MiniKrimi Adventskalender am 6. Dezember

Comic einer alten Dame neben einem großen Panettone

Mit ihrem Krimi -Auszug entführt uns Luzi van Gisteren nach Italien und praktisch ins Herz der „dolce“ und der „mala“ vita. Viel Spaß beim Lesen!

Madame Panettone

Weihnachten mit der Famiglia ohne die italienische Patronin an der Festtafel? „Auf keinen Fall!“, findet Bella und reist ihrer temperamentvollen Schwiegermutter postwendend nach Montegrotto hinterher. In diesem gediegenen Thermalort möchte Super-Nonna offensichtlich dem Weihnachtstrubel in Saarlouis entgehen, dabei ist in der Pizzeria Roma doch gerade zu Weihnachten so viel zu tun! 

Zwischen den geheimnisvollen Quellen der euganeischen Hügeln, venezianischen Gondolieren und eidottergelben Weihnachtskuchen aus der Gefängnisbäckerei Paduas sucht die Deutsche nach Nonna Carmelina, doch leider fehlt von dieser auch nach Tagen noch jede Spur…

Ein weiteres turbulentes „Natale Fatale“ mit der Super-Nonna.

Die Gefängnisbäckerei lag etwas außerhalb des Centro von Padua. Das Taxi vom Bahnhof brachte mich in wenigen Minuten direkt vor die Patisserie, die sich als großzügige, moderne Manufaktur entpuppte: Ein transparenter Genuss-Tempel. Ich war enttäuscht, da ich eine Horde grobschlächtiger, verschwitzter Bäcker am Rand des Hochsicherheitstrakts erwartet hatte. Insgeheim hatte ich mir ausgemalt, wie ich den handgemachten Weihnachtskuchen aus Mörderhand überreicht bekommen würde. Meine Gefühle schwankten nach wie vor zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Vielleicht brauchte ich einfach eine gehörige Portion Adrenalin, um mein Gefühlschaos wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Wie auch immer – in Padua würde ich den erhofften Adrenalinkick jedenfalls nicht bekommen: Die Angestellten hinter dem Verkaufstresen entpuppten sich als blass und unauffällig und auch sonst ging es in dem geschmackvoll eingerichteten Café eher gediegen zu: Viel Glas, viel Licht, wenig Pompom. Wenn man allerdings einen Blick auf die Tresen warf, liefen einem förmlich die Augen über: Der Tresen bog sich förmlich unter der zentnerschweren Patisserie: Hier warteten feinste Mandelhörnchen, Törtchen mit Himbeerdeko und solche mit Schokoguss, bis ins feinste Detail verzierte Macarons, himmlische Originale aus der Orangen-und Ananas-Confisserie, puderbezuckerte Pralinés und diverse Zimtvariationen auf hungrige Mäuler – so wie meines. Ich konnte mich kaum sattsehen. Und dann stieß ich endlich auf den eigentlichen Grund meiner Reise: Nämlich auf das Regal mit den berühmt berüchtigten Panettoni aus der eigentlichen Gefängnisbäckerei, von welchen der Papst angeblich alljährlich 200 Stück für den Vatikan bestellte. 

Die Gefängniskuchen steckten allesamt in edlen Kartons und wiesen das Siegel auf „Hergestellt in der Gefängnisbäckerei von Padua“. Sie sahen ganz und gar nicht nach gebacken aus Knastbrüderhand aus. Ich kaufte trotzdem drei davon – einen für Nonna, einen für mich und einen auf Reserve. Ich überlegte, noch mehr zu nehmen, um beispielsweise auch Köchin Elena oder Pizzabäcker Patrice zu bescheren, doch ich hatte keinen Platz. Ich war gezwungen, mit leichtem Gepäck zu reisen. Es war besser so – die Bürde mit einer impulsiven italienischen Schwiegermutter, die mich bis aufs Äußerste reizte, war groß genug im Leben. 

Ich hatte in Venedig zwar ausgiebig gefrühstückt, doch nun gönnte ich mir eine Auswahl an Patisserie und bestellte mir einen Cappuccino. Es schmeckte alles ganz ausgezeichnet. Auf dem Corso Milano, vor dem das Café lag, herrschte geschäftiges Treiben. Immer wieder kamen Besucher herein, die sich hinter beschlagenen Brillengläsern einen Espresso an der Bar bestellten und sich tonnenweise Gebäck und Kuchen einpacken ließen. 

