jetzt, in der Woche vor Weihnachten, hat sie gleich mehrere Schichten übernommen. Als Single in einer ihr noch fremden Stadt ist ihr das lieber als einsame Abende mit Rotwein und TV-Schnulzen. Nur heute würde sie gerne pünktlich zum Schichtwechsel um 22 Uhr Schluss machen. Denn sie hat sich mit ihrer besten Freundin, die für ein Jahr in New Orleans arbeitet, für ein Zoom-Treffen verabredet.

21 Uhr. Bis jetzt ist der Dienst mehr als ruhig verlaufen. Die Leute sind mit den Weihnachtsvorbereitungen offensichtlich zu beschäftigt, um krank zu werden. Und die Einsamen, Depressiven warten mit ihrem Blues vermutlich bis Heiligabend. Wo werde ich am 24. sein?, fragt sich Helena. Zuhause bei den Eltern, 400 physische Kilometer und Lichtjahre entfernt von ihrem Leben? Oder auf der X-Mas Single Party, auf der sie wahrscheinlich mehr als einen Kollegen treffen würde?

Das Telefon klingelt. „Helena, Einsatz. Nichts Lustiges, leider. Ne Leichenschau. Im Entenbachstift.“ „Aber das Stift hat doch seine eigenen Ärzt*innen?“ „Ja, aber die Anruferin hat explizit nach dir gefragt. Ihr Mann ist gestorben.“ „Wie, nach mir?“ „Also nach jemandem von uns. Fahr da mal hin. Vielleicht kriegst du ja auch was geschenkt.“ „Wie bitte? Das geht ja gar nicht!? „Der Dr. Hennig-Liske war mal dort und hat ne Flasche Champagner mitgebracht. Sei ihm regelrecht aufgezwungen worden, hat er erzählt.“ „Naja, wohl kaum, wenn sie gerade den Ehemann verloren hat. Ich bin schon unterwegs.“

Und so klingelt Helena am 21. Dezember um 21.20 Uhr bei Prof. Dr. Weimar. So steht es auf der Adresse., die Sybille ihr und dem Fahrer, Frank, mitgegeben hat.

„Du wartest?“ Die Frage ist rhetorisch. Natürlich wartet Frank. Und natürlich erwartet er, dass Helena nicht länger als nötig weg ist.

Der Türöffner summt, gleichzeitig sagt eine verzerrte Stimme aus der Gegensprechanlage: „4. Stock, gleich gegenüber vom Aufzug. Oder rechts neben der Treppe, wenn Sie lieber zu Fuß gehen.“

Als Helena oben ankommt, ist die Tür zur Wohnung Weimar angelehnt. Aus halbdunklen Tiefen tönt Musik: Mozarts Requiem. Die Frau hat Nerven wie Drahtseile, denkt Helena. Oder Stil. Oder beides.

„Guten Abend. Danke, dass Sie gekommen sind. Bitte hier entlang.“ Die Frau ist hochgewachsen und schlank, sie trägt einen weiten Hausanzug aus dunkelrotem Samt. Die gleiche Farbe wie ihre Lippen. Die grauen Haare fallen in weichen Wellen auf ihre Schultern. Die Augen schwarz, die Nase gerade, der Blick scharf. Eine sehr schöne Frau. Eine alte Dame. Unwillkürlich fühlt Helena sich zu ihr hingezogen. Das ist unprofessionell und ihr noch nie passiert.

Die alte Dame deutet auf eine Gestalt, die in der Ecke eines dunkelgrauen Sofas lehnt, den Kopf nach hinten gebeugt, in eine karmesinrote Decke gehüllt. „Mein Mann.“ Als wolle sie ihn Helena vorstellen. Er sieht aus, als würde er schlafen, und einen Augenblick lang denkt Helena, dass er aufstehen und ihr die Hand küssen wird, vielleicht mit einer gemurmelten Entschuldigung, weil er eingenickt ist. Seine Frau beugt sich über ihn, streicht ihm über das perfekt geschnittene Haar und streift seine Stirn mit einem leichten Kuss. Es ist ein Bild von unendlicher Nähe und Zärtlichkeit.

