MiniKrimi Adventskalender am 22. Dezember


Rache ist stärker als der Tod

Endlich. Die längste Nacht des Jahres. Genug Zeit und genug Bewegungsfreiheit. Livia schickt dem Ausgrabungsteam, das ihr das Schloss von den Füßen entfernt hat, einen innigen Dankesgedanken. Und die Archäologen haben sie auch umgedreht. Statt bröckeliger Erde sieht Livia nun eine Welt, die sich in 400 Jahren sehr und gleichzeitig kaum verändert hat. Der Friedhof mit dem eingezäunten Bereich, wo neben Livia noch andere Männer, Frauen und Mädchen begraben waren, die von den Dorfbewohnern als Vampire gefürchtet und mit entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen begraben wurden, sieht noch so aus wie damals. Ein kleiner Hügel mit struppigem Gras, fetter Erde und ein paar zerzausten Tannen. Unten sieht man das Dorf, und auch das hat sich von hier oben betrachtet kaum verändert. Niedrige Häuser ducken sich rund um das trutzige Steinkirchlein. Die Straßen bestehen immer noch aus Erde und Sand. Nur um die Kirche herum haben sie den Platz gepflastert. In den Häusern flackert Licht, und überall stehen Masten mit Leitungen. Aus den Schornsteinen quillt Rauch, und es riecht nach Holzfeuer. Livia hat auch nach dieser langen Ruhezeit keine Schwierigkeiten, sich in ihrer Heimat zurechtzufinden.

Sie klettert aus ihrem Grab, sammelt sich und betrachtet in einer Pfütze ihr Gesicht. Ein kleines Mädchen schaut sie an. Mit langen, wirren Haaren und einer vergilbten Kappe bis knapp über den stechend grauen Augen. Ein blasser, zusammengekniffener Mund im bleichen Gesicht. Ihr schwarzes Kleid ist von Würmern durchlöchert, die Schuhe verschimmelt.

Es gibt Schlimmeres. Wie zum Beispiel eine Sechsjährige zu einem Vampir abzustempeln, nur, weil sie ihren Bruder, den ersehnten Stammhalter, aus Eifersucht in den Hals gebissen hat. Livia hat damals ein Gespräch ihrer Eltern belauscht. „Zwei Kinder können wir nicht ernähren und standesgemäß aufziehen. Die Felder haben schon das dritte Jahr in Folge kaum Ernten erbracht, die Bauern können ihre Pacht nicht zahlen. Aber Theo brauchen wir, er wird meine rechte Hand und mein Nachfolger. Also: das Mädchen muss weg“, sagte der Vater.

„Aber wie willst du das anstellen?“, fragte die Mutter. Du kannst sie nicht einfach weggeben oder gar töten. Die Bauern würden das als Grund zum Aufstand nehmen.“

„Du wirst sehen, die Bauern werden die ersten sein, die ihren Tod fordern.“

„Wie das?“

„Ich erzähle im Wirtshaus, natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass ich fürchte, Livia sei zum Vampir geworden. Du erinnerst dich doch an den Tagelöhner, der mir im Sommer mit den Pferden geholfen hat?“

„Ja. Livia mochte ihn sehr. Sie saß abends oft bei ihm, wenn er auf der Mandoline spielte.“

„Genau. Ich sage, dass sie einmal nach Hause kam und zwei rote Flecken am Hals hatte. Und dann erzähle ich, wie sie Theo gebissen hat.“

„Die Bauern haben furchtbare Angst vor Vampiren! Sie werden sie steinigen. Das arme Kind!“

„Soweit lassen wir es nicht kommen. Wir geben ihr einen Trank mit Fingerhut, so dass sie im Schlaf stirbt. Man wird keine Verletzung an ihr finden, und das wird ein weiterer Beweis dafür sein, dass sie ein Vampir ist. Lass die Bauern sie begraben, mit allen nötigen Schutzmaßnahmen, damit sie nicht aus dem Grab aufstehen kann.“

Obwohl Livia vorgewarnt war, hat sie den Kakao getrunken, den ihr ihre Mutter ein paar Wochen später hinstellte. Als besondere Belohnung, weil sie den Bruder nicht mehr gebissen hat.

