MiniKrimi Adventskalender am 5. Dezember


TOD MIT TIEFGANG (Auszug)

von Joyce Summer

Prolog

Der alte Löwe streckte seine Glieder und sprang. Das kalte Wasser umhüllte seinen Körper und ein belebendes Prickeln durchströmte Arme und Beine. Als er auftauchte, schüttelte er die Wassertropfen aus seiner Mähne und atmete tief die salzige, nach Algen riechende Luft ein.

Fast wie im Herbst zu Hause, dachte der Mann. Nur ist die Ostsee wärmer als der Atlantik im Schatten des Tafelberges.

Er rückte seine Schwimmbrille zurecht und setzte zum Freistil an.

Mal sehen, wie viele Bahnen ich heute schaffe. Achte auf deine Wasserlage, die Phasen des Armzuges und die Rotation des Körpers, zitierte er seinen alten Schwimmtrainer bei der Marine und begann das Morgentraining.

Sein Körper glitt mühelos durch das Wasser. Für einen alten Mann wie mich gar nicht schlecht. Gleich bin ich am Anschlagbrett.

Die nächsten langen Züge. Er schaute kurz nach vorne, um sich zu orientieren. Dann atmen nach links. Als er den rechten Arm ins Wasser tauchte, fühlte es sich an, als ob er seine Hand in Watte steckte. Hmm, heute scheint mir die Kälte doch etwas mehr zuzusetzen als erwartet. Ein Krampf zog sich durch seinen linken Fuß und kroch langsam die Wade hoch. Sofort reduzierte er seinen Beinschlag, um die beanspruchten Beinmuskeln zu entlasten. Seine Schläfen begannen zu pochen und sein Kopf fühlte sich an, als steckte er in einem überdimensionalen Schraubstock, der langsam immer fester gezogen wurde. Die verfluchte Kälte! Plötzlich war das Schwimmen kein Spaß mehr. Jeder Zug wurde zum Kampf. Aber Aufgeben kam nicht infrage. Was würde der Löwe tun? Das Vorgehen anpassen und sich dem Kampf stellen. Wieder hob er leicht den Kopf, um sich zu orientieren. Das Anschlagbrett war kaum nähergekommen.

Was ist nur mit mir los?, fragte er sich, während sein rechter Ellbogen aus dem Wasser auftauchte. Er drehte den Kopf nach rechts, um Luft zu holen, und öffnete den Mund. Tausend Nadeln stachen in seine Brust. Kein angenehmes Prickeln wie beim Eintauchen in das kalte Wasser, sondern purer Schmerz. Anstatt belebender Luft schluckte er salziges Ostseewasser. Aus seinem Magen suchte der Frühstückskaffee mit einem sauren, beißenden Geschmack seinen Weg nach oben. Er stoppte und versuchte sich umzudrehen, zurück zum Steg zu schwimmen, zu den Menschen, die dort gerade ihre Utensilien auf der Plattform aufbauten. Das klare morgendliche Blau des Himmels und des Wassers verschwammen zu einem dumpfen Gelb‑Grün. Als wäre er in einem alten Farbfilm gelandet, dessen Farben durch das Alter verblasst und verändert waren. Seine Glieder wurden schwer und zogen ihn nach unten. Anstatt eines Schreis entwich ihm nur ein leises Gurgeln. Kraftlos glitt er in Richtung Meeresboden. Wieder umhüllte ihn das kalte Wasser. Nur diesmal würde es kein Auftauchen für ihn geben.

Seebadeanstalt Holtenau

Die grün‑graue Welt breitete sich vor ihr aus, ihre Sicht getrübt und durch das kleine Fenster begrenzt. In klobigen, schweren Stiefeln stapfte sie langsam über den Grund. Einzelne zarte Pflanzen, zerdrückt durch ihre Masse, zierten als traurige Überbleibsel ihren Pfad.

Als wäre ich eine große orange‑gelbe Walze, die hier alles platt macht, was sich mir in den Weg stellt.

Sie widerstand dem Drang, Schwimmbewegungen zu machen, um endlich an die Oberfläche zu gelangen. So lange war sie noch nie unter Wasser gewesen und sie fühlte sich immer beklommener in ihrer Lage. Von wegen hier würde sie das Gewicht der Ausrüstung nicht mehr spüren. Es war zwar nicht so schwer wie über Wasser, aber sie empfand Hilflosigkeit. Sie wedelte mit den Armen, um voranzukommen und das an ihr zerrende Gewicht der Bleischuhe zu verringern.