„Sie haben doch schon mal einen Toten gesehen?“ Jetzt erst merkt Helena, dass sie im Türrahmen stehengeblieben ist. „Natürlich.“ Sie gibt sich einen Ruck. Es fällt ihr nicht leicht, die Routine aufzunehmen in diesem gemütlichen Raum, der Leben und die Liebe dazu atmet. Von den deckenhoch in Reihen geordneten Büchern über das Sofa, die Lesesessel links und rechts vom Kamin, in dem ein küstliches Feuer flackert, bis zu den Fenstern, die die näctliche Stadt mit ihren Lichtern ungehindert teilhaben lassen an dem, was sich hier abspielt. Als sei es eine Bühne.

Sie nähert sich dem Mann. Dem Toten. Das kann sie zweifelsfrei feststellen. Der Körper ist noch warm, doch die Haut beginnt schon, abzukühlen, und Helena erkennt einzelne Totenflecken. Die Augen sind geschlossn. „Waren Sie das?“, fragt Helena die Frau. „Nein, er hat die Augen selbst zugemacht. Ihm war komisch, hat er gesagt.“ „Und wann war das?“ „Keine Ahnung. Vor zwei Stunden, vielleicht.“ „Warum haben Sie nicht gleich einen Arzt gerufen?“ „Er wollte das nicht. Und es ging ihm ja nicht schlecht. Ihm war, wie gesagt, nur komisch.“ „Und wann haben Sie gemerkt, dass er tot war? Waren sie die ganze Zeit bei ihm?“ „Nein, ich zwar zwischendurch in der Küche und im Bad. Ich habe immer mal wieder nach ihm gerufen. Als er nicht mehr geantwortet hat, bin ich sofort zu ihm gegangen. Da hat er nicht mehr geatmet.“

Helena versucht, die Situation in Augenschein zu nehmen. Woran der Mann gestorben ist, kann sie nicht erkennen. Er sieht friedlich aus. Es hat mit Sicherheit keinen Kampf gegeben. Weder mit einem anderen Menschen noch mit dem Tod. „Als habe er ihn willkommen geheißen“, denkt sie. Und schüttelt den Kopf. Sie ist sonst nicht romantisch veranlagt. Aber dieser Raum verbreitet eine ganz eigene Athmosphäre. Erst jetzt wird ihr bewusst, dass die Musik immer noch an ist. Sie kann keine Anlage erkennen, der Klang scheint frei im Raum zu schweben. Eine teure Wohnung, das ist klar. Ein reiches Paar.

Helena stellt die obligatorischen Fragen. Litt der Mann an einer oder mehreren Krankheiten? Natürlich. Mit 91. Bluthochdruck, Arthrose, er hatte grauen Star. Und mehere Bypässe. Aber vor allem war er alt. „WIr beide sind alt“, sagt seine Frau. Sind. Nicht waren. Denn ihr Mann ist noch hier, ist noch präsent. Helena bemerkt, dass kein Fenster geöffnet ist. Keine Seelenwanderung geplant, offensichtlich.

„Ging es ihm schlecht, heute? Hat er über etwas gekasgt?“ „Nein, nicht mehr als üblich. Er konnte seine Brille nicht finden, und die Butter war nicht salzig genug. Männer ertragen das Alter schwerer als Frauen, wussten Sie das? Aber nein, dafür sind Sie zu jung.“

Tatsächlich kann Helena ein Lied davon singen, wie wehleidig Männer sind. Aber daran sterben sie normalerweise nicht. Was also soll sie auf den Totenschein schreiben?

