MiniKrimi Adventskalender am 21. Dezember


Heute gibt’s hier wieder einen Krimi aus meiner Feder. Mit Anklängen an meine väterlichen Wurzeln. Die liegen nämlich zum Teil in Süditalien… Viel Spaß beim Lesen und danke fürs Teilen und für eure Kommentare!

Engel mit schwarzen Locken

„Hallo, Kleine! Wie heißt du eigentlich?“

„Gemima.“

„Dsche… Aaaha. Und weiter?“

„Hagenrath“

„Und deine Mama?“

„Meine Mama und meine Mami heißen so wie ich. Hagenrath.“

„Und dein Papa?“

Stille. Dann: „Das weiß ich nicht.“

„Warum wollen Sie das wissen?“ Marlene Hagenrath steht an der Haustür, beladen mit Tüten und einem Kasten leerer Saftflaschen. Sie klingt barsch, und das liegt daran, dass sie diese Situation so oder ähnlich schon öfter erlebt hat, seit sie mit ihrer Frau Claudia und der gemeinsamen Tochter Gemima in die Minervastraße eingezogen ist. Zu oft, als dass sie dafür noch Toleranz aufbringen könnte.

„Man wird doch wohl noch fragen dürfen, oder? Schließlich hat jedes Kind eine Mutter und einen Vater. Das ist ein Naturgesetz.“ Frau Degenfeld ist pikiert. Erst gestern haben sie und ihre Freundinnen beim Mahjong-Nachmittag gerätselt, warum der Vater des süßen Mädchens mit den schwarzen Locken und den grünen Augen noch nie in der Siedlung aufgetaucht ist.

„Ich habe eine Mama und eine Mami. Mehr brauche ich nicht. Oder?“, fragt Gemima und schaut der älteren Dame mitten ins Gesicht. Unangenehm, dieser bohrende Blick. Der ist bestimmt antrainiert. Von einer der beiden Frauen, die sie Mama und Mami nennt.

„Zu meiner Zeit war das undenkbar. Zwei Mütter. Aber heute – vollkommen zerrüttet, die Moral bei den Jüngeren.“ Kopfschüttelnd geht Frau Degenfeld weiter Richtung Tiefgarage.

Es ist der 21. Dezember. In 3 Tagen beginnt die Weihnachtszeit. Überall in der Minervastraße leuchten Sterne und Jakobsleitern in den Fenstern, die Balkone sind mit Girlanden behängt, die meisten leuchten golden. Die einzige grellbunte auf der Terrasse gegenüber der Tarotlegerin Lenor wurde nach einem tragischen Tod entfernt.

Gemima sitzt am Küchentisch, lässt die Beine baumeln und sticht andächtig Plätzchen aus. Dabei schiebt sie voller Konzentration die gerollte Zungenspitze zwischen die Lippen.

„Woher hat sie das nur?“, fragt ihre Mutter Marlene sich zum x-sten Mal. Sie hat das Zungenroller-Gen nämlich nicht. „Muss der Spender sein“. Obwohl – der hatte es angeblich auch nicht. Unglaublich, was man bei angeblich anonymen Samenspenden heute für Informationen finden oder erfragen kann.

Da klingelt es an der Haustür. „Hallo?“, ruft Marlene in die Sprechanlage.

„Paket für Sie“, antwortet eine Männerstimme. „Ich lege es auf die Treppe.“

„Könnten Sie es mir nicht schnell raufbringen, bitte? Dritter Stock?“

„Sorry, zu viel Arbeit. Geht nicht. Schöne Weihnachten.“

Marlene seufzt, schlüpft in ihre Mules und springt die Treppe runter. Wo ist das Paket? Auf der untersten Treppenstufe liegt keines. Nur ein roter Umschlag mit einem bedruckten Weihnachtsmann und darauf ein in Cellophan verpackter Keks.

„Hahaha“, murmelt Marlene. Sie ist allerlei „Schabernack“ von den Nachbarn gewöhnt. Viele haben sich immer noch nicht damit abgefunden, dass ein weibliches Ehepaar mit Kind bei ihnen wohnt.

„Falscher Alarm. Aber leckerer Keks. Magst du ihn?“, ruft sie und schließt die Wohnungstür. „Gemima?“

Keine Antwort.

„Gemmi?“ Nichts. Sie schaut ins Kinderzimmer. Leer. Auch das Wohnzimmer. Der Küchenstuhl, auf dem das Mädchen gerade noch gesessen hat, ist umgekippt. Der Vorhang vor dem Küchenbalkon bauscht sich im Wind, und eine Handvoll Schneeflocken fliegt herein.

„Gemima, was machst du da draußen? Du wirst dich erkälten.“

Aber auch auf dem Balkon: keine Spur ihrer Tochter. Panik steigt in Marlene hoch. Als hätte sich die Kleine in Luft aufgelöst. Das geht entschieden zu weit. Das ist kein Scherz mehr. Wenn sie den findet, der dafür verantwortlich ist….

„Marlene, Gemmi, bin wieder daaa!“

„Claudia! Stell dir vor, Gemima ist verschwunden!“

Die beiden Mütter suchen die ganze Nacht hindurch nach dem Kind. In der Wohnung, im Haus, im Keller, auf dem Dachboden. Schließlich in der ganzen Siedlung. Und sie sind nicht allein. Zu Claudias und Marlenes Erstaunen helfen ihnen viele Nachbarinnen und Nachbarn. Sogar Frau Degenfeld und ihr Mann. Schließlich sollte das Mädchen bei der lebendigen Krippe, die die Bewohner der Minervastraße am ersten Weihnachtstag geplant haben, einen Engel spielen. „Sie wird ganz entzückend aussehen, mit diesen schwarzen Locken. Von wem sie die wohl hat?“

Am nächsten Morgen wird die Polizei eingeschaltet, doch auch sie findet Gemima nicht. Einzig ein Fußabdruck im Blumenbeet unter dem Küchenfenster – Größe 43 – und Sprossen einer offenbar zersägten Metalleiter im See weisen darauf hin, dass das Kind entführt worden ist.

Wer denkt in einer solchen Situation schon an einen ungeöffneten Brief? Als Claudia den roten Umschlag auf der Kommode im Flur sieht, nimmt sie ihn automatisch mit ins Wohnzimmer. Geistesabwesend reißt sie den Umschlag auf.

