MiniKrimi Adventskalender am 21. Dezember


Heute gibt’s hier wieder einen Krimi aus meiner Feder. Mit Anklängen an meine väterlichen Wurzeln. Die liegen nämlich zum Teil in Süditalien… Viel Spaß beim Lesen und danke fürs Teilen und für eure Kommentare!

Engel mit schwarzen Locken

„Hallo, Kleine! Wie heißt du eigentlich?“

„Gemima.“

„Dsche… Aaaha. Und weiter?“

„Hagenrath“

„Und deine Mama?“

„Meine Mama und meine Mami heißen so wie ich. Hagenrath.“

„Und dein Papa?“

Stille. Dann: „Das weiß ich nicht.“

„Warum wollen Sie das wissen?“ Marlene Hagenrath steht an der Haustür, beladen mit Tüten und einem Kasten leerer Saftflaschen. Sie klingt barsch, und das liegt daran, dass sie diese Situation so oder ähnlich schon öfter erlebt hat, seit sie mit ihrer Frau Claudia und der gemeinsamen Tochter Gemima in die Minervastraße eingezogen ist. Zu oft, als dass sie dafür noch Toleranz aufbringen könnte.

„Man wird doch wohl noch fragen dürfen, oder? Schließlich hat jedes Kind eine Mutter und einen Vater. Das ist ein Naturgesetz.“ Frau Degenfeld ist pikiert. Erst gestern haben sie und ihre Freundinnen beim Mahjong-Nachmittag gerätselt, warum der Vater des süßen Mädchens mit den schwarzen Locken und den grünen Augen noch nie in der Siedlung aufgetaucht ist.

„Ich habe eine Mama und eine Mami. Mehr brauche ich nicht. Oder?“, fragt Gemima und schaut der älteren Dame mitten ins Gesicht. Unangenehm, dieser bohrende Blick. Der ist bestimmt antrainiert. Von einer der beiden Frauen, die sie Mama und Mami nennt.

„Zu meiner Zeit war das undenkbar. Zwei Mütter. Aber heute – vollkommen zerrüttet, die Moral bei den Jüngeren.“ Kopfschüttelnd geht Frau Degenfeld weiter Richtung Tiefgarage.

Es ist der 21. Dezember. In 3 Tagen beginnt die Weihnachtszeit. Überall in der Minervastraße leuchten Sterne und Jakobsleitern in den Fenstern, die Balkone sind mit Girlanden behängt, die meisten leuchten golden. Die einzige grellbunte auf der Terrasse gegenüber der Tarotlegerin Lenor wurde nach einem tragischen Tod entfernt.

Gemima sitzt am Küchentisch, lässt die Beine baumeln und sticht andächtig Plätzchen aus. Dabei schiebt sie voller Konzentration die gerollte Zungenspitze zwischen die Lippen.

„Woher hat sie das nur?“, fragt ihre Mutter Marlene sich zum x-sten Mal. Sie hat das Zungenroller-Gen nämlich nicht. „Muss der Spender sein“. Obwohl – der hatte es angeblich auch nicht. Unglaublich, was man bei angeblich anonymen Samenspenden heute für Informationen finden oder erfragen kann.

Da klingelt es an der Haustür. „Hallo?“, ruft Marlene in die Sprechanlage.

„Paket für Sie“, antwortet eine Männerstimme. „Ich lege es auf die Treppe.“

„Könnten Sie es mir nicht schnell raufbringen, bitte? Dritter Stock?“

„Sorry, zu viel Arbeit. Geht nicht. Schöne Weihnachten.“

Marlene seufzt, schlüpft in ihre Mules und springt die Treppe runter. Wo ist das Paket? Auf der untersten Treppenstufe liegt keines. Nur ein roter Umschlag mit einem bedruckten Weihnachtsmann und darauf ein in Cellophan verpackter Keks.

„Hahaha“, murmelt Marlene. Sie ist allerlei „Schabernack“ von den Nachbarn gewöhnt. Viele haben sich immer noch nicht damit abgefunden, dass ein weibliches Ehepaar mit Kind bei ihnen wohnt.

