Adventskalender – Gedanken am 20. Dezember


Es gibt Tage, da lenkt dich das Leben in Bahnen, die anders verlaufen, als du es geplant hattest. Heute am frühen Abend war ich in einem Programm-Kino. Der Film: Liebe Grüße aus Nahost. Mit einem Gespräch mit den Macher*innen.

Ich hatte zunächst nicht auf das Erscheinungsjahr geachtet. Was ich dann sah, war Aktualität pur und hätte im vergangenen Sommer erlebt und gedreht worden sein können.

Eine Gruppe von Gymnasiast*innen, ein Rapper und zwei Begeitpersonen besuchten Hebron, Bethania und das Westjordanland. Dabei begegneten sie Israelis und Palästinensern, die eines gemeinsam hatten: sie engagieren sich für ein friedliches Miteinander, sind gegen bewaffnete Angriffe – und sehen die Politik der israelischen Regierung gegenüber den Palästinenser*innen als Ursache dafür, dass weder Palästina noch Israel zur Ruhe kommen.

Der Film wurde 2012 gedreht. Und es ist an sich schon erschreckend, dass sich nicht nur nichts verbessert hat, sondern dass es im Gegenteil so vie schlimmer geworden ist, für die Menschen dort.

Zur Sprache kamen Lotty, eine Tochter und Enkelin von Holocaust-Überlebenden, ein Holocaust-Überlebender selbst, ein israelischer Soldat, die Eltern einer jungen Frau, die bei einem Selbstmordattentat getötet worden war, eine israelische Menschenrechtsaktivistin, die die Situation an den Checkpoints zwischen Palästina und Israel überwacht. Alles Israelis. Alles Menschen, die in den Medien – sowohl denen vor Ort als auch den internationalen – nie zur Wort kommen. HInzu kamen vier Palästinenser. Ali, ein ehemaliger Aktivist mit 10 Jahren Gefängnisstrafe, ein Bewohner eines von illegalen israelischen SIedlungen umringten Dorfes, ein Bauer in einem ebenfalls von illegalen Siedlungen umzingelten Zeltdörfchen, dass bereits sechs Mal von Siedlern und Militär zerstört und geduldig von den Bauern wieder aufgebaut wurde sowie ein palästinensischer Hip Hopper, der mit seinen Raps gegen den Terror ankämpft.

Mich haben in dem 90-minütigen Film folgende Momente und Aussagen besonders berührt und beeindruckt:

Die Inschrift auf einem Stein am Eingang des Dorfes: We refuse to be enemies. Wir weigern uns, Feinde zu sein.

Lottys Behauptung, dass der Krieg gegen die Palästinenser*innen einen Bürgerkrieg verhindert, weil die soziale Kluft zwischen den Menschen in Israel immer größer wird und es immer mehr Armenghettos in den Städten gibt.

Die Frage des ehemaligen Soldaten, wie es Menschen in den Sinn kommen kann, anderen ihr Land wegzunehmen.

Die Aussage von Lotty, dass das heutige israel kein religiöser Staat ist, sondern ein Land, dessen Bewohner*innen in einer Demokratie leben wollen, und dass ein demokratischer Staat keine Besatzungsmacht sein darf.

Die Behauptung des ehemaligen Soldaten, dass die „normalen“ Menschen in Israel nicht wissen, mit welch illegaler Brutalität das Militär gegen die Palästinenser vorgeht (Sorry, ich weiß, der Vergleich wird als unethish gewertet. Aber ich höre immer wieder den Satz, dass z.B. die meisten Deutschen nicht wussten, was SS und SA mit den Juden machten. DIe Unterscheidung zwischen der Verantwortung von Staat und Volk ist übrigens ein gern und vielfältig genutztes Argument).

Der Unterschied in der Landschaft beim Überqueren der Grenze vom Westjordanland nach Israel. Eben noch alles braun und verbrannt, ohne Gras, Bäume und Sträucher. Und direkt nach der Grenze blühende, grünende Vegetation. Denn Israel gräbt Palästina systematisch das Wasser ab.

Die Frage der Schüler, warum im Holocaust-Museum der Widerstand, auch der bewaffnete, gerechtfertigt und als Heldentum gefeiert wird, während Palestinenser, die sich dagegen wehren, dass ihnen ihr Land und ihre Freiheit genommen wird, als Terroristen bezeichnet werden.