Um sie herum blubberte und zischte es. Luftblasen entwichen dem historischen Kupferhelm, der fest an ihrem Anzug verschraubt war. Als Leif vor zehn Minuten mit einem riesigen Schraubenschlüssel ankam, um den Helm zu befestigen, hielt sie das zunächst für einen Witz. Aber das hier war keiner. Die lebensnotwendigen Schläuche lagen hinter ihr auf dem Grund, und jeder Schritt war ein Kampf gegen den Widerstand des Wassers. Bestimmt bin ich, wenn ich wieder aus diesem kalten Wasser komme, nass geschwitzt vor Anstrengung. Diese wollene Unterwäsche, die sie mir wegen der Kälte aufgedrängt haben, hätte ich gar nicht gebraucht. Wahrscheinlich ist das nur für Berufstaucher gedacht, die bei solchen Tauchgängen nicht unter Adrenalin stehen, sondern die ganze Zeit tiefenentspannt sind. Sie drehte langsam den Kopf, und Michael, ihr Sicherungstaucher, erschien vor der Scheibe.Im Gegensatz zu ihr war er nicht mit Schläuchen an die Außenwelt gebunden, sondern tauchte mit Pressluft. Fast neidisch beobachtete sie, wie er sich ohne das schwere Gerödel schwebend über den Boden bewegte. Michael machte irgendwelche Zeichen mit den Armen.

Was will er mir damit sagen?

Sie schaute an sich herunter. Ihre Arme standen beinahe im rechten Winkel zu ihrem Körper und der Anzug war dick aufgeblasen. Verdammt, sie hatte die letzten Minuten vergessen, über das Ventil im Helm Luft abzulassen. Wenn sie so weiter machte, würde sie wirklich gleich nach oben treiben. Stine neigte den Kopf zur Seite und betätigte das Ventil. Mit der entweichenden Luft schmiegte sich der Anzug wieder an. Endlich gelang es ihr, die Arme zu senken. Michael nickte ihr zu und formte das Okay‑Zeichen mit Daumen und Zeigefinger.

Zu dem Zischen im Helm kam ein Knacken und die metallene Stimme von Leif hallte im Helm wider.

»Alles okay bei dir, Stine? Versuch mal, die Arme nicht nach oben zu strecken, dadurch strömt Luft über die Armmanschetten in die Handschuhe. Und die werden dir dann von den Händen geblasen. Das willst du nicht. Also schön regelmäßig Luft ablassen. Pass außerdem ein bisschen auf die Versorgungsleitung auf, damit du dich darin nicht verhedderst. Wenn du irgendwo lang gehst, immer schauen, wo die Leitung ist und den Rückweg immer daran entlang.« Seine Stimme klang ruhig, aber Stine meinte, Sorge darin zu hören.

Denkt er auch, dass ich lieber oben geblieben wäre und den anderen bei ihrem Helmtauchversuch zugeschaut hätte?

Ihr Blick folgte dem Luftschlauch. Leif hatte ihr gezeigt, dass nichts passieren konnte, wenn sie aus Versehen darauf trat, weil der Schlauch mit Stahldraht verstärkt war. Aber sie wollte nichts riskieren. Sie ging weiter, den Blick leicht nach hinten auf den Schlauch gerichtet. Bloß nicht verheddern, dachte sie, als ein dumpfes »Klong« in ihrem Helm dröhnte und sie gegen ein Hindernis stieß. Holzplanken ragten vor ihr auf. Von hinten klopfte ihr Michael auf die Schulter.

Wieder ertönte Leifs Stimme: »Du bist jetzt direkt unter uns. Vielleicht solltest du die Richtung wechseln, wenn du nicht unter der Seebrücke feststecken möchtest. Hier gibt es auch nicht viel Interessantes zu sehen, glaub mir. Lass dich von Michael in Richtung Anker führen. Den wollen wir später noch bergen. Du kannst ja schon mal die Lage erkunden. Achte beim Zurückgehen darauf, dass du an der Versorgung entlanggehst, damit du sie nicht um die Pfähle wickelst.«

Stine tastete sich an dem Balken entlang. Vor ihren Augen tauchte eine Plastikdose auf, die sich anscheinend dort verklemmt hatte.

Auch in der Ostsee gibt es schon überall Müll, sinnierte sie, als sie wieder Michaels Hand auf ihrer Schulter spürte. Mit sanftem Druck korrigierte er ihren Kurs in die entgegengesetzte Richtung. Dankbar bemerkte sie, dass er sie keinen Moment aus den Augen ließ. Ihr Puls beruhigte sich ganz langsam und sie fing an, die Unterwasserlandschaft zu beobachten. Kleine abgerissene Fetzen von Algen und Seegras schwammen um sie herum. Ab und zu nahm sie das silberne Glitzern eines Fisches wahr. Eine große Feuerqualle glitt vor ihr durch das Wasser. Als Schwimmerin hätte sie jetzt das Weite gesucht, aber geschützt durch den Anzug konnte sie in Ruhe die Schönheit dieses Lebewesens beobachten. Rot und Orange schimmerte sie in dem Licht, das von der Wasseroberfläche in die Tiefe fiel. Die Tentakel streiften Stines Sichtfenster und sie konnte sogar die Organe der Qualle erkennen. Ein Schwarm kleiner Fische zog direkt an ihr vorbei. Er und Michaels fester Griff leiteten sie in Richtung Anschlagbrett der Seebadeanstalt. Wieder tauchten Holzpfähle vor ihr auf. Das musste das Brett sein, welches für die Schwimmer des Seebades die 50 Meter begrenzte. Als sie sich näherte, konnte sie kleine Krebse sehen, die sich, festgeklammert an den Pfählen, vom Wasser umspülen ließen. Direkt unter dem Steg wiegte sich etwas Weißliches im Wasser. Ein großer Plastikbeutel? Oder eine Boje? Kann sich das Plastik an dem ominösen Anker verfangen haben?