Dann lief alles so ab, wie der Vater es vorhersehen hatte. Livia starb, wurde begraben – und konnte erst jetzt, 400 Jahre später, ihr kaltes, dunkles Grab verlassen, in dem sie, mit dem Gesicht nach unten, damit sie nur in die Erde und nie wieder in einen Menschen beißen,  und mit einem schweren Schloss an den Füßen, damit sie nicht weglaufen konnte, gefangen war.

Aber jetzt ist sie endlich frei. Heute ist der Tag ihrer Rache.

Sie geht hinunter ins Dorf. Es ist stockdunkel in dieser längsten Nacht des Jahres. Und auch, wenn aus den Fenstern die bunten Bilder der Fernseher flackern und draußen die Straßenlampen ein gespenstisches Licht auf die Häuser werfen – die Angst vor Vampiren und Untoten ist lebendig in diesem kleinen polnischen Dorf, in dem die Neuzeit nur einen dünnen Mantel über Glauben und Bräuche des Mittelalters geworfen hat.

 Der Weg bis zu ihrem Elternhaus ist weit. Aber Livia spürt weder Kälte noch Furcht. Hier steht es, groß und stark hinter dem hohen Eisentor. Das Gutshaus, zu dem das Dorf und alle Ländereien gehören. Sie geht durch das Tor, als sei es nicht verschlossen. Drinnen auf dem gepflasterten Hof sieht es allerdings deutlich anders aus als im übrigen Ort. Große Kutschen stehen dort, aber ohne Kutschbock. Dafür glänzen sie in schwarz und blau. Aus den Ställen dringt Licht und Musik. Scheinbar leben dort jetzt Menschen und kein Vieh mehr.

Sie geht auf das Haupthaus zu. Links neben dem Eingang war der Küchengarten, den Livia besonders liebte. Jetzt hasst sie ihn, denn dort hat ihre Mutter den Fingerhut gepflückt, mit dem sie ihre Tochter getötet hat. Welche Mutter tut so etwas?

Vor der schweren Eichentür steht ein Mann. Groß, mit dunklen Haaren und einem kurzen dunklen Bart. In der einen Hand hält er etwas, das Ähnlichkeit mit den Zigarren hat, die ihr Vater – als einer der ersten in ganz Polen – rauchte. Er spricht in einen kleinen Kasten in seiner rechten Hand. Livia kennt das. Auf dem Friedhof machen das die meisten.

Da schaut der Mann auf und sieht Livia. „Nanu,“ sagt er. „Wo kommst du denn her? Wer bist du?“ Livia versteht seine Sprache, auch, wenn sie etwas anders ist als das Polnisch ihrer Zeit. Der Mann mustert sie. „Du warst wohl auf einer dieser Geisterparties zur Wintersonnenwende? Hast du dich verlaufen?“

Weil Livia nicht weiß, was sie antworten soll, verdreht sie die Augen und lässt sich stocksteif zu Boden fallen.

„Herrje, die Kleine ist ohnmächtig geworden. Ich muss Schluss machen, Oleg.“

Dann hebt der Mann Livia auf und trägt sie ins Haus. In den nächsten Stunden bemühen Andrej, so heißt er, und Olga, seine Frau, sich um das Mädchen. Sie flößen ihr Wasser und dann Brühe ein. Als sie die Augen aufmacht, tragen sie sie ins Badezimmer und legen sie in eine Wanne voll duftendem Schaum. So etwas gab es bei Livias Eltern noch nicht!

