Verlorene Träume (Auszug)
Von Sandra Halbe
Prolog
Nie hätte ich gedacht, dass dieses Lied mich so sehr bewegen würde. Hunderte, wenn nicht tausende Male habe ich es gehört, in den verschiedensten Varianten. Immer klingt es gleich. Und dann auch wieder nicht.
Als ich auf diese Version gestoßen bin, waren all die Bilder auf einmal zurück. Alles, was ich jahrelang verdrängt habe. Nicht vergessen, nein. Ich erinnere mich an jene Nacht, als wäre sie gestern gewesen, an jedes Detail. Nur wollte ich meine Erinnerungen nicht. Diese Gedanken an all das, was damals passiert ist. Also sperrte ich sie aus.
Bis ich dieses Lied hörte. Nach all den Jahren.
Die erste Zeile von »The Sound of Silence«. Worte, die ich schon so oft gehört habe. Und doch waren sie auf einmal neu.
Ein Hallo an die Dunkelheit. Die Dunkelheit, mein Freund? Ist das möglich?
Ich erinnere mich an unsere Zeit hier. Die Abende, an denen wir gefeiert, gelacht und getanzt haben. Dieser Ort bedeutete uns alles. Mein Klavier, auf dem du dieses Lied so oft gespielt hast. Die Weihnachtsdekoration darauf, die wir so liebevoll ausgesucht hatten. Obwohl wir bereits wussten, dass dies das Ende sein würde. Diese Endgültigkeit, als ich zum letzten Mal das Licht ausschaltete. Dieses Gefühl, als ich zum letzten Mal den Schlüssel im Schloss he-rumdrehte.
Es war vorbei. Für immer. Und obwohl ich es wusste, konnte ich es nicht begreifen.
Denkst du noch daran? An diesen Moment, der alles änderte?
Denkst du noch an mich?
Ich werde dafür sorgen, dass du dich wieder erinnerst.
1
Sonntag
»Wir könnten ihn da hinstellen.«
»Wo?«
»Na, da!«
»Ist er da nicht zu nah am Kamin?«
»Was interessiert mich der Kamin?«
»Wir zünden ihn momentan gerne an. Wenn du ihn so nah ran stellst, wird der Weihnachtsbaum schnell trocken. Dann wäre er nach ein paar Tagen nicht mehr zu gebrauchen und wir könnten ihn schon vor dem sechsten Januar zu Brennholz verarbeiten. Wäre doch schade, oder?« Alex sieht mich abwartend an.
»Die paar Tage hält der das schon aus. Weihnachten dauert ja nicht ewig.«
»Lassen wir ihn nicht die ganze Adventszeit stehen?«
Ich überlege. »Bei uns zu Hause wurde der Weihnachtsbaum immer am 23. Dezember aufgestellt.«
»Und bei meiner Familie am ersten Advent. Jetzt entscheiden wir, wie wir es in unserem Zuhause handhaben.« Alex zieht mich an sich.
»Ich hätte nie damit gerechnet, wie viel man entscheiden muss, wenn man zusammenzieht.« Ich schüttele den Kopf.
Ein paar Monate ist es jetzt her, dass ich zu Alex in sein kleines Haus Am Birkenstrauch in Bad Laasphe gezogen bin. Ein Haus, das schon fix und fertig eingerichtet war. Wir mussten keine Küche aussuchen, kein Bad renovieren … Okay, letzteres kommt irgendwann auf uns zu, aber zumindest momentan ist davon keine Rede. Alles in allem war der Einzug schnell erledigt. In den Wochen zuvor hatte ich den Großteil meiner Sachen bei Alex untergebracht. Eine eigene Zahnbürste und mein Shampoo im Badezimmer. Kleidung im Kleiderschrank. Hier ein Bild an der Wand, dort eine Lampe für die Kommode. Am Ende fuhr ich in die Ostpreußenstraße zu meiner Mutter und packte das, was in meinem alten Kinderzimmer noch übrig war, in einen Koffer, den ich bei Alex ein paar Straßen weiter wieder auspackte. Klingt einfach, oder?
