Adventskalender MiniKrimi am 23. Dezember


Heute schreibe ich den letzten Adventskalender Minikrimi 2023. Morgen stelle ich euch ein wunderbares Weihnachts-Krimigedicht vor, einen Netzfund auf Bluesky. Doch jetzt schreibe ich noch einmal selbst. Von Thriller bis Komödie habe ich diesmal verschiedene Genres bedient. Heute nun: Fantasy. In Ansätzen. Weil ich das Grauen der Realität manchmal sublimieren möchte, um an das Gute zu glauben, trotzdem. Und gerade jetzt, einen Tag bevor, das glaube ich, die Liebe in die Welt geboren wird. Immer wieder neu.

Ein tödlicher Plan

Ein ganz normaler Morgen kurz vor Weihnachten. Geschäftiges Treiben, vielleicht, auf den Straßen. Einige Student*innen haben die letzte Uniwoche vor Weihnachten vorzeitig beendet und sind nach Hause gefahren. Die anderen folgen nur halb den Vorlesungen und planen die Feiertage mit ihren Freunden, mit der Familie.

Oder Schüler’innen freuen sich auf die Ferien, im Unterricht werden Filme geschaut, eine Weihnachtsaufführung wird geprobt.

Dann bricht ihr Alltag zusammen. Ein Amokläufer dringt in ihr Gebäude ein, schießt wahllos um sich und tötet, die ihm über den Weg laufen.

Auch der junge Amokläufer selbst hat seine Tat nicht überlebt. Ein ganzes Land trauert. Wie schrecklich! Wie viele Leben sind zerstört, für sehr lange Zeit, manche sogar für immer.

Wie oft wünschen wir uns, wir könnten die Geschichte umschreiben. Dem Entsetzlichen eine andere Wendung geben. Den Attentaten, die immer wieder Lernorte zu Schauplätzen brutaler Waffengewalt machen.

Allein, das geht nur in der Literatur.

Der junge Mann nahm die Welt um sich herum schon seit Monaten als schwarz wahr. Er kleidete sich schwarz, hatte seine schulterlangen Haare schwarz gefärbt und ging nur aus dem Haus, nachdem die Sonne untergegangen war. Oder wenn dunkle Wolken jedes Licht in graue Schatten verwandelten und Regen ihn wie ein Vorhang von anderen Menschen trennte.

Die letzte Therapie hatte er abgebrochen. Die Tabletten in die Toilette gekippt. Alles sinnlos. Lieber den rohen Schmerz ertragen, fühlen, wie er ihm das Herz zerriss, als im gefühllosen Nebel zu tapern. Die Schnitte, die er sich zufügte, ließen ihn zumindest noch ein wenig Leben spüren.

 Aber das war jetzt auch vorbei. So tief er sich auch in den Arm stach – so viel Blut auch aus der Wunde floss – er blieb völlig gefühllos.

Gut. Nächste Stufe. Wenn er sein eigenes Leiden nicht mehr spürte – andere konnten das noch. Und jetzt sollten sie bluten. Waren sie nicht schuld daran, wie es ihm ging?

Der junge Mann stieß die Haustür auf, sah sich nach links um, dann nach rechts. Kein Mensch weit und breit. Nur eine Rabenkrähe hockte auf dem kahlen Ast der Buche gegenüber. Seit Tagen, so schien es ihm, verfolgte sie ihn. Hockte auf dem immergleichen Ast und schwang sich in den bleiernen oder tintenschwarzen Himmel, ihm dicht auf den Fersen. Mehrmals schon hatte der junge Mann einen Stein aufgehoben und nach dem Vogel geworfen. Nie hatte er ihn getroffen. Die Kohleaugen starrten ihn wissend an, und krächzend erhob er sich in den Wind. Aber nur, um bald darauf wieder in der Nähe des jungen Mannes aufzutauchen.

„Verschwinde“, rief dieser jetzt. „Du Totenvogel. Hau ab!“ Er fand einen scharfen, spitzen Stein, zielte, und diesmal traf er die Rabenkrähe am Flügel. Sie taumelte und drehte ab. Mit gesenktem Kopf stapfte er weiter, die Hände in den Hosentaschen, Richtung Elbufer. Kurz nach der Sturmflut war hier niemand unterwegs. Er stiefelte durch das streckenweise noch knöcheltiefe Wasser. Nach dem letzten Glühweinstand, dort, wo der Strand begann, setzte er sich auf eine nasse Bank. Wasser und Horizont verschwammen, die großen Schiffe lehnten als dunkle Schatten am düsteren Himmel. Mit einem leisen Krächzen setze sich die Rabenkrähe auf die Lehne, mit einem halben Meter Abstand.