« Ich kenne weder die unmittelbar zum Tod führende Krankheit noch eine ursächliche Krankheit, die die unmittelbare Todesursache herbeigeführt haben könnte. Vor allem: sogar ein moribunder Patient kann rein theoretisch eines unnatürlichen Todes sterben. Ich kann – auch bei fehlenden äußeren Verletzungszeichen – nicht ausschließen, dass ein Verbrechen vorliegt, eine Vergiftung, zum Beispiel“, sagt sie. Eigentlich ist die Bescheinigung eines natürlichen Todes nur im Krankenhaus möglich, und auch dann nur, wenn der Tote vorher immer unter ärztlicher Kontrolle stand.

Helena muss eine Entscheidung treffen. Soll sie – mit erheblichem finanziellen und, für sie und für Frank, zeitlichen Aufwand eine Obduktion veranlassen? An einem 91-Jährigen, der in einem luxuriösen Seniorenstift wohnte? Helena sieht die Überschriften der lautesten Boulevard-Zeitschriften vor sich: Bereitschaftsärztin schikaniert trauernde Witwe. Wer weiß, vielleicht war der Professor irgendeine bekannte Koriphäe?

„Und was machen wir jetzt?“, fragt seine Frau. „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich brauche jetzt einen Gin Tonic. Und für Sie einen Tee, als Kompromiss, ja?“ Sie geht in die Küche, ohne Helenas Antwort abzuwarten. DIe ruft in der Zwischenzeit ihren Fahrer, Frank, an. „Du, das kann hier noch dauern. Ich muss das irgendwie abklären.“ „Wie, abklären? Isser tot oder nich?“ „Doch, schon.“ „Aber? Im Auto wird’s langsam kalt, und wir beide haben um 22 Uhr Schichtende. Das ist in 5 Minuten!“ „Ich weiß. Aber (Helena hat noch nie ihre Autorität raushängen lassen, doch jetzt tut sie es. Unwillkürlich. Und sehr bestimmt) ich brauche hier noch eine Weile. Fahr zurück, schick wen anders. Aber sag mir nicht, wie ich meine Arbeit machen soll.“ „Okokok!“ Frank ist hörbar beeindruckt.

„So, der Tee. Milch, kein Zucker, stimmt’s?“ „Ja. Danke. Woher…?“ „Ach, egal. Also, was müssen Sie wissen? Ich soll Sie überzeugen, dass ich meinen Mann nicht getötet habe? Hier sehen Sie den Beweis.“ Mit einer ausladenden Geste zeigt sie auf das Zimmer, die Wohnung. Die Bücher. Die vielen Fotos. alle von einem glücklichen, zufriedenen, ineinander ruhenden Paar. „Wir sind seit 50 Jahren verheiratet. Keine Kinder. Wir waren uns gegenseitig genug. Zwei Hälften eines Ganzen. Jetzt ist eine Hälfte zerbrochen. Ich werde nie wieder ganz sein. Warum hätte ich ihn umbringen sollen? Und damit einen Teil von mir?“

Helena schaut in den Tee. Earl Grey. Sie liebt ihn, kennt aber niemanden, der diese Vorliebe teilt. „Frau Weimer“, beginnt sind. Und wird unterbrochen. „Weimar, das war er. Julius. Mein Name ist Best. Elisa Best. Dr. aber das vergessen Sie gleich wieder. Und bevor Sie fragen: wir haben uns in Berlin kennengelernt, im Kalten Krieg. Er arbeitete für die USA. Ich – hatte auch einen spannenden Job. Ich habe Menschen geholften. Es war für uns beide die große Liebe. Bitte, glauben Sie mir. Sie wissen, wovon ich spreche!“, Elisa Best fixiert Helena mit diesem Blick, schwarz und tief.

Best. Best. Dieser Name.

