Leben und sterben lassen
Helena arbeitet gerne beim ärztlichen Bereitschaftsdienst. Für die Chirurgin in einer großen Klinik sind die Einsätze die wenigen Momente, in denen sie nicht nur einen Körper „bearbeitet“, sondern den ganzen Menschen erlebt. Die vierfache Mutter, die so viel mit den Kindern zu tun hatte, dass sie ihren Husten so lange verdrängte, bis sie keine Luft mehr bekam. Den Rentner in seiner kleinen Wohnung, in der sie durch Zeitungsstapel waten und einen fauchenden Kater umgehen musste, um bis zu der Eckbank vorzudringen, wo er, vor Gallenschmerzen gekrümmt, kauerte. Das Pärchen in einer schicken Villa im Nobelviertel, das sich in Abwesenheit der Eltern mit Magic Mushrooms in einen Rausch katapultiert hatte, der bei einer der beiden in einen massiven Verfolgungswahn umgeschlagen war.
Ihre Arbeit beim ärztlichen Bereitschaftsdienst motiviert sie, weiterzumachen, wenn der Klinikalltag mit Bürokratie, engstirnigem Regelwerk und ständiger Bevormundung durch die dienstälteren Kollegen unerträglich zu werden droht.
Jetzt, in der Woche vor Weihnachten, hat sie gleich mehrere Schichten übernommen. Als Single in einer ihr noch fremden Stadt ist ihr das lieber als einsame Abende mit Rotwein und TV-Schnulzen. Nur heute würde sie gerne pünktlich zum Schichtwechsel um 22 Uhr Schluss machen. Denn sie hat sich mit ihrer besten Freundin, die für ein Jahr in New Orleans arbeitet, für ein Zoom-Treffen verabredet.
21 Uhr. Bis jetzt ist der Dienst mehr als ruhig verlaufen. Die Leute sind mit den Weihnachtsvorbereitungen offensichtlich zu beschäftigt, um krank zu werden. Und die Einsamen, Depressiven warten mit ihrem Blues vermutlich bis Heiligabend. Wo werde ich am 24. sein?, fragt sich Helena. Zuhause bei den Eltern, 400 physische Kilometer und Lichtjahre entfernt von ihrem Leben? Oder auf der X-Mas Single Party, auf der sie wahrscheinlich mehr als einen Kollegen treffen würde?
Das Telefon klingelt. „Helena, Einsatz. Nichts Lustiges, leider. Ne Leichenschau. Im Entenbachstift.“ „Aber das Stift hat doch seine eigenen Ärzt*innen?“ „Ja, aber die Anruferin hat explizit nach dir gefragt. Ihr Mann ist gestorben.“ „Wie, nach mir?“ „Also nach jemandem von uns. Fahr da mal hin. Vielleicht kriegst du ja auch was geschenkt.“ „Wie bitte? Das geht ja gar nicht!? „Der Dr. Hennig-Liske war mal dort und hat ne Flasche Champagner mitgebracht. Sei ihm regelrecht aufgezwungen worden, hat er erzählt.“ „Naja, wohl kaum, wenn sie gerade den Ehemann verloren hat. Ich bin schon unterwegs.“
Und so klingelt Helena am 21. Dezember um 21.20 Uhr bei Prof. Dr. Weimar. So steht es auf der Adresse., die Sybille ihr und dem Fahrer, Frank, mitgegeben hat.
„Du wartest?“ Die Frage ist rhetorisch. Natürlich wartet Frank. Und natürlich erwartet er, dass Helena nicht länger als nötig weg ist.
Der Türöffner summt, gleichzeitig sagt eine verzerrte Stimme aus der Gegensprechanlage: „4. Stock, gleich gegenüber vom Aufzug. Oder rechts neben der Treppe, wenn Sie lieber zu Fuß gehen.“
Als Helena oben ankommt, ist die Tür zur Wohnung Weimar angelehnt. Aus halbdunklen Tiefen tönt Musik: Mozarts Requiem. Die Frau hat Nerven wie Drahtseile, denkt Helena. Oder Stil. Oder beides.
„Guten Abend. Danke, dass Sie gekommen sind. Bitte hier entlang.“ Die Frau ist hochgewachsen und schlank, sie trägt einen weiten Hausanzug aus dunkelrotem Samt. Die gleiche Farbe wie ihre Lippen. Die grauen Haare fallen in weichen Wellen auf ihre Schultern. Die Augen schwarz, die Nase gerade, der Blick scharf. Eine sehr schöne Frau. Eine alte Dame. Unwillkürlich fühlt Helena sich zu ihr hingezogen. Das ist unprofessionell und ihr noch nie passiert.