„Marlene! Woher kommt dieser Brief? Wer hat ihn dir gegeben? Seit wann hast du ihn? Warum hast du denn nichts gesagt?“

Marlene ist verwirrt. Todmüde, verängstigt und zermürbt von der erfolglosen Suche.

„Den? Ach, das ist doch bloß wieder so ein blöder Scherz von den Nachbarn. Ich wollte Ivan gestern noch danach fragen, aber…

„Nein! Das ist kein Scherz. Lies!“ Claudia hält Marlene den eng bedruckten Zettel unter die Nase.

Sie haben mich bestohlen. Jetzt hole ich mir mein Eigentum zurück. Versuchen Sie nicht, mich oder meine Tochter zu finden! Sonst wird das Kind einen tödlichen Unfall erleiden.

„Siehst du, das ist doch einer von diesen Scherzen. Nur viel gemeiner als sonst. Na warte, Ivan.“ Marlene greift zum Telefon, um ihren Nachbarn zur Rede zu stellen.

„Nein, Marlene. Ivan hat absolut nichts damit zu tun. Verstehst du denn nicht? Das ist ein Bekennerbrief von dem Menschen, der Gemima entführt hat.“

„Was? Du spinnst ja, Claudia! Ich habe den anonymen Spender aus der Datenbank von Neovita Labs. War teuer genug. Und absolut seriös. Das hat uns Dr. Wonnegrat ja schriftlich gegeben.“

„Dr. Wonnegrat. Nomen es Omen. Die Frau ist mir gleich suspekt gewesen. Einfach einen Tick zu seriös, wenn du weißt, was ich meine.“

„Nein, das weiß ich nicht. Und ich finde, du greifst nach Strohhalmen. Aber egal. Uns bleibt ja nichts anderes übrig. Die Polizei kommt nicht weiter. Wir fahren jetzt zu Neovita Labs.“

Ein kühles Ambiente in Pastelltönen. Gedämpfte Musik. Klassik, nichts Weihnachtliches. Dr. Wonnegrat empfängt Marlene und Claudia in ihrem Büro. Sie ist sichtlich nervös. Marlene, bleich, mit rotgeränderten Augen, kommt gleich zur Sache: „Unsere Tochter ist entführt worden. Von jemandem, der behauptet, ihr genetischer Vater zu sein. Wie ist das möglich? Sie haben mir versichert, die Spende sei anonym und man könne sie nicht auf den Samengeber zurückführen? Sie haben sie doch allein aus diesem Grund aus Zypern kommen lassen.“

„Haben Sie uns zumindest gesagt“, wirft Claudia ein. „Und uns für Ihre Bemühungen eine astronomische Summe abverlangt. Und das, obwohl das Gesetz, nach dem Samenspenden im zentralen Register dokumentiert werden müssen, in Deutschland erst 2018 in Kraft getreten ist.“

Dr. Wonnegrat lächelt gequält. “Ja, das stimmt.“

„Und? Sie kennen den Spender!“ Marlene ist außer sich vor Wut. „Geben Sie’s zu!“

„Ja. Ich kenne ihn. Also, ich kannte ihn. Er musste sich einer Vasektomie unterziehen und wollte sicherstellen, dass er dennoch eine Erbin oder einen Erben hat.“


Die Frauen sind fassungslos. Wonnegrat erklärt, der Mann, ein italienischer Mafiaboss, habe sie unter Druck gesetzt. In der Hand gehabt. Um Leben und Tod sei es damals gegangen. Um ihr Leben oder ihren Tod. Die beiden seien für ihn das ideale Paar gewesen: rechtlich „angreifbar“, ohne einen großen Unterstützerkreis, in einem Umfeld, das juristisch und gesellschaftlich immer noch als „weich“ wahrgenommen wird.

„Finden Sie sich damit ab. Gemima ist längst in Süditalien, und die Adoption war schon in wenigen Stunden unter Dach und Fach. Sie haben keinerlei Rechte mehr an Ihrem Kind. Aber ich verstehe natürlich Ihren Unmut. Ich könnte Ihnen mit einer kostenfreien Samenspende entgegenkommen? Sie sind noch so jung…“

Geistesgegenwärtig verhindert Claudia, dass Marlene der Ärztin den Briefbeschwerer auf dem Schreibtisch ins Gesicht schleudert.

„Entweder Sie bringen uns Gemima zurück, oder Ihr Laden hier fliegt auf. München ist nicht Süditalien. Wenn wir auspacken, sind Sie geliefert. Sie verlieren nicht einfach Ihr Labor und ihre Approbation. Sie landen im Gefängnis. Und zwar für sehr, sehr lange.“

Stille. Schließlich sagt Wonnegrat: „Gut. Ich kann nichts versprechen. Aber ich tue mein Möglichstes.“

„Sie haben 24 Stunden Zeit. Dann gehen wir zur Polizei. Und an die Presse.“

Es ist der 23. Dezember. Ein Tag vor Heiligabend. Marlene und Claudia kauern auf der Wohnzimmercouch. Vor ihnen steht der Weihnachtsbaum. Ungeschmückt. „Unser Ultimatum läuft ab. Ich habe wirklich geglaubt, sie meint es ernst und gibt uns Gemima zurück. Anzeige, Verfahren, schlechte Medienberichte – das ist mir doch alles egal. Ich will nur meine Tochter.“

Es klingelt an der Tür. „Ein Paket für Sie.“ Wie in einem Déjà-vu rennt Marlene die Treppen hinunter, Claudia direkt hinter ihr. Nichts. Auf der untersten Stufe liegt ein roter Umschlag. Claudia reißt ihn auf. Ein Foto, mehr nicht. Eine Frau liegt mit dem Oberkörper auf einem Schreibtisch in einem pastellenen Büro. Überall Blut. Darunter der Aufdruck: Schweigt, oder es geht euch genauso.

Entsetzt gehen die beiden zurück in ihre Wohnung. Es zieht. Der Vorhang des Küchenbalkons flattert im Wind. Auf der Wohnzimmercouch liegt ihre Tochter. Sie schläft.

Am nächsten Morgen wird Gemima sich an nichts erinnern. Und ihre Mütter werden sie nichts fragen.

Und Marlene löscht die Mail, die in ihrem Posteingang war, als sie mit dem Foto in der Hand wieder in die Wohnung kam.