Sie schließt die Augen und hört Andrej und Olga flüstern. „Ja, ich weiß, wir sollten sie der Polizei melden. Aber sieh nur, wie sie ausschaut. Als sei sie gerade dem Tod entronnen. Wir kümmern uns erst mal um sie. Wir wollten doch schon immer ein kleines Mädchen haben, oder? Und natürlich schauen wir ins Internet, ob irgendwo ein Kind vermisst wird.“

„Wer lässt seine Tochter schon mitten in der Nacht alleine? Solche Eltern haben das Kind sowieso nicht verdient. Gut. Wir machen das so, wie du vorgeschlagen hast. Und wenn jemand fragt, dann ist sie das jüngste Kind deiner Cousine. Etwas behindert. Das erklärt, warum sie nicht spricht. Sie soll ein paar Monate bei uns auf dem Land bleiben.“

Und so lebt Livia von Stund an bei Olga und Andrej. Mit der Zeit „taut“ sie auf und beginnt sogar, zu sprechen. Ihren Plan, in ihrem Elternhaus zurück in die Vergangenheit zu gehen und sich an ihren Eltern für den Mord an ihr zu rächen, hat sie aufgegeben. Jetzt geht es ihr gut. Endlich. Und hat sie nicht ein Recht darauf, nach 400 Jahren in einem modrigen Grab?

Heute ist es genau ein Jahr her, dass Livia zu Andrej und Olga gekommen ist. Im Dorf haben sie die „Nichte“ schnell akzeptiert. Sie geht sogar zur Schule. Sie trägt die schönste Kleidung, ganz anders und viel bequemer als das, was sie in ihrem ersten Leben anziehen musste.

Sie sitzen beim Abendessen. Der Tisch ist besonders festlich gedeckt – zur Feier des Tages. „Nun bist du schon ein Jahr bei uns, liebe Livia. Du hast uns so glücklich gemacht. Du bist unser Sonnenschein. Olga und ich haben so lange vergeblich versucht, ein Kind zu bekommen. Und dann standst du auf einmal vor unserer Tür!“

„Ja, du bist unser großes Glück. Und ich bin überzeugt, dass das, was wir dir jetzt gleich erzählen werden, auch nur deshalb passieren konnte, weil du bei uns bist. Schau, Livia, du wirst einen kleinen Bruder bekommen. In einem halben Jahr bist du die große Schwester. Freust du dich?“

Livia starrt Olga und Andrej an. Es ist, als würde ihre Lebensgeschichte noch einmal von vorne beginnen. Sie steht auf, ohne zu bemerken, dass sie dabei den Stuhl umstößt. Sie rennt die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Ihr altes Zimmer. Ihr neues Zimmer mit allem darin, was ein Mädchenherz sich nur wünschen kann. Aber wie lange wird es ihr noch so gut gehen? Livia weiß, was passiert, wenn ein zweites Kind in die Familie kommt.

Doch diesmal ist sie vorgewarnt. Diesmal wird man sie nicht überraschen. Überrumpeln.

Livia lässt sich Zeit. Ein halbes Jahr lang tut sie so, als freue sie sich auf den Nachwuchs. Und als Konstantin dann auf der Welt ist, beobachtet sie ihre neuen Eltern sehr genau. Ja, es ist so, wie sie befürchtet hat. Alles dreht sich plötzlich um den Kleinen. Gut, Andrej fährt sie weiterhin zum Ballett und zum Reiten. Olga liest ihr jeden Abend eine Gutenachtgeschichte vor. Und sie hat die beiden noch nie dabei belauscht, wie sie Pläne schmieden, um Livia wieder loszuwerden. Aber das bedeutet gar nichts. Sicher hat sie es nur nicht mitbekommen.

Dann, eines Tages, ist es soweit. „Livia, wir müssen für eine Woche nach Frankreich. Arbeit. Konstantin nehmen wir mit. Aber du musst hierbleiben. Du hast Schule, Reiten, Ballett. Olgas Freundin Nadja wird auf dich aufpassen. Und wir sind in einer Woche wieder da und bringen dir was ganz Tolles mit. Was wünscht du dir am meisten? Eine große Mickey Maus? Oder einen Tüllrock?“

Livia schaut die beiden aus ihren großen, stechend grauen Augen an.