Obwohl mein Einzug bei Alex ein mehr oder minder schleichender Prozess war, war es doch etwas anderes, als ich plötzlich meinen eigenen Schlüssel hatte und klar war: Dieses Haus ist jetzt auch meins. Irgendwie. Meiner Meinung nach gehörte ab diesem Zeitpunkt das Brot nicht mehr in den Kühlschrank, wo Alex es lagerte. Er wiederum beschwerte sich, dass ich meine Schuhe mitten im Flur liegen ließ, wo ich sie nach der morgendlichen Laufrunde auszog. Jahrelang hatte Alex sämtliche Wäsche in den Trockner geworfen, ob das Etikett auf dem Kleidungsstück das zuließ oder nicht. Wollten wir das für meine Klamotten riskieren oder ab jetzt alles zum Trocknen auf den Wäscheständer hängen? Wer bekam wie viel Platz im Arbeitszimmer, um den Papierkram zu erledigen? Und die Diskussionen, die wir darüber führten, wie die Fächer im Badezimmerschrank verteilt werden … Sagen wir: Zusammenziehen ist eine Sache. Zusammenwohnen doch eine andere.
Nun sind wir beim Weihnachtsbaum angekommen.
»Hattest du hier schon mal einen Weihnachtsbaum?«, will ich wissen.
Alex schüttelt den Kopf. »Ich hab Weihnachten entweder gearbeitet oder bei meiner Familie verbracht.«
»Und jetzt willst du direkt einen über die ganze Adventszeit aufstellen?«
Er zuckt mit den Schultern. »Ich arbeite unsere Dienstpläne für Weihnachten erst in den nächsten Tagen aus. Aber ob die dann so bleiben, werden wir sehen. Du weißt ja, dass es jederzeit einen neuen Fall geben kann. Falls wir beide Weihnachten auf dem Präsidium verbringen, haben wir wenigstens an den Abenden davor etwas von unserem Baum.«
Damit hat er nicht unrecht. Was bringt uns ein Weihnachtsbaum, der eine Woche steht, wenn wir kaum zu Hause sind oder abends, wenn es dunkel ist und wir die Lichter anzünden könnten, direkt ins Bett fallen?
»Ich finde trotzdem, dass er sich im Wohnzimmer am besten machen würde«, beharre ich. »Hier verbringen wir die meiste Zeit, wenn wir dann mal zu Hause sind. In der Küche brauche ich keinen Weihnachtsbaum.«
»Natürlich kommt der Baum ins Wohnzimmer, ich rede nicht von einem anderen Raum. Aber wir könnten über einen Standort weniger nah am Kamin nachdenken.«
Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. »Ohne die Möbel umzustellen?«
»Wir brauchen ja keinen riesigen Baum. Wie wäre es denn mit …«
In diesem Moment klingelt Alex’ Handy. Bei seinem Blick aufs Display spare ich mir jeden weiteren Kommentar zum Thema. Unsere Diskussion, wo und für wie lange wir den Weihnachtsbaum aufstellen werden, müssen wir auf später verschieben.
Das Buch gibt es überall, wo es Bücher gibt. Infos zu Sandra Halbe und ihren Büchern gibt’s auf www.sandra-halbe.de oder auf Instagram unter sandra_halbe.
2
Stünzel ist der kleinste Ort, der zu Bad Berleburg gehört. Jedes Jahr im Juni findet hier auf dem Festplatz die Kreistierschau, das Stünzelfest, statt. Dass hier an jenem Wochenende 25.000 Besucher feiern, ist jetzt, im November, nicht zu sehen, und so haben wir kein Problem, einen Parkplatz zu bekommen. Krankenwagen und Notarzt sind bereits eingetroffen. Ich notiere mir schnell die Nummernschilder der beiden übrigen Autos, die hier geparkt sind, und stolpere dann hinter Alex her, der zügig in Richtung Wald vorangeht. In den letzten Tagen hat es viel geregnet, sodass der Boden stellenweise matschig ist. Auch geschneit hat es vor ein paar Wochen schon einmal, hier und da sind noch Reste von Schnee zu sehen. Immer wieder sinken meine Füße ein, und so komme ich nur langsam voran. Ein paar Meter vor mir höre ich Alex leise fluchen. Ihm geht es offenbar nicht anders.
