MiniKrimi Adventskalender am 18. Dezember


Dieser MiniKrimi beruht auf einer ähnlichen Begebenheit, die meine Freundin L. kürzlich erlebt hat.

Familienbande

Je näher es auf Weihnachten zugeht, desto unbehaglicher fühlt sich Agatha in ihrer Wohnung. Ihrem Haus. Ihrer Haut. Nicht einmal ihrem Kater Sylvester gelingt es, sie aufzuheitern. Bei Meyers in der Wohnung nebenan wird am Wochenende Besuch erwartet. Er schleppt Korb um Korb mit Einkäufen herbei. Nicht etwa Aldiware, nein, Agatha hat ganz deutlich die Tüten von Dallmayer und Käfer gesehen. Sicher kommen die Tochter und ihr Lebensgefährte. Der ist irgendein höheres Tier in Berlin. Daher die Schlemmereien. „Es wird ihnen nichts nützen“, weiß Agatha aus Erfahrung. Spätestens nach der Bescherung wird der Streit eskalieren, und die Tochter wird türenknallend die elterliche Wohnung verlassen. Mit Mann und Geschenken, natürlich.

Swobodas in der Etage über Agatha haben heuer jeden Zentimeter ihres Eckbalkons mit Leuchtgirlanden, blinkenden Rehen, einem fassadenkletternden Weihnachtsmann und, tatsächlich, einem am Geländer bis zu Agathas eigenem Balkon reichenden fliegenden Rentierschlitten dekoriert. Schlimmer kann es im Amsterdamer Rotlichtbezirk auch nicht leuchten.

Und so geht es weiter. Die Nachbarn zur Linken und zur Rechten, oben und unten bereiten sich alle auf ihre ganz eigene Weise auf Weihnachten vor. Gemeinsam ist ihnen nur eines: sie posaunen ihre Vorfreude grell und laut in die Welt hinaus. Agatha kann ihre Ohren und Augen nicht davor verschließen. Und auch nicht ihr Herz. Es sagt ihr ganz deutlich, dass sie auch dieses Jahr wieder alleine in ihren vier Wänden sitzen wird, zweieinhalb trübe Tage lang, während rund um sie herum der Bär in Gestalt von Heerscharen verwandter oder befreundeter Besucher tobt. Denn sie, Agatha Höllbeiner, hat niemanden, auf den sie sich freuen könnte. Also niemanden, der oder die sie sehen möchte. Besuchen. Anrufen. Leider!

Wie von Zauberhand berührt klingelt in diesem Moment Agathas Telefon. Festnetz. Sie hat kein Handy, geschweige denn ein Smartphone. Und sie weigert sich auch standhaft, sich mit dem Internet zu beschäftigen. „Dann wärst du jedenfalls nicht mehr so alleine,“ sagt ihre Bekannte – als Freundin mag Agatha sie nicht bezeichnen – Ingeborg aus dem Bibelkreis. Sie treffen sich dort einmal die Woche zum gemeinsamen Bibellesen. Und manchmal auch sonntags im Gottesdienst. Aber zu Weihnachten hat Ingeborg ihre Kinder zu Besuch. Daran, Agatha einzuladen, hat sie nicht gedacht. Und Agatha hat es auch nicht erwartet. Jeder und jede lebt eben sein oder ihr Leben in festen Bahnen. Und wann sich diese Wege kreuzen, ist ebenso präzise festgelegt. Wo käme man denn sonst hin?

„Hallo? Agatha Höllbeiner?“ Sie meldet sich immer mit ihrem Namen. Obwohl ein netter Herr von der Polizei in der Sendung „Vorsicht Falle“ gesagt hat, dass man das nicht tun dürfe. Generell nicht, und als allein lebende ältere Person schon gar nicht. Aber Agatha empfindet es als unhöflich, sich dem Anrufer oder der Anruferin nicht vorzustellen.

„Hallo?“ Eine männliche Stimme. Deutsch. Vielleicht mit einem ganz leichten bayerischen Akzent.

