MIniKrimi Adventskalender am 3. Dezember


Zu schön, um wahr zu sein?

Ist es in Zeiten von Genderfluid und Genderneutralität noch ok, nach einem Mann zu suchen? Einem binären Cis-Wesen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen? Iris ist sich nicht sicher. Wie so oft in ihrem Leben. Ihre Unsicherheit bestimmt ihren Alltag, im Großen wie im Kleinen. Ist es ok, wenn ich Kiwis aus Neuseeland kaufe? Die schmecken so gut. Aber was werden die Leute hinter mir in der Supermarktschlange denken? Dass ich mir keine Gedanken über meinen ökologischen Fußabdruck mache? Und dann greift Iris lieber zu einem braungelbrauen Boskop. Obwohl sie Äpfel hasst. Das gleiche beim Fleisch. Das Huhn mit dem ethische Unbedenklichkeit suggerierenden Aufkleber „biologische Haltung“ kostet dreimal soviel wie das Wiesenhof Hähnchen nebendran. „Stell dir vor, es gibt immer noch Leute, die Billigfleisch essen, ohne einen Gedanken an das schreckliche Leben und den qualvollen Tod der armen Tiere zu verschwenden. Ganz zu schweigen davon, dass sie von den Antibiotika, die sie dabei mitbekommen, eine tödliche Immunität entwickeln. Geschieht ihnen recht. Also mir würde so ein Bissen im Hals stecken bleiben“, sagt der Hipster neben ihr am Kühlregal zu seiner Freundin, und sein Man Bun nickt im Takt bei jedem Wort. Iris zieht die Hand zurück, die schon nach dem Billighuhn gegriffen hat, dreht sich um und nimmt einen Backcamembert. Den hasst sie wenigstens nicht so sehr wie Äpfel.

Beim Zielvereinbarungsgespräch mit ihrem Chef geht sie regelmäßig ohne angemessene Gehaltserhöhung raus, dafür aber mit einer beachtlichen Liste an Mehraufgaben. Weil sie nicht weiß, wieviel mehr Geld sie verlangen möchte. 10 Prozent? 5? Oder 15? Dann lieber gar nichts.

Und genau wegen dieser Unschlüssigkeit ist Iris mit Mitte 40 immer noch Single. Wie viele Dates hat sie verpasst, weil sie viel zu lange vor ihrem Kleiderschrank stand, ohne sich für ein Outfit entscheiden zu können! Wie oft ist sie nach einem netten Abend alleine nach Hause gegangen, weil sie auf die Frage „Zu mir oder zu dir?“ keine Antwort wusste, was ihr unweigerlich als Desinteresse ausgelegt wurde.

Sicher wäre auch die Wahl der passenden Dating Seite ein unüberwindbares Hindernis für Iris gewesen. Aber Iris ist nicht nur von Natur aus unschlüssig, sie ist auch technisch ziemlich unbegabt. Als Assistentin der Geschäftsführung ist das zum Glück kein Handicap, sie braucht nur Outlook, Word und Excel, der Rest wird von anderen Abteilungen bearbeitet. Ihre Telefonstimme und ihre Kalenderführung sind so überzeugend, dass Iris für den Chef unersetzlich ist. Mit etwas mehr Selbstvertrauen hätte sie sogar die Verdopplung ihres Gehalts durchgesetzt, bei Kündigungsandrohung. Aber so ist Iris eben.

Und weil sie sich mit Smartphones und Apps nicht auskennt, hat sie sich bei der ersten Partnerbörse angemeldet, die auf ihre Suche im PC hin erschienen und noch dazu so „traditionsreich“ ist, dass sogar Iris den Namen schon mal gehört hat. “Du hast so viel zu bieten“, hieß es im Werbetext. „Sag der Welt, was du suchst. Bei uns brauchst du keine Kompromisse zu machen. Du findest genau den Partner, den du dir wünschst.“

Das klang vielversprechend. Und wenn Iris keine Wahl hat, sondern sich selbst etwas überlegen muss, dann klappt es auch mit der Formulierung ihrer Erwartungen. Also hat sie die Schublade mit dem Kräutertee gar nicht erst aufgemacht, sondern sich ein Glas Amarone eingeschenkt, sich damit an den PC gesetzt und direkt ins Online-Formular hinein getippt:

Ich suche einen Mann, der mich liebt. Der mich unerwartet umarmt und mich gerne küsst. Einen, der mich überrascht: mit einem Abendessen, einem Geschenk außer der Reihe oder einer zärtlichen Nachricht. Einen, der mich streichelt und mir auch den Nacken massiert. Einen, der mir zuhört, auch wenn das Thema ihn nicht interessiert, nur, weil ich es ihm wert bin. Einen, für den ich die Schönste bin, mit und ohne Makeup. Einen, der mit mir die Leidenschaft genießt, der meine Wünsche erfüllt, der freundlich ist, gut erzogen und ehrlich. Einen, der Stil hat, ohne arrogant zu sein. Einen, der meine Welt schöner macht. Einen, für den ich die andere Hälfte seines Herzens bin.

Ich bin Anfang 40, gepflegt, selbstständig und naturblond.

Das ist jetzt 3 Wochen her. Und bis jetzt hat Iris keine ernstzunehmenden Antworten erhalten. Tja, denkt sie, da bin ich einmal ehrlich und sage frank und frei, was ich will – und dann das. Typisch. Sie ist gerade dabei, den PC wieder runterzufahren, als es „plingt“ und im Eingangskorb ihres Dating Accounts das Briefsymbol auftaucht. „Du hast Post“, flötet eine Stimme mit dem Sexappeal eines Navigationssystems. Iris zögert. Natürlich. Soll sie die Nachricht öffnen? Oder ungelesen in den Papierkorb verschieben? Ja? Oder nein? Iris geht in die Küche, schenkt sich ein großes Glas Amarone ein, setzt sich an den Schreibtisch und öffnet die Nachricht.

Liebe Iris,

lass mich der Mann sein, der dich liebt. Der dich unerwartet umarmt und dich gerne küsst. Der dich überrascht: mit einem Abendessen, einem Geschenk außer der Reihe oder einer zärtlichen Nachricht. Der dich streichelt und dir auch den Nacken massiert. Der dir zuhört, auch wenn das Thema mich nicht interessiert, nur, weil du es mir wert bist. Du wirst für mich die Schönste sein, mit und ohne Makeup. Gemeinsam werden wir die Leidenschaft genießen, und ich werde deine Wünsche erfüllen. Ich bin freundlich, gut erzogen und ehrlich. Ich habe Stil, ohne arrogant zu sein. Ich möchte deine Welt schöner machen. Du sollst die andere Hälfte meines Herzens sein.

Ich bin Mitte 40, Single, dunkelblond und verdiene gut.

Iris traut ihren Augen nicht. Ok, die Antwort ist nicht besonders originell. Aber andererseits zeugt sie doch auch von einer gewissen Ernsthaftigkeit. Zumindest hat er ihre Auflistung gelesen. Und scheint damit zufrieden zu sein. Sie trinkt das Glas aus und schenkt sich ein zweites ein, bevor sie ihm antwortet.

Die nächste Woche vergeht für Iris in einem nie gekannten Gefühlstaumel. Alexander, so heißt „er“, und sie schreiben sich mehrmals am Tag. Längst haben sie ihre Telefonnummern getauscht, und schon nach 24 Stunden haben sie sich das erste Mal gesprochen. Er ist von ihrer Stimme berauscht, hat er ihr gesagt. Und das glaubt sie ihm. Sie hat eine unglaubliche Telefonstimme. Erotisch, samtig, klar und dabei vertrauenerweckend. Seine Stimme ist etwas metallisch, zuweilen. Aber das mag an der Verbindung liegen. Seine Worte allerdings sind alles andere als hart. Er versteht es, ihr Herz anzurühren, ohne schnulzig zu sein.