Ich habe Wort gehalten. Ein Neffe unseres gemeinsamen Bekannten schuldete mir noch einen Gefallen. Den habe ich eingelöst. Ich habe mich damit in seine Hände begeben. Ich hoffe, Sie wissen das zu schätzen. Er wird ihre Tochter zurückbringen lassen. Der Verlust des gerade erst wiedergefundenen Kindes wird für den todkranken Onkel so schmerzhaft sein, dass er sich das Leben nimmt. Das ist die Version des Neffen für die Medien. Mehr müssen Sie nicht wissen. So haben alle etwas davon, der Neffe die freie Bahn zur Spitze des Imperiums und Sie ihr Kind. Leben Sie wohl.
Dr. A. Wonnegrat

Nun, der Neffe ist der großen Aufgabe ganz offensichtlich gewachsen. Er geht keine unnötigen Risiken ein. Und er kann ganz sicher sein, dass alle Beteiligten schweigen. Für immer.

MiniKrimi Adventskalender am 17. Dezember


Im Auge des Bösen

von Patrick Woywod

(…) Als Nico und Chris gehen wollten, kam ihnen ein Arzt entgegen. Mike, Nicos ungeliebter Bruder. „Nico, gut, dass du noch hier bist. Eine Schwester hat das hier gerade im Mülleimer im Zimmer der jungen Patientin gefunden. Die Reste der Substanz, die da mal drin war, haben wir bereits in unser Labor gegeben. Aber wir dachten, der Beutel wäre hilfreich – wegen Fingerabdrücken. Es ist ein neuartiges Gift. Die versuchen gerade fieberhaft, die Zusammensetzung heraus zu finden. Ich hoffe, dass wir bald ein Ergebnis haben und ein Gegenmittel herstellen können. Sonst sieht es schlecht aus für Yuki“, sagte Mike. „Bist ja doch ein schlaues Köpfchen und nicht nur der sture Arzt, wie unser Vater“, grinste Nico den Bruder an. „Sehr witzig“, entgegnete dieser und ging weiter.

„Manchmal bist du echt fies zu Mike“, sagte Chris grinsend und ging zur Tür von Yukis Zimmer. „Sie dürfen da nicht rein“, rief eine Schwester hinter Ihnen. „Tschuldigung“, sagte Nico, und die beiden gingen Richtung Ausgang, wo der Polizeipräsident auf sie wartete. „Das ist ja ne echte Sch… Situation. Sie wissen nicht, was das für ein Gift ist, das man ihr verabreicht hat, und das sieht nicht gut aus. Aber immerhin haben wir ein Beweisstück. Vielleicht finden unsere Jungs da Fingerabdrücke dran“, sagte Chris sichtlich bedrückt. „Verdammt, wir dürfen sie auf keinen Fall verlieren. Wir können nur hoffen, dass sie überlebt. Es wird Polizeischutz vor Ihrem Zimmer abgestellt“, sagte der Präsident und schaute gen Himmel, als erwarte er von dort irgendwie Hilfe.

„Ich werde mir jetzt erst mal Spike vorknöpfen“, knurrte Chris und ging Richtung Auto. „Warte ich komme mit“, rief Nico und lief hinterher. Doch selbst nach stundenlangem Verhör waren sie keinen Schritt weitergekommen. Spike sagte rein gar nichts. Auch Yukis Zustand verschlechterte sich zunehmend, und das machte allen große Sorge. Das Gift hatte sich unerkannt bereits im ganzen Körper ausgebreitet. Da fiel Chris durch Zufall ein kleines Notizbuch in die Hände, als er sein Auto ausräumte. Die Handschrift war eindeutig die von Yuki. Es musste ihr aus der Tasche gefallen sein, als sie das erste Mal bei ihm mitgefahren war. Das Büchlein war randvoll mit komplizierten chemischen Formeln, und in Chris keimte ein Verdacht auf. Er hatte das Buch nämlich schon mal in den Händen von Spike gesehen. Er raste mit dem Buch zum Krankenhaus. Er informierte Mike von unterwegs, und als er ankam, stand dieser schon da und nahm das Notizbuch in Empfang. Mit diesen Eintragungen, so hoffte Mike, konnten sie das Gift identifizieren und ein Gegenmittel herstellen. Ein erster Hoffnungsschimmer nach Tagen des Bangens!

Nico und Chris nahmen daraufhin nochmals Spike in die Mangel und konfrontierten ihn mit dem Notizbuch. Da brach er zusammen, und endlich redete er. Wie es schien, war alles von Anfang an geplant. Eigentlich hatte nur ein Mensch sterben sollen, und zwar Yuki, als Rache an ihrem Großvater. Und zwar schon vor 16 Jahren! Damals war sie noch ein Kind. Der Anschlag ging schief. Und jetzt, 16 Jahre später, der zweite Versuch. Diesmal mit einer von Yuki selbst entwickelten Waffe. Genial, denn man hätte erstmal vermutet, dass sie sich selbst beim Experimentieren getötet hat. Nach dem Anschlag verstreute sich die Bande in alle Winde. Nur Spike wurde gefasst.

Nachdem das Gegengift gefunden und verabreicht worden war, verbesserte sich Yukis Zustand allmählich. Auf dem Rückweg zum Revier sprach Chris aus, was ihn die ganze Zeit schon bewegte: „Eines verstehe ich immer noch nicht. Wie kommt Yuki darauf, so ein Gift zu entwickeln.“ „Gute Frage“, antwortete Nico. „Sie ist schon weitaus weiter in Ihrer Entwicklung, als man denkt. Ich habe mal gehört, dass sie eine IQ von über 200 haben soll. Sie soll auch schon mit 14 Jahren einen Studienplatz bekommen haben. Medizin. Ihr Schwerpunkt war Tropenmedizin. Wer weiß, was sie mit dem Gift wirklich anfangen wollte? Aber das mit der Rache sollten wir noch mal klären. Was ist vor 16 Jahren passiert, und warum sollte sie sterben? Und vor allem: warum hat sie das Gift entwickelt, mit dem die Bande sie dann töten wollte? War das auch ein Teil ihres Plans? Wollte sie sich selbst umbringen? Das scheint mir als Racheakt doch sehr heftig. Ich will das auf jeden Fall wissen, ich mag Yuki nämlich wirklich sehr“, sagte Nico. „Nicht nur du. Für mich ist sie auch wie eine kleine Schwester geworden. Ich fühle mich für sie verantwortlich. Daher sollten wir echt sehen, dass wir diesen Fall zu Ende bringen“, knurrte Chris und krampfte die Hände ums Lenkrad. Nico spürte die Anspannung in seinem Partner. Sie kannten sich schließlich schon seit der Oberstufe.