„Sch! Schsch! Verschwinde, oder ich dreh dir den Hals um, du schreckliches Vieh!“ „Das würde ich an deiner Stelle nicht machen. Ich bin doch nur hier, weil du mich gerufen hast.“

„Was? Du lügst!“ Der Umstand, dass der Vogel ihn angesprochen hatte, war für den jungen Mann nicht halb so unerhört wie die Tatsache, dass er ihn gerufen haben sollte.

„Ja. Du hast den Tod im Sinn. Und das ruft mich auf den Plan. Ich bin der Vorbote. Und der Tatortreiniger, zuweilen. Nun erzähl: was genau hast du vor? Und wie weit bist du mit deinen Vorbereitungen? Ich kann dir helfen, weißt du?!“

„Ich brauche keine Hilfe. Und deine schon gar nicht. Was ich vorhabe geht dich nichts an. Außer, dass ich dich vielleicht zum ersten Opfer mache.“

„Das würde ich nicht tun“, wiederholte die Rabenkrähe. „Es könnte sein, dass dich nach dem ersten Mord der Mut verlässt. Und das wäre doch schade für deinen Plan.“

„Was, einen Vogel zu töten soll mich beeindrucken? Du hast ja gar keine Ahnung. Mich beeindruckt nichts mehr. Und Schmerz spüre ich schon lange nicht mehr. Mitleid kenne ich gar nicht.“

„Soso. Du hast kein Problem damit, einen Vogel zu töten. Und auch keinen Menschen? Bist du dir da ganz sicher?“

Jetzt saß neben dem jungen Mann statt einem Vogel eine alte Frau. Ganz in schwarz, in Rock und Mantel, Stiefeln, Hut und Handschuhen. Mit einer Schnabelnase und Knopfaugen, die ihn scharf musterten. Der junge Mann zuckte zurück. „Was?“ setzt er an, aber die Alte fiel ihm ins Wort. „Geh nach Hause. Denk nochmal in Ruhe über deine Pläne nach. Morgen treffen wir uns wieder. Und wenn du dann immer noch der Überzeugung bist, dass du töten musst…“ „Was dann?“ „Dann helfe ich dir. Glaub mir, du wirst meine Hilfe brauchen.“

Und mit einem Krächzen, das in den Ohren des jungen Mannes wie ein Lachen klang, schwang sich die Rabenkrähe in den Abendhimmel und war sofort verschwunden.

Der junge Mann stand auf. Er ging nicht nach Hause, sondern in die Villa seines Vaters. Dort öffnete er den Waffenschrank und nahm die Waffen und Munition, die er morgen brauchen würde. Nachschlüssel hatte er schon vor Jahren machen lassen, unmittelbar nach einem Amoklauf in den USA. Seine Eltern waren auf Teneriffa. Schade, sonst hätte er mit ihnen angefangen. Ohne sie gäbe es ihn nicht. Sie waren die Wurzel seines ganzen Übels. Aber besser so. Was sie nach seiner Tat durchleben mussten war vielleicht noch schlimmer als ein schneller Tod. Vielleicht. Der junge Mann konnte das nicht beurteilen. Er spürte nichts. Noch nicht. Er hatte übrigens nicht vor, sich selbst ebenfalls zu richten. Zumindest nicht, bevor er wusste, ob das unumkehrbare Leiden anderer in ihm einen Funken Gefühl auslösen würde.

Am nächsten Morgen zog er sich mit außergewöhnlicher Sorgfalt an. Dem Anlass angemessen trug er saubere Hosen und Schuhe, einen Rollkragenpullover und darüber einen weiten Umhang, unter dem er den Rucksack mit den Waffen verstauen konnte. Allerdings war dieser so schwer, dass er sich entschloss, mit dem Bus zu fahren. Allein bei dem Gedanken traten ihm Schweißperlen auf die Stirn. Kurz überlegte er, ob er einfach das Massaker im Bus verüben sollte. Aber nein! Es sollte der Ort sein, an dem er gelitten hatte. Gedemütigt worden war. Von den Professoren und von seinen Kommilitonen.

Auf dem Weg zur Haltestelle war der junge Mann sich fast sicher, der Rabenkrähe zu begegnen. Aber nein! Die Fahrt führte ihn durch die halbe Stadt. Die Menschen um ihn herum waren ihm unerträglich. Er hatte sein Ziel fast erreicht, da setzte sich eine alte Frau neben ihn. Er wandte automatisch den Kopf ab und schaute aus dem Fenster.