Endlich kommen wir auf der Lichtung an. Mein Blick fällt auf ein winziges Gebäude, das in den Wald hineingebaut ist. Die Tür steht sperrangelweit offen, auf dem Dach ist ein kleiner Holzzaun angebracht. Ein alter Rübenkeller, schießt es mir durch den Kopf. Davor stehen der Notarzt und zwei Sanitäter und winken uns zu. Ein paar Meter entfernt kniet eine Frau über etwas im Gras, das ich von hier aus nicht erkenne. Eine weitere Frau steht neben ihr, einen Terrier angeleint zu ihren Füßen. Alex geht auf den Rübenkeller zu, ich steuere die beiden Frauen an.
»Caroline König von der Polizei«, weise ich mich aus. »Können Sie mir sagen, was hier passiert ist?«
»Wiebke Schneider«, stellt die Frau mit dem Hund sich vor. »Ich bin hier mit meinem Rocky spazieren gegangen, wie jeden Sonntag. Da hinten hab ich die Frau liegen sehen. Sie hat nicht auf meine Rufe reagiert, nur leise gestöhnt. Ich wollte ihr helfen, aber ihr dummer Hund hat mich nicht zu ihr gelassen, also hab ich einen Krankenwagen gerufen.«
»Ihr Hund hätte vermutlich nicht anders reagiert«, mischt sich die Frau ein, die vorher auf dem Boden gekniet hat. Vor ihren Füßen steht eine Transportbox, in der ein zweiter Hund leise knurrt.
»Was ist mit ihm?«, frage ich.
»Ich habe ihn da hinein verfrachtet, so beruhigt er sich. Ich bin Andrea Klein vom Ordnungsamt. Die Kollegen vom Rettungsdienst haben mich gerufen, damit ich ihnen einen Weg zu der Frau verschaffe.«
»Hätte man da nicht einen Tierarzt rufen müssen, um ihm ein Beruhigungsmittel zu spritzen?«, wundert sich Wiebke Schneider.
»Nein, in solchen Fällen ist das Ordnungsamt zuständig. Ein Tierarzt kennt den Hund auch nicht zwingend und weiß nicht, auf welche Mittel er allergisch reagiert. Deswegen kommen wir mit einem langen Stock, an dem eine Schlinge befestigt ist, und verfrachten den Hund in eine Transportbox.« Sie zeigt auf die Box, aus der mittlerweile nur noch ein leises Winseln kommt. »So ist kein Medikament nötig. Hunde sind für ihren stark ausgeprägten Beschützerinstinkt bekannt. Wenn das Frauchen wehrlos am Boden liegt, kommt dieser zum Vorschein. Das ist leider nicht immer ideal, weil so auch Helfer vom Opfer ferngehalten werden.« Sie zuckt mit den Schultern. »Ich hab mir mal das Sprunggelenk gebrochen, mitten im Wald. Als ich da lag, haben Spaziergänger versucht, mir zu helfen. Keine Chance. Mein Hund hat sie nicht gelassen, obwohl ich bei Bewusstsein war und ihm immer wieder versichert habe, dass es okay ist, wenn diese Leute mir nahekommen. Erst als mein Lebensgefährte auftauchte, hat Joy sich beruhigen lassen und man kam an mich heran, um mir zu helfen. Diese Frau konnte sich nicht verständigen, sodass die Reaktion ihres Hundes nachvollziehbar ist. Ihr Hund hätte nicht anders reagiert.«
Hat die Frau während ihrer Ausführungen nur einmal Luft geholt? Ich staune. »Was passiert jetzt mit dem Hund?«, frage ich und wappne mich für den nächsten Redeschwall.
»Ich bringe ihn zum Hof Birkefehl und hinterlege den Standort bei Tasso. Das ist eine zentrale Datenbank, in der Besitzer nach vermissten Tieren suchen können. Vielleicht kommt die Frau ja wieder auf die Beine. Dann weiß sie, wo sie ihren Liebling abholen kann.«
Ich sehe in Richtung Rübenkeller. Die beiden Sanitäter und der Notarzt stehen ein paar Meter abseits, während Alex wild gestikulierend mit seinem Handy Verstärkung anfordert.
»Davon sollten wir wohl nicht ausgehen«, murmele ich.

Den Roman gibt es überall, wo es Bücher gibt. Infos zu Sandra Halbe und ihren Büchern gibt’s auf www.sandra-halbe.de oder auf Instagram unter sandra_halbe.