Sie räusperte sich und sofort ertönte wieder Leifs Stimme: »Du müsstest gleich bei dem Anker sein. Geht es dir gut? Kein Schwindel so weit?«

»Ja, alles gut. Magst du mir noch mal sagen, warum wir den Anker suchen? Stellt er eine Gefahr für die Schiffe dar?«

Eine kurze Pause folgte, dann hörte sie jemanden im Hintergrund lachen.

»Nein, keine Gefahr für die Schiffe. Aber es ist gut, wenn wir das Ding bergen.«

Eine zweite Stimme meldete sich. Es klang nach Astrid, Leifs Frau. »Leif will nur nicht zugeben, dass er ›grabbeln‹ will.«

»›Grabbeln‹? Was soll das sein?«

Sie hörte Astrid erneut lachen. »Das bedeutet, dass mein Mann noch mehr unnützes Zeug vom Meeresboden bergen und zu seiner Sammlung zu Hause packen will. Du musst bei Gelegenheit mal bei uns vorbeikommen und dir sein Museum ansehen.«

Stine überlegte kurz, ob sie umkehren sollte, da der Notfall des am Boden liegenden Ankers ja keiner mehr war. Aber dann siegte ihre Neugier, und sie setzte ihren Weg fort, Michael immer in ihrer Nähe wissend. Wann würde sie wieder die Gelegenheit haben, am Boden der Ostsee entlangzulaufen? Sie war keine Taucherin, Schnorcheln konnte sie so leidlich, aber das war kein Vergleich mit dieser Erfahrung. Sie tat den nächsten Schritt und versuchte, durch die kleine Scheibe die gesamte Umgebung im Auge zu behalten. Diesmal wollte sie keine Holzpfähle rammen. Keine Sekunde später blieb ihr rechter Fuß hängen und ihr Körper bewegte sich in Richtung Boden. Nur die Trägheit hinderte ihren Fall.

Dieses beschränkte Sichtfeld macht mich wahnsinnig! So muss es sich anfühlen, wenn man alt wird. Angeblich soll man dann ja auch alles nur noch ausschnittweise wahrnehmen können. Was musste das für eine Belastung sein? Stine merkte, wie ihr Herz immer heftiger klopfte. Ich möchte zurück, raus aus diesem Anzug! So langsam wird es mir hier unter Wasser unheimlich.

»Hast du was gesagt, Stine?« Leif wieder.

Habe ich laut vor mich hin gebrabbelt? Hoffentlich nicht.

»Nein, nein. Alles okay hier. Aber ich glaube, ich möchte wieder zurück zum Steg. Lass lieber einen von den erfahrenen Tauchern nach dem Anker suchen. Ich …« Sie stockte. Während sie sich auf das Gespräch mit Leif konzentrierte, war sie viel zu nah an die Unterwasserbauten des Anschlagbretts geraten.

So ein Mist, schimpfte sie. Notiz für mich: Unter Wasser bin ich definitiv nicht multitasking‑fähig.

Die weißliche Masse, die sie von weitem schon gesehen hatte, schob sich in ihr Gesichtsfeld.

Das war keine Plastiktüte. Das Gesicht eines Mannes starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.

Politik und Intrigen kennt die Autorin nach jahrelanger Arbeit als Managerin in verschiedenen Banken und Großkonzernen zur Genüge: Da fiel es ihr nicht schwer, dieses Leben hinter sich zu lassen und mit Papier und Feder auf Mörderjagd zu gehen. Die Fälle der Hamburger Autorin spielen dabei meistens nicht im kühlen Norden, sondern in warmen und speziell ausgesuchten Urlaubsregionen wie Madeira und Südafrika. 

Tod mit Tiefgang, Taschenbuch, 340 Seiten broschiert – ISBN-13: 978-3-758373848Tod mit Tiefgang, Ebook – ISBN-13: 978-3-759219497 bzw. ASIN: B0CW1HP2P2

Das Buch ist bei Thalia, Amazon, im Buchhandel und überall, wo es sonst noch Bücher online oder stationär gibt erhältlich/bestellbar

Mehr über die Autorin findet ihr auf https://www.joycesummer.de

Adventskalender MiniKrimi am 8. Dezember


Künstlerpech

Es sah aus, aus würde sie schweben. Die schlanken Beine lässig übereinandergeschlagen, beide Handflächen fest auf die lichtbleichen Steine gelegt, der Oberkörper ein gelber Farbtupfer im gleißenden Blau. Der Horizont nicht mehr als eine schaumige Linie. Sie saß auf einer verwitterten Mauer mit dem Rücken zur Sonne, zu ihren Füßen sattgrünes Gras. Der Kopf war nach hinten geneigt, die Augen versteckt hinter einer geschwungenen Sonnenbrille, der karmesinrote Mund im Lachen geöffnet. Eine leichte Brise spielte mit ihren schulterlangen blonden Locken.

