Adventskalender Minikrimi vom 15. Dezember


Foto: Kirahoffmann

Ein Hauch von Marilyn

Ihr Bruder war schon immer ein großer Marilyn Monroe Fan gewesen. 1962 hatte er als 12jähriger in der Wochenschau gesehen, wie die amerikanische Skandalschönheit „Happy birthday, Mr. President“ ins Mikrophon gehaucht hatte. Seither bevölkerte Marilyn alle Träume des Teenagers, und auch als Erwachsener war es Bernhard nie gelungen, sich ganz von seinem Idol zu lösen. Er besaß unzählige Bildbände über sie, sammelte Artikel und TV-Beiträge. Selbstverständlich standen in seiner Bibliothek auch all ihre Filme. Als Fotograf hatte er immer wieder Models in die Verzweiflung getrieben, weil er sie als Marilyn-Double in erotischen Posen porträtiert hatte.  Drei Ehen waren an seiner „Marilynitis“, wie seine Schwester Dorothea die Verehrung nannte, gescheitert. 

Aber dann war Rosi gekommen. Eine dralle Brünette ohne ausgeprägte Persönlichkeit, aber mit viel Geld und der Fähigkeit leidenschaftlicher Hingabe. Sie hatten sich an der Rennbahn kennengelernt, wo Bernhard, schon ziemlich abgebrannt, darauf lauerte, ein paar Paparazzi-Fotos von zufällig auftauchenden Promis zu machen. Rosi hatte ihren Vater begleitet, um das erste Rennen seines neuesten Pferdes 007 zu sehen.  Es waren die „wilden Siebziger“. Rosi verliebte sich auf den ersten Blick in Bernhard, zog ihn in das nächste Gebüsch hinter den Stallungen – und damit war seine Zukunft besiegelt. 

Rosis Vater knüpfte nur zwei Bedingungen daran, seine minderjährige Tochter in die Hände oder besser die Arme des guten, aber nicht sonderlich erfolgreichen Fotografen zu geben: erstens musste Bernhard fortan alle anfallenden Fotoarbeiten für die Baufirma Herbert Huber übernehmen – kostenfrei! Zweitens durfte er Rosi nie betrügen. 

Die zweite Bedingung bereitete Bernhard anfangs Kopfzerbrechen. Denn einem Künstler wie ihm wurde auf Dauer sogar ein Leben im Luxus zu langweilig. Aber Rosi liebte ihn heiß und innig, und da sie keinen anderen Lebensinhalt hatte, tat sie alles, um ihrem Bernhard zu gefallen. Er ließ ihr Haar wasserstoffblond färben, züchtete ihr soweit es ging eine Marilyn-Figur an und ersteigerte sogar ein paar Original Monroe-Kleider. Hier gebot der Schwiegervater, der immer noch die Hand auf dem Vermögen der Tochter hatte. allerdings schnell Einhalt.

So lebten Bernhard und Rosi ein trautes Leben zu zweit, oder eigentlich zu dritt. Sie gab für ihn die Marilyn, und er für sie den Ehemann. Eigentlich, dachte Dorothea, hatten die beiden sich redlich verdient.

Leider starb Rosi unvermittelt und unerwartet, nachdem sie um 1 Uhr nachts, mit einer Flasche Champagner in der Hand, in 10 cm High-Heels auf dem Garagendach balanciert war. Nicht aus Übermut, sondern für Bernhards neuestes Fotoprojekt. Mit 55 und Arthrose in den Beinen hatte sie sich nicht gut genug aufrecht halten können.

Sicher hätte Herbert Huber Bernhard daraufhin stante pede enterbt. Er war jedoch kurz vor seiner Tochter gestorben, und so war Bernhard mit 65 Alleinerbe eines zwar nicht atemberaubenden, jedoch so umfangreichen Vermögens, dass er einem genussvollen Lebensabend entgegenträumen konnte. Und auch für Dorothea waren himmlische Zeiten angebrochen. Ihr Bruder lud sie ein, zu ihm in die geräumige Villa am Starnberger See zu ziehen. Aus Dankbarkeit kümmerte sie sich um den Haushalt, das heißt sie achtete darauf, dass die Angestellte alle Arbeiten zu ihrer Zufriedenheit erledigt, und fuhr einmal die Woche nach München, um bei Dallmayr und Käfer das Nötige einzukaufen. Natürlich wären Filet Wellington, Kaviar, Champagner & Co. auch angeliefert worden. Aber Dorothea genoss die Fahrten in Rosis Jaguar XJ 220, einer Sonderanfertigung in metallic-beige. Und sie fuhr bei solchen Gelegenheiten auch gerne bei ihren Freundinnen vor, um mit ihnen ein Käfer-Törtchen und eine Tasse Dallmayr Kaffee zu teilen. Dorothea, die nach einem Leben als Arbeitsvermittlerin für Künstler keine üppige Rente erhalten hatte, war überglücklich. Die Marilyn-Leidenschaft ihres Bruders störte sie nicht, im Gegenteil. Sie genoss die ruhigen Stunden, während er sich im Atelier Filme, Fotos oder was auch immer ansah.

