MiniKrimi Adventskalender am 2. Dezember


Was sind schon Frauen?

„Jerome, ich habe einen großen Wunsch an dich. Und ich weiß, du wirst ihn erfüllen. Denn das ist mein Vermächtnis: ich will, dass du es im Leben zu etwas bringst. Du sollst studieren, Medizin oder Jura. Damit du ein gutes Leben hast.“

Er muss nicht lesen, was auf den lange vergilbten Seiten steht. Er kennt jedes Wort. Hat das Buch hunderte Male durchgeblätter,t, diesen einen Schatz, den seine Mutter für ihn vor ihrem Tod geschrieben hat. Erinnerungen an sie, an die Heimat, an ihr gemeinsames Leben.

Mit dem Daumen streicht er liebevoll über das Gesicht der Frau auf dem ausgebleichten Foto. Dünn ist sie da schon, vom Tod gezeichnet, dem Preis für ihre Beziehung zum Gutsverwalter Mbabazi.  Zur Belohnung für ihre „Dienste“ hatte er Jerome zur Schule geschickt. Und ihm immer etwas zu essen gegeben. Das war mehr als die meisten anderen Kinder im Dorf Iganga hatten. Aber seine Mutter hatte diese Privilegien mit ihrem Leben bezahlt. Wie unendlich viele afrikanische Frauen, die von Männern aufgrund ihrer sexuellen Aktivitäten mit AIDS angesteckt wurden.

Nach dem Tod der Mutter stürzte sich Jerome ins Lernen und leitete die stille Wut, die in ihm brodelte, in Energie und Leistung um. Als Mbabazi den Jungen aufs Feld schicken wollte, um seinen Unterhalt zu verdienen, schritt der Leiter des kleinen Schulzentrums ein. Seine Frau und er adoptierten Jerome. Da waren die beiden schon in den Fünfzigern, und als sie nach seiner Pensionierung zurück nach Amerika gingen, nahmen sie Jerome selbstverständlich mit. 

Er beendete die Highschool, danach das College und verließ die Harvard-Universität mit einem Prädikatsexamen in Jura. 

Heute ist Jerome ist Juniorpartner einer angesehenen Kanzlei in Chicago. Seine Wurzeln aber hat er nie vergessen. Seine Adoptiveltern haben immer wieder mit ihm gemeinsam im Memory Book gelesen, das seine Mutter für ihn gemacht hat, Anfang des neuen Jahrtausends. Sie haben in ihm die Liebe zu Afrika wach gehalten und genährt. In seiner Kanzlei ist er zuständig für Wirtschaftsverträge zwischen amerikanischen Firmen und Partnern in Afrika. Er möchte etwas zurückgeben von dem, was seine Mutter ihm hinterlassen hat. Liebe und Achtung. 

Das Telefon unterbricht Jeromes Tagtraum. „Mister Miller, brauchen Sie noch etwas für Ihren Termin für die Verhandlungen von Stevenson Inc. mit der Ugandischen Regierung? Dolmetscher, zum Beispiel?“ „Nein, danke, Grace. Englisch ist neben Suaheli Amtssprache, ich komme gut zurecht.“ Jerome lächelt. Er bezweifelt, dass seine Sekretärin über seine Herkunft und seinen Werdegang informiert ist. Wozu auch? Behutsam legt er das kostbare Buch zurück in die oberste Schublade seines Mahagoni-Suhreibtisches. In Iganga hatten sie alle zusammen nur einen klapprigen Holztisch, an dem wurde gegessen, gearbeitet – und oft, nach dem langen Heimweg von der Schulweg durch die sirrende Hitze, auch geschlafen. 

Ja, er hat einen langen Weg hinter sich. Von Iganga nach Chicago. Einen erfolgreichen Weg. Und jetzt setzt er sich dafür ein, dass Kinder wie er in ihrer Heimat ein besseres Leben führen können. 

