MiniKrimi Adventskalender am 10. Dezember


Heute steckt hinter dem Türchen ein spannender Text von Vanne von Ares. Das Buch „Der Marionettenmacher“ ist absolut lesenswert. Habt Freude beim Reinschnuppern. Alle Infos zum Buch findet ihr unter dem Text. Danke für Kommentare und Likes!

Der Marionettenmacher

Berlin, Juni 1952

Der Tanz beginnt

Die Angst kehrt zurück. Sie schlägt die Augen auf, die sich nach Tagen in der Dunkelheit an die Lichtverhältnisse gewöhnt haben.

Sich bewegen? Ausgeschlossen. Die Knochen und Gliedmaßen, auch jene, die er noch nicht gebrochen hat, sind kunstvoll, fast seemännisch korrekt verschnürt.

Ihr Atem geht schneller. Ist da eben eine Autotür zugeschlagen worden?

Schwere Schritte sind zu hören.

Ihre Augen weiten sich, doch den Kopf zu heben, ist unmöglich. Die Nadel des Grammophons kratzt über die Platte. Die Leander fängt an zu trällern: „Wenn mal mein Herz unglücklich liebt …“

Blank geputzte Armeestiefel treten in ihr Sichtfeld. Man könnte meinen, das eigene Antlitz spiegele sich darauf. Doch das Leder ist zu grob. Die Seile, die ihren Körper aufrecht halten, sind an einem kleinen Lastenschwenkarm unter der Decke angebracht.

Er zieht sie zu sich in die Mitte des Raumes, und seine angenehme, sonore Stimme flüstert ihr ins Ohr: „Gnädiges Fräulein, darf ich bitten?“

Im selben Augenblick legt er seine Hand auf ihre Hüfte, nimmt ihren rechten Arm in seine andere Hand und wirbelt sie herum.

Davon geht die Welt nicht unter …“ ist das Letzte, was sie hört.

„Na toll!“, schnauzte Karl, als er mit seinen frisch polierten Schuhen aus dem Rand der Blutlache stakte, „Die hatte ich gerade geputzt.“

Der Schutzpolizist neben ihm sah ihn entgeistert an, dann wanderte der Blick des Mannes zurück zu der grässlich entstellten Frauenleiche, die gefesselt an mehreren Flaschenzügen und einem Schwenkarm unter der Decke des Bootshauses hing.

„Ach, ignoriere den Kron. Unser Schönling hat halt nichts Besseres zu tun, als sich über Blutspritzer auf seinen Schuhen auszulassen, egal was um ihn herum passiert“, kommentierte ein zweiter Schupo, der einige Schritte entfernt auf dem Boden kniete.

„Es kann ja nicht jeder wie ein Lump daherkommen“, fauchte Karl und griff dabei instinktiv nach dem Kamm in seiner rechten Gesäßtasche, um ihn anschließend durch sein schwarzes, mit Pomade frisiertes Haar zu ziehen und eine widerspenstig abstehende kleine Strähne an ihren Platz zu verweisen.

,Diese naiven Vollidioten von der Inspektion E, wieso muss man sich als höherer Beamter nur mit solch einem Volk herumärgern?‘, dachte er sich.

Er legte nun einmal pedantischen Wert auf sein Äußeres. Die dunklen Anzüge mussten stets akkurat gebügelt, die dazu passenden Schuhe am Glänzen, die schwarzen Haare fein säuberlich nach hinten gekämmt sein. Selbstverständlich vervollständigten eine schmale Krawatte und eine passende Anzugweste das Erscheinungsbild.

Ohne sein silbernes Zigarettenetui und seinen Kamm verließ Karl nie die Wohnung – nur für den Fall, dass doch einmal eine Strähne nicht dort saß, wo sie hingehörte, wie eben gerade jetzt.

Den Damen gefiel sein Auftreten. Zumindest konnte er sich nicht beklagen, was seine Erfolgsquote in diesem Bereich anging.

Karl ließ die Schutzpolizisten stehen und wandte sich aus sicherer Entfernung der Leiche zu. Die Gliedmaßen waren unnatürlich verdreht, und jedem war klar, dass im Inneren kaum ein Knochen mehr ganz sein konnte. Zudem bildeten mehrere tiefe Stich- und Schnittverletzungen ein bizarres Muster auf dem bleichen Körper.