Ein untersetzter Mittsechziger mit Rauschebart gesellte sich zu mir. Obwohl es um uns herum noch genug freie Plätze gab, fragte er, ob er sich an meinen Tisch setzen könnte. Ich traute mich nicht, „Nein“ zu sagen, schwieg aber betont und starrte an die Wand gegenüber, während ich die Kuchen in mich hineinstopfte.

„Sie mögen wohl sehr gerne Süßes?“, fragte der Italiener und musterte mich interessiert.

Ich bejahte artig und versuchte es tunlich zu vermeiden, fortlaufend auf die dicken Löcher in seinem braunen Strickpulli zu starren, dessen Blütezeit, so wie sein Träger, längst verstrichen war. Eine Konversation bei Tisch war nicht abzuwenden. Der Strickpulli-Rauschebart stellte sich als Journalist eines Kulturmagazins vor. „Es ist in Italien ja einiges berichtet worden über die Pasticceria dal Carcere di Padova, wissen Sie“, fachsimpelte er und berichtete, dass jeder Häftling eine ganz bestimmte Rolle hätte, wenn es um die Herstellung von Panettoni, Grissini, Kekse und Kuchen ginge. „Wussten Sie, dass jedes Jahr 25 Häftlinge zu Konditoren ausgebildet werden?“

Ich schüttelte den Kopf und stieß ein unverständliches „Grmpffff“ heraus, da ich mir soeben das letzte Mandelplätzchen einverleibt hatte. 

„Und Sie sind aus rein kulinarischen Gründen hergekommen?“, fragte der Vielredner und bot an, an der Theke noch etwas Nachschub in Form von weiteren Patisserie-Stückchen zu besorgen. Ich winkte dankend ab, da mir Zucker und Sahne bereits aufstießen. 

„Wissen Sie – mich interessieren die Geschichten, die unter der Kuchenkuppel mit dem braun-goldenen Papierrand stecken“, fuhr der Journalist fort. „Certo – die Gefangenen werden für ihren luftigen Weinsauerteig jedes Jahr im Dezember geadelt, der Gefängniskuchen schafft es in die Bestenlisten. Aber was ist mit den Schicksalen dahinter, was mit den Familien der Insassen? Und was ist mit der Ehefrau die nun allein ist, weil ihr Mann seinen besten Freund erschlagen hat? Denken Sie dieser teure Pannettone spendet dieser einsamen Ehefrauen und Müttern Trost auf dem Gaumen? Sie wissen ja nicht mal, ob sie sie irgendwann nochmal außerhalb der Besuchszeiten wiedersehen? Sie wissen ja nicht einmal, wie sie die Geschenke für ihre Kinder bezahlen können, verstehen Sie?“

Ich nickte! Es gab schwere Schicksale – doch meines war auch nicht leicht. Ich blickte auf die Uhr und stellte mit Erschrecken fest, dass es längst Mittag durch war. Ich musste auf nach Montegrotto – Federicos Worte, die Nonna zu Weihnachten nach Hause zu bringen, hallten in meinem Ohr nach. 

„Sie müssen schon gehen?“, fragte der Journalist enttäuscht, als ich meinen Mantel von der Garderobe neben dem dezent geschmückten Tannenbaum holte. 

Ich bejahte und erklärte, dass gleich mein Zug nach Montegrotto fahren würde.

„Ach, Sie reisen nach Montegrotto?“, fragte der Vollbart, der mit seinem kugelrunden Gesicht auch als Weihnachtsmann hätte durchgehen können, wäre da nicht diese gewisse dunkle Aura in seiner Gegenwart gewesen. „Haben Sie Familie in Montegrotto?“

Die Neugier des Journalisten stieß mir fast mehr auf, als das Himbeertörtchen Doppelrahmstufe. Im Nachhinein weiß nicht, welcher Gaul mich geritten hat, meine Schwiegermutter und ihren Namen im Zusammenhang mit Montegrotto zu erwähnen – doch irgendwie war es mir rausgerutscht und sogleich biss ich mir auf die Zunge.

Der Reporter jedoch hatte Blut geleckt: „Carmelina Poletti? Ihre Schwiegermutter? Dieser Name…dieser Name…der sagt mir was. Stand Ihre Schwiegermutter vor ein paar Jahren nicht in Zusammenhang mit einem Mafia-Mord oder so?“ Der Vielredner redete sich um Kopf und Kragen.