Im Revier angekommen, kam ihnen gleich Darian entgegen. „Schlechte Neuigkeiten! Spike konnte mit Hilfe seiner Komplizen auf den Weg in die JVA fliehen. Es sind schon Beamte auf den Weg ins Krankenhaus. Was immer es ist, die haben was Großes vor“, sagte er. Nico und Chris blieben wie angewurzelt stehen und schauten sich an. Keine 2 Minuten später saßen sie wieder im Auto und jagten mit Blaulicht Richtung Krankenhaus. Dort herrschte ein heilloses Durcheinander. „Was ist passiert?“ fragte Chris eine Krankenschwester. „Auf der Intensivstation wurde geschossen. Es gibt mehrere Verletzte, 3 Schwestern, ein Arzt und 2 Polizisten. Die Männer haben sich im Zimmer der Giftpatientin verschanzt. Wenn nicht schnell was passiert, stirbt die junge Dame!“, antwortete die Schwester in heller Panik.

„Das wird nicht passieren“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter Ihnen. Es war der Polizeipräsident. Und er hatte das SEK gleich mitgebracht. „Wir holen sie da raus, und zwar lebend“, rief er. Und dann, zu Nico und Chris gewandt: „Ich weiß, wie ihr euch fühlt, aber leider muss ich euch von dieser Sache abziehen. Ihr seid emotional zu sehr belastet. Auch ich werde mich raushalten müssen, da ich familiär involviert bin“, sage der Polizeipräsident und schaute die beiden eindringlich an. „Wie meinen Sie das?“ fragte Chris verdutzt. „Yuki ist meine Enkelin. Wenn sie stirbt, wird das große Konsequenzen für die Täter haben. Wir werden auf keinen Fall dulden, dass sie ungeschoren davonkommen. Keiner hat das Recht, einfach so einen Mordversuch zu begehen. Und das hier ist jetzt vielleicht schon der zweite“, sagte der Präsident in die Runde.

Chris musste sich zügeln, um nicht gleich in Yukis Zimmer zu rennen, und Nico fluchte unverständlich vor sich hin. „Sie ist euch echt ans Herz gewachsen, wie?“ fragte der Polizeipräsident „Anfangs war ich nicht gerade begeistert von Ihrem Auftrag, Babysitter für ein junges Mädchen spielen zu müssen. Aber mittlerweile ist sie wie die kleine Schwester, die ich nie hatte. Ich werde keinem verzeihen, der ihr auch nur ansatzweise schadet“, grummelte Chris und setze sich in den Einsatzwagen. „Wir hätten besser auf sie aufpassen sollen. Das wäre nie geschehen, wenn sie uns gleich reinen Wein eingeschenkt hätte. Selbst, wenn sie das Gift entwickelt hat – als sie merkte, dass ausgerechnet Spike, ihr Freund, damit ein Attentat vorhatte, hätte sie uns informieren müssen. Aber sie wollte ja unbedingt noch weitere Beweise sammeln. Herrgott, was haben wir nur falsch gemacht!“, fluchte Nico.

„Aber nochmal: was ist vor 16 Jahren geschehen, dass Yuki damals schon sterben sollte?“ fragte Chris unvermittelt. Man sah dem Polizeipräsidenten an, wie schwer es ihm fiel, darüber zu sprechen. Schließlich sagte er: „Vor fast 21 Jahren kam es zu einer Schießerei zwischen der Polizei und einem Drogendealerring. Dabei wurde ein 3-jähriges Mädchen erschossen. Die Leute, die entkamen, darunter der Vater der Kleinen, schworen Rache. Sie fanden schnell heraus, dass ich eine Enkeltochter im gleichen Alter wie das getötete Mädchen habe. Yuki sollte entführt und zum Schein sollte Lösegeld gefordert werden, aber meine Enkelin wäre auf jeden Fall gestorben. Aber da Yuki bei der Geiselnahme dann fliehen konnten, erschossen sie kurzerhand Ihre Eltern, meine Tochter und meinen Schwiegersohn. Yuki bekam eine neue Identität und lebte bei meiner Schwester. Alles schien vergessen.

Zehn Jahre später kam Spike zu uns in die Sondereinheit, er war damals sechzehn. Keiner ahnte, dass er was mit der ganzen Sache zu tun hatte. Er war einfach ein aufgeweckter, interessierter Junge. Er war der Bruder des getöteten Mädchens. Sein Vater hatte ihn intensiv darauf vorbereitet, die zweite Racheaktion als Maulwurf zu planen.

Ich hätte es merken müssen. Aber er war mein Vertrauter. Es war also meine Schuld“, sagte der Polizeipräsident. „Aber warum wollten die sich ausgerechnet an Ihnen rächen?“, fragte Nico. „Ganz einfach: Die Kugel, die das Kind getroffen und getötet hat, war aus meiner Dienstwaffe. Das ergab die Ballistik. Verdammt, ich habe meine Familie in einen Krieg reingezogen, in dem alle nur verlieren können“, sagte der Polizeipräsident und ballte die Hände zu Fäusten. Nico und Chris schauten sich an und fasste sofort denselben Entschluss. „Lassen Sie uns von nun an Yuki beschützen. Wir werden nicht zulassen, dass ihr noch einmal jemand so nahekommen kann. Das ganze Team wird hinter ihr stehen und alles tun, damit sowas nicht noch einmal passiert“, sagte Chris mit entschlossener Stimme.

„So, Gefahr gebannt, fürs erste“, sagte Shadow, der Leiter des SEK, und schob einen fluchenden Spike vor sich her. Nach und nach kamen auch die anderen Jungs mit den Gefangenen nach draußen. „Wie geht es Yuki? Ist sie in Sicherheit?“ fragte Chris. „Unserer Prinzessin geht es gut. Die Ärzte kümmern sich um sie. Macht euch keine Sorgen. Aber lasst sie von jetzt an nie mehr aus den Augen.“

Wie recht er hatte. Noch ahnte niemand, dass die Festnahme von Spike und seinen Jungs noch lange nicht das Ende des Albtraums war.