Nein, ich unterstreiche die Frage so nicht. Sie vereinfacht historische Sachverhalte und relativiert entsetzliche Schuld. Schoah und Nakba sind nicht das Gleiche! Aber eine Wahrheit bleibt: Es ist der israelische Staat, nicht seine Bevölkerung, der die Palästinenser*innen seit Jahrzehnten unterdrückt, ihrer Rechte und oft auch ihrer Lebensgrundlagen wie Wasser und Arbeit beraubt, ihnen, wie nicht nur die UN, sondern sogar ein israelisches Gericht mehrfach geurteilt hat, illegal Land wegnimmt und die Siedler mit Militärgewalt beschützt.

Eine Handvoll, so scheint es, Friedensaktivisten sind der Meinung, dass der Konflikt nicht mit Waffen zu lösen ist, sondern nur durch direkte Verständigung der Menschen. Damit die Bürger*innen Israels von ihrem Staat fordern, die Palästinenser*innen mit den gleichen Rechten und Pflichten auszustatten wie sie. Weil dann, und nur dann, der Grundlage für den Terror der Boden entzogen wird: einem Leben in Armut, Demütigung und zielloser Gewalt, die oft Unschuldige trifft. Auf beiden Seiten! Terror unst unverzeihlich und nicht zu rechtfertigen. Und staatlich saktionierte Gewalt ebenso wenig.

Denn, und das ist meine Meinung: Der blutige Kampf im Nahen Osten ist weder Werk noch Wunsch der Menschen, die dort leben, allerdings bedient er die Interessen nicht nur der Israelischen Regierung und der Hamas, sondern der arabischen Welt und des Iran. Und, zumnidest früher, auch einiger westlicher Länder. WIr dürfen nicht vergessen, dass seit Beginn des 20. Jahrhunderts und dann verstärkt während und unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg Juden aus aller Welt ihre Heimat verließen und nach Palästina strömten, weil kein anderes Land sie haben wollte. Und bis heute oft nicht haben will. Antisemitismus lebt. Überall. Nur müssen wir damit aufhören, die Juden als Mitglieder einer Religionsgemeinschaft gleichzusetzen mit dem israelischen Staat, und schon gar nicht mit seiner aktuellen Regierung.

Solange die Politik die Opferkarte spielt, wird die israelische Regierung nämlich nicht zur Rechenschaft gezogen werden für die völker- und menschenrechtlichen Vergehen gegen die Palästinenser*innen. Das sage nicht ich. Das sagen die Isralis in dem Film. Einer von ihnen, ein Holocaust-Überlebender, hat deshalb der Regierung einen Brief geschrieben und dagegen protestiert, dass sein Leid für heutige politische Zwecke missbraucht wird. Der Mann war damals 84. „Egal, was wir erleben. Wir müssen und wir können verzeihen“, sagt er. Das sagen übrigens auch andere Überlebende. Das ist Größe, Das lst gelebte Religion.

Ja, es ist wichtig, dass solche Filme gezeigt und gesehen werden. Weil sie beweisen, dass Versöhnung geht und Wirklichkeit ist, überall da, wo Menschen nicht übereinander, sondern miteinander reden. „Wir hatten vor unserer Begegnung nicht gedacht, dass die anderen auch liebe freundliche Menschen sind“, sagten die Israelis und die Palästinenser im Film von einander.

Und warum geht uns das etwas an? Aus unserer christlichen Verantwortung heraus. Damit wir gegen den Reflex angehen, Politik und Religion zu verquicken. Damit wir offenen Auges und wachen Herzens Antisemitismus bekämpfen – und nicht in all den Menschen Islamisten sehen, die Israels Politik kritisieren.

Wenn Ihr an einer ausführlichen und fundierten Information über die geschichtlichen Hintergründe des Nahost-Konflikts interessiert seid, hier der Link zu einer wirklich sehr guten, absolut objektiven Sendung in der Mediathek von ZDF History: https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x-history/israel-gelobtes-land-bedrohter-staat-100.html

Und wer sich für den Film Liebe Grüße aus Nahost interessiert, hier ein paar Infos: https://www.terramedia-online.de/kino/liebe-gruesse-aus-nahost/

Der Morgen danach.


hijab

Ich gehe zur Supermarktkasse. Es ist der 25. September 2017. Der Morgen danach. Um diese Zeit sind nur wenige Einkäufer unterwegs und entsprechend nur 2 Kassen besetzt. Vor mir eine Frau mit Kinderwagen und Kleinkind. Bodenlanger schwarzer Mantel, der Kopf schwarz umhüllt. Ein seltener Anblick in meinem Viertel – genauso wie in Deutschland, denn 70% der Muslima tragen hier gar keine Kopfbedeckung. Ich bin hinter ihr, frage: „Stehen Sie an?“ „Jo“, antwortet sie mit bayrisch gefärbter Stimme. Ich gehe eine Kasse weiter. Und beobachte. Eine andere Dame kommt, sie hat nur einen Salat in der Hand. „Gehn’s doch vor“, sagt die Muslimin. „Nein danke, Sie haben zwei Kleine, ich habe mehr Zeit als sie.“ Und beide lächeln.