Meine Schwiegermutter war keine Unbekannte – sie war nicht nur in einen Mafiamord südlich von Neapel, verstrickt, sondern ihr Name wurde in Kennerkreisen auch im Zusammenhang mit einer verschwundenen Schülerin in Verona und einer im toskanischen Weinfass ertrunkenen Schweizer Uhrenbaronessa erwähnt. Nonna besaß ein kriminelles Gen – aber das musste ich dem Reporter ja nicht auf die Nase binden.

Luzi van Gisteren (Bildquelle: privat)

Inklusive Original Nonna-Rezepten und weiteren italienischen Erzählungen aus der humorvollen Feder von Luzi van Gisteren.

www.autorin-luzi.de

Das Buch ist erhältlich bei

https://www.epubli.com/shop/madame-panettone-9783756534654#vorschau

Die Zeit vergeht schneller. als ich ihr folgen kann….



Die Frankfurter Buchmesse war TOLL. Es war wunderschön, so viele liebe Kolleginnen und Mörderische Schwestern zu treffen.

Das Gastland Italien hat mich mit seinem Auftritt begeistert. Nein, nicht (oder nicht nur), weil das meine emotionale Heimat ist, also mein „Vaterland“ im Wortsinn. Es war ein eindrucksvoller, Herz und Sinne ansprechender Mix dessen, was Italien und seine Kultur ausmacht. Schade nur, dass Meloni linken Autor*innen den Aufritt dort verweigert hat. Nie wieder Faschismus, das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für Italien! Ich werde mich, wenn ich dort wohne, ganz sicher für den antifaschistischen „Kampf“ engagieren. Friedlich, selbstverständlich.

Ja – und dann war da die Notte Criminale im Café Wacker. Sehr schön, sehr spannend, mit kriminell guter Musik – von Mimi bis zu Macki Messer und dem Kriminal Tango. Danke Michael Klimo (Trompete) und Pit Gerten (Keyboard).

Ich habe dort meine neueste Episode der Agentur zweites Glück vorgestellt; Bella und ihr Gespür für Leichen. Was soll ich sagen? Kam gut an 🙂

Toll waren auch die Lesungen meiner Mörderischen Schwestern Franziska Franke, Monja Luz, Andrea Maluga und Cornelia Mohrmann. Sie entführten das Publikum ins England Sherlock Holmes‘, in Casanovas Venedig – komplett mit Kleid und Perücke!, auf die düstere Seite von Mainz und in die mafiöse Umgebung eines Italienischkurses bei der Berliner VHS.

Es war MEGA.

Und dann hatte und habe ich noch andere Highlights. Der zweite Arche Noah Gottesdienst in der Magdalenenkirche war so schön. Mit Hunden und Menschen und swingender Musik von Raphaela Ulrich und Vera v. Schumann.

Manchmal bedauere ich schon, dass ich nächstes Jahr nicht mehr „einfach so“ Events in München und Deutschland planen kann. Aber ich komme immer mal wieder. Für einen Auftritt allema!.

Heute habe ich noch etwas ganz besonderes vor: ich lese im Seniorenclub der Diakonie Moosach vor krimibegeisterten Menschen, die beinahe mein Alter haben. Tja, let’s face it 🙂

Ich freue mich riesig darauf, habe Emma Peel und John Steed im Gepäck – und werde euch berichten.

Und dann… ja dann ist auch schon bald wieder Advent. Und damit wird sich hoffentlich jeden Tag ein MiniKrimi-Türchen öffnen. Nur hier und nur auf mariebastide.blog.

Ach ja: noch etwas gibt es zu berichten. Ich schreibe ja auch Haikus. Und einer davon, der „Tauferer Advent“ wird auf eine Glasstelle geätzt und wird den ganzen Advent über erleuchtet den Marktplatz von Mais im Vinschgau verschönern, zusammen mit 23 anderen Adventstexten übers Licht. Fotos folgen!

Stay tuned.

Täglich was aufs Auge gibt’s bei semisappho auf Instagram. Come in and join!