„Das gibts doch nicht. Noch ein Opfer. Die Misshandlungen und das Aufhängen des Körpers – das habe ich doch gestern erst an einem anderen Tatort gesehen“, murmelte Karl.

Er hatte schon kein gutes Gefühl gehabt, als er und seine Kollegen von der Mordkommission in den Spandauer Norden gerufen worden waren, denn gerade mal zwölf Stunden zuvor hatte er vor einer ähnlich zugerichteten Leiche gestanden. Was er nicht wusste: Das war erst der Anfang…

 
***

„Meine Herren, vielen Dank für Ihr pünktliches Erscheinen. Bitte setzen Sie sich.“

Müller bot dem anwesenden Direktor des Präsidiums eilig einen Stuhl an.

,Dieser Molch. Vorauseilender Gehorsam und bei der Obrigkeit schleimen, aber nach unten treten‘, dachte sich Karl. ,Eigentlich hat sich seit der NS-Zeit nicht gerade viel verändert.‘

„Ruhe, bitte! Zunächst begrüße ich Direktor Doktor Emil Wunst, der wegen der Brisanz des Falles heute bei unserer Sitzung zugegen ist. Ich habe diese außerordentliche Dienstbesprechung einberufen, weil sich durch die gestern sichergestellten Spuren am Tatort und die Obduktionsergebnisse von Doktor Jansen bestätigt hat, dass wir es mit einem Serientäter zu tun haben. Beide noch unbekannten Opfer sind weiblich und zwischen 25 und 30 Jahren alt. Durch etliche Knochenbrüche, Stich- und Schnittverletzungen, wie auch durch massive stumpfe Gewalteinwirkung, trat der Tod nur langsam ein. Sexuelle Handlungen sind laut Aussage der Gerichtsmedizin nicht vorgenommen worden. Die Opfer wurden an Händen und Füßen gefesselt und an Flaschenzugkonstruktionen unter der Decke hängend an den jeweiligen Tatorten aufgefunden. Dabei handelte es sich im gestrigen Fall um ein altes Bootshaus im Spandauer Norden, beim ersten Tatort um einen alten Schuppen in Gatow. An beiden Tatorten konnten Schellackplatten mit Kriegsschlagern sichergestellt werden. Es wird daher die Sondereinheit Strippenzieher gebildet, die mit dem Fall betraut wird. Sie wird aus Kriminalkommissar Karl Kron, Kommissaranwärter Heinz Sellin und den Schutzpolizisten Hans Geiger und Detlef Sauerfeldt bestehen. Jegliche Ermittlungsergebnisse sind mir unverzüglich mitzuteilen. Sie bekommen Einsatzfahrzeuge gestellt. Kommunikation mit der Presse erfolgt ausschließlich über mich. Noch Fragen?“

Einstimmig erklang im Saal: „Nein, Herr Kriminalrat Müller!“

Damit war die Sitzung beendet.

Die Ernennung Karls zum Sokoleiter war für alle insofern keine Überraschung, da Eberhard Müller, trotz seiner Abneigung gegen den Kriminalkommissar, ihm dessen Qualitäten als Ermittler nicht absprechen konnte. Die Brisanz des Falles und das Interesse allerhöchster Stellen, in Form von Direktor Wunst, übten zusätzlichen Erfolgsdruck auf den Kriminalrat aus. Aber nicht nur deshalb biss dieser in den für ihn sauren Apfel und übertrug Karl die Verantwortung – falls die Aufklärung nämlich scheiterte, könnte er seinem verhassten Kommissar die Schuld dafür in die Schuhe schieben, um damit seinen eigenen Posten zu retten.

Doch Karl ärgerte sich auf dem Weg in sein Büro aus ganz anderen Gründen über seinen Chef. Wieso musste er ihn ausgerechnet mit Hans Geiger zusammen in eine Soko stecken? Sie beide waren in der Vergangenheit immer wieder heftig aneinandergeraten. Geiger hatte Karl sogar schon mal um eine Beförderung gebracht – dieser aufgeblasene Tunichtgut.

Normalerweise hätte solch ein kleines Licht schon längst seinen Hut bei der Polizei nehmen müssen. Wer jedoch den Kriminalrat höchstpersönlich hinter sich hatte, konnte sich eben mehr Schnitzer erlauben als die anderen. Aber Karl war nicht unvorbereitet …

Er wollte für den Fall der Fälle etwas gegen seinen Widersacher in petto haben. Wozu arbeitete der beste Freund schließlich bei der Sitte?