‚Ja. Höllbeiner. Wer spricht?“ Stille. Dann, zögernd:

„Agatha? Bis du das?“ Pause. „Mutter? Mama? Mami?“

Agathas Herz schlägt auf einmal bis zum Hals. Das kann doch gar nicht sein! Und dann auch noch so kurz vor Weihnachten! Sie atmet tief, schluckt, hält nochmal kurz die Luft an und fragt dann: „Justus? Bist du das? Wirklich?“

„Ja. Ja, Mami. Ich bin’s. Entschuldige, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe…..“

„So lange? 10 Jahre, 5 Wochen und drei Tage.“

„Was soll ich sagen? Es tut mir leid! Ich weiß, es gibt keine Entschuldigung. … Aber….“

„Ja?“

„Ich war auf dem Weg zu dir. Von Hamburg. Da wohne ich. Ich bin schon fast in München.“

„Wie schön.“

„Ja, das finde ich auch. Aber dann ist etwas Schreckliches passiert, Mami.“

„Oh Gott!“

„Ja. Weißt du, ich saß so im Auto, und dann kamen die Erinnerungen an dich. Und plötzlich musste ich weinen.“

„Ach, Justus….!“

„Und durch die Tränen konnte ich nicht genau sehen. Und dann…“

„Hast du einen Unfall verursacht?“

„Ja! Woher weißt du das?“

„Was soll es denn sonst gewesen sein“, sagt Agatha vielleicht ein bisschen schroffer, als sie es vorgehabt hatte. Deshalb setzt sie nach: „Ich meine, was sonst könnte so schrecklich sein?“

„Genau. Also es ist niemand verletzt worden.“

„Gottseidank. Ihr habt doch sicher die Polizei geholt? Dann kannst du ja bald weiterfahren. Wann bist du hier?“

„Ach, Mami. das ist jetzt wirklich ein Riesenproblem. Ich weiß gar nicht, wie ich es dir sagen soll…“

„Justus, wir haben doch auch früher nie Geheimnisse voreinander gehabt. Also. Schieß los!“

„Ich glaube, der Typ, also der Mann, dessen Auto ich angefahren habe, ist ein Krimineller. Mafia oder so. Mindestens. Er wollte keine Polizei. Und er will auch nicht, dass ich den Schaden meiner Versicherung melde.“

„Aber…. das ist doch prima. Dann kannst du sofort wegfahren?“

„Ehm – nein! Er will, dass ich ihm den Schaden jetzt gleich bezahle. In bar!“

„Was? Das gibt’s doch gar nicht. Wie sollst du das denn machen? Wieviel will er denn haben?“

„Zwanzig Tausend Euro. Es ist ein nagelneuer Mercedes, und die ganze Stoßstange ist kaputt.“

„Zwanzig Tausend! Hm, aber deine Bank hat doch bestimmt einen Notdienst. Du rufst da einfach an, die erhöhen dein Tageslimit, und du hebst das Geld am nächsten Bankomat ab. Solange muss der Mann eben warten.“

Stille. Dann:

„Mami! Du kennst dich aber gut aus!“

„Ich lebe ja nicht hinterm Mond. Als ich eine neue Waschmaschine brauchte und die über Kleinanzeigen gekauft habe, musste ich mein Limit auch kurzzeitig erhören.“

„Ah ja. Klar. Aber, Mami, leider geht das hier nicht so einfach.“ Stille… Hat er aufgelegt? Nein!

„Ich – habe gerade nicht soviel Geld auf dem Konto. Weißt du, meine Frau hat mich erst kürzlich verlassen. Sie hat das ganze Geld bekommen und alles mit genommen. Die Möbel, meinen Computer. Ich muss sogar aus der Wohnung raus, weil ich die nicht mehr zahlen kann.“

„Justus, das ist ja schrecklich. WIllst du bei mir einziehen, als Interimslösung?“

„Als was? Nein, Mami. Ich habe meine Arbeit hier in Hamburg. Ich komm schon klar. Aber – könntest du mir die Zwanzigtausend leihen? Gleich jetzt? Du weißt ja, wie das geht, mit dem Limit und so. Ich zahle dir alles zurück, in Raten. Ich hab nen guten Job. Ich verdiene 3 Tausend Euro im Monat.“

„Nicht mehr? Als Jurist?“

„Ehm – jaaa. Ich…. bin als Juniorpartner in eine Kanzlei eingestiegen. Da bekommst du noch nicht so viel, am Anfang. Aber deshalb ist es auch so wichtig, dass ich die Sache ohne Aufhebens regele. Sonst kostet mich das meinen Job. Und bei dem Unterhalt, den meine Frau von mir will…“