„Falscher Alarm. Aber leckerer Keks. Magst du ihn?“, ruft sie und schließt die Wohnungstür. „Gemima?“

Keine Antwort.

„Gemmi?“ Nichts. Sie schaut ins Kinderzimmer. Leer. Auch das Wohnzimmer. Der Küchenstuhl, auf dem das Mädchen gerade noch gesessen hat, ist umgekippt. Der Vorhang vor dem Küchenbalkon bauscht sich im Wind, und eine Handvoll Schneeflocken fliegt herein.

„Gemima, was machst du da draußen? Du wirst dich erkälten.“

Aber auch auf dem Balkon: keine Spur ihrer Tochter. Panik steigt in Marlene hoch. Als hätte sich die Kleine in Luft aufgelöst. Das geht entschieden zu weit. Das ist kein Scherz mehr. Wenn sie den findet, der dafür verantwortlich ist….

„Marlene, Gemmi, bin wieder daaa!“

„Claudia! Stell dir vor, Gemima ist verschwunden!“

Die beiden Mütter suchen die ganze Nacht hindurch nach dem Kind. In der Wohnung, im Haus, im Keller, auf dem Dachboden. Schließlich in der ganzen Siedlung. Und sie sind nicht allein. Zu Claudias und Marlenes Erstaunen helfen ihnen viele Nachbarinnen und Nachbarn. Sogar Frau Degenfeld und ihr Mann. Schließlich sollte das Mädchen bei der lebendigen Krippe, die die Bewohner der Minervastraße am ersten Weihnachtstag geplant haben, einen Engel spielen. „Sie wird ganz entzückend aussehen, mit diesen schwarzen Locken. Von wem sie die wohl hat?“

Am nächsten Morgen wird die Polizei eingeschaltet, doch auch sie findet Gemima nicht. Einzig ein Fußabdruck im Blumenbeet unter dem Küchenfenster – Größe 43 – und Sprossen einer offenbar zersägten Metalleiter im See weisen darauf hin, dass das Kind entführt worden ist.

Wer denkt in einer solchen Situation schon an einen ungeöffneten Brief? Als Claudia den roten Umschlag auf der Kommode im Flur sieht, nimmt sie ihn automatisch mit ins Wohnzimmer. Geistesabwesend reißt sie den Umschlag auf.

„Marlene! Woher kommt dieser Brief? Wer hat ihn dir gegeben? Seit wann hast du ihn? Warum hast du denn nichts gesagt?“

Marlene ist verwirrt. Todmüde, verängstigt und zermürbt von der erfolglosen Suche.

„Den? Ach, das ist doch bloß wieder so ein blöder Scherz von den Nachbarn. Ich wollte Ivan gestern noch danach fragen, aber…

„Nein! Das ist kein Scherz. Lies!“ Claudia hält Marlene den eng bedruckten Zettel unter die Nase.

Sie haben mich bestohlen. Jetzt hole ich mir mein Eigentum zurück. Versuchen Sie nicht, mich oder meine Tochter zu finden! Sonst wird das Kind einen tödlichen Unfall erleiden.

„Siehst du, das ist doch einer von diesen Scherzen. Nur viel gemeiner als sonst. Na warte, Ivan.“ Marlene greift zum Telefon, um ihren Nachbarn zur Rede zu stellen.

„Nein, Marlene. Ivan hat absolut nichts damit zu tun. Verstehst du denn nicht? Das ist ein Bekennerbrief von dem Menschen, der Gemima entführt hat.“

„Was? Du spinnst ja, Claudia! Ich habe den anonymen Spender aus der Datenbank von Neovita Labs. War teuer genug. Und absolut seriös. Das hat uns Dr. Wonnegrat ja schriftlich gegeben.“

„Dr. Wonnegrat. Nomen es Omen. Die Frau ist mir gleich suspekt gewesen. Einfach einen Tick zu seriös, wenn du weißt, was ich meine.“