Er ist gespannt auf die Vertreter der ugandischen Regierung. Angeblich sind sie von der Premierministerin Nabbanja persönlich ausgesucht worden. Er weiß, dass Zeit in seiner Heimat anders bewertet wird, und hat Rogers und Jennings von Stevenson Inc. entsprechend gebrieft. Als sich eine Stunde nach dem vereinbarten Termin die Tür zum Sitzungsraum öffnet, lächeln die beiden nur freundlich erleichtert.

Aber niemand hat Jerome auf den Schock vorbereitet, der ihn bei der Begrüßung der Männer aus Uganda trifft.

Er ist alt geworden, das Haar schütter und weiß. Er ist kleiner, drahtiger. Aber Jerome würde ihn immer und überall erkennen. Mbabazi, den Mörder seiner Mutter! Er bringt die Verhandlungen hinter sich wie ein Schlafwandler. Schweiß steht auf seiner Stirn, er ist sich sicher, dass alle Anwesenden wissen müssen, was in ihm vorgeht. Aber sie bleiben entspannt. Mbabazi erkennt in Mister Miller ganz offensichtlich nicht den kleinen Jungen aus Iganga, Malaikas Sohn, dem er die Mutter genommen hat. 

„Diesen Abschluss müssen wir unbedingt feiern“, sagt Jerome zu Mbabazi. „Ich kenne da eine ganz besondere Bar, die wird Ihnen gefallen.“ Mbabazis Kollege entschuldigt sich. Doch Jerome hat den Alten richtig eingeschätzt. Es gibt Züge im Charakter eines Menschen, die verändern sich nie. 

Die Bar ist angenehm dunkel, auf der Tanzfläche räkeln sich junge Mädchen. Jerome geht hier nie alleine hin, nur, wenn er bestimmte Kunden begleiten muss. Nach einigen Whiskys wirdv Mbabazi redselig.  Erzählt von seiner Vergangenheit. Wie er 2006 als Gutsverwalter eines amerikanischen Farmers plötzlich krank wurde. Und dass sein Boss so große Stücke auf ihn hielt, dass er ihn zur Behandlung nach Amerika schickte. „Wie sie sehen: ich habe überlebt! Und ich sage Ihnen, ich genieße mein zweites Leben in vollen Zügen!“

„Und die Frauen, die sich angesteckt haben? Sicher haben sie Frauen angesteckt?“ „Mein Schohn“ – Mbabazis Aussprache beginnt zu verwischen – mein Schohn: Was sind schon Frauen? Was bedeutet ihr Leben?“ „Ja, was?“ , fragt Jerome und verzieht sein Gesicht zu einem höhnisch grausamen Grinsen.

Chicago ist immer belebt, auch nachts. Taxis drängeln sich auf den Spuren, überholen auf der Jagd nach Kunden. Mbabazi ist diesen Trubel nicht gewöht. In Kampala geht es ruhiger zu. Jerome greift nach dem Arm des Alten, als er unvermittelt die Fahrbahn betritt, genau vor einem großen schwarzen Wagen.

„Ich konnte ihn nicht halten“, wird er später der Polizei sagen, Erschütterung im Blick. Niemand hat gesehen, dass er den Mann nicht gehalten, sondern gestoßen hat.

Info:

Memory Books entstanden in Uganda. Rund 40 Tausend aidskranke Mütter schrieben sie für ihre Kinder, damit sie sich an sie und ihre Familie erinnern sollten, wenn die Mütter tot waren. In den Büchern stand immer auch der Wunsch, dass das Kind lernen und einen guten Beruf ergreifen sollte.

Wenn Ihr mehr über die Memory Books erfahren wolltm empfehle ich euch den ergreifenden preisgekrönten Film von Christa Graf als Video, Blue Ray oder bei Amazon Video Stream.


Adventskalender MiniKrimi am 18. Dezember


Musikus(s)

Herzlichen Dank, liebe Laura, für den Impuls. Ich freue mich schon auf unsere nächste musikalisch-literarische KrimiPerformance….