Später, als Konstantin seinen Mittagsschlaf hält, schleicht sie zu ihm ins Zimmer. Wie friedlich er da liegt. Ein rosa Gesichtchen, umrahmt von blonden Locken. „Er ist viel schöner als ich“, denkt Livia. „Ich hasse ihn.“

Sie beugt sich zu dem Baby hinunter. Und beißt zu. Kräftig. Das Blut schmeckt süß. Sie kann gar nicht genug davon trinken.

Dann geht sie in ihr Zimmer. Zieht an, was sie trug, als sie aus dem Grab gestiegen ist. Hinauf auf den Hügel, zum Friedhof, in den Teil für Vampire. Sie legt sich in ihr Grab. Mit dem Gesicht nach unten. Das Schloss umschließt ihre Füße. Aber den Schlüssel gräbt sie in die Erde unter sich ein. Sie wird noch ein paar Jahre warten. Jahrhunderte, vielleicht. Und es noch einmal versuchen, mit ihrer Rache.

Konstantin, der offenbar am plötzlichen Kindstod gestorben ist, wie die Eltern sagen, wird auch auf dem Friedhof begraben, nicht allzu weit von Livia entfernt. „Das war bestimmt ein Vampir“, flüstern die Alten. „Habt ihr gesehen, wie blass das Kind war? Und wieso ist das kleine Mädchen so plötzlich verschwunden, gleichzeitig mit dem Tod des Jungen?“ Aber wer hört schon auf sie?

Diese Geschichte ist entstanden, nachdem ich vom Fund eines „Kindervampirs“ in einem polnischen Dorf gelesen habe.  

MiniKrimi Adventskalender 2023


Ein paar Worte vorweg

Ja, meine Lieben: es ist wieder soweit! Und diesmal könnte der Advent nicht vorweihnachtlicher beginnen. Denn auch wenn Schnee dort, wo Weihnachten seinen Ursprung nimmt, nämlich in Palästina, nicht zum jahreszeitlichen Standard gehört – für uns kommt die Zeit rund um das Fest gefühlt am besten weiß daher. Woran das liegt? Vielleicht daran, dass wir uns gerade jetzt so gerne an unsere Kindheit erinnern. „Leuchtet der Himmel rit: Christkind backt Kuchenbrot.“ „Von drauß vom Walde komm ich her..:“. Oder „Dicke rote Kerzen, Tannenzapfenduft, und ein Hauch von Heimlichkeiten liegt jetzt in der Luft.“

Ja. Solche Erinnerungen sind ein Privileg, das nur wenige Menschen weltweit teilen. Gerade jetzt, so kommt es uns vor, sind so viele von Krieg und Leid betroffen. Ganz in unserer Nähe. Und in dem Landstrich, in dem das Christentum seinen Ursprung hat. Aber die Wahrheit ist, dass es immer überall auf der Welt gewaltame Konflikte gibt. Und oft dauern diese über Jahrzehnte an, vor allem in Afrika und in Asien, aber auch in Südamerika. Und der jüngere Konflkt im Nahen Osten ist über hundert Jahre alt.

Was bedeutet das für uns und unser Weihnachtsgefühl? Dürfen wir das überhaupt, uns freuen? Über den Schnee, über den Duft nach Glühwein und Zimt? Auf das Fest, auf die Geschenke? Wenn um uns herum so viele Menschen leiden?

Die Antwort darauf müsst Ihr selbst finden. Mich machen die Erinnerungen an weihnachtliche Momente und die Vorfreude auf eine hoffentlich schöne Zeit empfindsamer und aufmerksamer für andere. Ich bin dankbar für alles, was ich habe und erhalte, für den Frieden, den ich leben darf. Und ich versuche, gerade jetzt noch bewusster darauf zu achen, dass jch nicht nur nehme, sondern gebe. Nicht nur den Menschen um mich herum, die ich kenne, schätze und liebe, sondern auch denen, die mir ganz zufällig begegnen.