„Nein, das weiß ich nicht. Und ich finde, du greifst nach Strohhalmen. Aber egal. Uns bleibt ja nichts anderes übrig. Die Polizei kommt nicht weiter. Wir fahren jetzt zu Neovita Labs.“

Ein kühles Ambiente in Pastelltönen. Gedämpfte Musik. Klassik, nichts Weihnachtliches. Dr. Wonnegrat empfängt Marlene und Claudia in ihrem Büro. Sie ist sichtlich nervös. Marlene, bleich, mit rotgeränderten Augen, kommt gleich zur Sache: „Unsere Tochter ist entführt worden. Von jemandem, der behauptet, ihr genetischer Vater zu sein. Wie ist das möglich? Sie haben mir versichert, die Spende sei anonym und man könne sie nicht auf den Samengeber zurückführen? Sie haben sie doch allein aus diesem Grund aus Zypern kommen lassen.“

„Haben Sie uns zumindest gesagt“, wirft Claudia ein. „Und uns für Ihre Bemühungen eine astronomische Summe abverlangt. Und das, obwohl das Gesetz, nach dem Samenspenden im zentralen Register dokumentiert werden müssen, in Deutschland erst 2018 in Kraft getreten ist.“

Dr. Wonnegrat lächelt gequält. “Ja, das stimmt.“

„Und? Sie kennen den Spender!“ Marlene ist außer sich vor Wut. „Geben Sie’s zu!“

„Ja. Ich kenne ihn. Also, ich kannte ihn. Er musste sich einer Vasektomie unterziehen und wollte sicherstellen, dass er dennoch eine Erbin oder einen Erben hat.“


Die Frauen sind fassungslos. Wonnegrat erklärt, der Mann, ein italienischer Mafiaboss, habe sie unter Druck gesetzt. In der Hand gehabt. Um Leben und Tod sei es damals gegangen. Um ihr Leben oder ihren Tod. Die beiden seien für ihn das ideale Paar gewesen: rechtlich „angreifbar“, ohne einen großen Unterstützerkreis, in einem Umfeld, das juristisch und gesellschaftlich immer noch als „weich“ wahrgenommen wird.

„Finden Sie sich damit ab. Gemima ist längst in Süditalien, und die Adoption war schon in wenigen Stunden unter Dach und Fach. Sie haben keinerlei Rechte mehr an Ihrem Kind. Aber ich verstehe natürlich Ihren Unmut. Ich könnte Ihnen mit einer kostenfreien Samenspende entgegenkommen? Sie sind noch so jung…“

Geistesgegenwärtig verhindert Claudia, dass Marlene der Ärztin den Briefbeschwerer auf dem Schreibtisch ins Gesicht schleudert.

„Entweder Sie bringen uns Gemima zurück, oder Ihr Laden hier fliegt auf. München ist nicht Süditalien. Wenn wir auspacken, sind Sie geliefert. Sie verlieren nicht einfach Ihr Labor und ihre Approbation. Sie landen im Gefängnis. Und zwar für sehr, sehr lange.“

Stille. Schließlich sagt Wonnegrat: „Gut. Ich kann nichts versprechen. Aber ich tue mein Möglichstes.“

„Sie haben 24 Stunden Zeit. Dann gehen wir zur Polizei. Und an die Presse.“

Es ist der 23. Dezember. Ein Tag vor Heiligabend. Marlene und Claudia kauern auf der Wohnzimmercouch. Vor ihnen steht der Weihnachtsbaum. Ungeschmückt. „Unser Ultimatum läuft ab. Ich habe wirklich geglaubt, sie meint es ernst und gibt uns Gemima zurück. Anzeige, Verfahren, schlechte Medienberichte – das ist mir doch alles egal. Ich will nur meine Tochter.“

Es klingelt an der Tür. „Ein Paket für Sie.“ Wie in einem Déjà-vu rennt Marlene die Treppen hinunter, Claudia direkt hinter ihr. Nichts. Auf der untersten Stufe liegt ein roter Umschlag. Claudia reißt ihn auf. Ein Foto, mehr nicht. Eine Frau liegt mit dem Oberkörper auf einem Schreibtisch in einem pastellenen Büro. Überall Blut. Darunter der Aufdruck: Schweigt, oder es geht euch genauso.