Francois Simonds trat zurück, den Pinsel zwischen den Zähnen, sein Blick wanderte schnell zwischen Bild und Modell hin und her. Und er wusste, dass er unfassbar, unheilbar, unrettbar verliebt war. In das Modell, in die Sonne Südfrankreichs, in das Meer – aber vor allem in sein Bild und ja, in sich selbst. Sein Pinselstrich, die Art, wie er das Licht einfing, den Seidenschimmer ihrer Haut – er war einer der ganz Großen. Es war nur eine Frage der Zeit, da war er sich sicher, bis er in den besten Galerien in Paris hängen würde. Bei Polka, Perrotin oder sogar Gagosian.

„Fertig, mon amour?“, fragte Eloise, sein Modell, seine Muse, seine Geliebte. „Mir tut jeder Muskel weh, ich habe sicher schon einen Sonnenbrand auf den Schultern – und überhaupt keine Lust mehr.“

„Ganz kurz noch! Das Bild muss perfekt sein. Ja, das wird es. Perfekt! Was ist dagegen schon ein bisschen Muskelkater?“

Eloise öffnete ihren Schmollmund. „Ok, aber nur noch fünf Minuten“, stöhnte sie, warf ihm einen Luftkuss zu, reckte und streckte sich. Francois hob die Hand mit dem Pinsel, kniff die Augen zusammen, schaute auf das Bild, dann auf seine Geliebte. „Du sitzt ganz anders! Dreh dich nach links, nein, nicht so weit. Wieder zurück! Ach, merde! So geht das nicht!“, schrie er unvermittelt, schleudert Pinsel und Palette auf den Boden, riss das Bild von der Staffelei und stürmte davon, den steilen Felsenpfad von der Zitadelle hinab zum Strand. 

Am frühen Abend wollte die Polizei von Eloise wissen, wann genau sie Francois zum letzten Mal gesehen hatte. Zwei Stunden zuvor war die junge Frau barfuß, mit zerkratzen Armen und Beinen, aufgeplatzter Lippe und geschwollener Wange im vollbesetzten Standcafé aufgetaucht, weinend und zitternd. Nachdem die Wirtin ihr ihre Wolljacke um die Schultern gelegt und ein Glas Pernod in die Hand gedrückt hatte, hatte Eloise darauf bestanden, die Polizei zu verständigen. Der Maler Francois Simond habe sie gerade im Rondell auf der Zitadelle angegriffen und geschlagen. Sie habe sich losgerissen und sei den Felsenpfad hinunter zum Strand gerannt. Francois habe sie verfolgt, aber nicht eingeholt. 

Jetzt hatte sie plötzlich Angst, dass ihm etwas zugestoßen sei. Wo war er? Und wo ihr Porträt, an dem er gemalt hatte?

Die Polizei leitete eine Suchaktion ein, und schon kurze Zeit später wurde die Leiche des Malers am Fuß der Steilküste zwischen den Klippen gefunden. Von dem Bild aber fehlte jede Spur.

„Mademoiselle, Sie haben Schreckliches durchgemacht. Es tut mir unendlich leid, aber ich muss Sie bitten, mir noch einmal genau zu berichten, was heute Nachmittag vorgefallen ist.“ Commissaire Verlaine war ein runder, freundlicher Mann mit Geheimratsecken und einem zerknitterten Leinenanzug. Er erinnerte Eloise entfernt an ihren Vater, und sie vertraute ihm. Sie seien am späten Vormittag zur Zitadelle aufgebrochen, weil Francois ihr Porträt vollenden wollte. Es sei der ideale Tag dafür, das ideale Licht. Nach zwei Stunden ungefähr habe sie keine Kraft mehr gehabt – das reglose Sitzen habe sie angestrengt. Francois habe das nicht verstanden, habe einen seiner Wutausbrüche bekommen und sei davongestürmt, kurz darauf aber wiedergekommen. Er habe noch ein paar Stunden weitergemalt und dabei immer wieder Cognac getrunken – er habe stets eine Flasche dabeigehabt, zur Inspiration. Aber der Alkohol habe ihn aggressiv gemacht, und als ihr Handy geklingelt habe, sei er ausgerastet. Er sei leider sehr eifersüchtig gewesen und unsicher wegen des großen Altersunterschieds. Er habe sie geschlagen, sie habe sich gewehrt, sei ihm davongelaufen, hinunter zum Strand und den vielen Menschen, wo sie sich sicher fühlte. Danach hatte sie ihn nicht mehr gesehen. 

Commissaire Verlaine begleitete Eloise persönlich nach Hause. 

Nach der Testamentseröffnung besuchte er sie in SImonds Villa und beglückwünschte sie dazu, dass Simond sie zu seiner Haupterbin eingesetzt hatte. Sie schien über seinen Besuch ehrlich erfreut und servierte ihm Kaffee im Salon. Über dem Kamin hing ein Porträt von ihr, in leuchtend gelber Bluse vor blauem Meer. „Ist das nicht im Rondell der Zitadelle?“, fragte Verlaine. „Ja, das stimmt. Er hat das Motiv immer wieder gemalt, es war wie besessen von dem Platz,“ sagte Eloise. „Aber das Porträt, an dem er am Tag seines Todes gemalt hat, ist nie wiederaufgetaucht?“ „Nein, leider. Es war perfekt.“

Am nächsten Morgen stand Verlaine mit einem Durchsuchungsbeschluss vor der Villa. Er nahm das Porträt in Gewahrsam – und auch Eloise. Die gelbe Bluse hatte Francois erst am Tag vor seinem Tod für seine Geliebte gekauft. Und die Sonne stand auf dem von der Kunstwelt gefeierten Bild im Zenit. Eloise hatte gelogen. Und den eifersüchtigen Maler schon mittags von den Klippen gestoßen. 