Von Meister Eckhart ist der Satz überliefert: „Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch immer der, der dir gerade gegenübersteht, und das notwendigste Werk ist immer die Liebe.“

So möchte ich es halten. Nicht nur, aber vor allem in dieser Adventszeit.

In diesem Jahr freue ich mich ganz besonders, dass mein MiniKrimi Adventskalender nicht nur von mir, sondern auch von meinen „Mörderischen Schwestern“ mit spannenden, mystischen, dramatischen, vielleicht auh komischen Geschichten gefüllt wird. Dazu gesellen sich hoffentlich wieder liebgewonnene Weggefährtinnen aus den letzten MiniKrimi Jahren.

Den Anfang macht heute eine Autorin, die ich als die (heute ehemalige) Präsidentin der Mörderischen Schwestern kennen und schätzen gelernt habe. Ihre Geschichte passt gut zu meinen Vorüberlegungen und ist ein nachdenklicher Anfang dieses Adventskalenders.

Morgen geht’s dann tragisch und komisch „zur Sache.“

Pupuze Berbers Geschichte ist kein Krimi im eigentlichen Sinn. Aber die Reflektion von Erlebtem, Gefühltem und Gedachten aus ihrer Kindheit in einem türkischen Dorf ist voller Dramatik.

Danke, liebe Pupuze Berber, für diesen Beitrag.

Mehr von und über Pupuze Berber lest Ihr hier: https://pupuze.de/pupuze-berber/

Adventskalender MiniKrimi vom 1. Dezember

Die Bürde der Kindheit

Es fällt mir schwer, nach so langer Zeit zu rekonstruieren, warum ich ausgerechnet an diesem Tag einen Witz brauchte, und wie ich auf die Idee kam, einen zu erfinden. Ich und ein Witz, das ist an sich schon witzig. Ich kann nicht mal welche erzählen. Möglicherweise ist dieses Achtsamkeitsbuch schuld. Achtsam sein. Nicht die Gedanken einfach so frei lassen, wie meine Großmutter ihre Kühe aus dem Stall, sondern ihnen bewusst auflauern und merken, wohin sie gehen. Das tat ich dann auch. Ich ließ meine Gedanken grasen in dem verregneten Grün, aber das machte den Kühen rein gar nichts aus. Sie waren verrückt, sprangen vor Freude in die Luft, muhten laut, verdrehten ihre Augen, warfen den Kopf hin und her, konnten sich nicht satt sehen und riechen an der feuchten Luft und den vielen Trieben, die kurz davor waren, aus der Erde zu schießen. Der Frühling war da! Was so ein Winter aus uns macht?

Dann sah ich die erste Verkaufsbude, die Läden zwar noch geschlossen, aber das würde sich bald ändern. Endlich. Der Spargel und die Erdbeeren. „Wo bleibt der Witz?“, schoss es mir durch den Kopf. Ich pfiff und holte meinen Gedanken zurück von der Bude und hin zu Herrn Becker. Es würde nicht so schwer sein, auf Kosten des Politikers Witze zu machen, denn er hatte die Wahl verloren. Seine vielen Plakate lagen geknickt am Boden. Vermutlich hatten sich Jugendliche einen Spaß erlaubt, neben dem Auftragen des kurzen Bärtchens auf Kandidatenoberlippen. Ich wollte mir den Spaziergang ein wenig spaßiger gestalten, wenn ich schon trotz Regenschirm nass wurde. Also machte ich ein paar gedankliche Anläufe, um einen Witz zu kreieren.

Herr Becker hat die Wahl verloren. Die Wahl hat nichts verloren.

Herr Becker hat die Wahl verloren. Er hatte keine Wahl zu gewinnen.

