Europa Unita. Hommage an meine visionäre Demenzphilosophin.

Eine Hand lässt eine Friedenstaube fliegen

„La cosa più importante è che l’Europa rimanga unita. Per la pace, per il benessere, non solo nei paesi europei, ma bensí in tutto il mondo.”

Zu Deutsch: Der wichtigste Garant für Frieden und Wohlstand ist ein geeintes Europa. Nicht nur für die einzelnen europäischen Länder, sondern für die ganze Welt.

Standardsätze meiner Mutter, im Lauf der Jahre unzählige Male wiederholt, bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten. Den Wahlen zum Europaparlament. Den Berichten über EU-Gipfel, deutsch-französische Gespräche, die Einführung des Euro, natürlich, und die EU-Erweiterung. Dabei beugte sie sich in ihrem Sessel vor, sah dich direkt an, ihre Stimme war frisch, voller Überzeugung und Überzeugungskraft. Sogar als sie schon so dement war, dass sie zuweilen ihren Namen vergaß, rezitierte sie mehrfach am Tag dieses Credo. „L’Europa deve rimanere unita.“

Ich konnte es schließlich nicht mehr hören. 

Ja, diese Frau hatte einen Weltkrieg durchlebt, der Europa unter Trümmern begraben hatte. Seine Menschen, seine Ideale. Der Phoenix, der sich aus der Asche eines Kontinents herausgeschält hatte, mochte sie begeistern.

Und ja, zurecht. Einheit in Vielfalt, geballtes Wirtschaftswunder – von Amerikas Gnaden zwar und auf Kosten einer halben Heimat hinter dem eisernen Vorhang. Aber immerhin. Wie im Zeitraffer spulten sich vor den Augen ihrer Generation historische Veränderungen ab. Politisch, gesellschaftlich, sozial. (Eigentlich waren es keine Veränderungen, sondern Wiederholungen, aber die erlebte Geschichte ist für jede Generation natürlich einmalig). Flüchtlinge aus den Ostgebieten, Gastarbeiter, Binnenmigranten. Reisen, Konsum, sozialer Aufstieg, mehr Konsum. „Geh’n Se mit der Konjunktur, geh’n Se mit auf diese Tour“, schallte die Nachkriegshymne aus Autoradios und Frankfurter Küchen über die rasant dahinschmelzenden Schuttberge. 

Und das alles war nur möglich, weil Europa zusammenwuchs. Davon war meine Mutter überzeugt. Denn sie hatte es erlebt. 

„La cosa più importante è che l’Europa rimanga unita. Per la pace, per il benessere, non solo nei paesi europei, ma bensí in tutto il mondo.”

Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs kam nicht der Frieden – „wir haben keinen Friedensvertrag“, auch so ein Standardsatz meiner Mutter -, sondern der Kalter Krieg. Statt zu verhandeln, wurde erst einmal aufgerüstet. Frei nach dem Motto: ein potentiell möglicher Angriff ist die beste Verteidigung, O-Ton meine Mutter, bewaffneten sich West und Ost mit Waffen, die einen unendlichen Overkill ermöglichten.

Derweil wurde der Waffenstillstand an den Grenzen durch Kriege im Innern gesichert., Prager Frühling, RAF, Brigate Rosse. Und dann die Friedensbewegung. Atomkraft – nein danke, Gorleben, Wackersdorf und Startbahn West. 

Während der Osten Proteste niederpanzerte, wuchs im Westen eine neue Kriegsform, der Terrorismus. Von 1970 bis 2016 haben in Europa etwa 4.280 Anschläge stattgefunden. Mit etwa 9.200 Todesopfern In den dreißig Jahren vor der Jahrtausendwende. Nordirland, Spanien, Italien –   lange vor den islamistischen Terrorkommandos hatten ethno-nationalistische Gruppen diese Kriegsform für sich adoptiert. 

Wie konnte meine Mutter da von „Frieden“ sprechen? Weil Europa zum ersten Mal so sehr geeint war. Wirtschaftlich und politisch. Trotz ihrer Demenz erkannte meine Mutter im neuen Jahrtausend die Risse. Und warnte. 