Der Konzertsaal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Strawinskys Psalmen-Sinfonie war selten genug, um großes Interesse bei den Liebhaber*innen von Bläsermusik zu wecken. Tatsächlich spielen die Holz- und Blechblasinstrumente in dieser Sinfonie die Hauptrolle: Flöten, Oboen, Englischhorn, Fagotte und Kontrafagott, Hörner, Posaunen und Tuba sind vertreten. Und so gab sich an diesem Abend die Créme de la créme der Nachwuchs-Bläser-Elite ein illustres Stelldichein.  

Nach Tschaikowsky, Szymanowski und einer ausgedehnten Pause strömte das Publikum, klangbeseelt und weingestärkt, zurück in den Saal – in erwartungsvoller Vorfreude auf den Höhepunkt des Konzerts. Der erste und zweite Satz waren an Brillanz nicht zu überbieten, wie die Kritiker am nächsten Tag schreiben würden. Doch dann geschah es. Mitten im dritten Satz fing die Tuba unvermittelt an zu stottern. Die Musikerin bewegte ihren Oberkörper ganz und gar unrhythmisch vor und zurück, hin und her – und fiel schließlich mitsamt ihrem Instrument vom Stuhl. Der herbeigeilte Arzt konnte nur noch den Tod feststellen. 

In den Fluren und im Säulengang vor dem Konzertsaal standen die Gäste in glitzernden Trauben und kultivierten wohliges Entsetzen in Abendgarderobe. Natürlich waren alle untröstlich, dass sie den längsten Satz der Sinfonie nur halb hatten genießen können. Doch ein solch tragisches Geschehen machte diesen Verlust beinahe wett, sorgte er doch auch unter den musikalisch nicht so fachbewanderten Besuchern für farbenreichen Gesprächsstoff. 

Drinnen in den Gängen und Garderoben herrschte eine bedrückende Mischung aus geschäftigem Treiben und kontrollierter Panik: Polizei, Erkennungsdienst und aufgeregte Mitarbeitende des Konzertveranstalters auf der einen und betroffene, verängstigte Musiker und Musikerinnen auf der anderen Seite. Nach zwei Stunden gab die herbeigerufene Rechtsmedizinerin die Leiche der jungen Frau frei. Sie hatte am makellosen, marmorblassen Körper keinerlei Spuren von Fremdeinwirkung gefunden, allerdings auch nichts, was eindeutig auf einen Unfall oder Selbstmord hingewiesen hätte. Also wurde Franziska bzw. das, was von dem aufsteigenden Stern am Bläserhimmel übrig war, nämlich eine reglose, zu keiner musikalischen Euphorie mehr fähige Hülle, zur Obduktion in die Rechtsmedizin gebracht.

Die Zeitungen berichteten noch ein paar Tage lang, wobei die Artikel vom Titel immer weiter in die Innenseiten rückten und gleichzeitig von Mal zu Mal kleiner wurden. Als das Ergebnis der Autopsie veröffentlicht und als Todesursache multiples Organversagen ohne erkennbare Causa angegeben wurde, erlosch das Interesse der Öffentlichkeit.

Am Tag der Beerdigung trafen sich die jungen Musikerinnen und Musiker nach Trauerfeier und Beisetzung im Haus ihrer Mäzenin, Friederike von Elms. Eine Trompete und das Kontrafagott tranken starken Earl Grey. Alle anderen hatten das Bedürfnis, Kummer und Ratlosigkeit in Gin, Vodka und Whiskey zu ertränken. „Ich kann mir das einfach nicht erklären“, sagte eine der Flöten. „Ich auch nicht. Sie war immer total auf ihre Gesundheit bedacht. Morgens Yoga und Atemübungen, dann Müsli und Obst, mittags Salat, zwischen dem Üben nur grünen Tee. Kein Alkohol, keine Zigaretten. Nicht mal ein paar Benzos ab und an!“, stimmte eine Oboe zu. „Organversagen, da hätte sie doch vorher krank sein müssen, oder?“, fragte der Fagottist. „In den letzten Tagen vor dem Konzert hat sie schon manchmal über Muskelschmerzen und Kopfweh geklagt,“ erinnerte sich sein Kollege. „Aber sie dachte, sie hätte sich im Zug hierher erkältet.“