Pltzlich muss Helena auf die Toilette. Granz dringend. „Der Tee…“, entschuldigt sie sich. „Sie haben sicher ein Gäste-WC.“ „Ach, gehen Sie einfach ins Bad. Gleich hier rechts.“

Als sie aus dem Badezimmer kommt – schwarz-weiße Kacheln, blitzender Chrom,, eine Badewanne auf goldenen Füßen und eine doppelt verspiegelte Vitrine als Schrank, geht Helena noch einmal zum Toten hinüber. Zu Julius. „So darf ich ihn doch nennen?“, fragt sie, und Elisa nickt. Mit einer, wie sie hofft, liebevollen Geste streicht Helena ihm übers Haar. Nimmt zärtlich seine Hand in die ihre. „Wie wunderbar er aussieht. Julius. Als würde er zu einem großen Fest gehen. Ein eleganter Anzug. Glänzende Shuhe. Und die Hände. Perfekt manikürt. Ich hätte ihn gerne kennengelernt.“

Elisa kommt dazu. Legt ihren Arm um Helenas Schulter.

„Er war bereit. Komm. Lass ihn gehen. Bitte.“

Helenas Telefon unterbricht den Moment. Frank. „Ich hab doch gesagt, ich brauche noch etwas Zeit.“ „Ok, aber beeil dich. Hattest du nicht auch noch was vor, heute?“

Ja, hatte sie. Aber manchmal kommt dir das Leben eben dazwischen.

Sie breitet den Bogen aus, den sie ausfüllen muss. Schreibt und kreuzt an und schreibt.

„So“, sagt sie schließlich. „Ich gehe jetzt runter zu Frank und gebe ihm den Bogen mit.“

„Und dann?“ „Und dann komme ich nochmal rauf. Ich glaube, wir haben noch was zu besprechen, Elisa. Du und ich.“

Elisa nickt. Und dann, plötllich, schwimmt ein verdächtiger Schimmer in ihren Augen.

Es ist lange nach Mitternacht. Draußen, jenseits der Fenster, umrahmt von roten Samtportieren, gehen nach und die Lichter aus in der Stadt. Drinnen sitzen zwei Frauen am Feuer.. Eine alte, eine junge. Die Hände verschränkt. Die alte weint. Endlich. Zum ersten Mal, seit bei Julius vor über drei Jahren Alzheimer diagnostiziert wurde. In London. Von einem befreundeten Neurologen, der darüber Stillschweigen bewahrte.

„Seitdem tanzten wir beide auf dem Vulkan. Jedes Schachspiel, jeder Ausflug, jedes Abendessen waren plötzlich einzigartig, weil unwiederbringbar. Dann, vor einem Monat, erkannte Julius mich eines Morgens nicht mehr. Am Abend erinnerte er sich daran. Und wir wussten, jetzt ist es an der Zeit. Julius hat sein Leben lang immer selbst die Zügel in der Hand gehalten. Genau wie ich. Er wollte in Würde gehen. Und manchmal heißt lieben auch loslassen, gegen dein eigenen Willen. Oder die eigene Überzeugung. Ich hatte die Mittel. Und das Wissen. Und den Mut. Also habe ich ihm geholfen.“

„Und warum gerade heute?“, fragt Helena, obwohl sie die Antwort kennt. „Ich wusste, dass du die diensthabende KVB-Notärztin sein würdest.“

„Wie hast du mich gefunden?“ „Deine Großmutter und ich sind nach wie vor befreundet. Das passiert beim BND nicht so oft. Eigentlich gar nicht. Die meisten wollen ihre Agentenzeit lieber komplett vergessen. Aber wir beide – wir waren ein tolles Team.“

„Ich weiß. Die „Mad Women“, haben sie euch wohl genannt. Meine Großmutter hat das gleiche Foto“, sagt sie und zeigt auf ein S/W-Bild von zwei jungen Frauen, schön, stark, Rücken an Rücken und jede mit einem Revolver in der Hand.