Entsetzt gehen die beiden zurück in ihre Wohnung. Es zieht. Der Vorhang des Küchenbalkons flattert im Wind. Auf der Wohnzimmercouch liegt ihre Tochter. Sie schläft.

Am nächsten Morgen wird Gemima sich an nichts erinnern. Und ihre Mütter werden sie nichts fragen.

Und Marlene löscht die Mail, die in ihrem Posteingang war, als sie mit dem Foto in der Hand wieder in die Wohnung kam.

Ich habe Wort gehalten. Ein Neffe unseres gemeinsamen Bekannten schuldete mir noch einen Gefallen. Den habe ich eingelöst. Ich habe mich damit in seine Hände begeben. Ich hoffe, Sie wissen das zu schätzen. Er wird ihre Tochter zurückbringen lassen. Der Verlust des gerade erst wiedergefundenen Kindes wird für den todkranken Onkel so schmerzhaft sein, dass er sich das Leben nimmt. Das ist die Version des Neffen für die Medien. Mehr müssen Sie nicht wissen. So haben alle etwas davon, der Neffe die freie Bahn zur Spitze des Imperiums und Sie ihr Kind. Leben Sie wohl.
Dr. A. Wonnegrat

Nun, der Neffe ist der großen Aufgabe ganz offensichtlich gewachsen. Er geht keine unnötigen Risiken ein. Und er kann ganz sicher sein, dass alle Beteiligten schweigen. Für immer.

MiniKrimi Adventskalender am 18. Dezember


Heute zeigt euch meine Mörderische Schwester Monika Buttler, was es mit der feinen englischen Art auf sich hat… Viel Spaß beim Lesen!

Auf die feine englische Art (Auszug Kurzkrimi)

von Monika Buttler

Als es passierte, an einem dieser englischen Tee-Nachmittage im Hotel „Vier Jahreszeiten“, da war ich ja nur Publikum. Was heißt ‚nur’ – geborgen im braunen Rund eines Chippendale-Chairs, hatte ich den besten Logenplatz meines nun 70-jährigen Lebens inne. Es war Adventszeit. Draußen, hinter den Scheiben, lag das Nachtgemälde der Alster, leuchtend im Schein einer Riesentanne, im schwarzen Himmel glühten Reklame-Sterne. 

Drinnen, in der Heimeligkeit roten Plüschs, dunklen Leders und dämpfender Teppiche beugte ich mich über das viktorianische Service und schenkte mir meinen „Classic English Tea“ ein. Kräftig aromatisch, aus Assam, Ceylon und Kenia, dazu ein wenig Sahne aus dem Kännchen, so wie es beim Afternoon-Tea nun mal dazugehört. Wohlig wälzte ich den Schluck im Mund und wartete. Worauf? Darauf, dass sich der Vorhang hob. Der unsichtbare Vorhang für eine Salonkomödie. Noch besser wäre natürlich eine Tragödie, denn meine reizarme Solo-Existenz brauchte dringend eine Auffrischung. Warum gönnte ich mir denn so oft diese kostspielige Tea-time mit Sandwiches, Scones, Clotted Cream and so on? Eben. Bestimmt nicht nur, weil ich mal Oberstudienrätin für Englisch war.Ich durchwitterte die Atmosphäre. Nein, das Licht des Kronleuchters flackerte nicht; der hanseatische Ratsherr im Goldrahmen blickte nicht düsterer als sonst, am Piano perlte wie immer Gershwin. So schaute ich wieder zu der silbernen Etagere auf meinem Tisch, von der mich Pikantes und Süßes verlockend anlachte. Gerade hatte ich mir ein Gurken-Sandwich auf den Teller bugsiert, als es im Tee-Salon plötzlich still wurde. Ein Auftritt! Und was für einer! Unser makel- und zeitloser Empfangschef geleitete eine Königin durch den Raum. Ja, die Samtkappe auf dem welligen Blondhaar musste eine Krone sein, denn die Dame ging nicht – sie schritt. Schwarz und samten auch das Kleid mit Spitzeneinsatz, weihnachtlich überglänzt von Juwelen. ‚Juwelen’, das klingt altmodisch, aber Diamanten und Brillanten konnte ich leider noch nie unterscheiden. An einem Vierer-Tisch, für mich in bester Bühnensicht, rückte ihr unser Empfangschef das Sesselchen zurecht.