Herr Becker hat die Wahl verloren. Die Wahl hat gewonnen.

Herr Becker hat die Wahl nicht vermehren können, weil er nicht wusste wie. Die Wahl ist gestorben.

Herr Becker hat die Wahl verloren und nicht wiedergefunden. Er könnte nicht mal einen Regenwurm finden.

Meine Witze waren zum Schreien schlecht.  Und der Regen war inzwischen so stark, dass ich Mühe hatte, voranzukommen, ohne auf die vielen Regenwürmer zu treten. Ich lief achtsamer. Es war interessant, zu beobachten, wie sie sich fortbewegten. Der vordere Teil raffte sich ineinander, woraus dann der Kopf nach vorne schoss und den hinteren Teil nach sich zog. Ich kniete nieder und schoss mit Mühe ein Foto. Und dann machte ich noch ein Video, um genau diese Bewegung festzuhalten. Im Innern des Wurms sah ich weiße kleine Kügelchen, und ich könnte behaupten, er habe Styropor gefrühstückt, aber weder wusste ich, ob Regenwürmer frühstücken, noch von was sie sich ernährten. Fraßen sie sich nicht durch die Erde hindurch, um sich fortzubewegen, und behielten das Nahrhafte nicht bei sich? Ich setzte meinen Weg fort.

Wie vermehrten sich Regenwürmer? Legten sie Eier? Hatten sie ein Geschlecht? Ich stellte mir diese Fragen und kannte die Antworten tatsächlich nicht. Was wusste ich über Regenwürmer? Nichts. Oder doch? Hatte ich nicht wegen Regenwürmern jahrelang Panik, bei Regen einzuschlafen? Und das kam so:

„Das ist eine wahre Geschichte. Eine Frau hat sie mir im Krankenhaus unter Tränen erzählt“, hatte Mutter mit ihrer Erzählung begonnen. Ich war fünf Jahre alt, als ich sie hörte.

„In einem Dorf…“, fuhr sie fort. Sie hatte nicht erwähnt, wie dieses Dorf hieß oder wo es war, es könnte auch unseres gewesen sein, denn damals hatte ich noch keine Vorstellung von der Größe der Welt. Ich kannte nur unser Dorf und die kleine Stadt, in der ich zweimal beim Arzt und einmal beim Fotografen gewesen war. Und weil mir diese Geschichte so eine entsetzliche Furcht einjagte, verortete ich den Vorfall sehr weit weg von uns. So waren ich und alle anderen Kinder geschützt, dachte ich.

„…lebte eine Stiefmutter. Sie hatte zwei Stiefkinder, die sie loswerden wollte, und zwar so unauffällig und natürlich wie möglich. Denn die Kinder hatten Vater, Oma, Opa, Tanten, Onkel, also ein ganzes Dorf, das sie beschützte. Also sammelte die Frau Regenwürmer, wenn es regnete.“ Leider regnete es bei uns sehr oft.

„Nachts, wenn die Kinder schliefen, schlich sie sich zu ihren kleinen Köpfen und setzte die Regenwürmer in deren Nasenlöcher. Die Würmer fraßen sich durch den Rotz bis zum Gehirn durch. Und auch dort fraßen sie weiter und nisteten sich ein.“ Das Gehirn war ihre Erde geworden, nie regnete es, nie mussten sie raus, so wie ich heute.

Wegen dieser Geschichte – denn bald wussten alle im Ort darüber Bescheid und erzählten es in diversen Varianten, fügten weitere grausame Details hinzu, machten aus zwei Kindern drei, vier, oder fünf, manch einem reichte das nicht aus, und auch die Großeltern der Kinder mussten dran glauben, bei manchen sogar das frisch gekalbte Rind inklusive aller eierlegenden Hühner und so weiter – hatte ich aus kindlicher Neugier einen Regenwurm zerteilt. Anstatt zu verbluten, wie mein Kälbchen beim Schlachten, bewegte sich jede der Hälften in unterschiedliche Richtungen.