Im Krankenzimmer saß Yuki aufrecht in ihrem Bett. Dafür, dass sie gerade einem Anschlag entkommen war, sah sie erstaundlich gut aus. „Du hast wirklich das Zeug zu einer 1A Agentin, sagte Nico bewundern. „Das hat sie von mir“, versuchte der Polizeipräsident, die Situation mit einem Scherz aufzulockern.

Ach, ich weiß nicht. Nach all dem Ärger, den ich euch verursacht habe, würde mich doch kein Ausbilder hier mehr nehmen“, sagte Yuki. „Mach dir keinen Kopf. Du bist weitaus stärker, als diese Jungs es sich vorstellen können. Ich meine, du hast in deinem Leben bisher mehr durchgemacht als einer von uns. Es ist erstaunlich, dass du noch so energiegeladen durch die Gegend laufen kannst. Ich meine, machen wir uns nix vor. Als Kleinkind bist du nur knapp einer Entführung entronnen. Und jetzt haben die versucht, dich mit deinem eigenen Gift zu töten. Was mich allerdings immer noch verwirrt. Wie kann man so ein Gift entwickeln? Schielst du vielleicht schon auf den Nobelpreis? Wie auch immer, ich schweife ab. Jeder im Team respektiert dich für das, was du jetzt bist, eine starke und zielstrebige junge Frau. Wir werde dich beschützen, egal, was kommt. Das haben wir alle geschworen“, sagte Nico und hob Yukis Kopf an. „Denk immer daran, für Chris und mich bist du wie eine Schwester. Und wir lassen selten zu, dass Familienmitgliedern was passiert.“

„ Also was die Verwirrungbezüglich des Giftes angeht. Das hat eine ganz einfache Erklärung. Ursprünglich wollte ich ja Ärztin werden. Das Gift war meine Doktorarbeit. Ich denke, dass meine gesammelten rfahrungen uns in schwierigen Situationen weiterhelfen können.“

„Abgemacht“, sagte Nico und reichte ihr die Hand. Keiner ahnte zu diesem Zeitpunkt, wie spielentscheidend Yukis Erfahrungen noch sein würden.

Eine Woche verging, in denen Nico, Chris und ihr Team sämtliche Unterlagen, die mit dem Einsatz vor 16 Jahren und den aktuellen Geschehnissen in Zusammen standen, sammelten und ordneten. Dann entwickelten sie ihren Plan, um den Chef des Drogendealerrings endgültig unschädlich zu machen. An einem sonnigen Morgen standen sie vor dem Haus des Polizeipräsidenten. „Yuki, bist du bereit? Jetzt können wir dich und deine Fähigkeiten brauchen.“ Keine 5 Minuten später saß sie mit Nico, Chris und den anderen im Einsatzbus und raste Richtung Norden. Auf Ihrem Schoß lagen die Unterlagen zum Einsatz. Sie starrte darauf, ohne etwas zu erkennen. Ihr Blick ging zurück in die Vergangenheit. Sie kannte den Ort, an den sie fuhren, aus ihrer Kindheit. Einer Kindheit vor den schrecklichen Ereignissen. „Also, was genau müssen wir tun?“ fragte sie in die Runde.

„Das ganze Gebäude wurde mit TNT gespickt. Wir sollen die Bombenentschärfer begleiten, damit eventuelle Angreifer sie nicht verletzen. Gott, wie sind die nur an soviel Sprengstoff rangekommen?“ Chris schaute aus dem Fenster. Er freute sich nicht auf die Stunden, die vor ihnen lagen. (…)

Patrick Woywod hat aus dem Nichts und ohne vorherige Erfahrung bereits drei Anthologien herausgebracht, um einen Gnadenhof in seinem Heimatort zu retten. Viele Mörderische Schwestern haben dafür Geschichten gespendet.

Patrikck liegt gerade im Krankenhaus. Schreibt einen Kommentar unter den Auszug aus seinem Thriller „Im Auge des Bösen“, den er in einer der nächsten Anthologien veröffentlichen wird. Er freut sich sicher darüber. Gute Besserung, Patrick!

Adventskalender MiniKrimi am 10. Dezember


Falls Euch – wie mir beim Schreiben – in der ersten Hälfte der Geschichte die Tränen kommen wollen: lest weiter. Alles wird gut!

Haltet den Dieb!

Die Sonne geht hinter den Hügeln unter. Bruno hat jedes Zeitgefühl verloren, aber sein grummelnder Magen sagt ihm, dass er schon viele Stunden umherirren muss. Andererseits kann er sich gar nicht erinnern, wann er zum letzten Mal so richtig satt war. Sicher nicht, seitdem der Unbekannte ihn direkt vor der Haustür mitgenommen hat. Gegen seinen Willen. Aber der Mann war so viel stärker als Bruno. Er hat versucht, sich zu wehren, aber der Mann hat ihn einfach auf den Arm genommen und gezischt: „Still jetzt, oder ich muss dir weh tun.“

Da hat Bruno sich in das Unvermeidliche ergeben. Irgendwann hat der Mann ihn dann wieder auf den Boden gesetzt und ihn mit fester Hand hinter sich hergezogen. Sie sind lange gelaufen, bis in eine Gegend, in der Bruno noch nie vorher war. Endlich sind sie vor einem Wohnwagen stehen geblieben. „Rein mir dir“, hat der Mann gesagt. Drinnen roch es muffig und ranzig, eine unappetitliche Mischung aus Schweiß, schmutzigen Socken und altem Fett. Eklig. So roch es bei Bruno daheim nie!

Unsanft hat der Mann ihn in eine Ecke geworfen, ihm einen Kanten Brot und Wasser hingestellt und ist dann wieder gegangen, aber nicht, ohne die Tür zweimal abzusperren. Das hat Bruno genau gemerkt. Irgendwann ist er vor Erschöpfung eingeschlafen.

Heute Morgen ist der Mann wiedergekommen. Es gab nochmal etwas Brot, diesmal in Wasser eingeweicht. Normalerweise würde Bruno sowas nicht anrühren. Aber der Hunger hat es runtergetrieben. „Warum bin ich hier? Wann kommen Eva und Tim und holen mich ab? Sie hätten mir doch sagen können, dass sie weggehen und ich woanders bleiben soll. Das haben sie bisher immer gemacht!“

Bruno war ratlos, einsam, und er fror. Keine Decke, kein Kissen. Nur der harte Boden. Vielleicht war er entführt worden, und jetzt wartete der Mann auf das Lösegeld?