Und es sollte auch nicht lange dauern, bis seine Vorsicht belohnt wurde.

„Kriminalkommissar Kron. Was für eine Freude, wieder für Sie tätig sein zu dürfen. Als Chef unserer Einheit haben Sie mit Sicherheit schon eine Idee, wo wir mit unserer Arbeit beginnen wollen.“

Feist griente Hans Geiger Karl unverhohlen ins Gesicht, zog die Lippe hoch, bleckte die Zähne und nahm Haltung an.

Sellin und Sauerfeldt hatten gerade den Sitzungssaal verlassen und näherten sich dem Duo im Gang, waren jedoch noch außer Hörweite.

Karl lächelte zurück und beugte sich leicht vor: „Jetzt hör mir mal zu, Geiger. Ich bin Karl Julius Wilhelm Kron. Beginnend mit dem Namen des ersten Kaisers und endend mit dem des letzten.

Leg‘ dich nicht mit mir an, sonst lasse ich unserem Direktor eindeutige Beweise über pornografischen Besitz und Mitwirkung an der Erstellung von Schmuddelbildern zukommen. Und ich verspreche dir, dass dich selbst Müller dann nicht mehr retten kann. Also kooperiere oder stell‘ dich auf deine unehrenhafte Entlassung ein.“

Geiger, der genau wusste, worauf Karl anspielte, entglitten die Gesichtszüge. Die Bilder von nackten Frauen in eindeutigen Posen waren alt, doch sie durften auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gelangen, wenn ihm seine Karriere lieb war. Schließlich war es nicht gerade schwer, den jungen Komparsen zu identifizieren, der genau an den richtigen Stellen Hand anlegte.

Zähneknirschend kam ein „Jawohl, Herr Kriminalkommissar!“ über seine Lippen, als sich die restlichen beiden Mitglieder der Sonderheit gerade hinzugesellten.

„Na geht doch. Warum nicht gleich so, Herr Geiger? Wir beginnen mit der erneuten Recherche in den Vermisstenmeldungen, da es sonst noch keine Anhaltspunkte gibt, die zur Identifizierung der Toten beitragen könnten. Opfer führen bekanntermaßen zu einem Muster und das letztendlich zum Mörder. Gleichzeitig werden wir uns die Spuren vornehmen, die uns bereits vorliegen.

Geiger und Sauerfeldt werden die Vermisstenanzeigen und auch die Fingerabdrücke mit den entsprechenden Karteien abgleichen, vielleicht finden Sie eine Übereinstimmung. Sellin, Sie übernehmen die am Tatort gefundenen Haarproben und lassen die mikroskopisch untersuchen.

Außerdem möchte ich, dass Sie mir sämtliche Fälle, in denen es im Stadtgebiet zu Tiermisshandlungen oder -tötungen kam, vorlegen.“

Geiger begann, eine Katze zu imitieren und versuchte, eine angedeutete laszive Kratzbewegung mit einem geflüsterten „Miau“ zu untermalen.

„Verdammt, findest du das etwa lustig, Geiger? Es geht hier um Tötungsdelikte!“

„Darf man nicht mal ein bisschen Spaß bei der Arbeit haben?

Haben doch sonst nichts zu lachen hier, Herr Kommissar.“

„Du bist …“, begann Karl.

„Mit Verlaub, aber was haben denn Misshandlungen von Tieren mit unserem aktuellen Fall zu tun?“, fragte Sellin.

Die anderen setzten ebenfalls einen neugierigen Blick auf.

„Ist nur eine Vermutung, aber wenn jemand einen Menschen derart gewaltsam zu Tode bringt, dann hat er seine Schnittführung eventuell vorher an anderen Lebewesen perfektioniert. Ich werde mit dem Dienstfahrzeug diverse Waffengeschäfte abfahren, um mehr über die mögliche Tatwaffe zu erfahren. Antritt morgen in meinem Büro neun Uhr.“

***

Das neue, getupfte Petticoatkleid saß wie angegossen und betonte ihre weibliche und zugleich äußerst sportliche Figur. Auch bei genauerem Hinsehen wäre niemandem aufgefallen, dass sie es sich aus alten Stoffresten selbst genäht hatte. Die dunklen schulterlangen Haare hatte sie sich zu sanften Locken eingedreht und eine Tolle an der Seite mit Haarnadeln festgesteckt. Ihr roter Mantel hing über ihren Schultern, die sich merklich entspannten, als der braune Ford Taunus Spezial um die Ecke bog.