Die Regenwürmer würden sich also im Kopf der Kinder in Ringe teilen wie Salamischeiben. Und aus jeder Scheibe würde ein eigenständiger Wurm heranwachsen und anfangen, sich im Gehirn durchzufressen. Und auch diese Würmer würden sich teilen und vermehren und…

„Sie fraßen, und fraßen, bis sie nichts mehr hatten. Als der Raum im Schädel leer war, waren die Würmer vor Hunger verzweifelt und fielen übereinander her. Und weil sie so viele geworden waren, krochen sie aus Nase, Ohren und Augen der Kinder wieder heraus. Die Unglücklichen waren da schon längst tot, Gott hatte Erbarmen gehabt. Die Verwandten beweinten sie und vermuteten, die unaussprechliche Krankheit habe sie in kurzer Zeit dahingerafft. Die kleinen Körper wurden unter Tränen gewaschen, in weiße Tücher gewickelt und, geschnürt wie kleine Bonbons, der nassen Erde übergeben.“

Mutter hatte die Geschichte nicht so erzählt, ich übertreibe wieder, wie immer. Sie hatte in ihrer Version nichts ausgeschmückt, nichts erklärt, und hörte auf, als die Stiefmutter den Kindern die Regenwürmer in die Nase legte und diese daraufhin starben. Sie wusste nicht mal, dass ich lauschte, während sie mit den anderen Frauen am Feuer saß und erzählte. Sie wusste nichts über den Kopierungsvorgang der Regenwürmer durch Sprengung der Körperringe, das hatte ich mir ausgedacht und mich dadurch schlimmsten Ängsten ausgesetzt. Ab da schlief ich bei Regen nicht ein. Denn da kamen sie aus der Erde.

Und Mutter… ich nannte sie Mutter, aber…war sie meine Mutter? Einmal war ich mitten in der Nacht hochgeschnellt und saß nun kerzengerade im Bett. Meine Körperhaare hatten sich aufgestellt wie die Stacheln eines Igels, kalte Schauer rannen mir den Rücken hinunter wie Regenfäden am Fenster. Sie war definitiv nicht meine Mutter,  und sie würde mich umbringen! Mit Regenwürmern!

Heute weiß ich, auch dank des Achtsamkeitszwangs, warum ich an Mutter gezweifelt hatte. Das Chaos meiner Kindheitstage konnte ich glücklicherweise entwirren, und die Ereignisse in chronologischer Reihenfolge hatten mir vieles erklärt. Denn diese vermeintliche „Wahrheit“ hatte ich erfahren, als ich etwas jünger gewesen war, das lag ein halbes Jahr zurück, und daran hatte ich mich in dieser Nacht erinnert.

Wie alles andere, war auch das meiner Neugierde geschuldet. Meine Großmutter und ich waren mit den Kühen unterwegs gewesen, ließen sie grasen. Sie hatte ihr Strickzeug dabei, ließ die Wolle von einem Stoffbeutel über ihren Nacken zu ihrem linken Zeigefinger gleiten und strickte, hinter dem Vieh herschlendernd, Wollsocken für den Winter. Ich inspizierte rote Käfer, machte mit den Zähnen verschiedene Muster in große Bohnenblätter, suchte nach Heidelbeeren, bis ich die Unterhaltung von zwei Frauen hörte, die auf dem Weg zur Mühle waren.

Die Jüngere sagte: „Sie kommt aus Aron, was willst du machen.“

Die Ältere schnalzte drei Mal mit der Zunge, drehte dabei ihren Kopf von rechts nach links und antwortete: „Dabei sage ich immer: wenn dein Rock eine aus Aron berührt, zieh ihn aus und verbrenne ihn.“ Erst hatte mich diese Unterhaltung nicht weiter beschäftigt, meine Umgebung, Großmutter und die Kühe boten viel Abwechslung. Doch zu Hause, als wir bettfertig gemacht wurden, fragte ich Mutter, woher ich kam.