Die alte Dame deutet auf eine Gestalt, die in der Ecke eines dunkelgrauen Sofas lehnt, den Kopf nach hinten gebeugt, in eine karmesinrote Decke gehüllt. „Mein Mann.“ Als wolle sie ihn Helena vorstellen. Er sieht aus, als würde er schlafen, und einen Augenblick lang denkt Helena, dass er aufstehen und ihr die Hand küssen wird, vielleicht mit einer gemurmelten Entschuldigung, weil er eingenickt ist. Seine Frau beugt sich über ihn, streicht ihm über das perfekt geschnittene Haar und streift seine Stirn mit einem leichten Kuss. Es ist ein Bild von unendlicher Nähe und Zärtlichkeit.
„Sie haben doch schon mal einen Toten gesehen?“ Jetzt erst merkt Helena, dass sie im Türrahmen stehengeblieben ist. „Natürlich.“ Sie gibt sich einen Ruck. Es fällt ihr nicht leicht, die Routine aufzunehmen in diesem gemütlichen Raum, der Leben und die Liebe dazu atmet. Von den deckenhoch in Reihen geordneten Büchern über das Sofa, die Lesesessel links und rechts vom Kamin, in dem ein küstliches Feuer flackert, bis zu den Fenstern, die die näctliche Stadt mit ihren Lichtern ungehindert teilhaben lassen an dem, was sich hier abspielt. Als sei es eine Bühne.
Sie nähert sich dem Mann. Dem Toten. Das kann sie zweifelsfrei feststellen. Der Körper ist noch warm, doch die Haut beginnt schon, abzukühlen, und Helena erkennt einzelne Totenflecken. Die Augen sind geschlossn. „Waren Sie das?“, fragt Helena die Frau. „Nein, er hat die Augen selbst zugemacht. Ihm war komisch, hat er gesagt.“ „Und wann war das?“ „Keine Ahnung. Vor zwei Stunden, vielleicht.“ „Warum haben Sie nicht gleich einen Arzt gerufen?“ „Er wollte das nicht. Und es ging ihm ja nicht schlecht. Ihm war, wie gesagt, nur komisch.“ „Und wann haben Sie gemerkt, dass er tot war? Waren sie die ganze Zeit bei ihm?“ „Nein, ich zwar zwischendurch in der Küche und im Bad. Ich habe immer mal wieder nach ihm gerufen. Als er nicht mehr geantwortet hat, bin ich sofort zu ihm gegangen. Da hat er nicht mehr geatmet.“
Helena versucht, die Situation in Augenschein zu nehmen. Woran der Mann gestorben ist, kann sie nicht erkennen. Er sieht friedlich aus. Es hat mit Sicherheit keinen Kampf gegeben. Weder mit einem anderen Menschen noch mit dem Tod. „Als habe er ihn willkommen geheißen“, denkt sie. Und schüttelt den Kopf. Sie ist sonst nicht romantisch veranlagt. Aber dieser Raum verbreitet eine ganz eigene Athmosphäre. Erst jetzt wird ihr bewusst, dass die Musik immer noch an ist. Sie kann keine Anlage erkennen, der Klang scheint frei im Raum zu schweben. Eine teure Wohnung, das ist klar. Ein reiches Paar.
Helena stellt die obligatorischen Fragen. Litt der Mann an einer oder mehreren Krankheiten? Natürlich. Mit 91. Bluthochdruck, Arthrose, er hatte grauen Star. Und mehere Bypässe. Aber vor allem war er alt. „WIr beide sind alt“, sagt seine Frau. Sind. Nicht waren. Denn ihr Mann ist noch hier, ist noch präsent. Helena bemerkt, dass kein Fenster geöffnet ist. Keine Seelenwanderung geplant, offensichtlich.
„Ging es ihm schlecht, heute? Hat er über etwas gekasgt?“ „Nein, nicht mehr als üblich. Er konnte seine Brille nicht finden, und die Butter war nicht salzig genug. Männer ertragen das Alter schwerer als Frauen, wussten Sie das? Aber nein, dafür sind Sie zu jung.“
Tatsächlich kann Helena ein Lied davon singen, wie wehleidig Männer sind. Aber daran sterben sie normalerweise nicht. Was also soll sie auf den Totenschein schreiben?