Karl hielt am Straßenrand, stieg aus und hauchte Hilda einen Kuss auf die Wange. 

„Du siehst wunderbar aus“, raunte er ihr ins Ohr und öffnete die Beifahrertür.

Sie ließ sich auf die gepflegten Lederpolster gleiten, strich das Kleid glatt und legte die Handtasche auf ihren Schoß. Karl stieg ebenfalls ein und ließ den Motor an.

Nach dem Tag wollte er jetzt einfach den Kopf freibekommen. Da konnte sein Chef toben, wie er wollte. Die Verabredung mit Hilda hatte nun Vorrang.

„Ich hoffe, du hast Lust, mit mir tanzen zu gehen. Das passende Kleid hast du ja schon an“, grinste Karl schelmisch und bot Hilda eine Zigarette an.

Dankend lehnte sie ab, lächelte jedoch zurück und sagte: „Gern teste ich dein tänzerisches Können.“

Sie fuhren los und Karl stellte das Radio an. 

Es lief der Hit des Jahres – Blue Tango von Leroy Anderson.

Hilda schaute aus dem Fenster und grübelte. Eine Straßenbahn rumpelte dahin, immer mal wieder tauchten Häuserruinen auf. Kleine Verkaufsbuden, die aus Trümmerresten zusammengeschustert waren, bestimmten viele Straßenzüge und hier und da konnte man Einschusslöcher im Putz erkennen. Die Wunden des Krieges waren noch allgegenwärtig. Auch in den Köpfen der Menschen, obwohl niemand darüber sprach. Sollte sie Karl wirklich um Hilfe bitten?

Kaum waren sie an dem neu eröffneten Bio-Filmtheater vorbeigefahren, bogen sie ab und hielten vor dem Corner Café. Der Laden war wie immer gut besucht. Junge Frauen unterhielten sich angeregt mit britischen Soldaten, Musik lief, die Luft war rauchgeschwängert, und die ersten Paare schwangen bereits das Tanzbein.

„Ladies fiiiiiirst“, lallte am Eingang ein sichtlich angetrunkener Offizier mit Zigarre im Mund.

„Wat sacht der? Frauen aufs Dach?“, grinste Karl.

„Na, das lassen wir ma lieber bleiben.“ Hilda musste lachen.

Karl ergriff ihre Hand. „Komm. Lass uns reingehen.“

Sie lächelte und folgte ihm in das mit hellem Holz getäfelte Café. 

Die kleine Tanzkapelle, bestehend aus Kontrabass, Schlagzeug, Gitarre und Gesang, heizte der Menge bereits mit Swing-Stücken mächtig ein. Karl erwies sich als hervorragender Tänzer, hatte er doch schon in jungen Jahren eine Tanzschule besucht. Mit eisernem Griff führte er sie gekonnt über das Parkett. Nach drei Liedern fanden sie ein Plätzchen in der hintersten Ecke.

„Möchtest du etwas trinken, Hilda?“

„Einen Cognac bitte.“

Nun musste sie doch eine Zigarette rauchen und griff in ihre Handtasche.

Nervös zog sie an der Eckstein und kontrollierte noch einmal ihr Makeup in ihrem Handspiegel. Alles perfekt. Als Karl mit den Getränken zurückkehrte und sich setzte, lächelte sie etwas verkniffen.

„Geht es dir gut?“, fragte er und sah sie besorgt an.

Offensichtlich hatte sie ihre Gesichtszüge nicht so unter Kontrolle, wie sie sich das für diesen Abend vorgenommen hatte. „Ja, wieso?“

„Du zitterst ein bisschen, obwohl es hier drinnen alles andere als kalt ist. Außerdem habe ich bemerkt, dass du den ganzen Abend über irgendwie abwesend bist.“

„Oh, nun ja, also …“ 

Sie griff zu ihrem Getränk und stürzte das Glas in einem Zug hinunter. 