Auch, als sie sich das erste Mal treffen, platzt die Blase nicht. Im Gegenteil: Alexander sieht live womöglich sogar noch besser aus als auf den Fotos, die er ihr geschickt hat. Die neue Iris ist schon so selbstsicher, dass sie keinen Augenblick daran denkt, das Date abzusagen. Sie hat sich ein neues Kleid gekauft, smaragdgrün, passend zu ihren Augen und ihren Haaren. Alexander ist „hingerissen“, sagt er. Und lächelt warm und zärtlich.

Der Sex mit Alexander ist anders als alles, was Iris bis jetzt erlebt hat. Er scheint jeden Zentimeter ihres Körpers zu kennen und genau zu wissen, was sie will und was sie braucht. Besser als sie selbst, sogar. „Als ich die Anzeige schrieb, dachte ich, darauf wird mir nie einer antworten. So einen Mann gibt es doch gar nicht. Der müsste erst extra für mich erschaffen werden“, sagt Iris und schmiegt sich in seine Achselhöhle. „Das bin auch“, flüstert Alexander und massiert ihre Nackenwirbel genau dort, wo die Verspannung sitzt.

Die Wochen vergehen, und Alexander ist ganz und gar der Mann, den Iris sich erträumt und gewünscht hat. Manchmal, wenn er wieder einmal genau das tut, was sie gerade von ihm erwartet, bevor sie es noch ausgesprochen hat, ist sie allerdings ein wenig irritiert. Woher weiß er, dass sie am Liebsten blaue Tulpen mag? Sie haben nie darüber gesprochen. Wie hat er den lange verschwundenen Ohrring gefunden, ohne ihre Wohnung auf den Kopf zu stellen?

Als sie am Frühstückstisch über die Vor- und Nachteile künstlicher Intelligenz sprechen, wirft Iris ihm einen Köder hin: „Manchmal glaube ich, du bist gar kein richtiger Mensch, sondern eine künstliche Intelligenz in einem Roboterkörper. Du weißt alles, merkst dir alles, liest mir jeden Wunsch von den Augen ab, sogar noch bevor ich selbst weiß, was ich will.“

Alexander lächelt und greift nach ihrer Hand. „Ertappt“, sagt er. Dann läuft ein Zucken durch seinen Körper, sein Blick wird starr. Das Ganze dauert nur zwei Sekunden, aber Iris ist zu Tode erschrocken. „Alexander, entschuldige! Ich wollte dich nicht verletzen. Was ist denn? Geht’s dir gut? Komm, ich bringe dich zum Arzt.“

Alexander wehrt ab. „Nein, nein, nicht nötig. Alles gut.“ Stille. Dann: „Aber vielleicht hast du recht. Ich gehe nachher gleich mal zu meinem Hausarzt. Sicher ist sicher.“ Iris will ihn begleiten, aber er besteht darauf, alleine zu gehen. Um 12.30 Uhr verlässt er ihre Wohnung.

Sie wird ihn nie wiedersehen.

Sie versucht, ihn anzurufen. „Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Sie sucht ihn auf dem Dating Portal. Sein Account existiert nicht mehr. Dann tut Iris etwas, was sie noch nie getan hat. Sie forscht nach ihm. Googelt. Nichts. Iris ist verzweifelt. Sie versucht mithilfe eines guten Freundes im Finanzamt, der ihren Kummer schließlich nicht mehr mit ansehen kann, ihn anhand einer Steuernummer zu identifizieren. Nichts. Alexander ist wie vom Erdboden verschluckt. Oder vielmehr sieht es so aus, als hätte er nie existiert. „Und du hast ihn dir sicher nicht eingebildet?“, fragt der Freund vorsichtig. Daraufhin ghostet sie ihn.

In ihrer Verzweiflung durchforstet Iris, die früher so gut wie nie online unterwegs war, das Internet. Sie stößt auf immer dunklere Foren. Und irgendwann findet sie ein Wort, das sie nicht mehr loslässt. Weil es irgendwie auf Alexander zutreffen könnte. Cyborg. Ist er das? War es das? Ein Cyborg?