Als sich der Himmel verdunkelte und dicke Schneeflocken zu fallen begannen, sagte der Mann: „Los jetzt. Es ist soweit.“  Er hievte sich einen großen Rucksack auf den Rücken, nahm Bruno wieder auf den Arm und trug ihn zu einem Auto. „Du machst keinen Mucks, sonst dreh ich dir den Hals um,“ drohte er, als Bruno leise zu wimmern begann. „Spar dir das Geheule für später.“ Bruno mochte sich nicht ausmalen, was der Mann damit meinte. Ihm war jämmerlich zumute. Fünf Jahre lang war er nur von Liebe umgeben gewesen, von zärtlicher Aufmerksamkeit. Aber obwohl er so klein war, war er gut erzogen. Also gehorchte er dem Mann. Sie fuhren eine ganze Strecke, und als sie schließlich ausstiegen, waren sie mitten im Großstadtgewühl. Überall eilende Menschen, ein ununterbrochener Strom von Autos, Bussen und Motorrädern, Hupen schrillten, Bremsen kreischten. Wütende Stimmen fluchten. Keiner nahm sich die Zeit, um den wunderschönen Baum zu bewundern, der mitten auf dem großen Platz stand, geschmückt mit Lichtern und Sternen. So einen Baum hatte Bruno schon gesehen. Jedes Jahr im Winter stand er auch ganz in der Nähe von zuhause. Wie gerne wäre Bruno stehengeblieben, um den Baum näher zu erkunden. Aber der Mann zog ihn weiter. „Los, wir haben’s eilig.“ Dann holte er sein Handy aus der Tasche und flüsterte heiser und kaum hörbar: „Charly? Ich bin jetzt vor der Bank. Wie weit bist du? Du parkst um die Ecke, und in genau 5 Minuten fährst du direkt vor den Hintereingang. Olli hat ihn aufgelassen. Maske nicht vergessen, hörst du? Du könntest ja Corona haben, hehehe.“

Die hässliche Lache ließ Bruno die Haare zu Berge stehen. „So, mein Kleiner. Showtime,“ sagte er dann und riss Bruno unvermittelt hoch. Plötzlich hatte er ein Messer in der Hand und versetzte Bruno einen Schnitt ganz unten am Bein. Bruno schrie auf und fing an, fürchterlich zu jammern.

Der Mann zog sich eine schwarze Maske über, riss mit Bruno unterm Arm die Glastür zur Schalterhalle auf, stürmte in den Raum und rief: „Hilfe, er ist verletzt!“ Brunos Blut rieselte auf den Boden, er heulte, die wenigen Leute, die kurz vor Schluss noch in der kleinen Bankfiliale waren, schauten erst hin, dann schnell weg und verließen eilig das Gebäude, um blloß nicht helfen zu müssen. Eine junge Frau kam hinter einem Schalter hervor, einen Erste-Hilfe-Koffer in der Hand. „Das ist ein Überfall,“ zischte der Mann. „Tu, was ich sage, und es passiert nichts. Vergiss deinen Kollegen, der kommt nicht mehr. Wir gehen jetzt mit dem Hund nach hinten, und du gibst mir alles Geld, an das du schnell rankommst. Wenn du das nicht machst, ersteche ich erst den Hund und dann dich.“

Die Frau lief durch einen Gang in ein kleines Zimmer, der Mann mit dem blutenden Bruno hinterher. Dann setzte er ihn ab, öffnete den großen Rucksack und bedeutete der verängstigten Angestellten, das Geld aus dem Tresor hineinzupacken. Diese Gelegenheit nutzte Bruno, um wegzulaufen, so schnell seine drei unverletzten Beinchen ihn tragen konnten. Vom Ende des Ganges her spürte er einen Luftzug. Richtig, die Hintertür war offen. Nur einen kleinen Spalt, aber der war für den Zwergdackel groß genug. Hinter sich hörte Bruno einen scharfen Pfiff, aber er rannte weiter und kauerte sich atemlos unter einen Busch. Es war inzwischen schon so dunkel gewesen, dass sein schwarzes Fell nicht von den Blättern zu unterscheiden war.

Wie lange ist das her? Ist das wirklich erst heute passiert? Bruno kann nicht mehr. Sein Bein schmerzt, aber zum Glück blutet die Wunde nicht mehr. Durch wie viele Menschenbeine hat er sich hindurchgewunden? Er will nur noch schlafen. Schlafen und nicht mehr aufwachen.

Da vorne: ein großes Tor. Dahinter warmes Licht und leckere Düfte. Dort war er doch schon mal? Mit Eva und Tim? In einem anderen Leben… Bruno schleppt sich durch den Eingang und steht auf einem mittelalterlichen Weihnachtsmarkt. An diesem Winterabend ist er gut besucht, und große und kleine Leute drängen sich an den Buden, suchen sich einen Christbaum aus, trinken Punsch und Glühwein und essen Waffeln und Striezel. Es riecht nach Zimt und Bratwurst. Bruno wird schlecht vor Hunger und Müdigkeit. Ein Mann mit einem großen Stock stolpert beinahe über ihn. „Sch…köter!“, schimpft er und tritt mit seinem Stiefel nach Bruno. Der jault auf. „Bruno, Bruno!“ Evas Stimme überschlägt sich beinahe. „Lassen Sie sofort meinen Hund in Ruhe. Bruno, nicht weglaufen. Bruno, bleib!“ Aber Bruno denkt gar nicht daran, wegzulaufen. Er kauert sich auf den Boden und wartet, bis Eva bei ihm ist. Sie hebt ihn hoch. „Meine Güte, du bist ja verletzt.“ „Nicht so schlimm“, denkt der Dackel und leckt seiner Besitzerin übers Gesicht. „Tim, Tim, ich habe Bruno gefunden.“ Da kommt Tim auch schon gelaufen. Er wirft den kandierten Apfel, den er in der Hand hält, zu Boden und nimmt seiner Mutter den zitternden Bruno ab. „Bruno“, flüstert er und vergräbt sein Gesicht im nassen Hundefell.