Lügen hatte sie noch nie gut gekonnt und sie bereute es fast, die Verabredung mit Karl nicht abgesagt zu haben. Was, wenn er die Sache nicht ernst nahm?

„Hilda, wir kennen uns zwar noch nicht lange, aber ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt.“

Sie holte tief Luft, zog noch mal an ihrer Zigarette.

Auch Karl hatte bereits seinen Doornkaat ausgetrunken und zündete sich eine Overstolz an.

„Ich mache mir Sorgen um meine Freundin Bärbel“, begann sie.

Bei Karl schrillten sofort alle Alarmglocken.

Fotos: Buchcover (Quelle: periplaneta), Autorenfoto (Quelle: RingFoto Fehse)

Die Webseite: https://vannevanares.wixsite.com/vannevanares

Mehr zum Buch:

Erhältlich bei https://www.periplaneta.com/Produkt/genre/berlin-inside/der-marionettenmacher/

periplaneta Verlag und Medien

Edition Totengräber

print ISBN: 978-3-95996-266-7

ePub ISBN: 978-3-95996-267-4

MiniKrimi Adventskalender am 9. Dezember

Ein Paar im Café

Ihr Lieben, heute gibt es wieder eine Cosy Crime Story aus der Siedlung an der Minervastraße. Obwohl er nicht für alle Beteiligten „cosy“ endet. Lest selbst. Danke für eure Kommentare. Und sagt mir doch, ob ihr erfahren wollt, wie oder ob es mit „Falk“ weitergeht.

Manche Dinge regeln sich ganz von selbst

„Ich verstehe nicht, warum Frauen ständig zur Kosmetik laufen müssen. Für das Geld, dass du über die Jahre für Maniküre, Pediküre und was weiß ich noch alles ausgegeben hast, hätten wir uns eine schöne Finca auf Mallorca kaufen können – und müssten uns nicht im Münchner Winter die Zehen abfrieren.“

Helene Müller-Vorfeld schaut ihren Mann an. Wortlos. Dann dreht sie sich um und verlässt das Schlafzimmer, im dem ihr Mann noch zwischen hoch aufgetürmten Kissen und weichen Decken liegt. Vor zwölf steht er nicht mehr auf. Dann trinkt er einen Espresso und setzt sich mit der Tageszeitung auf die beheizte Loggia, um das Kommen und Gehen in der Siedlung an der Minervastraße zu beobachten. Kürzlich hat er sich im Internet eine Drohne gekauft, angeblich, um die Zugvögel besser observieren zu können. „Wohl eher, damit er einen ungehinderten Blick in die Badezimmer der Nachbarinnen hat, vor allem der jüngeren“, mutmaßt seine Frau.

„Du bist ja noch gut zu Fuß. Ich dagegen kann mich sogar in der Wohnung nur noch mit Gehhilfen bewegen. Warte bloß ab, bis er dir so geht wir mir“, sagt er immer.

„Das wird nicht passieren. Ich gehe regelmäßig zur Podologin und mache täglich mein Stuhl-Yoga“, antwortet seine Frau ihm. „Auch heute. Das ist keine Kosmetik, sondern medizinische Fußpflege. Damit mir die Zehennägel nicht so einwachsen wir dir. Weshalb ich noch so gut laufen kann.“

„Papperlapapp“, kontert Herr Vorfeld. Widerspruch hat er noch nie geduldet, und seine Stimmung verschlechtert sich proportional zu seinem Gesundheitszustand.


„Es ist eigentlich gar kein Auskommen mehr mit ihm“, berichtet Helene beim Tee ihrer Bekannten Elvira Obermaier, der Inhaberin der Agentur zweites Glück. Sie sitzt jetzt immer öfter bei ihr auf dem gemütlichen Sofa und blättert versonnen in dem großen, prall gefüllten Ordner, den Elvira beiläufig auf den Couchtisch gelegt hat.

„Der sieht ja interessant aus. Ist der neu?“, fragt Frau Müller-Vorfeld und betrachtet lange das Ganzkörperfoto eines Mannes mit graumelierten Schläfen und imposantem Sixpack, das von einem Seidenhemd vorteilhaft umspannt wird. Blaue Augen mit gewinnenden Lachfalten, ein sinnlicher Mund und Hände, die so aussehen, als könnten sie zärtlich zupacken. Vor allem steht er fest und sicher auf zwei muskulösen Beinen.