„Ja, und stell dir vor, den Namen hat Julius uns gegeben! Aber woran hast du gemerkt, dass etwas an Julius Tod nicht stimmte? Ich bin eigentlich perfent und arbeite ohne Fehler.“

„Du warst perfekt. Fast. Ich habe im Bad herumgeschnüffelt. Dabei habe ich deine Diabetes-Spritzen gefunden. Und ein paar Antidementiva und Neuroleptika. Als ich Julius Hand genommen habe, habe ich unter dem Nagel noch die feinste Spur eines Einstichs gefunden. Aber warum ich überhaupt misstrauisch geworden bin? Ich glaube, ich habe dich einfach erkannt. Das Foto bei meiner Großemutter hat mich von klein auf fasziniert.“

„Ja. Ich glaube, wir beide wären verweandte Seelen, wenn es denn so etwas gäbe. Was machst du übrigens zu Weihnachten? Ich werde sehr einsam sein.“

„Nein. Zusammen wird keine von uns alleine sein. Und auch nicht einsam.“

Adventskalender MiniKrimi am 2. Dezember


Eigentlich sollte es heute ein Schneechaos-Krimi werden. War ja selbst mittendrin in den nicht enden wollenden nassen Schneemassen, die sich über München ergossen. Aber dann erzählte mir mein Sohn von einer Krimi-Idee, die ihm – er ist Anästhesist – mal im OP gekommen war. Er warf mir die Gedankenknochen hin. Und ich fand das Thema so spannend, dass ich Fleisch dransetzte (die Allegorie habe ich natürlich mit Absicht gewählt). Et voilà. Schnee kommt dann morgen. Vielleicht.

Am I legend?

„Was ist denn das für ein Geräusch? Der Wecker! Ich hab verschlafen!“ Er setzt sich auf, die Augen noch halb geschlossen, und schiebt die Beine über den Bettrand. Oder vielmehr: er will, aber es gelingt ihm nicht. Irgend etwas fesselt ihn. Das Piepsen wird eindrindlicher. Er öffnet die Augen. „Wo bin ich?“ Das ist nicht sein Schlafzimmer, sondern ein gekachelter Raum mit einer Unmenge an Geräten rund um sein Bett, das nicht mehr als eine schmale Liege ist. „Was hab ich da im Gesicht?“ Er reißt sich die Maske herunter und starrt auf den Tubus, der von ihr zur Quelle des Geräusches führt, das ihn geweckt hat. Ihm wird schwindlig. Er schließt die Augen, lässt sich auf die Liege zurücksinken und versucht, sich zu erinnern. Egal an was.

„Ja. Heute war der Termin für meine Karpaltunnelsyndrom-OP. Ich war schon Tage vorher sp aufgeregt, dass die Ärztin mir zu einer Vollnarkpse geraten hatte. Meine Frau hat mich in die Klinik gefahren. Ich habe die Ärztin gsprochen, dann kam der Anästhesist. Und dann?“

Blackout. Die Ärztin? Die Assistenz? Pflegeperspnal? Keiner da? „Hallo!“, ruft er. Er atmet tief ein. Hebt den Kopf. Schaut sich um. „Verdammt! Bin ich im falschen Film oder hab ich nen Albtraum?“ Um ihn herum verteilt im kleinen Operationssaal liegen die Ärztin und ihre Assistenz, der Anästhesist, eine Krankenschwester. Alle reglos. Langsam und mühevoll richtet er sich auf. Die Ärztin hat noch das Skalpell in der Hand. Sie sieht friedlich aus. Vielleicht ein klein wenig erstaunt. Jedenfalls nicht verwundet. Aber woher kommt dann das Blut. das auf ihre blassen Lippen tropft? „Das bin ja ich! Ich blute! Die haben mich aufgeschnitten und nicht mehr zusammengenäht!“ Tatsächlich klafft in seiner linken Hand eine tiefe Wunde. Zu tief für den geplanten Eingriff. „Was geht hier vor? Wollten die mich umbringen?“ Nun, das scheint jedenfalls gründlich schiefgegangen zu sein.

Er steht auf. Dabei reißt er sich alle möglichen Drähte und Schläuche vom Körper. Ihn fröstelt. Kalt hier. Vor allem in dem dünnen OP-Hemd. Er muss hier raus und jemanden finden, der ihm hilft. Der ihm erklärt. was passiert ist. Was das hier soll.