« Ich kenne weder die unmittelbar zum Tod führende Krankheit noch eine ursächliche Krankheit, die die unmittelbare Todesursache herbeigeführt haben könnte. Vor allem: sogar ein moribunder Patient kann rein theoretisch eines unnatürlichen Todes sterben. Ich kann – auch bei fehlenden äußeren Verletzungszeichen – nicht ausschließen, dass ein Verbrechen vorliegt, eine Vergiftung, zum Beispiel“, sagt sie. Eigentlich ist die Bescheinigung eines natürlichen Todes nur im Krankenhaus möglich, und auch dann nur, wenn der Tote vorher immer unter ärztlicher Kontrolle stand.
Helena muss eine Entscheidung treffen. Soll sie – mit erheblichem finanziellen und, für sie und für Frank, zeitlichen Aufwand eine Obduktion veranlassen? An einem 91-Jährigen, der in einem luxuriösen Seniorenstift wohnte? Helena sieht die Überschriften der lautesten Boulevard-Zeitschriften vor sich: Bereitschaftsärztin schikaniert trauernde Witwe. Wer weiß, vielleicht war der Professor irgendeine bekannte Koriphäe?
„Und was machen wir jetzt?“, fragt seine Frau. „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich brauche jetzt einen Gin Tonic. Und für Sie einen Tee, als Kompromiss, ja?“ Sie geht in die Küche, ohne Helenas Antwort abzuwarten. DIe ruft in der Zwischenzeit ihren Fahrer, Frank, an. „Du, das kann hier noch dauern. Ich muss das irgendwie abklären.“ „Wie, abklären? Isser tot oder nich?“ „Doch, schon.“ „Aber? Im Auto wird’s langsam kalt, und wir beide haben um 22 Uhr Schichtende. Das ist in 5 Minuten!“ „Ich weiß. Aber (Helena hat noch nie ihre Autorität raushängen lassen, doch jetzt tut sie es. Unwillkürlich. Und sehr bestimmt) ich brauche hier noch eine Weile. Fahr zurück, schick wen anders. Aber sag mir nicht, wie ich meine Arbeit machen soll.“ „Okokok!“ Frank ist hörbar beeindruckt.
„So, der Tee. Milch, kein Zucker, stimmt’s?“ „Ja. Danke. Woher…?“ „Ach, egal. Also, was müssen Sie wissen? Ich soll Sie überzeugen, dass ich meinen Mann nicht getötet habe? Hier sehen Sie den Beweis.“ Mit einer ausladenden Geste zeigt sie auf das Zimmer, die Wohnung. Die Bücher. Die vielen Fotos. alle von einem glücklichen, zufriedenen, ineinander ruhenden Paar. „Wir sind seit 50 Jahren verheiratet. Keine Kinder. Wir waren uns gegenseitig genug. Zwei Hälften eines Ganzen. Jetzt ist eine Hälfte zerbrochen. Ich werde nie wieder ganz sein. Warum hätte ich ihn umbringen sollen? Und damit einen Teil von mir?“
Helena schaut in den Tee. Earl Grey. Sie liebt ihn, kennt aber niemanden, der diese Vorliebe teilt. „Frau Weimer“, beginnt sind. Und wird unterbrochen. „Weimar, das war er. Julius. Mein Name ist Best. Elisa Best. Dr. aber das vergessen Sie gleich wieder. Und bevor Sie fragen: wir haben uns in Berlin kennengelernt, im Kalten Krieg. Er arbeitete für die USA. Ich – hatte auch einen spannenden Job. Ich habe Menschen geholften. Es war für uns beide die große Liebe. Bitte, glauben Sie mir. Sie wissen, wovon ich spreche!“, Elisa Best fixiert Helena mit diesem Blick, schwarz und tief.
Best. Best. Dieser Name.
Pltzlich muss Helena auf die Toilette. Granz dringend. „Der Tee…“, entschuldigt sie sich. „Sie haben sicher ein Gäste-WC.“ „Ach, gehen Sie einfach ins Bad. Gleich hier rechts.“
Als sie aus dem Badezimmer kommt – schwarz-weiße Kacheln, blitzender Chrom,, eine Badewanne auf goldenen Füßen und eine doppelt verspiegelte Vitrine als Schrank, geht Helena noch einmal zum Toten hinüber. Zu Julius. „So darf ich ihn doch nennen?“, fragt sie, und Elisa nickt. Mit einer, wie sie hofft, liebevollen Geste streicht Helena ihm übers Haar. Nimmt zärtlich seine Hand in die ihre. „Wie wunderbar er aussieht. Julius. Als würde er zu einem großen Fest gehen. Ein eleganter Anzug. Glänzende Shuhe. Und die Hände. Perfekt manikürt. Ich hätte ihn gerne kennengelernt.“
Elisa kommt dazu. Legt ihren Arm um Helenas Schulter.