Ich ließ mein Gurken-Sandwich ruhen und betrachtete sie. Diskret natürlich. Ein Gesicht, zart wie ein verblasster, alter Brief. Fünfzig plus sagt man heute, aber ich nenne es inbetween. Zwischen den Altern. Schon irreparabel verblüht, aber noch hungrige Hoffnung in den Augen. Das hatte ich zum Glück hinter mir. Ich schielte nicht zu Männern, sondern zu den aufgeschichteten Delikatess-Schnittchen.Ein Kellner brachte der Dame den dunklen Holzkasten. Zwölf Sorten Tee unter Glas – die „Speisekarte“. Sie tippte mit reich beringter Hand nach oben, offenbar mochte auch sie die „Classic“-Variante. Wenig später standen Stövchen, Kanne und Etagere auf ihrem Tisch. Sie hob die Tasse, und ich fing ihren Blick. Lebenshunger? Nein, ich musste mich geirrt haben, ihr Kleiderglanz war eine Täuschung. Bestürzend nackt erschien mir dieser Blick, wie preisgegeben, als könne sie nichts mehr verletzen. Jetzt schloss sie die Augen, schmeckte lange, lange den Tee. Nein, nicht genussvoll, sondern eher so, als schmecke sie ihn das letzte Mal. Schlucke des Abschiednehmens? Sie hielt sich gerade, aber ihre Geste war müde, als sie sich nun ein Sandwich nahm. Eine Einsame, dachte ich, Miss Einsamkeit persönlich. Ich würde sie Blanche nennen, so wie die Südstaaten-Schönheit in dem Drama von Tennessee Williams.

Ich hatte sie inzwischen mit einem Krabben-Sandwich überholt. Was feierte diese aufpolierte Lady da mit sich selbst? Ich wollte meine Neugier schon im Tee ertränken, als mich weitere Geschehnisse wieder aufstörten. Die Elegische hatte eine feinrandige Brille aufgesetzt und las, wiederkehrend wie bei einem Rosenkranz, die wenigen, auf einen fliederfarbenen Bogen geschriebenen Briefzeilen. Endlich steckte sie den Umschlag zurück in ihre Krokotasche. 

Das Ritual ihrer festlichen Teestunde hatte plötzlich einen Riss bekommen, sie rührte nichts mehr an. Ich dagegen war schon bei der mittleren Ess-Etage angelangt und holte mir Trüffel, kleine Windbeutel und Baisers auf den Teller. Ich kaute und wartete. Wartete mit Blanche, deren Blick zwischen Armbanduhr und Eingang pendelte. 

Der Kurzkrimi ist erschienen in:

Monika Buttler: Manchmal nützt nur Mord. Kriminalgeschichten de luxe. elbaol verlag hamburg, ISBN 978-3-384-32134-3, 174 Seiten, 13 Euro.

Dazu gibt es einen Ergänzungsband:

Monika Buttler: Tödliche Taten. Mehr Kriminalgeschichten de luxe. elbaol verlag hamburg, ISBN 978-3-384-31741-4, 194 Seiten, 14 Euro. 

Erhältlich im Buchhandel

www.monikabuttler.de

MiniKrimi Adventskalender am 14. Dezember


Heute tretet ihr durch das Türchen mitten hinein in das bunte – und zuweilen auch tödliche – Leben im Schrebergarten meiner lieben Mörderischen Schwester Martina Pahr. Absolut lesenswert und vielleicht ja noch ein Last-Minute-Geschenk?