„Die blonde Mörderin“ wurde in der Galerie Gagosian ausgestellt und zu einem Sensationspreis verkauft. Der Erlös ging an einen Verein zur Förderung verarmter Künstler*innen.

Barfuß auf Asche


Sie beißt in den Himmel. Er schmeckt nach Schwefel. Seine Asche verklebt ihren Mund wie türkischer Honig, nur bitter. Die Straße fließt und reißt ihre nackten Füße mit. Stiche von Scherben, Knirschen von Knochen, diese Finger, so weiß – bloß schnell weiter. Die Luft heult und brüllt. Fegefeuer Berlin. „Komm Mädchen fass an. Was stehst du da rum?“ Eine Hand, ein Eimer Wasser schwappt über. Sie geht wie auf Schienen, trägt den Eimer zum Haufen rauchender Balken. „Schnell Mädchen.  Gib her! Und hol einen neuen. Da hinten. Nun lauf schon!“ Sie geht wie auf Schienen. Der Himmel aus Asche, der Boden ein Meer aus gestrandeten Häusern. Die Menschen ertrunken im Feuer. Immer wieder muss sie hinsehen, sie ansehen. Die toten Augen greifen nach ihrem Blick. Saugen ihn auf. Dann wird alles schwarz.

„Mama? Mama? Was sitzt du denn hier im Dunkeln?“ Leise, mit abgewandtem Mund: „Also ich hab das Gefühl das wird immer schlimmer. Mit ihr.“ Überlaut: „Mama? Hast du nicht gehört, dass wir angerufen haben?“ Beleidigt: „Wir versuchen seit gestern, dich zu erreichen, MAMA.“ 

„Ach ja? Ich hab nichts gehört. Vielleicht hat das Telefon geklingelt, als ich im Bad war. Außerdem: woher soll ich wissen, wer anruft?“ 

„Also hast du es doch gehört?“ 

„Vielleicht?“ 

Warum bist du nicht rangegangen, Mama!  Keine Frage! „Wir machen uns doch SORGEN!“ 

„Ich bin kein kleines Kind. Ich bin eine alte Frau. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Im Bombenhagel hab ich Wasser geschleppt. Barfuß. Ich bin über Leichen geklettert. Ich brauche keine Aufpasser!“

Endlich sind sie weg. Ich kann sie nicht ertragen. Mama tu hier, Mama doch nicht so! Mama was MACHST du da schon wieder? Alles in vorwurfsvollen Großbuchstaben, in diesem pausen- und atemlosen Staccato der zur Mutter wider Willen gewordenen Tochter. Verkehrte Welt! 

Was denken die eigentlich, wie ich die letzten fünfundachtzig Jahre gelebt habe? Mich hat nie jemand in Watte gepackt. Allein in einer zerbombten Stadt, die ganze Welt ein Trümmerhaufen und ich mitten drin. Und ich hab überlebt. Ohne dass mir jemand ständig hinterhergelaufen ist.  Ohne dass sich jemand um mich gekümmert hat. Und jetzt soll ich plötzlich am Gängelband gehen, nur, weil ich älter bin? Die Menschen werden heute eben immer älter. Sagen sie jeden Tag im Fernsehen. Na und? Wenn man sie nicht töten will, muss man sie so nehmen, wie sie werden. 

Ist es schon acht? Wo hab ich nur meine Brille? Da muss doch die Fernsehzeitung….. Wie geht das Ding an? Ah. Na also. Was ist denn das schon wieder? Wo ist das Erste Programm? Natürlich. Das hat India verstellt, um mir dann in die Schuhe zu schieben, dass ich nicht mal mehr den Fernseher bedienen kann! 

Diese blöden Kopfschmerzen. Du musst mehr trinken, Mamaaaaa, würde India jetzt sagen. Dabei habe ich noch nie viel getrunken. Und bin trotzdem so alt geworden. Hab ich Hunger? Eigentlich schon. Oh – keine Spaghetti im Kühlschrank. Ach, dann ess‘ ich eine Banane. Mit einem Glas Wein. Mama, du sollst nicht so viel Wein trinken, würde India jetzt sagen. Gott sei Dank lebe ich alleine hier in meiner Wohnung!

Gott sei Dank lebe ich ALLEIN! Alleinallein. Alleallein. Wenn India mich jetzt hören würde, würde sie den Mund verziehen zu ihrem falschfreundlichen Alligatorlächeln. Alligator, so werd‘ ich sie nennen, ab heute. Wenn ich mich morgen noch daran erinnere. 