Iris recherchiert weiter. Findet schließlich ein Forschungsteam in Skandinavien, das offenbar an der Entwicklung und Perfektionierung der Verbindung von Organismen und Maschinen arbeitet. Offiziell geht es um Schnittstellen zwischen Technik und Gehirn, wie den grünen Daumen oder Coprozessoren, die das Gehirn bei Denkleistungen unterstützen sollen. Aber in speziellen Foren wird gemunkelt, dass dort auch Cyborgs entwickelt werden, Hybride aus Mensch und Maschine.

Iris reist nach Norwegen. Noch nie in ihrem Leben war sie so weit weg von zu Hause. Aber so unschlüssig sie früher war, so zielgerichtet ist sie jetzt. Sie will Alexander finden. Koste es, was es wolle. Sie kann und sie will ihn nicht vergessen.

Auf den ersten Blick sieht das Forschungsgelände enttäuschend harmlos aus. Keine Zäune, keine Kontrollen. Nur ein heller weiter Platz mit runden Bänken vor einem Gebäude aus Glas und Metall. Mit riesigen Aufzügen. Die vielleicht auch in die Tiefe führen, denkt Iris. Geheimnisse lagert man am besten im Keller.

Es ist ein sonniger Spätsommertag, wahrscheinlich fast untypisch für den hohen Norden. Die Sonne scheint von einem wolkenlosen Himmel herab, Vögel singen, und am Horizont sieht man den majestätischen Fjord. Ein einzelner Mensch sitzt auf einer der Bänke, das Gesicht der Sonne zugewandt, die Augen genießerisch geschlossen. Iris‘ Herz beginnt wie wild zu schlagen. Sie weiß genau, wer dort sitzt. „Alexander“, ruft sie und geht, läuft, rennt auf ihn zu. „Alexander! Endlich hab‘ ich dich gefunden!“ Sie setzt sich neben ihn, greift nach seiner Hand, schaut ihm in die Augen, die sie erstaunt und ohne jedes Anzeichen eines Erkennens ansehen. Dann spricht er – es ist seine weiche, melodische, leicht metallische Stimme. Aber Iris versteht nicht, was er sagt. Es ist eine fremde Sprache. „Alexander“, versucht sie es noch einmal. Aber er sieht sie nur an, lächelnd, freundlich, wie ein x-beliebiger Unbekannter. Sie redet auf ihn ein, er schüttelt den Kopf. Dann zieht er seine Hand unter der ihren weg, steht auf, sagt noch etwas Unverständliches und geht zurück ins Gebäude.

Wie lange Iris auf der Bank gesessen hat? Sie weiß es nicht. Aber die Sonne geht unter, es wird merklich kühler. Was soll sie jetzt machen? Nach Hause fahren? Ins Gebäude gehen? Schreien? Die Polizei holen? Sind die hier überhaupt zuständig? Und was will sie ihnen sagen? Iris legt den Kopf in beide Hände und weint.

Da legt sich eine Hand auf ihre Schulter. „Sie sollten hier nicht sitzen. Es ist viel zu kalt. Kommen Sie, ich begleite sie zum Bahnhof. Sie sind doch mit dem Zug gekommen?“ Der Mann ist um die 60, hager, mit grauem Haarschopf, kurzem Schnurrbart und runder Brille. Er spricht deutsch. „Wer…?“ „Nicht jetzt. Nicht hier. Kommen Sie.“ Er legt seinen Arm um Iris und geht mit ihr über den Platz in Richtung Siedlung. Erst, als der Bahnhof am Ende der Straße zu sehen ist, spricht der Mann wieder.

„Was ich hier mache, ist mehr als unprofessionell. Es könnte mich meinen Job kosten, theoretisch. Aber ich zähle darauf, dass ich zu wichtig bin, unersetzlich, wenigstens auf die Schnelle. Sie tun mir leid, und Ihre Verzweiflung lässt mich nicht los. Ich habe Sie und ihren Weg bis zu uns verfolgt. Sie waren sehr hartnäckig, alle Achtung. Ganz entgegen ihrer bisherigen Natur. Ich bin froh, dass diese Erfahrung für Sie auch etwas Gutes gebracht hat.“

„Aber, wer?“ setzt Iris erneut an.