Doch dann kam die Wende. Danica, die treue Haushaltsperle, brach sich den Arm. Pflichtbewusst, wie sie war, schickte sie ihre Nichte Dajana als Ersatz. Dajana war 20, hatte hellblond gefärbte Haare und eine nostalgische 90-60-90 Figur. Nach ihrem ersten Arbeitstag brannte Bernhard bereits lichterloh. Nach einem Monat eröffnete er Dorothea, dass er Dajana heiraten wollte. Die Verlobung sollte an seinem 67.Geburstag stattfinden. Denn Dajana, so erklärte er seiner Schwester, sei streng katholisch, und ein gemeinsames Leben müsse mit dem Heiligen Bund der Ehe besiegelt werden. Ohne Gütertrennung, ergänzte Dorothea bitter, denn sie hatte Dajanas Zielstrebigkeit schnell erkannt. Auch hegte sie keinen Zweifel daran, dass das „junge Glück“ seine Liebe ungestört genießen wollte. Für sie wäre da kein noch so kleines Plätzchen geblieben.

Dorothea überlegte, plante und verwarft. Mit dem Jaguar in den Starberger See fahren? Einen wunderschönen jungen Gärtner einstellen und sich mit der Kamera auf die Lauer legen? Schließlich entschied sie sich dafür, Bernhard zum Geburtstag mit einer echten „Marilyn-Torte“ zu überraschen.

Sie kannte eine Tortenmacherin, die in der Lage war, ein wunderbares, riesengroßes und dabei äußerst schmackhaftes Gebäck herzustellen, das zudem noch Dorotheas besonderen Anforderung entsprach. Drei Etagen, feinster Biskuit, Sahnefüllungen mit exotischen Früchten, weiße Schokolade, Nougat, Baiser – nur das Beste vom Besten. Einfach unwiderstehlich.

Ein etwas tieferer Griff in Rosis Portokasse, und die Torte war verbindlich bestellt. Pünktlich am Morgen von Bernhards Geburtstag brachte die Tortenmacherin das Kunstwerk wie besprochen zum Hintereingang der Villa. Das Geburtstagskind schlummerte noch tief – wahrscheinlich träumte ihr Bruder von seiner rosigen Zukunft mit Dajana, dachte Dorothea und schmunzelte über ihre Wortwahl.

Ab 20 Uhr kamen die Gäste, und kurz vor Mitternacht endlich die Torte. Dorothea hatte alle Sicherungen persönlich ausgeschaltet. Der offene Wohnbereich wurde ausschließlich von unzähligen Wunderkerzen erleuchtet, die um die Torte herum flimmerten. „Ah“s und Oh“s von allen Seiten. Dajana, festlich glitzernd in einer von Rosis Brillantketten, dachte, die Torte sei Teil von Bernhards Verlobungsüberraschung. Aber nein. „Happy Birthday, Mr. President“ hauchte es plötzlich aus dem Innern des Gebäcks. Und aus der Torte stieg Marilyn höchstselbst, eingehüllt in ein hautfarbenes Nichts, übersäht mit 2500 Glassteinen. Natürlich war es nicht die echte Monroe, aber sie sah ihr so verblüffend ähnlich, dass alle Gäste berauscht, begeistert, betäubt den Atem anhielten. Am längsten Bernhard. Er hatte den ganzen Abend getrunken, und als er die Vision seiner Kindertage leibhaftig auf sich zugerollt kommen sah, war die Euphorie grenzenlos. So groß, dass sein Herz stehenblieb.

Der eilends herbeigerufene Arzt konnte nur noch den Tod durch Herzversagen feststellen. Und das, bevor Bernhard die Möglichkeit gehabt hatte, seine letzte Marilyn zu heiraten oder sie auch nur zur Alleinerbin einzusetzen. Selbst wenn Dajana auf einer Obduktion bestehen und man Barbiturate in Bernhards Blut finden sollte – bis tatsächlich über Mord spekuliert wurde, würden ganz sich, wie bei der echten Monroe, viele Jahrzehnte vergehen. 