Adventskalender Minikrimi am 13. Dezember


Foto: Free-Photos

Freitag, der Dreizehnte

Heute versuche ich mich an einer Variation zum gestrigen Thema der Vorlese-Oma. Wie findet Ihr die Idee, verschiedene Autorinnen über das gleiche Sujet schreiben zu lassen? Viel Spaß beim Lesen… ach ja, und Kommissar Schaller ermittelt in der TV-Serie „München Mord“. Mein Geheimtipp….

Rund 50 Weihnachtsmärkte gab es in der Stadt. Aber der verhältnismäßig kleine „Adventszauber“  war längst kein Geheimtipp mehr und erfreute sich jedes Jahr wachsender Beliebtheit. Das lag sicher an den mit großer Liebe dekorierten Hütten und den vielen Details, die die Besucher in ein winterliches Bergdorf in Après-Ski-Stimmung versetzten: mit Kunstschnee verzierte Holzdächer, mit roten, grünen und goldenen Kugeln und Lichtern beladene Schlitten, aufgestellte Skier und natürlich ein riesengroßer Schneemann. Dazu ein buntes Programm von besinnlichen Adventschören bis hin zu zünftigem Alpenrock.

Die Hauptattraktion war jedoch bereits seit einigen Jahren der Auftritt der Vorlese-Oma. An sich ein diskriminierender Name, aber Hedwig von Stetten hatte nichts dagegen einzuwenden, dass sie auf Plakaten im ganzen Stadtgebiet so angekündigt wurde. Sie hatte bis weit über das Pensionsalter hinaus eine bedeutende Mädchenoberschule mit Internat geleitet. Wenn sie die einstigen Schülerinnen als ihre „Töchter“ betrachtete, war sie heute mehr als hundertfache Oma – und sicher auch bereits Ur-Oma. 

Als Lehrerin und Direktorin war von Stetten kühl, unnahbar, manche mochten sagen, hart erschienen. Als Vorlese-Oma entwickelte sie einen ganz eigenen Charme, der kleine und große Zuhörer und Zuhörerinnen verzauberte. Sie las nicht nur, sie lebte die Geschichten. Ihre Gesichtszüge veränderten sich, sie war in einem Moment das schüchterne Rotkäppchen, im nächsten die gebrechliche Großmutter und dann der furchteinflößende Wolf. Aber auch wenn  ein Kind zuweilen sein Gesicht im Pullover der Mutter verbarg und sogar Erwachsene erschrocken zusammenzuckten – die Vorlese-Oma war so beliebt, dass die Leute vor der Lesehütte Schlange standen, lange, bevor es losgehen sollte.

So auch an diesem 13. Dezember. Einem Freitag. Hedwig von Stetten war in keiner Weise abergläubisch. Wäre sie es gewesen, hätte sie vielleicht auf dem vom nächtlichen Blitzeis noch gefrorenen Boden mehr Vorsicht walten lassen, wäre nicht ausgerutscht und hätte sich auch nicht den Knöchel gebrochen. Sie hätte  – pflichtbewusst wie sie war – nicht aus dem übervollen Notaufnahme-Wartebereich des Krankenhauses ihre Freundin Senta Möbius angerufen – und Senta hätte demzufolge auch nicht an ihrer Stelle in dem roten Ohrensessel am künstlichen Hüttenkamin gesessen. Hätte, hätte, hätte.

Stattdessen fand sich die zuverlässige Senta um 15 Uhr in der Lesehütte ein, erklärte ihre Anwesenheit und nahm den Veranstaltern jeden etwaigen Zweifel an ihrer Qualifikation als Lese-Oma-Ersatz, in dem sie ihnen erklärte, dass sie von Beruf Sprecherin war und bereits unzählige Hörbücher aufgenommen hatte.

Sie setze sich probeweise in den Ohrensessel und bemerkte, dass dieser nur von einer üppigen Lichterkette beleuchtet wurde, die sich schlangengleich um einen Christbaum im Eck der Hütte wand. Ihre Bitten um „mehr Licht“ verhallten allerdings ungehört. Hätte sie ihre Bitte mit mehr Nachdruck geäußert, hätte der junge Mann an der Bar oder der Veranstalter ihr eine Lampe zur Seite gestellt und wäre ihr Gesicht deshalb nicht so im Schatten gewesen…… hätte, hätte, hätte.

So nahmen die Dinge an jenem 13. Dezember ungehindert ihren fatalen Lauf. 