Wenn sie jetzt hier wäre, würde sie zwischen den Zähnen schräg nach hinten zu diesem Unmann zischeln, den sie sich herangezogen hat wie einen Schoßhund.  „Siehst du. Ulrich. Ich sage es dir doch. Sie ist verrückt!“ 

Es rauscht. Die Nacht ist ein Rauschen, sie bauscht sich um sie herum, hüllt sie ein. In einer Blase aus Schall schwebt sie die kreischenden Straßen entlang. Federt die Stöße ab, die Tritte, die reißenden Hände. Blitze gleiten an ihr hinunter, schwarzer Regen an ihr vorbei. „Di quì Signorina“ ruft eine Stimme, „hier entlang, schnell, es geht gleich los“. Sie klettert auf die Lore, gezogen von starkbraunen Armen. „Su prendi, los, nimm und verkleide dich!“ Eine gesichtslose Stimme reicht ihr das grellbunte Kopftuch. Sie knotet es fest in ihr Haar, dieses neue zufällige Leben. Drei Tage vier Nächte, und die Zwangsarbeiter sind wieder daheim, irgendwo in Italien. Sie, die verkleidete Fremde, mitten unter ihnen. Alle verabschieden sich lachend und zum Leben erschöpft. Da steht sie allein auf der Piazza in einer unbekannten Heimat. Geflohen gelandet gestrandet. „Ehi Signorina!“, ruft die Zukunft verheißungsvoll, und sie geht ihr schnell hinterher, durch die alten Arkaden.

„India, du schon wieder? Möchtest du einen caffé? Ich hab grade frischen gemacht. Heiße Milch? Setz dich doch.“

Ah, dieser Blick. Du kommst nicht als Gast, sondern als Aufpasser! Wie war das gestern? Alligator! Kannst gleich wieder gehen! 

„Mama! Deine Nachbarin hat angerufen. Erst kamen Rauchschwaden aus deiner Wohnung, dann lief das Wasser den Balkon hinunter. Mama? Mamaaaaaaa? Um Gottes Willen! Was MACHST du da? Ach, ich bitte dich! Natürlich hab ich auch schon mal die Milch anbrennen lassen. Aber dieser Topf ist durchgeschmort. Und wie viele Eimer voll Wasser hast du ausgegossen, über dem Herd? Wie bitte? Du wolltest bei der Gelegenheit gleich den Fußboden waschen? Ach…“ 

Der nasse Lappen klatscht auf den Boden. Tränen verwackeln den Ton. „Oh, Mama!!! 

Nein. DU hörst mir jetzt zu. Das ist NICHT normal, Mama. Das passiert NICHT jeden Tag und NICHT jedem. Mama! Bitte. Sei doch vernünftig. So geht das nicht weiter. Ich will dir doch nur helfen. Nein. Du bist nicht verrückt. Nein, ich will dich nicht einweisen lassen. So einfach geht das auch gar nicht.“ Leise, zu sich: „Leider.“

Mama bleib da. Mama wo rennst du hin? Mama es ist kalt draußen! Ich WILL sie nicht mehr hören. Diese Bevormundung! Ich bin im Aschenregen durch das qualmende Berlin gelaufen. Barfuß. Und dann in einem offenen Viehwagon über die Alpen gefahren, mit Wildlederpumps an den Füßen und einem Strickjäckchen über dem Seidenkleid. Kälte? Die Kälte, die mich hier verbrennt, kommt aus Indias Augen. So leblos. So lieblos. Mein Kind? Wahrscheinlich wurde sie im Krankenhaus vertauscht, gleich nach der Geburt. Wir haben uns eigentlich nie verstanden. 

Diese kommunistischen Ideen von Umverteilung und Gütergemeinschaft! Wegnehmen will sie mir alles, was ich habe. Meine Wohnung, mein Geld. Und mein Leben! Aber das kriegt sie nicht. MICH kriegt sie nicht. Ich bin zu schnell für sie, auch noch mit fünfundachtzig. Sie findet mich nicht. 

Aber jetzt ist mir kalt. Ob ich schon zurück kann? Wo genau muss ich hin? Hier war ich noch nie! 

Freundlich bestimmend zu einer Graublonden mit Einkaufskorb: „Entschuldigung? Können Sie mir den Heimweg zeigen? Sie kennen mich doch? Ach, tut mir leid. Ich habe Sie verwechselt. Neineinein, alles ok. Nein, ich sage Ihnen doch…. ich… suche nur meinen… (lass dir was einfallen!)… meinen Hund!“ 

Beruhigend zu dem kopfroten Jogger: „Ja, meinen Hund. Wie er aussieht? Na, wie ein Hund, eben. Dort drüben? Danke! Ja, er ist mir weggelaufen. Nein, er darf keine Jogger anbellen. Da IST er ja! Na komm, du Schöner! Komm her zu mir.“ 

Beschwörend geflüstert zu dem großen stillen Hund: „Komm, wir müssen jetzt beide so tun, als seien wir alte Bekannte. Das SIND wir doch auch! Jetzt erkenne ich dich! Wir sitzen im selben Boot. Du bist Argo, mein schwarzer Freund. “