Im zentralen Aufwachraum stehen einige Betten mit Patienten. Alle reglos. Alle blass. Genauso tot wie die Leute hinter der Theke.

Jetzt wird er wütend. „Was ist denn das für ein Schlendrian? Es ist wirklich höcshte Zeit, dass sich etwas ändert. Als erstes werde ich die Handchirurgie schließen. Die Abteilung bringt nicht nur zu wenig Kohle, die Leute sind die reinsten Zombies.“

Da kommt ihm ein Verdacht. Sollte der kaufmännische Leiter der Klinik nach dem Gespräch mit seinem neuen Investor trotz ihrer Abmachung geplaudert haben? War die OP ein abgekartetes Spiel, um ihn an der Übernahme des Krankenhauses und den geplanten Schließungen zu hindern?

Aber warum sind dann die anderen tot – und nicht er? Systematisch durchkämmt er das Haus. Und findet überall Leichen. Ohne erkennbare Verletzungen, ohne verkrampfte Gesichtszüge. Aber ganz offensichtlich leblos.

Er irrt durch menschenleere Flure, zieht eine rote Blutspur hinter sich her wie den Ariadnefaden. Keine Menschenseele. Oder vielleicht doch, aber dann nur noch Seelen. Schließlich gelangt er zu einer massiven Metalltür. ‚Kontrollraum‘ steht auf einem angegrauten Schild an der Wand. Daneben ein Knopf. EIn leichter Druck, und die Tür gibt die Sicht frei auf die Kommandobrücke eines veralteten Raumschiffs. Gleich wird Käptn Kirk sich von seinem Thron erheben und…. Da ist er schon. Allerdings sieht er weniger wie ein Sterneflotten-Kommandant aus. Eher wie Rambo. Ein Muskelpaket mit tätowiertem Hals.

„Hey, was machst du hier? Warum? Warum? Bist du nicht tot, wie die anderen? Du musst das Cyanid doch auch eingeatmet haben?“ „Cyanid? Keine Ahnung, was für ein Stoff da in meinem Beatmungsgerät war“, anwortet er.

„Sch…..!“ grunzt Rambo und greift in die geräumige Tasche seines weißen Kittels. „Fehler meinerseits. Da hab ich in der Ausbildung nicht aufgepasst. Wenn du beatmet wirst, kriegst du das Gas natürlich nicht mit. Aber egal. Stirbst du eben später.“ Jetzt hält er eine Spritze in der Hand und hebt drohend den Arm. „Aber warum? Was ist denn hier los?“ „Was hier los ist? Ich hab gerade so meine Krankenpflege-Ausbildung geschafft. War tierisch kompliziert. Dann wollte mich keiner nehmen – Pflegenotstand hin oder her. Ich sei zu unberechenbar und psychisch instabil. Und als ich endlich doch ne Stelle gefunden habe, hier, da kommen Sie und wollten einfach meine Abteilung dichtmachen. Aber nicht mit mir! Ich lass euch alle hops gehen. Sie und die anderen eingebildeten Idioten hier. Ihr steckt doch alle unter einer Decke. Hättet mir wenigstens eine Chance geben können!“

Jetzt stehen sie sich gegenüber. Blitzschnell hebt der Pfleger die Hand und jagt die Spritze in seinen Feind.

„So, das war’s. Hallo? Herr Meister? Hallooo! Ah, da sind Sie ja. Willkommen zurück. Hatten Sie einen schönen Narkosetraum?“

Der Investor starrt den Arzt wortlos an. Später, auf dem Weg nach Hause, fasst er den Entschluss, sich nochmal gründlich über das Krankenhaus zu informieren, bevor er endgültig in die Finanzierung einsteigt.