„Ich sehe, du bleibst bei deinem Vorhaben. Das ist ganz nach meinem Geschmack. Lass dich von einem einmal gefassten Entschluss nicht abbringen.“

Träumte er, oder war das tatsächlich die Alte von gestern? Aber wer sollte sonst ihr heikles Gespräch aufnehmen wie eine gerade fallengelassene Masche? „Ich hab dir gestern schon gesagt, ich zieh das alleine durch. Ich brauche dich nicht.“

Er stand auf und stürmte aus dem Bus. Eine Haltestelle zu früh, aber besser, als noch länger neben der verrückten Krähenfrau zu sitzen. „Du kannst mich nicht abschütteln, junger Mann“, sagte ihre Stimme neben ihm. Er fing an zu rennen. Sie schwang sich in die Lüfte und begleitete ihn leise krächzend. Um ihn herum waren jetzt einige Studenten, so dass er sich nicht traute, einen Stein nach dem Vogel zu schleudern. Schließlich kamen sie an. Er ging durch das Tor – keiner interessierte sich für ihn. Exzentrik war bei vielen Studierenden ein Markenzeichen. Er musste noch eine Viertelstunde warten, bis alle in ihren Vorlesungen waren. Dann hatte er leichtes Spiel. Er setzte sich auf eine Bank in einem Flur, dessen Räume wegen Renovierung leer standen.

Und sofort saß die Alte wieder neben ihm. „Du bist dir wirklich sicher? Und was, wenn es schiefgeht? Dann wäre alles umsonst. Besser, du nimmst meine Hilfe an.“

„Nein!“, rief er und spürte einen euphorischen Moment lang so etwas wie Hass in sich aufkeimen. „Gut. Du lässt mir keine andere Wahl. Dann gehe ich jetzt ins Sekretariat und warne sie alle.“ Die Alte stand auf und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, den Flur entlang in Richtung Hauptgebäude.

„Das wirst du nicht tun!“, schrie der junge Mann. Er sah plötzlich rot. Wortwörtlich. Er sprang auf. Mit zwei Sätzen war er bei der Alten, legte ihr beide Hände um den Hals und drückte zu. Mit der ganzen Kraft seiner aufgestauten Verzweiflung. Sie sackte in sich zusammen und lag dann gekrümmt auf dem Steinboden. Ein schwarzes, lebloses Häuflein. „Ahhhh“, glaubte er zu hören. Dann Stille.

Und jetzt die anderen, dachte er. Und blieb stehen. Jetzt die anderen! Er blickte auf das reglose Kleiderbündel, das gerade noch mit ihm gesprochen hatte. Mit dem er gesprochen hatte. Zum ersten Mal seit. Ja, seit wann? Die Alte mochte eine Hexe gewesen sein. Aber sie hatte ihm zugehört. Anteil genommen. Ihr war es gelungen, sein Nichtfühlen zu durchbrechen, seinen unbändigen Hass herauszuholen aus einer Tiefe, zu der er den Zugang verloren hatte.  

Aber jetzt war der Hass verflogen. Und wie ein Kater kam die Traurigkeit. Was hätte aus dieser Begegnung werden können? Und wenn diese Begegnung in ihm Totes auferweckt hatte – vielleicht konnte das wieder geschehen? Mit anderen? Mit denen, die er im Begriff war, zu töten?

Er griff nach seinem Rucksack und rannte den Flur entlang, die Treppen hinunter. Hinaus aus dem Gebäude. Durch den Park und das Tor. Er rannte weiter, bis er ans Elbufer kam. Er setzte sich auf die gleiche Bank, auf der er gestern mit der Alten gekauert hatte. War das erst gestern gewesen?

Unwillkürlich schaute er in den Himmel. Keine Rabenkrähe. Natürlich.

Irgendwann ging er nach Hause. Aus dem Copy Shop gegenüber kam ihm eine junge Frau entgegen. „Hey, Maximilian! Ich hab dich ewig nicht gesehen. Ich dachte, du seist weggezogen. Sag mal, hast du Lust auf nen Kaffee, ganz spontan?“ Sie sieht ihn skeptisch an, weiß, dass Spontaneität nicht sein Ding ist. Aber „ja, warum nicht?“, hört er sich sagen. Und nebeneinander gehen sie die Straße entlang. „Schau mal, die Rabenkrähe. Kennst du die? Ich glaube, sie hat dir gerade zugezwinkert“, sagt die junge Frau. Sie meint es ernst. „Ja, wir sind alte Bekannte. Freunde, eigentlich.“ Er meint das genauso ernst.