Hat Putin den Zeitpunkt für seine Aggression gegenüber der Ukraine gewählt, als die Einheit Europas zu bröckeln begann? Ist die EU zu schnell gewachsen? Oder ist sie gewachsen, ohne dass die Länder genug einende, verbindende Strukturen, Konzepte, Visionen hatten? War die Hoffnung auf wirtschaftlichen Fortschritt und Sicherheit im Schatten der Nato nicht genug? War noch zu viel Warschauer Pakt in der DNA der neuen Staaten? Fakt ist, innerhalb Europas wuchsen die Unstimmigkeiten. Arbeits- und Armutsmigration, „Flüchtlingsansturm“, neu aufkeimender Rassismus, Grenzschließungen, Erstarken des Ethno-Nationalismus. Letzteres keineswegs nur in der Ost-EU, sondern ebenso in Frankreich, Italien, Deutschland etc. Brexit und Covid-19 schließlich versetzten Europa einen Stoß, der die Einheit in gefährliche Schieflage brachte. 

Das ist der ideale Moment, um damit zu beginnen, mit den Demokratiebestrebungen im Umfeld Russlands dauerhaft aufzuräumen. Denn Putin will vielleicht einen breiteren Zugang zum Schwarzen Meer, aber er will vor allem nicht von aufkeimenden Demokratien umgeben sein. Deshalb wird er seinen Feldzug nicht stoppen wollen. Er hat mit wachsendem Widerstand in seinem Land zu kämpfen. Er hat den Kontakt zur Jugend weitgehend verloren. Und zu vielen Bevölkerungsschichten ebenfalls. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist immens. Die Armen glauben der Regierung nicht. Sie lassen sich nicht impfen (Impfquote bei ca. 25%), weil sie vermuten, der Impfstoff sei vergiftet. Sie misstrauen sogar russischem Wodka, aus demselben Grund. Ein Heer von Arbeitsmigranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken haust unter unmenschlichen Bedingungen im Land, ausgebeutet und verachtet, Parias der Gesellschaft. Die Zahl der Straßenkinder wächst. Sie fliehen vor Missbrauch, Schlägen, unzumutbaren Wohnverhältnissen – oft 3 Generationen in einem Zimmer, alkoholisierte Eltern – auf die Straßen, nehmen Drogen, prostituieren sich, verkaufen ihre Organe. Nein, das ist keine Übertreibung. Leider. 

Wir fragen uns: was hat Putin davon, der Mächtigste in einem Land der Machtlosen, der Hoffnungslosen zu sein? Ich habe keine Antwort darauf. Außer, dass er ein Mensch mit einer großen psychischen Verletzung ist, der sich „vom Westen“ missachtet fühlt und um sich schlägt, einfach, weil er es kann. Nur, dass seine Schläge tödlich sind. Für die Menschen in der Ukraine, für seine Soldaten, und, sollte er seine Waffen ändern, für weite Teile der Welt. 

Wir fragen uns: wie kann man diesen Wahnsinnigen stoppen? 

Ich habe keine Antwort darauf. Aber ich höre meine Mutter: „La cosa più importante è che l’Europa rimanga unita. Per la pace, per il benessere, non solo nei paesi europei, ma bensí in tutto il mondo.” Vielleicht ist das der Ansatz einer Antwort. Wenn nicht nur Europa, sondern weite Teile der Welt zusammenstehen, schrumpfen Kleptokraten wie Putin auf ein Maß, das bekämpft oder einfach unschädlich gemacht werden kann.

Dass China sich im UN-Sicherheitsrat bei der Resolution enthalten hat, ist meines Erachtens ein Zeichen dafür, dass die so genannte Volksrepublik nicht um jeden Preis hinter Putin steht. Einmal, weil sie in ihrer Nähe keinen – weiteren – Diktator braucht. Zum anderen aber, weil sie auf einen finanzstarken Westen angewiesen ist, denn Chinas Waffe ist der Handel. 

Ja – es stimmt. Im Grunde genommen hat die Aufregung, in die die Menschen in Europa sich seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine versetzt haben, durchaus eine zynische, sogar makabere Note. Denn die Welt brennt in vielen Teilen. Und fast täglich werden UN-Konventionen verletzt. Sterben Menschen. Fliehen, werden verfolgt. Oft haben „wir“ an den Ursachen einen Anteil. Der Balkankrieg wurde lange vom Westen nicht wahrgenommen. Was im Nahen Osten passiert, wird kommentiert, was sich in Afrika tut, erreicht oft nur die Randnotizen der Nachrichten. 