Adventskalender Minikrimi am 3. Dezember


Image by Stefan Keller from Pixabay
Rapunzel, lass dein Haar herunter
München, die Singlehauptstadt. Andreas hätte es schlechter treffen können mit dem Ort seiner Facharztausbildung. Da würde er neben einem netten Job und einer schönen Wohnung auch bald eine hübsche Freundin sein Eigen nennen. Das hatte er zumindest gedacht. Doch heute, gut zwei Jahre nach seinem Umzug aus dem unter medizinischen und landschaftlichen Aspekten sicher reizvollen, aber für einen Endzwanziger mit entsprechender Testosteronlast nur bedingt aufreizenden Städtchen war in Sachen Beziehung enttäuschend wenig gelaufen. Im Gegensatz zu Samson, seinem roten Kater, hatte Andreas bisher nicht einmal so etwas wie eine leidenschaftliche Affäre gehabt. Auch Krankenschwestern waren heute offensichtlich nicht mehr unbedingt auf charmanten Ärztenachwuchs aus. 
 
Aber dann geschah es: eines Morgens klingelte jemand an seiner Wohnungstür im ersten Stock eines renovierten Altbaus im Münchner Stadtteil Bogenhausen. Sturm. Eine Frau stand vor ihm, mit schulterlangen blonden Locken, wutsprühenden grünen Augen und einem Scharlachmund, dem wunderbar modulierte Alttöne entsprangen. Im ersten Moment dachte er tatsächlich, sie sänge. Dann hörte sie abrupt auf und starrte ihn erwartungsvoll an. Er schwieg fasziniert. „Haben Sie mich nicht verstanden? Das ist Katzenkot“, und sie hielt ihm einen offenen Gefrierbeutel vor die Nase. Der Geruch war eindeutig. „Soeben auf frischer Tat ertappt! Wenn Ihr elender Kater noch einmal in meine Rosen scheißt, bringe ich Sie um. Haben Sie mich jetzt verstanden?“ 
„Warum mich?“ fragte Andreas, als er sich von seinem Stupor erholt hatte. Aber die Worte rieselten von den Wänden, ohne sie zu erreichen. Sie war schon den Gang entlang und die Treppe hinabstolziert. Auf 10 cm Absätzen.
 
Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Zumindest von seiner Seite aus. Nach einer Woche wusste er genau, wann sie die Wohnung verließ und  wann sie wieder nach Hause kam. Sie musste im medizinischen Bereich tätig sein, vielleicht war sie Ärztin, genau wie er. Wenn das kein Zeichen war. Wie gut, dass er seinen romantischen Traum von der großen Liebe nicht aufgegeben und sich irgendeiner Patientin an den Hals geworfen hatte. Er hatte sich für sie aufgehoben. Das musste ihr gefallen.
Wenn er ihr morgens „rein zufällig“ an der Haustür begegnete, hielt er ihr diese galant auf. Hatte sie eine Tüte mit Abfällen in der Hand, ging er ihr voraus zum Müllhäuschen und hob den Deckel der Restmülltonne für sie hoch. Sie bedankte sich mit einem Lächeln, noch knapper als ihr Lederrock. Andreas fand es absolut in Ordnung, dass sie reserviert war. Er hätte nichts anderes von ihr erwartet. 
 
Nur sein Kater machte ihm zu schaffen. Der Kerl war ein Despot. Schon immer gewesen, seit er ihn vor 20 Jahren von der Straße gekratzt und zum Entsetzen seiner Mutter ins Haus geschleppt hatte. Ohne besondere Pflege hatte sich das Tier erholt,  bis auf den Verlust eines Auges und ein leichtes Humpeln hatte es keinen Schaden davongetragen. Zumindest körperlich. Psychisch, davon war Andreas überzeugt, war der Kater seither ziemlich abgestumpft. Bzw. war er ein Menschenhasser geworden. Auch Andreas wurde von ihm nur geduldet. Er ließ sich nie streicheln. Aber nachts lag er auf einem eigenen Kopfkissen in dem optimistischen Kingsize-Bett. Obgleich sie einander keinerlei Liebe eingestanden, waren die beiden unzertrennlich. Allerdings hatte Andreas keine Macht über den Kater, der über die Katzentreppe vom ersten Stock in die Gärten ging und wieder kam, wie er wollte. Seltsamerweise aber machte er sein Geschäft nie wieder in den Garten von Dr. Verena Mießtal – den Namen hatte das Klingelschild preisgegeben.
 