Vermutlich schickte es sich nicht, mir die Wahrheit zu sagen, nämlich dass ich die Frucht ihres Geschlechtsverkehrs mit meinem Vater sei. Stattdessen antwortete sie:

„Dich habe ich in Kestanlik gefunden.“ Ausgerechnet Kestanlik. Das ist noch heute ein dunkler steiler Abhang mit Esskastanien, daher kommt der Name, von der Kastanie. Natürlich wollte ich auch wissen, wo sie meinen jüngeren Bruder fand.

„In Düz“.

Das traf mich hart. Düz ist vielleicht der schönste und ebenste Platz in unserem bergigen Dorf, wo wir Ball spielen konnten, ohne ständig den den Hang heruntergerollten Ball suchen gehen zu müssen, was sehr anstrengend war, denn wir waren mehr hinter dem Ball her als beim Spielen. Er ist aus Düz und ich aus Kestanlik. Mein Bruder und ich stammten also nicht aus demselben Ort. Sind wir denn überhaupt noch Geschwister? Ist er mein Bruder? Ist sie dann meine Mutter? Die Sonne schien im Hof, und sie knetete in der Zinkwanne die Schmutzwäsche mit ihren Händen wie Brotteig. Ab und an stiegen Seifenblasen über ihren Kopf. Mein Bruder hatte seinen Spaß und wollte sie fangen, doch sie zerplatzten, sobald er sie berührte. Er schrie vor Freude und jauchzte über die zerplatzten Laugenblasen, immer und immer wieder, bis er hinfiel und seine Nase blutete, Mutter ihre Hände an ihrem Rock abtrocknete und sich um ihn kümmerte. Dieser Trottel, da war ich fast froh, mit dem nicht verwandt zu sein.

Aber dann war ich ganz allein.

Bunt bunt bunt sind alle meine Farben…….


Mal was Erheiterndes……  Auch nach sechs Monaten Abwesenheit ist das Haus noch tipptopp in Ordnung. Nicht einmal Staub hat sich nennenswert niedergelassen, auf den Horizontalen. Auch die Anzahl der Toten hält sich in Grenzen. Wespen, Spinnen, Fliegenleichen kauern nur in ein paar Fensterecken.

Doch in der Küche hat sich buntes Leben popart-artig regenbogengleich entfaltet.

Hinter verschlossenen Kühlschranktüren haben sich Senf, Matjes und Co. zu einem vielfarbigen Happening vereint. Ohne Vorwarnung durchbrechen die ausströmenden Gerüche alle nasalen Dezibelgrenzen. Rot blau gelb und grün schillern Türdichtungen, Türverkleidung und Kühlschrankböden.

Ich mache das einzig Richtige. Ich werfe die Tür wieder zu und greife zum Telefon. Hier helfen weder Clorix noch Sagrotan. Hier hilft nur ein neuer Kühlschrank.

„Das passt doch wunderbar. Dieser hier hatte sowieso ausgedient. Aber ein ordentliches Gefrierfach muss der Neue haben“. Wunderbar, wie pragmatisch meine Mutter sein kann!

Und dass heute früh ein Wasserfall herausgeflossen ist, aus dem „Neuen“ – hm. Darum kümmert sich der Elektrogerätehändler am Ort. Gleich morgen, bevor der Schimmel einzieht.

So ein Dorf wäre vielleicht ein Alternativmodell angesichts des demographischen Wandels. Der Apotheker fragt, „wie geht’s ihr denn?“ Und sagt: „schicken Sie sie mir vorbei, zum Blutdruckmessen…“ Die Nachbarn bitten um einen gefälligen „Deal“: Garagenbenutzung gegen Rasenmähen…… Nur für den täglichen Mittagstisch habe ich noch keine Lösung gefunden…. habt ihr da eine Idee?