Senta hatte zur größten Freude ihrer Zuhörerschaft nach Andersens Märchen vom Christbaum gerade damit begonnen, aus der „Schneekönigin“ zu lesen, als ein leises aber deutliches Sirren die Stille zerriss. Senta spürte nur einen Stich im Herzen, dann war sie tot. In dem allgemeinen Durcheinander entkam der Blasrohschütze – oder war es eine Schützin?

Die umgehend eingeleiteten polizeilichen Ermittlungen gingen zunächst nur schleppend voran. Bis der Fall – wohl aufgrund seiner offenbaren Aussichtslosigkeit – Kommissar Schaller und seinem Team übertragen wurde. Wie nicht anders zu erwarten, kam Schaller mit seinen unkonventionellen Ermittlungsmethoden zu einer für die Öffentlichkeit überraschenden aber dennoch richtigen Lösung. Um den Minikrimi nicht über Mitternacht hinaus auszudehnen, sei hier nur das Ergebnis notiert:

Senta Möbius war am falschen Tag am falschen Ort, bzw. in der falschen Rolle gewesen. Eine frühere Schülerin des von Hedwig von Stetten geleiteten Internats hatte die Veranstaltungs-Plakate gesehen. Das Porträt ihrer Peinigerin, die jahrzehntelang der Misshandlung unzähliger Schülerinnen in Form von physischer und psychischer Gewalt Vorschub geleistet hatte, hatte ihre aufgestaute Wut entfesselt. Das Blasrohr gehörte ihr – Blasrohrschießen ist in bayerischen Schützenvereinen ein durchaus gängiger Sport. Die in langen Jahren verblasste Erinnerung und das schlechte Licht hatten dazu gefürt, dass die Täterin Senta für Hedwig gehalten hatte.

Zwei Opfer, zwei Täterinnen. Aber nur eine kam vor Gericht. Die andere war indes ins Ausland entkommen.

Joyeux Anno New


Weltuntergangsgedanken haben Menschen vielleicht schon immer bewegt, an der Schwelle zu einem neuen Jahr. Gefolgt von Katerstimmung am nächsten Morgen. Wie unnötig. Wie unsinnig. Wie vermessen. Unsere Zeit ist von uns Menschen geschaffen. Nicht einmal auf diesem so begrenzten Erdenrund verfügen wir über eine einheitliche Messung und Bestimmung von dem, was uns mal zwischen den Fingern zerrinnt und mal wie Blei das Atmen erschwert.

Vielleicht existiert „Zeit“ in einer anderen Galaxie, von anderen Wesen anders gemessen. Ich finde die Erkenntnis, dass es sich hierbei um eine menschliche Illusion handelt, bzw. um ein Instrument, um die Handlungsabläufe unseres Lebens zu koordinieren, gerade an Tagen und Abenden wie diesem sehr beruhigend. Was meint Ihr?

Zelebriert die Illusion also ganz, wie Ihr es möchtet, begeht den fiktiven Übergang im Fluss einer Utopie so, wie es Euch am angenehmsten ist. Feiert und tanzt, esst und trinkt, schlaft und träumt. Wenn möglich allerdings ohne Feuerwerk und Knallkörper, denn die schaden der gesamten nicht-menschlichen Umwelt, das ist vermessen, unsinnig und unnötig…..

Panta rhei. Morgen ist heute ist gestern.

Wir lesen uns.

A propos lesen: manche Texte sind auch 10, fast 11 Jahre nach ihrem Erscheinen noch interessant. Wie dieser hier:

https://www.focus.de/wissen/bild-der-wissenschaft/tid-8332/physik_aid_229939.html

 

Auge um Zahn


Ich weiß nicht, wann sie aufgehört hat, in mir, die Angst vor meiner Mutter. Ebenso wenig weiß ich, worin diese Angst bestanden hat oder wovor ich mich gefürchtet habe. Als Kind, als Jugendliche, als Erwachsene, noch. Vor ihrer Macht. Über mich. Und meiner Ohnmacht. „Deine Mutter war immer für dich da, du Glückliche“, sagte mir kürzlich ein Freund mit dem bitteren Unterton des verlassenen Kindes. Ja, meine Mutter war für mich da. Zog meine Puppen für mich an und setzte sie an den Esstisch, wo sie mich nach der Schule erwarteten. Kaufte mir schöne und praktische Kleidung. Gab mir zu essen und zu lesen, fuhr mich zum Ballet und meldete mich im Tennisclub an. Als ich sie um einen selbstgesrickten Pullover bat, immer wieder, schenkte sie mir einen handgestrickten, für sehr viel Geld bei einer Künstlerin erworbenen. Am Samstagmorgenfrühstückstisch diskutierte sie mit mir über die Probleme der großen Welt. Politik und Kunst. Sie wachte über meinen Intellekt und schärfte meine Argumentation. Ja. Ich war immer satt und sauber. Rundherum.

