
In der Weihnachtsbäckerei
Die Wochen vor Weihnachten waren in der „Nice to meat you“-Agentur traditionell die stressigsten des gesamten Jahres. Jeder Kunde, so schien es den erschöpften Mitarbeitenden, hatte plötzlich noch eine zündende Idee für einen last-minute-Flyer, um mit phlippinischem Balut, gefülltem Meerschweinchen oder gegrillter Nutria-Ratte verwöhnten Gourmands die letzten Kröten aus der Tasche zu ziehen.
Kein Wunder, dass zumindest die weiblichen Angestellten mindestens Flexitarier waren, viele tendierten inzwischen sogar zu veganer Kost. Als Nervennahrung in dieser hochaktiven Zeit kursierten demzufolge auf den Schreibtischen des 500 qm open space Offices keine frittierten Insekten, sondern Schokoriegel in allen Variationen. Und Plätzchen, natürlich.
Eigentlich hatte niemand nach einem 15-Stunden-Tag im Büro noch die Kraft, sich in die Küche zu stellen, Teig auszurollen und Bleche mit Ausstecherlis zu belegen. Niemand – außer Frau Schmitt. Frau Schmitt arbeitete als Sekretärin für die Marketing-Abteilung, und zwar schon so lange, dass niemand sich an eine Zeit erinnern konnte, als sie noch nicht an ihrem Schreibtisch gleich hinter der Glastür, direkt neben Kopierer und Faxgerät, gesessen hatte. Immer makellos gekleidet in unfarbige Twinsets und knielange Stoffröcke. In flachdunklen Schuhen. Mit weißblondem Pagenschnitt, der im Verlauf der Jahre wohl blondweiß wurde, ohne dass ein Unterschied zu sehen gewesen wäre.
Frau Schmitt passte weder zu den schwarzen Kostümkreativen noch zu den jovial Kragenlosen. Sie schwebte zwischen den Gegensätzen von Tradition und Moderne, von allen gebraucht und von jedem belächelt.
Aber einmal im Jahr, in der hektischen Vorweihnachtszeit, wurde Frau Schmitt über Nacht zum magnetischen Mittelpunkt des Büros. Zwischen dem 30. November und dem 1. Dezember schien sie sich gleichsam zu verpuppen, um dann, pünktlich mit dem ersten Adventskalendertürchen, als vanilleduftende, zuckerbestäubte Makronenfee zu erscheinen.
Natürlich war sie immer noch Frau Schmitt, und sie sah auch so aus. Wie immer. Fast. Denn manchmal klebte ein wenig Eigelb an einer Strähne ihres Pagenschnitts. Oder sie trug Puderzucker auf der Nase, sie, die ganz sicher noch nie mit Make-Up in Berührung gekommen war.
Jeden Tag trug sie in ihrer braunen Tasche Plastikdosen voll zerbrechlicher Vanillekipferl, knuspriger Florentiner und saftiger Golatsch an ihren Arbeitsplatz. Stellte sie in die Küche – und lud alle ein, sich zu bedienen.
Warum tut sie das? hatten sich Generationen von silhouettierten Mitarbeitenden gefragt. Ohne eine befriedigende Antwort darauf zu finden. Die Legende besagte, dass Frau Schmitt, deren Privatleben in der Agentur völlig unbekannt war, ihr Herz an den früheren Chef verloren hatte. Dieser wiederum liebte Linzer Golatschn über alles. Und so hatte sie versucht, über seinen Magen seine Liebe zu erlangen. Alle Jahre wieder. Und immer umsonst.
Inzwischen war die Agentur an ein erfolgreiches Ehepaar verkauft worden und hatte sich auf die exklusive Fleischbranche spezialisiert. Im Oktober hatte die Chefsekretärin gekündigt – sie hatte sich einen lukrativeren Posten geangelt, als Ehefrau eines Garnelenimporteurs.
Nur war die Not groß. Wer konnte das immense Arbeitspensum der Vorweihnachtszeit erledigen, ohne zu murren, ohne zu schludern oder zusammenzubrechen und vor allem, ohne eine Gehaltserhöhung zu fordern?