Buonasera, signorina, buonasera….. Jukeboxkitsch, transozeanischer. Flattert in den Südensonnenuntergang, wispert in ihr Sommerohr. Bella vita in maßgeschneiderten Kleidern, und die Männerwelt rollt ihr die Teppiche aus zwischen Bari und Napoli. Das Blondhaar, die Goldhaut – „ma che angelo, was für ein Engel!“ Sie flirtet und bleibt ganz bei sich. Hebt sich auf. Hebt den Blick: „Buonasera!“ Diamantenes Meer, vergossener Himmel, Mittagslichtstaub streift das kühle Parkett. Als Verlobungsgeschenk keine Kette, kein Ring – ein schwarzes Fellbündel legt er ihr ins lustweiche Bett. Sie lieben sie schlafen sie schlagen. Dann, irgendwann, ist es Winter geworden, aus dem Schrank gähnt nur das Holz, dunkelleer. Daneben zwei Koffer, abfahrtbereit. Weiße Laken auf Sesseln und Betten, vor den Fenstern die Läden auf Monate verschlossen. Und sie spult ihre Reise zurück, erst den Apennin dann die Alpen und schließlich die graue Stadt. Trümmerentleert, existenzenbefüllt. Sie ertastet die Straßen am Ende des Traums. Einsam vielleicht, aber nicht mehr allein. An der linken Hand India, in der rechten die Leine. 

„Mama, jetzt sei doch vernünftig! Du hättest tot sein können. Wenn sie Ulrich nicht in der Kanzlei erreicht hätten, wenn er dich nicht abgeholt hätte, dann wärst du inzwischen wahrscheinlich erfroren! Wo wolltest du überhaupt hin?“ 

Leise, seitwärts: „Ulrich, jetzt sag doch auch mal was! Mama, bitte. Das ist Wahnsinn! Du kannst doch nicht im Ernst glauben, dieser Hund hier sei Argo! Argo ist seit Jahrzehnten tot! Genau wie mein Vater! Tot. Nicht abgereist. Nicht verschollen. Tot. Überfahren. Alle beide. In Italien. Das weißt du doch, Mama. Mama! Komm, trink eine Tasse Tee. Du hast ganz kalte Hände. Ach, Mama. Ich will dich nicht schlagen, ich will dich nur streicheln. 

Ganz leise: Mama, ich liebe Dich!

Ganz laut: Au! Mama, bitte! Jetzt sei doch VERNÜNFTIG. Du kannst den Hund nicht behalten. Wir müssen ihn abgeben. Im Tierheim. 

Ulrich! Jetzt hör doch mal auf, du machst ihr nur Angst! 

NEIN Mama. Ulrich hat das nicht so gemeint. Wir geben dich nicht im Irrenhaus ab. Das gibt es nicht mehr. Und selbst wenn. Mama, ich liebe dich doch. Ich will dir nur helfen. Und Ulrich auch. Ulrich? Ulrich!“ 

Hinter dem Türknall her: „Ulrich, du Idiot! Warte! Mensch, fährt der einfach weg. Na egal. Besser isses. So, Mama, jetzt noch mal ganz in Ruhe. Der Hund muss weg. Und du solltest dir vielleicht mal eine Auszeit nehmen. Es gibt doch so schöne Kurorte. In Ungarn, zum Beispiel. Ganz günstig! Mama? Mama!“ 

Leise. Verzweifelt. Fragend. „Wo BIST du?“

Komm, Argo. Das hat alles keinen Zweck. India ist eigentlich ein liebes Mädchen, weißt du? Aber sie vermisst ihren Vater. Er hätte nicht wegfahren dürfen, Hals über Kopf. Sie war noch so klein. Sie ist ihm so ähnlich. Wir haben uns nie wirklich verstanden. Wie schade! Aber du, Argo, du bist etwas ganz Besonderes. Wir zwei verstehen uns prächtig. Jetzt machen wir es uns richtig schön. 

Zum Taxifahrer: „Wir wollen in ein feines Hotel mit einem guten Restaurant. Eines mit Seeblick, in dem auch Hunde erlaubt sind. Sie kennen sich ja aus. Wir vertrauen Ihnen.“ Stimmt’s, Argo?

Oben ist unten und unten ist weit. Endlos weit. Sie zieht ihre Kreise aus blauem Samt. Schwimmt ohne Netz, schmeckt das Sonnengeflirr, riecht die Wärme, hört die Wolken reisen. Argo schwimmt neben ihr, weichschnäuzig, schwarz. Unbesorgt unumsorgt atmet sie leicht in die Zukunft. Und hinten ganz hinten am Himbeerhorizont steht ER und zieht sacht an der Linie. Da stülpt sich der Himmel nach innen.

AdventsKalender Mini“Krimi“ vom 15. Dezember


felicia

Tief unter dem Fell/ II.