Nun hat der Krieg unsere Haustür erreicht. Gut, das wir aufwachen. Besser wäre es, wenn daraus Konsequenzen gezogen würden, und zwar das gesamte politische und wirtschaftliche Handeln. Krieg ist immer schrecklich, egal, wo er stattfindet. 

Das war es, was mich an der Äußerung meiner Mutter so störte. Dieses Betonen der EU. Aber – sie hatte Recht. Denn ein gerechtes, geeintes Europa sollte ein Zeichen sein und Zeichen setzen für eine gerechte Welt. 

Ein anderer Lieblingssatz meiner Mutter war: Change it, leave it or love it. Also, Mum: I had a dream. I have a dream. Let’s dream it all. Let it get real.

Adventskalender-MiniKrimi am 11. Dezember


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Wehret den Anfängen

„Wie konnte es nur so weit kommen?“ Ernest steht auf dem schneebedeckten Hügel, kaum mehr als eine Armlänge von dem Jungen entfernt. Dunkelheit umhüllt ihn, aber der Junge würde ihn nicht sehen, auch, wenn er direkt neben ihm stünde.

Er hat einen schwarzen Umhang um seine mageren Schultern gehängt, dicht an dicht mit Rabenfedern benäht. Wo er die her hat? Sein rußgeschwärztes Gesicht ist von einer grellroten Maske verdeckt. Seine Füße und Arme sind mit Lederfetzen umwickelt. Kerzengrade reckt er sich in die Winternacht. Sterne am Himmel, ausgestreut wie Diamanten auf einem Tuch. Welche Verschwendung. Die Menschen am Fuß des Hügels haben keinen Blick für die Mittwinterschönheit. Lachend und johlend drängen sie sich um den mannshohen Scheiterhaufen, seine Flammen vertreiben Dunkelheit und Kälte. Bierflaschen klirren, Zigaretten glimmen. Immer wieder stimmt jemand ein Lied an und bricht ab, als niemand mit einstimmt.

Fast kann Ernest den Jungen verstehen. Er war genauso, früher. Voller Verachtung für alles, was auf der Oberfläche des Lebens dahintrieb, ohne jemals zu versuchen, dessen Tiefen auszuloten. Ja, er kennt das Gefühl. Aber er hat sich von ihm doch nie beherrschen lassen, und nie hat er so auf einem Hügel gestanden, ein wütender Rächer ohne Aufgabe.

Jetzt hebt er die Arme, in einer Hand hält er den Bogen, in der anderen den Pfeil. Er legt an, nimmt Witterung auf, ein wildes Tier auf seinem Beutezug. Die Knie fest, nicht durchgedrückt. Der Oberkörper gerade und leicht nach vorne geneigt.  Der Bogenarm durchgedrückt und eingedreht, die Hand um 90° geneigt.

Ernest kann es nicht fassen. Der Junge vor ihm zielt auf die feiernden Menschen dort unten. Auf die Winterwendtänzer am Feuer. Zu seinen Füßen liegen über ein Dutzend Pfeile. Er hat diesen stummen Amoklauf lange geplant.

„Nein!“ ruft Ernest und will auf den Jungen zuspringen. Seinen Arm runterreißen, Den Bogen zerbrechen. Aber er ist angewachsen auf dieser nächtlichen Wiese. Und seine Schreie sind stumm. Und so muss er zusehen, wie dieser Junge, sein Sohn, unschuldige Menschen tötet. Aus Wut? Oder aus Verzweiflung. Ganz sicher aber, weil er, Ernest, als Vater versagt hatte. Ich habe Dich nie gewollt! Ich wusste genau, dass aus Dir nur genau das werden konnte, was Du jetzt bist. Ein…. MÖRDER.

„Ich bin der Vater eines Mörders! NEIN! NEIN! Das darf nicht sein!“ Endlich lösen sich die Schreie aus seiner Brust. Er wirft sich nach vorne.

Und landet auf dem Fußboden. „Sag mal spinnst Du?“ Vera liegt bäuchlings auf dem Bett, funkelt ihn wütend an. „Was tust Du da unten? Du hast wohl keine Lust, mit mir zu schlafen?“ Ich will einen Mörder aufhalten, denkt Ernest. Und die todsichere Methode ist, die Kondome aus der Hosentasche zu holen. Damit es garantiert nie so weit kommt!

 

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