Da kam nur eine in Frage. Frau Schmitt. Jeder wusste es. Auch sie. Und sie begann bereits, ihren Schreibtisch zu ordnen und sich nach Schuhen umzusehen, die für den weiten Weg vom Büro der Chefsekretärin bis zu Kopierer und Faxgerät tauglich wären.
Aber dann lernte der Chef in einer Hotelbar eine ebenso kurven- wie listenreiche Brünette kennen. Sie versicherte ihm, Überstunden seien für sie kein Problem. Und in punkto Bezahlung war sie flexibel und akzeptierte auch Gold und Silber. So hieß es.
Jedenfalls zog nicht Frau Schmitt in den verwaisten Vorraum zum Chefsessel, sondern die junge Dame aus der Hotelbar. So hieß es.
Und Frau Schmitt saß mit ihren neuen Schuhen am alten Platz. Das hätte in dem 500qm großen open space Office keinen gestört – wäre der Zeitpunkt nicht so überaus ungünstig gewesen. Denn selbstverständlich gingen alle Mitarbeitenden davon aus, dass Frau Schmitt angesichts dieser schlechten Behandlung auf Rache sinnen – und dieses Jahr keine Plätzchen backen würden. Oder vielleicht würde sie sie ja backen, aber mit Sicherheit würde sich keines davon ins Büro verirren. Wie schrecklich!
In den schlimmsten Albträumen wurden die Bäckerein und Konditoreien in der näheren und weiteren Umgebung heimgesucht. Und allesamt für unwürdig befunden. Sie hielten dem Vergleich zu Frau Schmitts Gebäck natürlich nicht stand.
Wie groß war die Verwunderung, und unmittelbar danach die Freude, als, pünktlich am 1. Dezember, Frau Schmitt mit ihrer braunen Tasche in der Hand und Puderzucker auf der Nase den Raum betrat – eingehüllt in eine Wolke süßen Vanilleduftes.
Alle stürzten sich sogleich auf die unbeschreiblich saftig glänzenden Linzer Golatschn und waren sich einig: so gut wie in diesem Jahr waren sie Frau Schmitt noch nie gelungen.
Frau Schmitt indes schaute von ihrem Arbeitsplatz gleich hinter der Glastür auf das gefräßige Treiben und lächelte. Verschmitzt.
Es war dieses Lächeln, das die Polizei auf ihre Spur brachte. In Hausmantel und Lockenwicklern öffnete sie einem grimmig dreinschauenden Kommissar samt Assistenten – denn nur in Kriminalfilmen kommen die Beamten alleine und lassen sich überwältigen.
Auf die Frage, womit sie die Golatschn gefüllt habe, antwortete Frau Schmitt zunächst gar nicht. Sie wurde sehr rot im Gesicht, blickte zu Boden und gestand schließlich, die fertigen Plätzchen und auch die Johannisbeer-Konfitüre, mit der sie die dürftige Füllung per Hand aufgepeppt hatte, in einem Discounter erstanden zu haben. „Ich bin dort so schlecht behandelt worden, ich wollte ihnen einen Denkzettel verpassen. Sie sollten am eigenen Leib erleben, wie das schmeckt. Schlechte Behandlung.“
„Und deshalb haben Sie die ganze Belegschaft vergiftet?“
„Vergiftet? Um Gottes Willen, nein! Ich habe nur billige Plätzchen und billige Konfitüre gekauft und ihnen statt meiner leckeren Golatschn dieses Industriegebäck hingestellt. Damit ihnen der Appetit vergeht.“
„Frau Schmitt – die Leute, die Ihre Plätzchen gegessen haben, liegen im Krankenhaus. Ihr Chef und seine Sekretärin werden wahrscheinlich nicht durchkommen. Gestehen Sie endlich, dass Sie das Zeug vergiftet haben.“
Frau Schmitt konnte ihre Unschuld beteuern, so oft sie wollte. Sie kam in Untersuchungshaft. Der Kommissar und sein Assistent wollten partout keinen Zusammenhang sehen zwischen ihren Linzer Golatschn und einer Charge verdorbener Konfitüre eines großen Discounters, die in verschiedenen anderen Städten zu schweren Lebensmittelvergiftungen geführt hatte.