„Er war bereit. Komm. Lass ihn gehen. Bitte.“
Helenas Telefon unterbricht den Moment. Frank. „Ich hab doch gesagt, ich brauche noch etwas Zeit.“ „Ok, aber beeil dich. Hattest du nicht auch noch was vor, heute?“
Ja, hatte sie. Aber manchmal kommt dir das Leben eben dazwischen.
Sie breitet den Bogen aus, den sie ausfüllen muss. Schreibt und kreuzt an und schreibt.
„So“, sagt sie schließlich. „Ich gehe jetzt runter zu Frank und gebe ihm den Bogen mit.“
„Und dann?“ „Und dann komme ich nochmal rauf. Ich glaube, wir haben noch was zu besprechen, Elisa. Du und ich.“
Elisa nickt. Und dann, plötllich, schwimmt ein verdächtiger Schimmer in ihren Augen.
Es ist lange nach Mitternacht. Draußen, jenseits der Fenster, umrahmt von roten Samtportieren, gehen nach und die Lichter aus in der Stadt. Drinnen sitzen zwei Frauen am Feuer.. Eine alte, eine junge. Die Hände verschränkt. Die alte weint. Endlich. Zum ersten Mal, seit bei Julius vor über drei Jahren Alzheimer diagnostiziert wurde. In London. Von einem befreundeten Neurologen, der darüber Stillschweigen bewahrte.
„Seitdem tanzten wir beide auf dem Vulkan. Jedes Schachspiel, jeder Ausflug, jedes Abendessen waren plötzlich einzigartig, weil unwiederbringbar. Dann, vor einem Monat, erkannte Julius mich eines Morgens nicht mehr. Am Abend erinnerte er sich daran. Und wir wussten, jetzt ist es an der Zeit. Julius hat sein Leben lang immer selbst die Zügel in der Hand gehalten. Genau wie ich. Er wollte in Würde gehen. Und manchmal heißt lieben auch loslassen, gegen dein eigenen Willen. Oder die eigene Überzeugung. Ich hatte die Mittel. Und das Wissen. Und den Mut. Also habe ich ihm geholfen.“
„Und warum gerade heute?“, fragt Helena, obwohl sie die Antwort kennt. „Ich wusste, dass du die diensthabende KVB-Notärztin sein würdest.“
„Wie hast du mich gefunden?“ „Deine Großmutter und ich sind nach wie vor befreundet. Das passiert beim BND nicht so oft. Eigentlich gar nicht. Die meisten wollen ihre Agentenzeit lieber komplett vergessen. Aber wir beide – wir waren ein tolles Team.“
„Ich weiß. Die „Mad Women“, haben sie euch wohl genannt. Meine Großmutter hat das gleiche Foto“, sagt sie und zeigt auf ein S/W-Bild von zwei jungen Frauen, schön, stark, Rücken an Rücken und jede mit einem Revolver in der Hand.
„Ja, und stell dir vor, den Namen hat Julius uns gegeben! Aber woran hast du gemerkt, dass etwas an Julius Tod nicht stimmte? Ich bin eigentlich perfent und arbeite ohne Fehler.“
„Du warst perfekt. Fast. Ich habe im Bad herumgeschnüffelt. Dabei habe ich deine Diabetes-Spritzen gefunden. Und ein paar Antidementiva und Neuroleptika. Als ich Julius Hand genommen habe, habe ich unter dem Nagel noch die feinste Spur eines Einstichs gefunden. Aber warum ich überhaupt misstrauisch geworden bin? Ich glaube, ich habe dich einfach erkannt. Das Foto bei meiner Großemutter hat mich von klein auf fasziniert.“
„Ja. Ich glaube, wir beide wären verweandte Seelen, wenn es denn so etwas gäbe. Was machst du übrigens zu Weihnachten? Ich werde sehr einsam sein.“
„Nein. Zusammen wird keine von uns alleine sein. Und auch nicht einsam.“