„Servus, liebe Hörerinnen und Hörer. Heute habe ich hier auf Radio Menzing eine ganz besondere Vorweihnachtsstory für euch. Vor einer Woche wurde die Filiale der Stollbergbank in Neuhausen überfallen. Die Täter hatten offenbar einen Bankangestellten als Komplizen. Kurz vor Schalterschluss erbeuteten sie immerhin 200 Tausend Euro in kleinen Scheinen. Dabei griffen sie zu einem ganz besonderen und brutalen Trick. Sie hatten einen Dackel gestohlen, den sie absichtlich verletzten, um für Aufruhr zu sorgen. Das Tier konnte während des Überfalls entkommen. Die Täter allerdings auch.

Der Dackel wurde rein zufällig von seiner Besitzerin gefunden. Als diese ein paar Tage später mit ihm in der Stadt unterwegs war, fiel der Hund plötzlich ganz gegen seine Gewohnheit einen Mann an und biss ihn in die Wade. Der Mann konnte sich losreißen und weglaufen, aber die Besitzerin hatte geistesgegenwärtig ein Foto von ihm gemacht.

Der Mann konnte als einer der Bankräuber und Hundekidnapper überführt werden, dank der exzellenten Spürnase von Dackel Bruno. Dafür erhält er von der Stollbergbank eine Belohnung und einen Ehrenplatz in der Fotogalerie der Bankzentrale. Frohe Weihnachten allerseits.“

MIniKrimi Adventskalender am 18. Dezember


Schneekönigin

Draußen fallen weiße Flocken dicht an dicht. Der Wind treibt sie gegen das Fenster, sie gleiten am Glas herunter, kleine weiße Kometen mit einem Schweif aus glitzernden Wasserkristallen. „Josh, komm weg vom Fenster, da ist es so zugig, du erkältest dich noch.“ „Mama“, antwortet der Junge, „nein, vielleicht kommt jetzt gerade in diesem allereinzigen Moment die Schneekönigin zu mir geflogen. Wenn ich sie dann nicht sehe, nur, weil unsere Fenster undicht sind, dann….“ „Was dann, Josh? Du weißt schon, dass die Schneekönigin nur in der Fantasie von Hans Christian Andersen existiert hat? Und in den Filmen, die daraus entstanden sind?“ „Nein, Mama, das stimmt nicht. Andersen hat sie vielleicht ENTDECKT. Und die Filme haben seine Geschichte wiederholt. Aber das ändert nullkommanix daran, dass es sie gibt. Beweis: die Schneeflocken.“

„Komm her, Kind“, die Mutter zieht den Kopf des Jungen zu sich und nimmt ihren Sohn kurz und fest in den Arm, bevor er ihr die Zusammensetzung eines Schneekristalls erklären kann. Da ist es wieder, das leise Nagen, das sich vom Kopf über das Herz in ihren Magen windet. Josh ist leicht autistisch und außerdem hochbegabt. Mit all den Problemen, die das mit sich zieht. Wenn er in eine besondere Schule gehen, intensive Förderung und Motivation bekommen könnte. Vielleicht wäre er ein Computer-Genie, oder ein Weltklasse-Pianist. Sportler. Was auch immer. Aber sie kann ihm das alles nicht bieten. Die psychologische Betreuung, die die Schule organisiert hat, hat ihm bis jetzt nicht sichtbar geholfen. Josh ist ein aufsäßiger Außenseiter, der immer mehr in seine Traumwelt abgleitet.

Irgendwann, denkt die Mutter manchmal, wache ich auf, schaue in die Nacht und erkenne meinen Sohn draußen im Universum. Major Tom. Ohne Weg zurück.

Sie ist alleinerziehend. Vor der Pandemie hatte sie eine kleine Musikschule für Kinder und Erwachsene. Das ließ sich online nicht durchziehen. Jetzt arbeitet sie als Aushilfe in einem Café und in einem Supermarkt. Das Geld reicht trotzdem kaum für Miete, Essen und das Allernötigste für Josh. Extras, Schulen, Kurse, eine Reise – nicht drin.

An Abenden wie diesem ist sie der Verzweiflung besonders nahe. Weihnachten steht vor der Tür. Wie gerne würde sie ihrem Sohn all seine Wünsche erfüllen. Nicht, dass er ihr auch nur einen verraten hätte. Aber sie würde ihm so gerne einen rundum glücklichen Weihnachtsabend schenken. Mit einem schönen großen Baum, einem festlich gedeckten Tisch, etwas Besonderem zu essen. Scampi, vielleicht. Von denen hatte er noch lange nach der Sommerwoche mit seiner Patentante in Kroatien geschwärmt. Stattdessen muss sie am 24. bis Ultimo arbeiten. Wenn nicht, wird eben eine andere eingestellt. An Interessentinnen mangelt es nicht. Das hat die Chefin ihr unverblümt gesagt. „Und kommen Sie mir nicht mit der Gewerkschaft. Sonst sind sie gleich draußen.“

„Ach, Josh“, seufzt sie, geht in den kleinen Flur, holt ihren dicken Schal und legt ihn dem Jungen um die Schultern. Der ist so auf das Schneegestöber draußen konzentriert, dass er davon gar nichts mitbekommt.

Am nächsten Tag ist im Supermarkt der Magen-Darm-Virus ausgebrochen. Die Hälfte der Mitarbeitenden hat sich krank gemeldet. Die Mutter schickt Josh eine Nachricht aufs Handy: Schatz, ich kann heute nicht vor 21 Uhr heimkommen. Kriegst du das hin, alleine? Sonst klingele bei Piet.“ Sekunden später antwortet der Sohn: „Mama, echt jetzt? Ich bin doch gerne allein. Nein, Piet ist immer so anstrengend. Soll ich dir was zu Essen machen?“ „So lieb von dir, aber nein. Danke! Ich bring uns was Abgelaufenes mit, was Leckeres, versprochen!“ Sie zerdrückt eine Träne und hastet wieder an die Kasse.

Josh holt seinen Teller aus dem Kühlschrank, stellt ihn in die Mikrowelle, 5 MInuten. Er deckt den Tisch mit Serviette und Glas. Setzt sich und isst langsam und bedächtig. So wie jeden Tag. Danach macht er seine Hausaufgaben. Er ist leicht irritiert, weil er heute fünf Muniten länger braucht als sonst. Er ist abgelenkt. Denn draußen hat es wieder zu schneien begonnen.

Bald ist der kürzeste Tag des Jahres. Um vier fällt die Dämmerung über Häuser und Straßen. Josh schaut dem Schneeflockentanz eine Weile vom Fenster aus zu. Da fegt ihm der Wind eine besonders große Flocke entgegen. Er schließt die Augen, sie ist so nah, er meint, sie zu spüren. Die Scheekönigin, denkt er.