Ich lege meine Waren aufs Band. Schaue zur Muslimin rüber. Auch die Brille ist schwarz. Elegant, aber schwarz. Unsere Augen treffen sich. Und wir beide lachen. Kurz, aber befreit.

Und dann frage ich mich: wie mag sie sich fühlen, wenn sie den Fernseher anmacht und Gauland oder Weidel dabei zuschauen muss, wie sie die Verbannung des Islams aus Deutschland fordern? Was mag sie gedacht haben angesichts der Wahlplakate mit Werbedummheiten wie „Islam? Passt nicht zu unserer Küche“? Ihre Kinder sind hier geboren, sie lebt in diesem Viertel, geht einkaufen, spricht und lacht mit den Menschen, denen sie begegnet. Wie muss sie sich fühlen, wenn ihr plötzlich Politiker erzählen, sie gehöre nicht hierher? Wenn sie „geächtet“ und als Kulturfeind abgestempelt wird, pauschal, nicht aufgrund ihrer Haltung, die sie gar nicht kennen, sondern aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit? Von Politikern, wohlgemerkt, nicht von den Leuten, nicht von den Deutschen um sie herum. Hier in meinem Viertel ist die Bevölkerung ein buntes kulturelles und religiöses Gemisch. Was sage ich meiner türkischen Gemüsehändlerin, die mir erklärt hat, solange Erdogan an der Macht sei, würde sie keinen Fuß mehr in die Türkei setzen, denn er sei ein Rassist und Demokratiefeind?

Ich schäme mich. Fremd. Für Gauland und Weidel und für all die Menschen, die die AfD gewählt haben, weil sie Angst davor haben, mitsamt ihrer deutschen Kultur unterzugehen in einem Meer schwarzer Schleier, wogegen allein die Statistik spricht: in Deutschland leben rund 2 Millionen Muslima (bei einer Gesamtbevölkerung von rund 82,2 Millionen) maximal 300 von ihnen sind voll verschleiert, selbst ein Kopftuch tragen, wie schon geschrieben, maximal 30 Prozent.

Und kommt mir nicht mit dem Argument, Christen gehe es in islamischen Ländern genauso. Erstens stimmt das nicht unbedingt. Zweitens gibt es einen Unterschied zwischen westlichen Spezialisten die in teuren Enklaven in Saudi Arabien oder den Emiraten leben und nie mit der Gesellschaft in Berührung kommen und den hier integrierten Menschen mit Migrationshintergrund, die plötzlich Angst haben, von ihren Nachbarn geteert und gefedert zu werden. Als wären wir wieder im Mittelalter. Als hätten wir kein Zeitalter der Aufklärung durchlebt, Descartes-Rousseau-Voltaire.

Wie würde ich mich fühlen, wenn ich von meinen Mitbürgern aufgrund meiner Religion plötzlich geächtet werden würde? Wenn ich der Demokratie nicht mehr vertrauen könnte, dem Grundgesetz, das mir Menschenrechte und Religionsfreiheit gewährt, auf dem Papier.

So haben sich Juden gefühlt, nach 1933. So soll sich niemand mehr fühlen, in Deutschland. Identität lebt vom Austausch und wird dadurch erst definiert und gestärkt. Es tut mir leid um die Deutschen, die sich kulturell abgehängt fühlen. Aber ich entschuldige mich bei all denjenigen, die im Fernsehen und in der Öffentlichkeit angegriffen werden, nicht aufgrund ihrer Persönlichkeit, ihres Handels oder ihrer Meinung, sondern als Folge eines abstrus utopischen Rassenreinheitswahns.

Ich äußere mich hier nicht zu extremistischen Parteirepräsentanten. Ich spekuliere nicht über ihre langfristigen Absichten.

Ich merke, dass ich ab heute, seit dem Morgen danach, anders auf muslimische Mitbürger schauen werden. Empathischer. Aufmerksamer. Im Bewusstsein des Wertes demokratischer Freiheit.

Zum Thema Verschleierung möchte ich Euch diesen Link empfehlen mit dem Ergebnis einer Befragung unter Männern in islamischen Ländern bezüglich der Kopfbedeckung von Frauen in der öffentlichkeit. Eines vorweg: Burka oder Niqab befürworten nur 2% von ihnen.