Nur die Wühlmaus war Zeuge (Kapitel 18: Valentina bei Wiggerls Nachbarn)

Ich amüsierte mich, wenn ich im Ausland bestätigt bekam, dass man andernorts ganz Deutschland auf sein Bundesland Bayern reduzierte und bei der Nennung von München sofort das Oktoberfest erwähnte. »Beer Festival!«, sagen sie lachend von Auckland bis Alaska, von Skandinavien bis Südafrika und von Myanmar bis Mexiko. Als Wahlmünchnerin schwanke ich dann immer zwischen Stolz und Scham. Freut man sich darüber, überall auf der Welt mit Betrunkenen in Tracht assoziiert zu werden, die sich vor laufenden Fernsehkameras einnässen und übergeben? 

»Saufen und fressen, pissen und kotzen«, hatte mein Ex immer unvergleichlich charmant gesagt, wenn die Rede auf das traditionelle Fest im Herbst kam, das er inzwischen durch die gewiss gepflegteren Weinverkostungen in den Burgenländer Buschenschanken ersetzt hatte. 

Aber ich lasse es mir nicht nehmen: München ist eine rundum schöne Stadt. Sie hat die meisten der Vorurteile nicht verdient, die ihr die Auswärtigen entgegenbringen: dass sie Schickeria ist und die Leute von oben herab, dass alle CSU wählen, Bier trinken und jeden Sonntag in Lederhose und Dirndl mit dem Cabrio zur Kirche fahren. Sicher ist die Cabrio-Dichte hier höher als anderswo, und sicher zeigen viele nur allzu gern das Geld her, das sie bei BMW, Siemens oder der Allianz verdienen. 

Aber das wahre München, das besteht nicht nur aus Weißwürsten und Zwiebeltürmen. Das sind die Parktickets, die man überall zuverlässig nach nur einer Viertelstunde in der zweiten Reihe bekommt; das sind die Wohnungen, deren Mieten Geringverdienende nicht bezahlen können; das sind die Staus auf dem Mittleren Ring nicht nur zu Stoßzeiten; das sind die herzlichen Menschen, die gern lachen und gern essen; das sind die lauen Sommerabende, an denen man draußen vor den Bars und Cafés oder gleich in den Biergärten sitzt und das Dolce Vita in der »nördlichsten Stadt Italiens« genießt – und das sind nicht zuletzt die gesalzenen Preise, die man für diesen ganzen Genuss bezahlt. 

Am Morgen nach dem Schlüsselfund radelte ich zu Wiggerls Wohnung im Westen Schwabings, dem Ort, wo er seine Winter verbracht hatte. Wirklich gelebt hatte er ja das restliche Jahr über im Garten. Es war nicht weit, und ich liebe die Stadtvormittage im Frühling und Sommer, wenn sich die Tage frisch und verheißungsvoll präsentieren. Früh am Morgen glaubt man noch, es könne einem nichts Schlimmeres passieren, als dass man eine Breze erwischt, die nicht resch, sondern letschert ist. 

Bei dem Gebäude, in dem sich die Wohnung befand, handelte es sich um ein typisches Mehrparteienhaus, nicht schäbig, aber längst nicht nobel, an einer befahrenen Straße gelegen und weit davon entfernt, jene Anonymität zu garantieren, die man in einer soliden Großstadt erwarten würde. Davon halten wir in München nicht allzu viel. Und tatsächlich: Als ich drinnen vor der Wohnungstür stand, die mit einem Polizeiaufkleber versiegelt war, und über das weitere Vorgehen grübelte, steckte der Nachbar von nebenan die Nase aus seiner Tür. 

»Sind Sie eine Verwandte vom Herrn Wetzstein?« 

Fragen immer mit Gegenfragen kontern, hatte mir Friedl eingeschärft. Und die Medienanwältin meines Vertrauens hatte geraten, unverfänglich zu bleiben und keine konkreten Statements abzugeben, die später gegen mich verwendet werden könnten. 

