Fallobst oder „den Russen“ gibt es nicht


Ich könnte so viel schreiben. Ich hätte so viel zu sagen. Den Leuten, die „den Russen“ angreifen, denen, die „den Russen“ verteidigen- In den sozialen Netzwerken, mit echten oder falschen Fotos und Videos. Ich könnte meine Prognosen den endlosen Einschätzung auf allen Kanälen hinzufügen. Meinen Ängsten Ausdruck geben, meinem Mitleid.

Stattdessen poste ich heute eine Geschichte, die mir „durch Zufall“ – jedoch glaube ich nicht an Zufälle – eben wieder in die Hände gefallen ist. Sie entstand anlässlich eines Schreibworkshops 2014 im Rahmen eines Frauentages und basiert auf den Erinnerungen einer Teilnehmerin. Die Geschichte passt gut in die Gegenwart – und auch zum Weltgebetstag der Frauen, morgen.

Fallobst

Der kleine Hans stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Anrichte besser überblicken zu können. Vielleicht lag ja noch ein Kanten Brot auf dem Teller, oder ein Apfel. Aber nein, dort stand nur ein Krug mit klarem Wasser. „Mama, ich hab Hunger! Haben wir denn gar nichts mehr?“ Die Mutter kam aus der kleinen Kammer, die als Schlazimmer für sie und ihre drei Kinder diente. „So, Hunger hast du?“ „Ja. Aber Frieda auch“. Die Mutter drehte sich zu Frieda um, die, an den Türrahmen gelehnt, mit großen Augen zu ihr aufblickte. „Gut, dem können wir abhelfen. Heute ist ein sonniger Tag, wie geschaffen, um Fallobst aufzulesen“. Sie nahm die Hirtentasche vom Haken an der Tür und hing sie ihrer Tochter um. „Pass auf deinen kleinen Bruder auf und bleibt nicht zu lange weg. Es wird jetzt schon früh dunkel.“

„Komm“, sagte die siebenjährige Frieda zu ihrem Bruder, und die beiden machten sich auf den Weg. Sie gingen die Hauptstraße hinunter zu den Obstwiesen am Ortsende von Treffurt.

Treffurt war damals, im Jahr 1946, eine kleine Stadt mit 3000 Einwohnern. Sie lag in Thüringen unmittelbar an der Grenze zu Hessen. Frieda und Hans waren mit Mutter, Großvater und der jüngsten Schwester als Donauschwaben in das mittelalterliche Städtchen evakuiert worden. Die Familie hatte, wie alle Flüchtlinge, ein ganzes Leben hinter sich gelassen. Den Bauernhof, die Tiere, die Freunde. Jetzt lebten sie schon seit zwei Jahren in zwei Zimmern in einem alten Haus voller Flüchtlinge aus Polen, der Slowakei und anderen Gebieten. Das Essen war rationiert, und wenn die Lebensmittelkarten aufgebraucht waren, gab es nur zwei Möglichkeiten: hungern oder Obst und Gemüse klauben. Kartoffeln von den abgeernteten Feldern und Fallobst von den Obstwiesen.

Frieda mit ihren Holzssandalen und Hans, der barfuß ging, kam der Weg zu den Apfelbäumen unendlich lang vor. Aber schließlich standen sie auf der Wiese. Nur noch ein paar wenige schrumpelige Äpfel lagen auf dem Gras. „Guck, mal, sind ja überall Würmer drin“, beklagte sich Hans. „Es sind aber keine anderen da, also müssen wir halt mit denen Vorlieb nehmen“ antwortete Frieda, die vernünftige. „Und pflücken dürfen wir nicht, der gehört uns ja nicht.“ Die Kinder bückten sich und sammelten nach und nach die einsamen Apfel in die Hirtentasche. Frieda summte vor sich hin. Und Hans träumte vielleicht schon vom Apfelkompott.

„Stojats“, hörten sie plötzlich eine laute Stimme direkt hinter Ihnen. „Was ihr machen?“ Erschrocken drehten sich die Kinder um. Vor Ihnen stand ein riesiger Soldat. Breitbeinig und mit aufgepflanztem Bajonett. Hans und Frieda ließen die Äpfel fallen, die sie in der Hand hatten. Frieda nahm ihren ganzen Mut zusammen: „Wir nehmen nur die, die schon am Boden liegen“, sagte sie trotzig, während Hans hinter ihrem Rücken hervorlugte. 

„Ihr dumme Kinder!“, dröhnte der Russe. Ging zum Baum und schüttelte ihn kräftig. Ein wahrer Apfelregen prasselte auf die Kinder herunter. Im Handumdrehen lagen so viele Apfel am Boden, dass sie nicht nur die Hirtentasche damit füllten, sondern auch die Hosentasche und die Schürze vollstopften. „Choroschego appetito“, lachte der Soldat, drehte sich um und ging zurück zu seinem Wachhäuschen hinter der Wiese.