Dorothea als seine einzige lebende Verwandte hatte vor, diese so ausgiebig wie möglich zu nutzen. 

Adventskalender Minikrimi am 9. Dezember


Foto: 8Moments

Dieser Minikrimi wurde von Mona Moldovan geschrieben. Er ist eine Variation zum gestrigen Thema – Last Christmas und die Männer. Und Frauen… Danke, liebe Mona!

Die Weihnachtsfeier

Die Einladung liegt ganz unten in dem Stapel mit Weihnachtskarten, die sie aus dem Postkasten geholt hat. Christine will sie schon achtlos wegwerfen, als ihr Blick auf den Absender fällt. Den Namen der Steuerkanzlei in Grünwald kennt sie gut. Es ist der Name, den sie einmal zu tragen gehofft hatte. Wenn sie daran denkt, wie es dazu kam, dass es dann doch nicht dazu kam, versetzt ihr das immer noch einen Stich ins Herz. Sie erinnert sich an diesen Dezembernachmittag vor zwei Jahren, als sei es gestern gewesen.

Sie kam früher nach Hause, vollgepackt mit Geschenken. Leise schlich sie hinein, um die Geschenke zu verstecken, so dass Matthias sie nicht vor der Bescherung finden würde. Aber dann entdeckte SIE etwas, was sie nicht hätte finden sollen, und zwar ihn. Im Bett mit dieser Blondine, einer Kollegin… wie hieß sie nochmal?

„Das ist doch nun sowas von egal“, denkt sie. Aber das ist nur so dahin gedacht, egal ist es ihr immer noch nicht. Matthias zog unmittelbar danach aus, und sie verbrachte sehr traurige Weihnachten. Die Monate danach waren auch nicht leichter. Die Trennung, der finanzielle und gesellschaftliche Abstieg. Er war nun fest mit dieser Frau zusammen, der Kollegin und Steueranwältin. „Schwamm drüber“, versucht sie sich einzureden. Es klappt nicht.  

Wenige Tage später hat sie die Münchner Innenstadt kreuz und quer auf der Suche nach dem passenden Kleid für die Feier abgesucht. Am Ende findet sie es in einem großen, luxuriösen Kaufhaus. Rot, lang, sexy. Sie hat noch nie so viel Geld für ein Kleidungsstück ausgegeben, fast eine Münchner Monatsmiete. Leisten kann sie sich das eigentlich nicht, mit ihrem kleinen Gehalt als Angestellte im sozialen Bereich. Aber sie will Matthias zeigen, was er verloren hat. Aus Liebeskummer hat sie damals etliche Kilos abgenommen, die nur zum Teil wieder drauf sind. Ihre Haare sind jetzt auch blond. Und das Kleid steht ihr wirklich ausnehmend gut.

In den Tagen vor der Weihnachtsfeier hat es geschneit, und die großen Villen in Grünwald sehen aus wie auf einer Weihnachtspostkarte. Die Adresse findet sie schnell, Google Maps sei Dank, und zum Glück ist sie auch nicht weit von der Tram entfernt, sonst würde sie womöglich mit den geliehenen High Heels im Schnee steckenbleiben. Ein blutroter Teppich führt durch den verschneiten Garten zum Haus, links und rechts davon brennen Fackeln. Am Eingang zeigt sie die Einladungskarte mit dem goldenen Rahmen und dem mit Füller geschwungenen „M“ als Unterschrift. Der Portier verbeugt sich, nimmt ihr den Mantel ab und zeigt ihr den Bereich, wo Glühwein und Caipirinhas stehen. Der Caipirinha ist heiß und sehr stark. Und drinnen erst… überall laufen Kellner mit Tabletts voller Cocktails und Leckereien herum. Das ist schon ein Unterschied zu ihrem Büro, wo die Kolleginnen sich mit selbst gebackenen Plätzchen und Glühwein von Aldi eine kleine Feier nach der Arbeit organisieren müssen.