„Hast du denn auch ein Kind?“

„Nein Mami. Leider nicht. Kannst du mir das Geld jetzt besorgen?“

„Ach Justus, für dich tu ich doch alles. Aber ich brauche ein bisschen Zeit.“

„Kein Problem. Danke, Mami! Sagen wir in einer halben Stunde?“

„Was? Das ist aber kurzfristig.“

„Ja, aber der Typ ist wirklich richtig unheimlich.“

„Na gut, ich tue, was ich kann. Dann bist du in einer halben Stunde hier bei mir? Die Adresse kennst du ja.“

„Ehm – nein, Mami. Der Typ traut mir nicht. Er sagt, er schickt dir einen Boten. Sobald der das Geld hat, unterschreibt er eine Verzichtserklärung und lässt mich weiterfahren. Dann komme ich gleich zu dir! Dann gehen wir schick essen!“

„Ich denke, du bist pleite? Lass mal, ich koch uns was Feines. Aber wie erkenne ich den Mann, der das Geld abholt? Es könnte schließlich auch ein Betrüger sein.“

„Er wird sagen: ich komme von deinem Sohn Justus.“

„Alles klar. Dann rufe ich dich gleich an, sobald ich das Geld übergeben habe. Ich sehe hier im Telefon aber keine Nummer. Gibst du sie mir?“

„Nicht nötig, Mami. Ich rufe dich in 45 Minuten wieder an. Dann müsste alles über die Bühne gegangen sein. Und dann kann ich dir auch gleich sagen, wann genau ich bei dir sein werde. Endlich wieder!“

„Gut, mein Sohn. Ich besorge das Geld. Ich freue mich, dich wiederzusehen.“

+Und ich mich erst, Mami!“

Die nächste halbe Stunde ist hektisch. Aber schließlich hat Agatha alles organisiert wie geplant. Da klingelt es auch schon an ihrer Wohnungstür. Ein Mann mittleren Alters, mit schütterem Haar, dunkler Kleidung und schwarzen Turnschuhen, steht vor ihr. „Das Geld?“, füstert er.

„Habe ich hier. Kommen Sie doch rein“, und Agatha zieht den Widerstrebenden in den Hausflur. Blitzschnell schlägt sie die Tür zu. Mit einer fließenden Bewegung holt sie einen Baseballschläger hinter dem Wintermantel an der Garderobe hervor und zieht ihn dem Mann über den Schädel. Durch die Baseballkappe hindurch ist ein Knirschen zu hören, und einen Moment lang denkt Agatha, dass sie vielleicht zu heftig zugeschlagen hat. Aber als sie ihn mit doppelseitigem Klebeband Arme und Beine verschnürt, stöhnt er leise.

„Guten Abend, Justus. Schön, dich zu sehen.“

„Ich bin nicht Justus. Mach mich los, oder ich zeig dich an.“

„Das glaube ich. Und glaube es nicht. Also ich weiß, dass du nicht mein Sohn Justus bist. Der ist vor 10 Jahren, 5 Wochen und drei Tagen bei einem Autounfall gestorben. Das konnten Sie natürlich nicht wissen, aber es war makaber, mir ausgerechnet die Story von einem Autounfall aufzutischen.“

„Was willst du von mir, du alte Schlampe? Wenn ich nicht in 10 Minuten bei meinen Kumpels bin, dann bist du dran. Und die sind nicht zimperlich, sage ich dir.“

„Und mir sagt etwas, dass Sie diese Betrugsmasche alleine durchziehen. Das hat zumindest der Polizeibeamte in „Vorsicht Falle“ gesagt, Und der wird es ja wissen. Aber jetzt seien Sie mal stll und hören mir gut zu: Wenn Sie tun, was ich sage, passiert Ihnen nichts weiter, und ich lasse Sie irgendwann wieder laufen. Ohne zur Polizei zu gehen. Wenn nicht….“ sie deutet mit dem Kinn auf den Baseballschläger, der direkt nebem dem Betrüger liegt.

„Ok“, stöhnt dieser. „Was soll ich tun?“

„Erstmal setzen wir uns ins Wohnzimmer, und ich erzähle Ihnen von meinem Sohn Justus. Dann sehen wir weiter.“

Im Laufe der nächsten Stunden wird Agatha allerdings klar, dass dieser Typ zu hartgesotten ist, um sich auf ihren Deal einzulassen. Sobald sie ihn freilässt, wird er über sie herfallen. Und Agatha weiß genau, dass sie als 80-Jährige gegen ihn keine Chance hat.

„Ach ja, schade“, seufzt sie. Geht in den Flur, holt den Beaseballschläger und drischt ihn mit aller Kraft gegen die Schläfe des Betrügers.

Dann ruft sie die Polizei.