Noch heute  im September, wenn die Äpfel reifen, geht Frieda mit ihren Enkelkindern zu dem Apfelbaum am alten Kirchlein in dem Dorf, in das sie als Erwachsene mit ihrem Mann gezogen ist. Sie sammeln das Fallobst auf und backen daraus einen Apfelkuchen. Und dann erzählt sie ihren Enkelkindern die Geschichte von dem russischen Soldaten und den Äpfeln.

Adventskalender MiniKrimi am 12. Dezember


Aus Gründen

„Morgen.“ „Hi.“ „Uaahh – griaß Eich.“ Montagmorgen, sieben Uhr. Die Mitarbeitenden des kleinen Transportunternehmens Münchner Süden stehen zusammen in der engen Teeküche. Halten Tassen mit Tee oder Kaffee in der Hand. Gähnen. „Servus, Leute.“ Der Chef steht in der Küchentür. „Weiß einer von Euch, was mit dem Reza los ist?“ Allgemeines Kopfschütteln. „Muss krank sein, normal ist der doch immer als erster da…“ „Ihr habt’s aber nix von ihm gehört?“ „Na.“ Nee.“ „Nein.“

Als Reza im Laufe des Tages weder auftaucht noch anruft und auch niemand in seinem Auftrag eine Krankmeldung vorbeibringt, fängt der Chef an, sich Sorgen zu machen. Dieses Verhalten passt einfach nicht zu dem jungen Iraner. Reza arbeitet inzwischen seit 2 Jahren bei ihm, und noch nie hat er einen Tag gefehlt. Immer hat er alle Aufträge perfekt erledigt. Nie gab es eine Beanstandung, weder von Kunden noch von Kollegen. 

Die einzigen Probleme, die Reza hatte, haben mit seinem Aufenthalt zu tun. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, die Berufung ebenfalls. Nun besitzt er als einziges Ausweisdokument eine so genannte Duldung bzw. „Aussetzung der Abschiebung.“ Damit lebt Reza auf Messers Schneide, das Damoklesschwert der Abschiebung ständig über sich. „Wenn die mich zurückschicken, bin ich so gut wie tot,“ hat er manchmal, selten, im Gespräch mit seinen Kollegen gesagt. Und dabei gelacht. Um nicht zu weinen. Er ist Christ, und Christen werden im Iran ins Gefängnis gesteckt und nicht selten gefoltert. „Sie müssen ihren Glauben ja nicht offen ausüben. Wenn keiner weiß, dass sie Christ sind, passiert Ihnen auch nichts“, hat die Richterin als Erklärung der letzten Antragsablehnung gesagt. 

Aber selbst wenn Reza seinen Glauben verheimlichen würde, wären seine Überlebenschancen in der Heimat gering. Denn er leidet unter MS. Und auch, wenn ein iranischer Biologe vor kurzem ein Antigen zur Heilung der Krankheit entdeckt hat, fehlen in Rezas Heimatprovinz Mazandaran sogar die nötigsten Medikamente. 

Reza will nicht zurück. Es geht ihm gut, zum ersten Mal in seinem Leben muss er sich nicht verstecken. Er kann zur Kirche gehen, wann und so oft er will. Am helllichten Tag. Er übernimmt in der Gemeinde sogar kleine Aufgaben. Aus Dankbarkeit. Und aus Freude. Sein Neurologe hat ihn gut eingestellt, er kann trotz MS arbeiten. So viel, dass er sich ein kleines Appartement leisten kann. Er hat Freunde. Nicht viele, aber mehr als im Iran. Als das Militär den Gottesdienst sprengte und über die Hälfte der versammelten Menschen festnahm, stand Rezas Entschluss fest. In diesem Land konnte er nicht weiterleben. Nach Monaten im Gefängnis war sein Gesundheitszustand so bedenklich, dass er „zum Sterben“ nach Hause geschickt wurde. Seine Familie legte zusammen und finanzierte ihm die Flucht nach Europa. Eigentlich wollte er nach Schweden, zu seinem Onkel. Doch in Deutschland war Endstation. 

Inzwischen hat er sich nicht nur mit seinem neuen Wohnort arrangiert. Er fühlt sich zu Hause. Angekommen. Angenommen. Mittendrin. Und jetzt?