Das Attentat in Prag hat mich zu diesem MiniKrimi zwar inspiriert, aber meine Geschichte hat nichts damit zu tun. Wie schön wäre es, wenn jeder von uns eine Rabenkrähe hätte. Beinahe besser als ein Schutzengel. Oder?

Adventskalender MiniKrimi am 17. Dezember


Es ist nie vorbei!

Draußen vor den Fenstern des Klassenzimmers strahlt ein herrlicher Sommertag. Der Himmel azurblau ohne ein Wölkchen. Im Kirschbaum auf dem Schulhof zwitschern die Vögel. Der Lehrer, konservativ gekleidet in braunen Zwirn mit grüner Krawatte, doziert, durchaus passend zur Jahreszeit, über Shakespeares Sommernachtstraum. Aber die Schüler*innen der 11. Klasse sind nur halb bei der Sache. Sie tuscheln und planen den Nachmittag, sie flirten, sie träumen aus dem Fenster. Ein klassischer Vormittag!

Und da ertönt auch schon der Gong. Die Schüler*innen stehen auf, einer wirft ungestüm seine Bank mitsamt dem Stuhl um, ein anderer stolpert über seine Tasche. Drei Mädchen haben einem Jungen das Handy weggenommen und tun so, als würden sie es aus dem Fenster werfen. Der Lehrer packt seine Bücher ein und schüttelt den Kopf über das Chaos in seiner Klasse – allerdings ohne sonderlich überrascht zu erscheinen.

Schließlich haben alle Schüler*innen das Klassenzimmer verlassen. Der Lehrer wischt die Tafel ab. Da fällt von irgendwoher aus dem Schulgebäude ein Schuss. Und noch einer. Der Lehrer hebt den Kopf, als wolle er Witterung aufnehmen. Wieder ein Schuss, eine ganze Salve. Jetzt bricht die Hölle los. Schrille Schreie, Hilferufe, Schritte wie von einer Herde ausgebrochener Elefanten. Die Tür zum Klassenzimmer wird aufgerissen. Zwei Jungen stürmen hinein, hinter ihnen drei Mädchen, ein weiterer Junge. Noch zwei Schüsse, diesmal ganz in der Nähe. „Schnell, unter die Bänke!“, ruft der Junge mit dem Handy. Zum Lehrer: „Sie auch!“ Er kriecht unter eine Bank und hält das Handy ans Ohr. Da steht plötzlich eine schwarz gekleidete Gestalt in der Tür. Sturmhaube, Hoody, Funktionshose, Springerstiefel. In der Hand ein Maschinengewehr, um die Schultern einen Patronengürtel. Ohne zu zielen feuert er eine Salve von einer Ecke des Raumes zur anderen. Der Junge mit dem Handy wirft eine Schulbank um und schiebt sie als Barrikade vor sich. „Schützt Euch!“, ruft er den anderen zu. Der Lehrer ist am Pult zusammengesackt. Auf seinem Hemd breitet sich ein roter Fleck aus. 

Der Junge schreit etwas ins Handy. „Amok“, und „Schule“, „Klassenzimmer 11 a, dritter Stock.“ Die Gestalt in der Sturmhaube sieht sich um, schießt noch einmal auf den Lehrer und geht. Wieder sind Schreie aus anderen Räumen zu hören. Dann – Stille. Langsam kriechen die Schüler*innen hinter ihren Verstecken hervor. „Ist er weg?“, fragt ein Mädchen. Schnelle Schritte, die Gestalt ist wieder da. Mit dem Gewehr im Anschlag, sie brüllt etwas Unverständliches, vielleicht ist es auch nur ein Verzweiflungsschrei. Lässt sich auf den Boden gleiten, hält den Lauf des Gewehres von unten ans Kinn. Wimmert. „Nein“, schreit ein Mädchen! „Nein, tu das nicht!“

Da taucht ein Mann aus dem Dunkel des Ganges auf. Kein Polizist. Kein Lehrer, denn die Lehrer*innen tragen während des Unterrichts keine Pistole. „Du Schuft, du Mörder!“, zischt er, hebt die Hand und tötet die am Boden liegende Gestalt mit einem gezielten Kopfschuss. 