„Es muss sein“, sagten sie. „Hier könnt ihr nicht bleiben. Hier will man euch nicht. Ihr fühlt Euch hier wie zu Hause, aber das ist keine Heimat für Euch. Ihr müsst gehen. Wir sind zu wenige, und ihr seid zu viele. Wir können Euch nicht auf Dauer beschützen.“ Eine Frau, eine Unbekannte, packte meine Sachen, legte mich in eine Tragetasche und nahm mich mit. Fort von der Finca und allem, was mir vertraut war. Die Reise war lang, erst auf der Straße und dann durch die Wolken mitten hinein in ein wattiges, dröhnendes Nichts. Meine Angst war sehr groß. Die Frau versuchte, mich zu beruhigen. Umsonst. Wir sind nicht dafür gemacht, den Himmel zu queren, ebenso wenig wie das Meer. Wir sollten auf dem Boden bleiben. In die Luft springen, schwimmen, das ja. Aber aus eigener Kraft oder nur, soweit die Schwerkraft es zulässt.

Und dann war es vorbei. Viele Menschen, hintereinander in schweigenden Reihen, gleißendes Licht. Der Herbstwolf war hier schon ganz weiß geworden. Sein Atem wuchs in Säulen aus dem Grau. Überall. Diese andere Welt hatte ganz offensichtlich keine Farben. Schließlich wurde die Tasche geöffnet, und ich war frei. Frei und sicher. Keine Fesseln mehr. Aber auch keine vertrauten Gesichter. Jeder Geruch neu und fremd. Meine Augen tränten von der langen Reise, ich hatte Hunger, war müde, verängstigt. Vor allem aber hatte ich meine Familie verloren. Meine Mutter und jetzt auch noch meine Schwester.

Ich bin im Juli geboren. Im Dezember kam ich in ein anderes Zuhause, zu einer fremden Familie. Ich bin daran gewöhnt, mich einzugewöhnen. Es geht mir gut. Ich bin satt, ich habe Spielsachen und genug Raum, um zu rennen und zu schlafen. Ich lasse mich streicheln, und ich gebe Zärtlichkeiten zurück, jeden Tag ein klein wenig mehr. Ich bin eine Katze unter Hunden. Ich bin noch klein. Wenn ich groß bin, werde ich mich wie ein Hund benehmen, weil ich unter Hunden aufwachse. Aber tief unter dem weißen Fell, auf der inneren Seite meiner Haut, bleibe ich eine Katze.

Menschen in den reichen Ländern Europas nehmen Tiere auf, die aus dem Ausland Zuflucht suchen, begleitet von Flugpaten und sehnsüchtig erwartet mit Futter, mit Decken, mit Spielzeug. Sie geben ihnen ein neues Zuhause und Sicherheit. Rund ein Million Tiere werden angeblich jährlich aus dem Ausland nach Deutschland vermittelt und mühelos als das integriert, was sie sind: Geflüchtete Hunde und Katzen. Eine Obergrenze ist nicht angepeilt. Tierliebe ist gut, aber sie ersetzt keine Menschenliebe.

Refugees welcome! Auf vier, aber auch auf zwei Beinen.

AdventsKalender Mini“Krimi“ vom 14. Dezember


Nessun testo alternativo automatico disponibile.

Tief unter dem Fell / I.

Ich bin im Juli geboren. Wir hatten Glück. Als bei meiner Mutter die Wehen einsetzten und sie auf der Straße zusammenbrach, wurde sie von Ehrenamtlichen aufgenommen und betreut. An die ersten Tage meines Lebens kann ich mich nicht erinnern. Später, als ich anfing, mich umzuschauen, war die Welt um mich herum warm, bunt und laut. Ein Kaleidoskop sich bewegender Menschen und Tiere, von Geräuschen, Gerüchen und Düften. Schon morgens um sechs klapperten die Töpfe in der Küche, und dann gab es Essen für alle unter der Pergola im Garten. Lavendel, Jasmin und Majoran wehten mit der salzigen Brise vom Meer herüber, und unter den schattigen Palmen leuchteten rote Hibiskusblüten. Meine Schwester und ich hatten den ganzen Tag nichts weiter zu tun, als zu spielen und immer neue Streiche auszuhecken. Wir versteckten uns zwischen den frisch gewaschenen Laken und zerrten so lange daran, bis sie ins Gras glitten. Das fanden die Hunde besonders lustig, und sie stapften mit ihren sandigen Tatzen darauf herum, bis die Tücher aussahen aus wie große, zum Trocken ausgelegte abstrakte Gemälde. Nur den guten Leuten oben in der Finca gefiel unser spontanes Kunstwerk leider gar nicht.

Immer häufiger standen sie zusammen und besprachen sich leise. Dann schauten sie zu uns herüber, zu meiner Schwester und mir, und tuschelten weiter. Was sie sagten, verstanden wir nicht. Also taten wir so, als wäre alles wie immer. Das war in dem Paradies, in dem wir lebten, nicht schwer. Der blaue Himmel, die stillen Wolken, das flüsternde Meer, die Zikaden, die Sonne.

Und dann kam der Herbst. Leise wie ein Wolf hat er sich in unsere Welt geschlichen und sie eingehüllt in sein wolliges Grau. Sein kalter Atem verwehte die Weinblätter an der Pergola, die Vipern verschwanden zwischen den Steinen und die Leute frühstückten in der Küche, eingehüllt in die Düfte und Dämpfe von Suppe und Brot. Auch wir lagen dort in der rauchigen Wärme und dösten. Da nahmen die Leute meine Schwester und mich auf den Arm und trennten uns.