„Wie dem auch sei. Franziska ist tot. Das ist furchtbar, und glaubt mir, ich weiß genau, wie Ihr Euch fühlt. Aber wir müssen nach vorne schauen. Ist denn schon entschieden worden, wer ihren Platz einnimmt? Der nächste Konzerttermin ist doch schon in 14 Tagen…“

Die Flöte nickte leise, die Oboe fixierte einen blauen Vogel auf dem Perserteppich zu ihren Füßen. Die anderen schauten betreten überall hin, nur nicht auf Frau von Elms. Natürlich verstand sie, wie es den jungen Musiker*innen ging. Egal, wie sehr diese der Tod ihrer Kollegin getroffen hatte. Sie war keine Schwester, keine Tochter. Nicht wie Antonia, Franziskas Vorgängerin. Sie hatte sich vor einem Jahr bei einem unglücklichen Sturz in den Orchestergraben das Genick gebrochen. War auf einer Wasserlache ausgerutscht. Genau deswegen war es verboten, Flaschen oder offene Gläser mit zur Probe zu nehmen. Damals hatten alle versichert, keiner von ihnen habe dieses Gebot missachtet. Es musste jemand vom Putzpersonal gewesen sein. Antonia war eine der talentiertesten Nachwuchsbläserinnen gewesen. Und Friederike von Elms einzige Tochter. 

Trotzdem hatte sie das junge Orchester weiter gefördert, es sogar zu den bedeutendsten Auftritten begleitet. Es hatte lange gedauert, bis Franziska soweit war, Antonias Platz einzunehmen. Und dann, beim allerersten Konzert – dieses Unglück! „Es ist, als sei das Instrument verflucht“, murmelte die Flöte jetzt.

Die Tage vergingen, der Dirigent überredete eine junge Musikerin aus Frankreich, kurzfristig einzuspringen. Sie hatte vor kurzem den Aeolus Wettbewerb gewonnen und war eine absolute Bereicherung des jungen Orchesters. Knapp eine Woche vor dem Konzert trafen sich alle noch einmal bei Friederike von Elms. Es gab viel zu essen – feine Sandwiches, Hühnerbrüstchen, Salate, die seltensten Obstsorten. Und natürlich Wein und Champagner in Hülle und Fülle. Céline hatte wohl etwas zuviel von allem. Doch als ihr nach dem letzten Glas übel wurde, nahm Frau von Elms sie fürsorglich mit ins Bad und gab ihr eine homöopathische Spritze. 

Am Konzertabend übertraf das Orchester sich selbst. Céline spielte wie eine junge Göttin. Bis zur Mitte des zweiten Aktes. Da brach sie plötzlich zusammen. Als Todesursache wurde wiederum multiples Organversagen diagnostiziert. Erst Tage später erinnerte sich Posaunist Arno, Franziskas heimlicher Verehrer, dass auch seiner Angebetete ein paar Tage vor dem verhängnisvollen Auftritt bei Friederike nach dem Essen schlecht geworden war, worauf diese ihr im Bad eine heilende Substanz injiziert hatte.

Arno packte seine Sachen, nahm den nächsten Flieger nach Amerika und trat dort in das Chicago Symphony Ochestra ein, bei dem er sich schon vor Monaten beworben hatte. Er kaufte sich eine Wohnung im Pullman Historic District und lebte dort stilvoll zurückgezogen. Zuvor hatte er in einem langen Telefonat mit Frau von Elms seine Kenntnisse über die Wirkung von Rizin erläutert und eine Vereinbarung getroffen, die ihm moderaten Luxus und den Mitgliedern des jungen Blasorchesters, besonders denen an der Tuba, ein unfallfreies Leben sicherte.