„Sie haben es ja beinahe schon selbst herausgefunden. Alexander war, ist ein Cyborg. Einer unserer Prototypen. Als wir Ihre Anzeige in diesem Dating Portal gesehen haben, war das einfach die perfekte Gelegenheit, ihn im real life zu testen. Sie müssen zugeben, die Chancen, einen echten Mann zu finden, der so perfekt all ihren Vorstellungen entsprach, waren doch gleich Null. Dass Sie da nicht schon viel früher Verdacht geschöpft haben, wundert mich. Sie sind doch intelligent. Aber als Sie seinem Geheimnis dann doch zu nahe kamen, konnten wir kein Risiko eingehen. Alexander hatte offenbar noch ein paar Fehler. Er war zu perfekt, zu unterwürfig. Nicht menschlich genug. Wir mussten ihn zurückrufen.“

„Und der Mann, den ich auf der Bank getroffen habe? Das war er doch, das war Alexander?“

„Ja. Und nein. Das ist quasi Alexander 2.0. Wir haben ihn komplett neu programmiert. Er hat keine Erinnerung an Sie. Das versichere ich Ihnen. So, bald kommt ihr Zug. Leben Sie wohl. Und geben Sie sich lieber mit dem Zweitbesten zufrieden, vor allem in der Liebe. Perfektion hat immer einen viel zu hohen Preis.“

MiniKrimi Adventskalender am 14. Dezember


Mosting oder Mord?

Ewa ist seit unglaublichen vier Jahren Single – aus Gründen, wie sie gerne kryptisch lächelnd erklärt, wenn Bekannte sie ungläubig anschauen. Denn Ewa sieht so aus, als könne sie sich vor Verehrern nicht retten. Da wird doch wohl einer dabei sei, mit dem sie es wagen könnte. Und wenn nicht – wartet der Nächste sicher schon auf seine Chance.

Aber nein – Ewa hat niemanden erhört und erwählt. Aus Gründen.

Warum meldet sie sich dann ausgerechnet jetzt bei einer Dating App an? Auch noch bei einer, bei der man nach rein optischen Kriterien „aus dem Bauch heraus“ – oder vielleicht doch etwas tiefer? – nach links oder rechts swiped? Wir kennen Ewas Antwort: aus Gründen.

Kaum hat sie ihr Profilbild hochgeladen, kommen auch schon die ersten Likes. Ewa hat nichts anderes erwartet, denn das Bild zeigt eine Frau mit langen blonden Haaren, gewinnendem Lächeln und großen, freundlichen Augen. Nicht aufgestylt, sondern natürlich. Klassisch. Genau so soll das ideale Profilbild aussehen.

Schon am ersten Abend hat Ewa einige Matches. Doch sie lässt sich Zeit. Drei, vier Männer verwirft sie nach den ersten Chats gleich wieder. Zu platt, zu offensichtlich, zu bedürftig.

Doch dann erhält sie eine Chatnachricht von Ben. Ben – sie schaut noch einmal nach – ja, richtig. Das war der dunkelharige Mittdreißiger (so steht es zumindest im Profil) mit den blauen Augen. Sie hat ihn geliked, weil sein Foto so authentisch ist. Er lehnt an einer Hauswand, im Hintergrund ein Ufer mit Segelbooten. Blaues T-Shirt, Jeansjacke, ganz leises Lächeln. Keiner, der auf den ersten Blick smashen will. Aber seine Chateinladung berührt sie: „Hallo Ewa, ich möchte dich kennenlernen. Das schreibt wahrscheinlich jeder, aber ich kann keine Originalität vortäuschen, wenn es um banale Fakten geht. Dein Bild gefällt mir, ich würde gerne mehr über dich erfahren, mehr von dir sehen. Wenn es dir mit mir genausp ginge, wäre das der erste Schritt auf meiner Himmelsleiter.“

Das ist keine Anmache. Das klingt nach echtem Interesse. Ewa spürt ein Kribbeln auf der Haut, so fremd, dass sie es beinahe nicht erkennt. Sie zögert kurz, dann gibt sie nach. Wirft alle Erinnerungen an frühere Verletzungen über Bord und springt kopfüber in den Strudel aus verliebtem Werben.