Sie weiß, dass sie nicht zu viel trinken sollte. Alkohol macht sie immer leicht aggressiv, sie bekommt Lust, sich zu streiten und etwas kaputt zu machen… Aber wie sollte sie den Abend sonst überstehen? Sie kennt niemanden und niemand ist daran interessiert, sich mit ihr zu unterhalten. Das teure Kleid ist hier eines von vielen, und die Männer scheinen nur Frauen interessant zu finden, die gerade der Pubertät entwachsen sind. An einer Mittvierzigerin hat offenbar niemand Interesse. Auch Matthias scheint sie nicht zu beachten. Sie hat ihn nur flüchtig gesehen, aber er hat sie offensichtlich nicht wahrgenommen. Und nun ist er ganz verschwunden. Die Blondine hat sie den ganzen Abend nicht zu Gesicht bekommen (und wie sie heißt, daran erinnert sie sich immer noch nicht). Vielleicht ist es besser so. Sie könnte sie immer noch umbringen, auch wenn das alles jetzt schon zwei Jahre her ist.

Nach dem dritten Cocktail (oder vielleicht nach dem vierten?) sucht sie eine Toilette, aber alle sind besetzt. „Vielleicht müssen sich die jungen Frauen ihre Cocktails nochmal durch den Kopf gehen lassen. Zu viel Alkohol ist schließlich nicht gut für die Figur“, denkt sie garstig. Und geht die Treppe hinauf. Im oberen Stockwerk ist es dunkel und merkwürdig still. Sie versucht, eine Tür zu öffnen. Abgeschlossen. Auch die nächste. Und die übernächste. Dann kommt sie zu einer, die einen Spalt offen steht. Dahinter hört sie unmissverständliche Geräusche. Sie erstarrt, als eine junge Frau mit langen roten Locken heraus kommt, aber die Frau sieht Christine nicht. 

Die Tür steht nun weit offen, und sie erkennt den Mann dort im Zimmer sofort.

Und er sie. 

„Matthias…“ flüstert sie. „Christine?…“ lallt Matthias. „Was zum Teufel machst du hier? Wer hat dich eingeladen? Willst du wieder eine Szene machen? Ich hab‘ echt keine Lust auf euch alte Schachteln, die letzte habe ich gerade letzte Woche abserviert…“  Er versucht, seine Hose zu schließen, hat aber sichtlich Schwierigkeiten. Und nun weiß Christine, dass sie die ganze Zeit falsch lag. Nicht die andere Frau ist an ihrer Misere schuld. Sie macht einen Schritt ins Zimmer, und noch einen, plötzlich steht sie vor diesem Schreibtisch. Sie streckt ihre Hand aus – und dann sieht Matthias den Brieföffner in ihrer Hand. „Nein! Christine! Ich hab’s doch nicht so gemeint…!“

Er schreit nur einmal, ganz kurz und zu leise. Unten hat der DJ grade Helene Fischer aufgelegt, und die Menge gröhlt: „Atemlos…!“

Als Christine durch die glänzende Winternacht in Richtung Tram spaziert, geht es ihr auf einmal sehr gut. Ein Arschloch weniger auf der Welt. Jetzt soll ihr erst mal jemand etwas nachweisen. Sie hat sich ja mit niemandem unterhalten, und niemand hat sie beachtet. Ab vierzig werden Frauen irgendwie unsichtbar. Manchmal ist das gut so. 

Aber eine Frage lässt ihr keine Ruhe: wer hat sie zur Party eingeladen? Dann erinnert sie sich auf einmal. Die blonde Frau, mit der sie Matthias damals erwischt hat, heißt Marlena. Ein geschwungenes M als Unterschrift auf der Einladung. 

Als sie in die Trambahn Nummer 25 steigt, summt sie leise „Last Christmas“.  

Crux crucis


Es wogt. Es dampft. Es drückt. Es lacht. Es schwitzt. Es friert. Es ruft. Es eilt. Es hungert. Es dürstet. Es trinkt. Es schmatzt. Es ergießt sich. In unter auf und über München.

Es nimmt sich wichtig. Es macht sich wichtig. Es zeigt sich. Es übertönt. Es übertüncht. Es gleichmacht. Es verspricht. Es entspricht. Es verzieht. Es postuliert. Es deduziert. Es karikiert. Es markiert. Es paradiert. Oben unten hinter vor den Bühnen.

Es klingt. Es singt. Es jubelt. Es faltet. Es runzelt. Es schmunzelt. Es streckt. Es reckt. Es gröhlt. Im Rhythmus und daneben.

Er ist. Er atmet. Betet. Tröstet. Begleitet. Beschirmt. Durchschaut. Verzeiht. Er lebt. TrotzDem. InAllem.

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