In Windeseile zieht er Jacke, Mütze, Handschuhe an und rennt aus der Wohnung. Als die Tür ins Schloss fällt, merkt er, dass er seinen Schlüssel auf der Kommode vergessen hat. Egal. Er rennt die Treppen hinunter, 5 Stockwerke, reißt die Haustür auf und blickt sich suchend um. Menschen hasten mit hochgezogenen Krägen durch das Schneegestöber, viele balancieren Tüten und Pakete in den Händen. Autos stecken fest, hupen. Josch schaut nach links. Nach rechts. Wo ist sie nur?

„Auf wen wartest du denn?“, fragt eine brüchige Stimme. Sie gehört zu einem Wesen in einem langen dunkelblauen Mantel, der über und über mit Sternen übersäht ist. Die Beine stecken in pelzbesetzten schwarzen Stiefeln, die Hände in einem plüschigen hellblauen Muff. Auf dem Kopf trägt es eine riesige hellblaue Fellmütze, unter der dichte weiße Locken hervorschauen. Es ist sehr blass, mit blauen Augen und riesig langen Wimpern. „Hallo, du bist also die Schneekönigin. Gut., dass du kommst. Ich habe schon auf dich gewartet.“

Das Wesen zuckt zusammen. „Psst! Ich bin inkognito. Weißt du, was das heißt?“ „Klar. Ich verrate dich nicht. Wohin bringst du mich?“

„Hm, mal sehen.“ Das Wesen nimmt Joshs Hand und geht einfach die Straße hinunter. „Was ist mit deiner Mutter? Deinem Vater?“ „Meine Mutter kommt heute erst spät von der Arbeit. Aber ich habe ihr ja schon gestern gesagt, dass ich auf dich warte.“

„Ok. Gut. Pass auf: wir gehen zum Hafen. Bist du schon mal mit einem Schiff gefahren?“ „Ich dachte, du hast deinen Schlitten dabei.“ „Blödsinn. WIe könnte ich denn mit dem Schlitten durch diesen Verkehr kommen? Nein, heute fahre ich lieber mit dem Schiff. Pass auf, wir nehmen ein richtig großes, eines mit Autos im Bauch.“ „Du meinst eine Fähre? Komisch, das hätte ich nicht von dir gedacht.“

„Tja, man lernt eben nie aus. Märchen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.“

Die nächsten Stunden erlebt Josh wie einen Traum. Einen zuckersüßen voll gebrannter Mandeln, Kinderpunsch und Makronen. Auf der Fähre ist ein richtiger Weihnachtsmarkt aufgebaut, mit einem richtigen Karussell, und die Schneekönigin kauft ihm, was immer er will. Sogar einen silbernen Luftballon. „Fliegen wir mit dem in dein Schloss?“ „Hm, mal sehen.“ Also fliegen sie erst mal mit dem Karussell, Runde um Runde. Ist das toll!

Die Schneekönigin scheint nicht so durchgeplant zu sein wie Josh. „Mal sehen“ ist einer ihrer Lieblingssätze. Das Meer ist ruhig, die Bewegung der Fähre monoton. Viele Leute lächeln über Josh und die Schneekönigin. „Wie lieb sich die Oma um den Kleinen kümmert,“ sagen sie. Josh grinst die Schneekönigin an und legt den Finger auf die Lippen. Von ihm erfahren sie nichts. Sie essen einen Riesen Berg Pommes, trinken noch mal Punsch, und dann spielen sie Flipper. „Das habe ich mit meiner Mama alles noch nie gemacht“, stellt Josh fest. Und hat ein kleines Bisschen Sehnsucht. Inzwischen ist sie bestimmt zu Hause und wundert sich, wo ihr Sohn ist. Vor allem, weil er ohne Handy und Schlüssel weggegangen ist.

„Du, ich muss meine Mama anrufen.“ „Später. Hier auf See geht das nicht. Wir machen das gleich, wenn wir an Land gehen. Also bevor wir in meinen Rentierschlitten steigen.“

„Ok“, sagt der Junge und merkt, dass ihm die Augen zufallen.

Am nächsten Morgen entdecken Reinigungskäfte im Hafen von Trelleborg in Südschweden ein schlafendes Kind in einer Nische der Fähre, mit einem zusammengefallenen silbernen Luftballon fest in der kleinen Faust. Die Polizei bringt ihn ins nächste Krankenhaus, aber auf dem Weg dorthin wird Josh schon wach. „Wo? Was? Wer? Wo ist die Schneekönigin?“ Es dauert nicht lange, bis die Mutter des Kindes in Travemünde ausfindig gemacht wird. Sie ist natürlich halbtot vor Sorge und verspricht, sofort nach Trelleborg zu kommen. Die deutsche Polizei begleitet die Frau.

Noch im Krankenhaus erzählt Josh seine Geschichte. Aber niemand glaubt ihm. Die Schneekönigin, also wirklich!

Erst viel später gelingt es den Beamten in Deutschland und Schweden, Licht in die „Andersen-Entführung“, wie die Medien Joshs Abenteuer betiteln, zu bringen.

Ein Räuber erbeutete in Hamburg 500 Tausend Euro in kleinen Scheinen. Auf der Flucht brach er in den Wohnwagen eines Kindertheaters ein, das auf einem der Weihnachtsmärkte die Schneekönigin aufführte. So verkleidet gelangte er unerkannt nach Travemünde. Als Josh ihn ansprach, wurde ihm klar, dass dieses Kind die allerbeste Tarnung für die Überfahrt nach Schweden war. In dem Punsch war ein mildes Beruhigungsmittel, das Josh lediglich einen tiefen Schlaf beschert hatte.

Die ganze Zeit in Trelleborg hatte Josh sich geweigert, den Luftballon losszulassen. Das war doch sein Ticket zur Schneekönigin! Zuhause angekommen, verkroch er sich in sein Zimmer. Erst am übernächsten Tag kam er heraus, umarmte seine Mutter und flüsterte: „Ich weiß, du glaubst mir nicht und bist mir böse. Und vielleicht war das wirklich eine andere Schneekönigin. Aber sie war nett. Schau mal, was sie mir in den Luftballon geklebt hat.“

Er hält der Mutter mehrere 500 Euro Scheine hin.

Was denkt Ihr, geben die beiden die Scheine ab?