„Wo kann er nur sein?“, fragt sein Chef den Pfarrer der Gemeinde, die Reza regelmäßig besucht. Er hat ihn unterstützt, ihm dabei geholfen, einen guten Deutschkurs zu besuchen und noch einen, so lange, bis er sich gut verständigen konnte. Ist mit ihm die ersten Schritte gegangen und hat ihm Mut gemacht für sein neues, selbständiges Leben. Auch er hat keine Ahnung, aber eine Befürchtung. Gemeinsam fahren sie zu Rezas Wohnung. Klingeln. Nichts. Warten. Schließlich schaut eine Flurnachbarin aus ihrer Tür. „Der ist nicht da. Den haben sie heute Nacht abgeholt. Pack, ausländisches. Jeder von denen ist einer zuviel. Wir sind ja hier nicht….“ Die beiden Männer lassen die Frau stehen und laufen die Treppen hinunter. Es dauert mehrere Stunden, bis es ihnen gelingt, zu erfahren, was genau passiert ist. Und wo Reza sich jetzt befindet. Vermutlich.

Die Landespolizei hat Reza gegen Mitternacht in der Wohnung überrascht und mitgenommen. Am Flughafen wurde er der Landespolizei übergeben und nur zwei Stunden später in ein Flugzeug nach Teheran gesetzt.

Aktivisten von Amnesty International, die in der Iranischen Hauptstadt die Ankunft des Flugzeugs beobachtet haben, berichten später, dass mehrere junge Männer von bewaffneten Militärs abgeführt worden seien.

Monate vergehen. Dann liegt im Postkasten des Pfarramts ein Päckchen. Ein kleines Tagebuch. Auf Deutsch. Auf der letzten Seite steht:“ Lieber Pfarrer W., ich danke Ihnen und allen, die ich in München kennenlernen durfte. Sie haben mir die schönste Zeit meines Lebens geschenkt. Ich bin sicher, wir werden uns wiedersehen. In einem anderen, besseren Leben. Gott schütze Sie.“ 

Das Büchlein wurde dem Pfarrer über die Deutsche Botschaft geschickt. Es habe einem jungen Mann gehört, der in einem Teheraner Gefängnis gestorben sei. Unter natürlichen Umständen, hieß es.

Diese Geschichte ist nicht frei erfunden. Sie setzt sich zusammen aus vielen einzelnen Schicksalen. Einige habe ich in meiner Zeit als Asylberaterin selbst begleitet. Wenige erhielten eine Anerkennung und durften bleiben. Viele wurden abgeschoben. Einige sind nach ihrer Rückkehr verschwunden, andere wurden getötet. In diesen Tagen sind wieder einige iranische Christen in Gefahr, abgeschoben zu werden. Für manche von ihnen ist das ein Todesurteil. 

AdventsKalender Mini“Krimi“ vom 14. Dezember


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Tief unter dem Fell / I.

Ich bin im Juli geboren. Wir hatten Glück. Als bei meiner Mutter die Wehen einsetzten und sie auf der Straße zusammenbrach, wurde sie von Ehrenamtlichen aufgenommen und betreut. An die ersten Tage meines Lebens kann ich mich nicht erinnern. Später, als ich anfing, mich umzuschauen, war die Welt um mich herum warm, bunt und laut. Ein Kaleidoskop sich bewegender Menschen und Tiere, von Geräuschen, Gerüchen und Düften. Schon morgens um sechs klapperten die Töpfe in der Küche, und dann gab es Essen für alle unter der Pergola im Garten. Lavendel, Jasmin und Majoran wehten mit der salzigen Brise vom Meer herüber, und unter den schattigen Palmen leuchteten rote Hibiskusblüten. Meine Schwester und ich hatten den ganzen Tag nichts weiter zu tun, als zu spielen und immer neue Streiche auszuhecken. Wir versteckten uns zwischen den frisch gewaschenen Laken und zerrten so lange daran, bis sie ins Gras glitten. Das fanden die Hunde besonders lustig, und sie stapften mit ihren sandigen Tatzen darauf herum, bis die Tücher aussahen aus wie große, zum Trocken ausgelegte abstrakte Gemälde. Nur den guten Leuten oben in der Finca gefiel unser spontanes Kunstwerk leider gar nicht.

Immer häufiger standen sie zusammen und besprachen sich leise. Dann schauten sie zu uns herüber, zu meiner Schwester und mir, und tuschelten weiter. Was sie sagten, verstanden wir nicht. Also taten wir so, als wäre alles wie immer. Das war in dem Paradies, in dem wir lebten, nicht schwer. Der blaue Himmel, die stillen Wolken, das flüsternde Meer, die Zikaden, die Sonne.

Und dann kam der Herbst. Leise wie ein Wolf hat er sich in unsere Welt geschlichen und sie eingehüllt in sein wolliges Grau. Sein kalter Atem verwehte die Weinblätter an der Pergola, die Vipern verschwanden zwischen den Steinen und die Leute frühstückten in der Küche, eingehüllt in die Düfte und Dämpfe von Suppe und Brot. Auch wir lagen dort in der rauchigen Wärme und dösten. Da nahmen die Leute meine Schwester und mich auf den Arm und trennten uns.

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