Mit jedem Chat kommen Ewa und Ben sich näher. Er schreibt ihr Dinge, die noch nie ein Mann zu ihr gesagt und ganz sicher auch nie über sie gedacht hat. Er versteht es, ihr Herz in seine Hände zu nehmen, sanft und behutsam. Er spürt ihre Zerbrechlichkeit und legt sich um ihre Angst wie Watte. „Ich bin deine Zuckerwatte“, flüstert er ins Telefon. Ich umgebe dich mit mir – komm doch und schmecke mich.“

„Ich. Habe. Angst.“ Jetzt hat sie es gesagt. Wird er verschwinden, wird er sie ghosten, weil ihm das verbale Vorspiel zu lange dauert? Nein. „Ich liebe dich mehr als mein Leben, Ewa. Ich warte auf dich bis ans Ende aller Tage. Bis wir beide alt und grau sind, meinetwegen. Es gibt nur dich für mich. Das weißt du.“

Und sie glaubt ihm. Ihre Angst wird brüchig, und sie zeigt es ihm.

Die erste Nacht bei ihm ist unbeschreiblich. Schön. Die zweite Nacht bei ihr womöglich noch viel schöner. „Wo stehst du jetzt auf deiner Himmelsleiter?“, flüstert sie an seinem Hals. „Die Leiter? Brauche ich nicht mehr. Ich bin auf Wolke sieben. Und dort bleiben wir für immer.“

Am nächsten Morgen liegt neben Ewa nur ein zerknittertes, liebesfeuchtes Seidenlaken. Kreditkarte und Bargeld sind verschwunden. Ebenso ihr goldenes Medaillon. „Das Abschiedgeschenk meiner Mutter, mein wertvollster Schmuck“, hat sie Ben vor ein paar Stunden noch erklärt.

Den ganzen Tag schaut sie auf die Dating-App. Keine Nachricht von Ben. Sein Profil ist gelöscht. Mosting soll noch viel schmerzhafter und grausamer als Ghosting. Weil dir jemand nicht nur Verliebtheit vorspielt, sondern die ganz große Liebe. Und weil, wenn er diesen Traum zerstört, deine Selbstachtung zerbricht.

Und wie geht es Ewa? Die Begründung für ihr konsequentes Singledasein, das war das unheilbare Geschenk ihres langjährigen Verlobten. Er hatte sie mit Lues angesteckt, und als die Krankheit bei ihr entdeckt wurde, hatte der Erreger bereits ihr zentrales Nervensystem befallen. Die Behandlung mit Antibiotika konnte den Verlauf nur noch abmildern und verzögern. Der Schock darüber nahm ihr jede Lust auf eine neue Beziehung. In der Ruhephase nach dem zweiten Krankheitstadium versuchte Ewa, ihr normales Leben wieder aufzunehmen. Doch mit dem dritten Stadium kam, mit der Müdigkeit, der Schwäche von Augen und Muskeln, die Wut. Eine kalte, harte Wut auf alle Männer. Ihren Verlobten konnte sie nicht mehr bestrafen. Er hatte sich vor drei Jahren während eines von der Neuro Syphilis ausgelösten depressiven Schubs erhängt.

Vielleicht leidet auch Ewa bereits unter Wahnvorstellungen? Jedenfalls sind für sie Männer allesamt potentielle Mörder – und müssen mitleidslos bestraft werden. Auf der Dating App suchte und fand sie schnell ihr erstes „Opfer“. Kühl und jeder Emotionen beraubt durschaute sie Bens Liebesschwüre. Und rächte sich an ihm. Medaillon, Kreditkarte – alles gefakted. Um ihn in Sicherheit zu wiegen.

Die Syphilis oder Lues ist bis zum dritten Krankheitsstadium hoch ansteckend. Allerdings verläuft die erste Phase nach der Infektion meist symptomlos oder unerkannt. Bis Ben merkt, welchen Preis er für sein Mosting gezahlt hat, wird vielleicht auch er dem sicheren Tod entgegen gehen.

In der Zwischenzeit verändert Ewa ihr Profil und beginnt wieder zu swipen.