Nach einem Monat intensiven Werbens zwischen Haustür und Müllhäuschen ging Andreas zum Angriff über. An einem Sommerabend um 20 Uhr stand er vor ihrer Tür. Während des Heimwegs auf dem Rennrad von der Klinik und dann unter der Dusche hatte er sich den Verlauf des Abends ausgemalt. Nein, vorgestellt. Er wusste genau, was passieren würde. Und hatte sicherheitshalber das Fenster, an dem die Katzentreppe montiert war, geschlossen, um jedwede Störung ihrer ersten gemeinsamen Nacht auszusperren.
 
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihm die Tür öffnete. Aber dann wurden seine kühnsten Erwartungen übertroffen.Da stand sie vor ihm, mit tropfenden Haaren, nur in ein Badehandtuch gehüllt. „Ja`?“ fragte sie, während sich um ihre Füße eine kleine Wasserlache bildete, aus der der Duft von Jasmin aufstieg.“Da bin ich“, sagte er, hielt ihr die roten Rosen entgegen, beugte sich ein wenig zu ihr herab – sie war etwas kleiner als er, nicht zu viel, nicht zu wenig – und küsste sie innig auf die halb geöffneten Lippen, am Ziel seiner Träume, endlich.
 
Aber dann: Filmriss! 
„Sag mal spinnst du? Du tickst ja wohl nicht richtig“ „Aber – ich dachte…“ „Du dachtest WAS? Nein, danke. Ich bin nicht interessiert!“
Während Andreas noch versuchte, ein paar passende Worte zu sammeln, passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Aus der Tiefe der Wohnung rief eine Stimme – hell, weiblich – „Was ist, Vreni? Soll ich die Polizei rufen?“ Und eine Frau, jünger als Verena, mit kurzem braunem Haar und ebenfalls nur in ein Badetuch gehüllt, trat aus dem Schatten des Flures. Eine rote Kugel flog mit markerschütterndem Gekreische an Andreas vorbei, landete im Gesicht der jungen Frau und durchpflügte es mit scharfen Krallen, bevor sie pfeilschnell in den ersten Stock hinauf verschwand.
 
Als Andreas am nächsten Abend nach Hause kam, lag der rote Kater tot auf dem Kopfkissen, äußerlich unverletzt.
 
Dr. Verena Mießtal konnte nicht ahnen, dass ihr Verehrer kürzlich am Rande einer Fortbildung aufgeschnappt hatte, dass der Wirkstoff Minoxidil, der in einem äußerst beliebten Haarwuchsmittel enthalten ist, schon in geringsten Dosen für Katzen tödlich ist, und dass Tierärzte das sehr wohl wissen, ihren humanmedizinischen Kollegen aber nicht sagen. Warum auch. Und wann. Sie hatte außerdem keinen Gedanken daran verschwendet, dass Andreas beim Erforschen ihres Lebens auch Kenntnis von ihrem Beruf als Veterinärin erhalten hatte. 
 
Nachdem er den leisen Geruch im Fell seines Katers identifiziert hatte, wartete er, still, gefühllos, geduldig, so lange abends am Müllhäuschen, bis Verena schließlich mit einer Abfalltüte in der Hand auftauchte. Der Messerangriff, der nur dank Verenas Gegenwehr nicht tödlich ausging, wurde als versuchter Raub behandelt, der Täter nie gefasst.
 
Sowohl Verena als auch Andreas verließen den wunderschönen Altbau in Bogenhausen. Hoffentlich in entgegengesetzte Richtungen.