„Das ist Falk. Ja, er ist erst seit einer Woche in meiner Kartei. Gefällt er Ihnen?“

„Ja. Schon,“ Frau Müller-Vorfeld zögert. „Der ist sicher sehr gefragt?“

„Hm. Schon. Aber ich könnte Ihnen ganz kurzfristig ein unverbindliches Date mit ihm vermitteln. Wann sind Sie denn wieder in der Stadt?“

„Ich war gerade erst zur Fußpflege. Aber nächste Woche muss ich zum Orthopäden am Odeonsplatz…“

„Wunderbar. Dann reserviere ich doch einfach einen Tisch im Tambosi. Sagen wir um 14 Uhr?“

„Perfekt.“

„Und…. Ihr Mann?“ Elvira ist ihren Kundinnen gegenüber stets ein Muster an Taktgefühl. Aber als Geschäftsfrau möchte sie natürlich wissen, wie ernst es Frau Müller-Vorfeld prinzipiell mit einem Kennenlernen ist. Schließlich führt sie eine Partneragentur und kein Datingportal für Kaffeekränzchen.

„Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Manche Dinge regeln sich ganz von selbst.“

Elvira lächelt. Sie mag Helene Müller-Vorfeld. Sie mag eigentlich alle ihre Kundinnen. Die meisten haben in ihren letzten Ehejahren durch ihre Männer viel schlucken, ertragen und erdulden müssen, und es ist mehr als verständlich, wenn sie sich für ihren Lebensherbst etwas liebevolle Zuwendung ersehnen. Ja, die Agentur ist für Elvira mehr als nur ein Geschäftsmodell, wenn auch ein überaus erfolgreiches. Sie freut sich jedes Mal, wenn es ihr gelingt, mit ein wenig Geschick – und für ein gutes Honorar – ein leises Feuer in den Augen der Damen zu entfachen, die vordem nur noch erwartungslos in eine trübe und trostlose Zukunft geblickt haben.

Herr Vorfeld ist ein echter Tyrann mit einem Frauenbild aus den 1960er Jahren. Seine Gattin ist seine Sklavin und hat ihm jeden Wunsch zu erfüllen. Gottlob beschränken sich seine fleischlichen Bedürfnisse inzwischen auf die Mahlzeiten. Aber er hält seine Frau an der kurzen Leine, kontrolliert jede ihrer Ausgaben und mäkelt an allem herum, während er sich jeden Luxus gönnt. Vom exklusiven Parfum und den modernsten Hörgeräten über die teure Drohne bis hin zur neuesten Musikanlage. Aber wehe, Helene  geht zur Podologin.

Nein, genug ist genug. Die Äußerung über ihre angeblich exorbitant extravaganten Kosmetik-Ausgaben hat das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. Na warte, denkt Frau Müller-Vorfeld. Dir zeig ich, was Extravaganz bedeutet.

Sie plündert ihre Geheimschatulle – Euro für Euro abgespart vom mageren Haushaltsgeld –

und geht einkaufen. Ein Paillettenkleid mit tiefem Dekolleté, ein paar lackrote Pumps und eine blonde Lockenperücke später kommt sie fröhlich summend nach Hause.

„Wo warst du denn so lange? Ich wollte gerade eine Vermisstenmeldung aufgeben – wenn du das Telefon nicht schon wieder außer Reichweite abgelegt hättest. Es ist fünf nach sechs. Du willst wohl, dass ich verhungere? Das könnte dir so passen.“

„Lieb-ling“, flötet Frau Müller-Vorfeld und dehnt beide Silben, so lang ihr Atem reicht. „Entschuldige! Ich dachte, du würdest es noch alleine vom Sofa in die Küche schaffen. Das tut mir so leid! Wie gut, dass morgen die Ärztin vom Medizinischen Dienst kommt. Die muss dir unbedingt diesen elektrischen Rollstuhl für die Wohnung bewilligen. Sonst müssen wir ihn selbst kaufen.“

„Was? Ich hab‘ Millionen in die Pflegeversicherung einbezahlt (sicher nicht, denkt seine Frau), da werden die mir doch wohl so einen mickrigen Rollstuhl finanzieren! Ich bleib morgen direkt im Bett. Wenn die Ärztin kommt, sieht sie gleich, dass ich mich nicht mehr alleine bewegen kann.“

„ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Nicht, dass sie dich dann für kränker hält, als du bist…“

„Papperlapapp. Du hast ja keine Ahnung. Du bist eben dumm.“

„Wie du meinst, Lieb-ling. Ich mach dir jetzt schnell dein Abendbrot. Möchtest du vielleicht ein Glas Wein dazu?“

Der Beaujolais ist ausnehmend süffig. Herr Vorfeld trinkt fast die ganze Flasche und fällt dann wie ein Stein ins Bett. Er schläft tief und fest. Er träumt, dass jemand ihm zärtlich über den Kopf streicht und ihn dann an den Füßen kitzelt. Es ist ein schöner Traum, und er lächelt, ohne aufzuwachen. Das wäre bei der Menge an Schlafmittel, den er im Wein zu sich genommen hat, auch äußerst unwahrscheinlich.

Als die Dame vom Medizinischen Dienst um neun Uhr vor der Tür steht, entschuldigt sich Frau Müller-Vorfeld wortreich. Ihr Mann liege immer noch im Bett. Er schlafe neuerdings extrem viel. Überhaupt sei er nicht mehr er selbst. Er halluziniere, vergesse immer öfter, wer er sei. Und neuerdings behauptet er immer wieder, seine eigene Mutter zu sein.

„Interessant. Wie äußert sich das?“

„Sehen Sie selbst“, sagt Frau Müller-Vorfeld und öffnet die Tür zum Schlafzimmer. Dort liegt ihr Mann auf dem Bett, sorgfältig geschminkt, in einem schillernden Paillettenkleid, mit einer blonden Perücke auf dem Kopf und grellen Pumps an den Füßen.

„Um Himmels Willen!“, sagt die Dame vom Medizinischen Dienst. „ich sehe schon, da besteht dringender Handlungsbedarf. Ich kümmere mich gleich darum.“

So kommt es, dass Helene Müller-Vorfeld eine Woche später frisch frisiert, manikürt und pedikürt – man kann ja nie wissen – im Café Tambosi mit einem gut aussehenden Herren eine Flasche Prosecco trinkt, während ihr Noch-Ehemann – sie hat die Scheidung schon eingereicht – in der beschützenden Abteilung einer Seniorenresidenz versucht, Pflegepersonal, Ärztinnen und Ärzte davon zu überzeugen, dass er das Opfer eines teuflischen Komplotts geworden ist.

MiniKrimi am 7. Dezember


Der heutige MiniKrimi stammt aus der Feder von Katrin Schroth. Sie ist Online-Journalistin, Musikwissenschaftlerin und nach eigenen Angaben ein Neuling in der Krimizunft.  Ich finde, ihr Debüt hat absolut Potential. Weiter so, liebe Katrin, wir sind gespannt! 

Mehr über sie findet Ihr auf http://www.katrinschroth.de 

 

Folgenreicher Einkauf

„Oh Mann“ denkt sie, „wird das heute noch was?“. Draußen ist es stockdunkel. Die Schlange an der Supermarkt-Kasse ist für Anfang Dezember eigentlich verhältnismäßig kurz. Doch ihr erscheint sie endlos lang. Ein lautes, entnervtes Ausatmen soll ihre Laune bessern, das gelingt aber nicht wirklich. Sie kontrolliert nochmal ihren Einkaufszettel: Butter – erledigt. Milch – zwei Tüten. Karotten: natürlich bio. Avocado: gab es leider keine in guter Qualität.

Keine Gedanken macht sie sich über die anderen Wartenden in der Schlange. Der neugierige Blick des jungen Mannes wäre ihr an einem ihrer besseren Tage bestimmt aufgefallen. Seit geraumer Zeit beobachtet er sie schon. Sonst lauert er seinen Opfern in Cafés auf und folgt ihnen unauffällig nach Hause. Sie hingegen ist ein echter Zufallsfund. Sie lief ihm einfach so im Supermarkt über den Weg. Ob sie ahnt, dass sie zum letzten Mal hier einkauft?

Endlich bezahlt! Hastig packt sie die Sachen in die Tüte, zieht ihre Handschuhe an und geht in die Kälte. Jetzt ein heißes Bad, freut sie sich. Der Mann, der ihr folgt, freut sich auch. Er ist innerlich angenehm erregt und wartet nur auf einen günstigen Augenblick, um zuzuschlagen.