Wie es ihr ging, ohne den Menschen, der ihre Welt bedeutet hatte, meinen Vater. Wie sie zurechtkam, so als Witwe, in der Männerlebenswelt, unter verheirateten Freunden, außen noch jung, aber mit einem versteinerten Herzen. Darüber sprach sie nicht. Und ich glaube nicht, dass ich zu fragen wagte. Wie es mir ging, so vaterseelenallein in einem kaltfeindlichen Dorf, ausgesperrt von Parties, Cliquen, Kino. Wie ich die weißen Stunden ertrug, in einer Wohnung ohne Echo, in der kein Pullover ankam gegen meinen Frost. Darüber sprach ich nicht. Ich log mich durch unsere Tage.

Wenn ich nachmittags nach Hause komme, steht sie da, mit einem Rechen in der Hand, und hat den ganzen Tag gekehrt. Sagt sie. Ich will in die Küche gehen, einen Kaffee kochen, Toast und Joghurt, Milch, und ihr das alles auf den Esstisch stellen, oder vor den Fernseher. Will ihre Kleidung waschen und die Schuhe putzen.

Nein. Auch, wenn es nicht das ist, was ich als erstes fühle: ich werde zu ihr gehen, lächelnd und mit einem Kuss im Sinn. Und sie in ein Gespräch verwickeln. Fragen, was sie denkt und fühlt gerade. Ich werde es versuchen.

Vielleicht nicht heute. Aber morgen.

Frau ohne Gefühle IV


„Liebe, sehr verehrte Frau von Kühl, ich muss Ihnen schreiben, weil ich gerade Ihren Roman Schneckenhaut gelesen habe. Ich bin ganz ehrlich – noch nie zuvor habe ich ein Buch so sehr mit allen Sinnen, ja, verschlungen. Es lässt mich nicht mehr los. Es verfolgt mich in meinen Träumen. Nachts wache ich auf und trage den Geschmack Ihrer Worte auf der Zungenspitze. Ach was, das schreibt Ihnen sicher jeder zweite Verehrer. Aber ich, ich schmecke nicht nur Ihre Sätze, ich koste ihren geheimen Hintersinn. Ich weiß, was sie nicht geschrieben haben. Ich kenne den dunkelsten Ursprung jeder Silbe, die Sie verschwiegen haben. Ich muss Sie  – nein, nicht kennenlernen. Ich weiß bereits, wer Sie sind. Aber Sie. Sie müssen mich treffen. Haben Sie Geduld. Auch, wenn es Ihnen schwer fällt. Ich werde Sie zu finden wissen. Im geeigneten Moment. Warten Sie. Auf mich.“

Marisa C. – nachdem sie das erste Mal die Bestsellerliste im Spiegel angeführt hatte, ersetzte sie den Rest ihres Nachnamens durch einen schlichten Punkt – kräuselte die Stirn. Sie bekam im Durchschnitt zehn Leserbriefe pro Tag. Drei wollten ihr Buch signiert haben, vier wollten mit ihr Kaffee trinken, einer wollte sie ermorden – aus Eifersucht. Und zwei wollten ihre genaue Adresse, um ihr eine Torte oder einen selbstgehäkelten, mit Arsen getränkten Pullover zu schicken. Oder so. Sie zerknüllte das blassblaue Papier, hob träge die Hand und zielte mit spitzen Fingern auf den Papierkorb. Aber dann hielt sie ihre Bewegung an. Wie in Zeitlupe zog sie den ausgestreckten Arm wieder an. Ließ das Papierbällchen in ihren Schoß fallen. Und schloss die Augen.

„Ich muss nachdenken. Ich muss……“ Etwas in diesem Brief machte ihr Angst. Sie fühlte es. Sie wusste es. Aber es gelang ihr nicht, es zu benennen. Noch nicht. „Ich muss nachdenken….“