„Es ist vorbei“, sagt er dann zu den Schüler*innen, die panisch im Kreis um die schwarze Gestalt hocken. Keine Angst, der tut euch nichts mehr.“

„Nein. Es ist nie vorbei!“, sagt der Junge mit dem Handy. Er steht auf, die anderen folgen seinem Beispiel. Sie gehen nach vorne, in die Mitte des Klassenzimmers. Dort nehmen sie die schwarze Gestalt in ihre Mitte. Vom Pult kommt der Lehrer dazu. Das Mädchen zeigt auf den Mann mit der Pistole: „Auch du bist ein Mörder!“ „Es wird nie vorbei sein, solange es Waffen zu kaufen gibt!“ rufen alle im Chor. 

Dann fällt der Vorhang. „Eine beeindruckende Art des Gedenkens an den Amoklauf vor 5 Jahren an dieser Schule. Und ein leidenschaftlicher Aufruf zur Gewaltlosigkeit“, schreibt die lokale Presse nach der Vorführung. 

Adventskalender-MiniKrimi am 11. Dezember


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Wehret den Anfängen

„Wie konnte es nur so weit kommen?“ Ernest steht auf dem schneebedeckten Hügel, kaum mehr als eine Armlänge von dem Jungen entfernt. Dunkelheit umhüllt ihn, aber der Junge würde ihn nicht sehen, auch, wenn er direkt neben ihm stünde.

Er hat einen schwarzen Umhang um seine mageren Schultern gehängt, dicht an dicht mit Rabenfedern benäht. Wo er die her hat? Sein rußgeschwärztes Gesicht ist von einer grellroten Maske verdeckt. Seine Füße und Arme sind mit Lederfetzen umwickelt. Kerzengrade reckt er sich in die Winternacht. Sterne am Himmel, ausgestreut wie Diamanten auf einem Tuch. Welche Verschwendung. Die Menschen am Fuß des Hügels haben keinen Blick für die Mittwinterschönheit. Lachend und johlend drängen sie sich um den mannshohen Scheiterhaufen, seine Flammen vertreiben Dunkelheit und Kälte. Bierflaschen klirren, Zigaretten glimmen. Immer wieder stimmt jemand ein Lied an und bricht ab, als niemand mit einstimmt.

Fast kann Ernest den Jungen verstehen. Er war genauso, früher. Voller Verachtung für alles, was auf der Oberfläche des Lebens dahintrieb, ohne jemals zu versuchen, dessen Tiefen auszuloten. Ja, er kennt das Gefühl. Aber er hat sich von ihm doch nie beherrschen lassen, und nie hat er so auf einem Hügel gestanden, ein wütender Rächer ohne Aufgabe.

Jetzt hebt er die Arme, in einer Hand hält er den Bogen, in der anderen den Pfeil. Er legt an, nimmt Witterung auf, ein wildes Tier auf seinem Beutezug. Die Knie fest, nicht durchgedrückt. Der Oberkörper gerade und leicht nach vorne geneigt.  Der Bogenarm durchgedrückt und eingedreht, die Hand um 90° geneigt.

Ernest kann es nicht fassen. Der Junge vor ihm zielt auf die feiernden Menschen dort unten. Auf die Winterwendtänzer am Feuer. Zu seinen Füßen liegen über ein Dutzend Pfeile. Er hat diesen stummen Amoklauf lange geplant.

„Nein!“ ruft Ernest und will auf den Jungen zuspringen. Seinen Arm runterreißen, Den Bogen zerbrechen. Aber er ist angewachsen auf dieser nächtlichen Wiese. Und seine Schreie sind stumm. Und so muss er zusehen, wie dieser Junge, sein Sohn, unschuldige Menschen tötet. Aus Wut? Oder aus Verzweiflung. Ganz sicher aber, weil er, Ernest, als Vater versagt hatte. Ich habe Dich nie gewollt! Ich wusste genau, dass aus Dir nur genau das werden konnte, was Du jetzt bist. Ein…. MÖRDER.

„Ich bin der Vater eines Mörders! NEIN! NEIN! Das darf nicht sein!“ Endlich lösen sich die Schreie aus seiner Brust. Er wirft sich nach vorne.

Und landet auf dem Fußboden. „Sag mal spinnst Du?“ Vera liegt bäuchlings auf dem Bett, funkelt ihn wütend an. „Was tust Du da unten? Du hast wohl keine Lust, mit mir zu schlafen?“ Ich will einen Mörder aufhalten, denkt Ernest. Und die todsichere Methode ist, die Kondome aus der Hosentasche zu holen. Damit es garantiert nie so weit kommt!