Zunächst sind sich alle einig, dass Agatha in Notwehr gehandelt hat. Aber dann verstrickt sie sich in Widersprüche. Sie kommt in Untersuchungshaft, mindestens so lange, bis der Mann im Krankenhaus vernehmungsfähig ist. Aber das kann dauern.

Auf diese Weise verbringt Agatha ein abwechslungsreiches Weihnachtsfest. Denn die Beamtinnen und Beamten mögen die resolute alte Dame, die den Betrüger mit dem „Enkeltrick“ zur Strecke gebracht hat, und verwöhnen sie mit allerlei gutem Essen, Kartenspielen und Gesprächen.

Als der Betrüger endlich aussagt, gibt er zu Protokoll, sich an nichts erinnern zu können. Er weiß, dass er ins Gefängnis kommen wird. Und wenn er eine nette alte Dame hat, die ihn ab und zu besucht, auch, wenn sie ihn Justus nennt, dann steigert das sein Ansehen bei den Mithäftlingen.

Bei Anruf Schock


Heute ist wieder so ein Tag. Gestern auf FB und Twitter Hiobsbotschaften verschiedener Bekannter gelesen. Ich frage mich, womit ich verdient habe, wenn es mir gut geht? Und wie lange noch? Prompt bekomme ich Kopfschmerzen. Tumor? Metastasen? Oder doch der Heuschnupfen?

Ich nehme ein Medikament gegen die Allergie und warte darauf, dass die Wirkung einsetzt. Da klingelt das Telefon (komisch, wir sind in unserer Sprache so digitalisiert, haben wir für alle technischen Funktionen moderne Namen. Aber das Telefon klingelt nach wie vor. Auch, wenn es eigentlich singt, bellt oder ein ganzes Orchester auffährt. Das Smartphone übriges auch).

Das Telefon klingelt, und ich registriere mit Unbehagen die Meldung „Unbekannt“ auf dem Display. Ich mag keine Heimlichtuereien. In diesem Fall bestätigt sich mein Gefühl. Ein Mann meldet sich mit einem Wortschwall im Staccato-Ton, aus dem ich nur die Worte „Polizei“ und den Namen meines Mitbewohners herausfiltern kann. Ich frage nach, als Antwort nur die Gegenfrage, ob ich Herr XX sei. „Ich habe doch eine Frauenstimme“; will ich sagen. Erkläre dann aber – warum nur? – dass Herr XX nicht da sei. Darauf wieder das Staccatobellen mit den verständlichen Satzbrocken alte Dame, Überfall, nahe unserer Straße. Herr XX solle als Zeuge befragt werden. Und dann, aggressiv; „Wer sind Sie?“

Meine Liebe zur Polizei ist hinreichend bekannt. Ich werde langsam wütend. Gleichzeitig weiß ich: der Anrufer ist mitnichten ein Polizist. Als ich ihm sage, dass ich ihn kaum verstehe, brüllt er: „Sie sie schwerhörig?“ Ich bitte einmal, zweimal, dreimal, er solle mir die Nummer seiner Dienststelle geben, ich würde zurückrufen.

Als Antwort wieder nur ein Schwall unverständlicher Worte, zugleich mit einem Rauschen. Wo immer er stehen mag, er hat schlechten Empfang.

Mitten in seinem Reden lege ich auf. Frag mich: was sollte das? Bin ich jetzt in Gefahr?

Ich rufe unsere Polizeidienststelle an. Muss lange in der Leitung warten. „Sie sind ungefähr die Tausendste, die heute deshalb anruft. Die ziehen grade wieder einen üblen Rentner-Trick durch. Aber ich schicke Ihnen eine Streife vorbei, damit wir eine Strafanzeige ausfüllen können.“ Der Beamte scheint froh zu sein, in mir eine valide Zeugin zu haben. Eine, die noch gut hören und klar denken kann.

Ich bin eigentlich gar nicht zuhause. Ich muss arbeiten, und mittags dann zum Sport. Ich bin nämlich keine Rentnerin. Auch, wenn ich un halb elf noch ans Telefon gehe. Weil ich Freelaancerin bin.

Seitdem spiele ich unterschiedlichste Antwort-Szenarien mit dem unbekannten Anrufer durch. Immer mit mir als Heldin, die den Anrufer blamiert, verunsichert, erschreckt, zum Weinen bringt. Mindestens. Was mich am meisten schockt: Der hat mich offensichtlich für eine RENTNERIN gehalten.