»Vielleicht können Sie mir ja sagen, wo er steckt?«, fragte ich deshalb. »Kennen Sie ihn denn gut? Und warum ist seine Wohnung versiegelt?« Ich war ja wohl in Topform! 

Der Nachbar, ein Herr Metzger, wie sein Türschild verriet, murmelte ein paarmal: »Schlimm, ganz schlimm.« Dann bat er mich auf einen Kaffee in seine Wohnung. 

Als er mir zu dem starken Gebräu nicht nur Waffelröllchen, sondern auch einen vormittäglichen Eierlikör reichte, war mir klar, dass er mir die Nachricht vom Tode meines vermeintlichen Verwandten schonend beibringen wollte. Eine Aufgabe, mit der er vollkommen überfordert schien. »Meine Frau ist beim Arzt, so ein Jammer. Hoffentlich kommt sie bald.« 

Ich beschloss, ihm ein wenig die Hand zu reichen. »Nur freiheraus, lieber Herr Metzger. Telefonisch ist Ludwig nicht zu erreichen, und jetzt klebt ein Polizeisiegel an der Tür. Ich kann mir schon denken, dass da etwas passiert ist.« 

Einen Augenblick lang starrte mich Herr Metzger fassungslos an, dann griff er nach dem Gläschen Likör, das er mir hingestellt hatte, und trank es auf ex. Was bei einer dickflüssigen Masse wie einem Advocaat eine wenig elegante Angelegenheit ist. Dann berichtete er in wenigen ungelenken Sätzen, dass vor Kurzem die Polizei vor der Tür gestanden sei und ihm mitgeteilt habe, dass der freundliche Herr Wetzstein von nebenan tot in seinem Garten aufgefunden worden sei. 

»Tot?«, markierte ich die Überraschte. »Woran ist er denn gestorben? Ein Herzinfarkt?« 

»Jede Menge Fragen haben die gestellt, das können Sie sich nicht vorstellen«, wich Herr Metzger meiner Frage aus. »Wissen Sie, wenn man jahrelang Wand an Wand lebt, nimmt es einen schon mit, wenn man auf einmal mit einer solchen Nachricht konfrontiert wird. Ich werde Ihnen die Nummer des zuständigen Polizeibeamten geben.« 

Demnach war den Metzgers nicht aufgefallen, dass die Wohnung neben ihnen bereits seit eineinhalb Jahren leer stand. Herr Metzger stand auf und kramte in der Kommode in der Diele, dann kam er mit einer Visitenkarte zurück, die er neben meine Kaffeetasse legte. 

»Den Sommer über hat man ihn eh nie zu Gesicht bekommen, da war er in seinem Garten«, fuhr er fort. »Aber ich weiß noch, dass ich schon im vorletzten Winter zu meiner Frau gesagt habe, dass man vom Herrn Wetzstein gar nichts mehr sieht und hört. Aber die hat dann gemeint, dass sie ihn erst kürzlich gesehen hat.« 

Ich horchte auf. In diesem Augenblick, wie aufs Stichwort, kam Frau Metzger nach Hause. 

Doch, den Herrn Wetzstein habe sie Anfang des letzten Jahres noch gesehen. Da habe es recht spät im Frühjahr einen kurzen Kälteeinbruch mit Schnee gegeben, daran erinnere sie sich genau. Und einen Witz habe sie gemacht, über die schwarze Maske, die er getragen habe. Corona schön und gut, aber schwarz? 

»›Ist denn jemand gestorben?‹, hab ich ihn noch gefragt.« 

Ja, es war jemand gestorben. Und derjenige, der sich hinter der Maske verborgen hatte, hatte ihn höchstwahrscheinlich auf dem Gewissen. Das sollte Frau Metzger, die gute Haut, aber nicht erfahren. Ich lächelte freundlich und fragte: »Was hat er denn darauf gesagt?« 

»Nichts, nur gelacht hat er«, sagte Frau Metzger. »Hatte tüchtig zugelegt über den Winter, das ist mir aufgefallen.« Sie wiederholte: »Eine schwarze Maske, stellen Sie sich das vor. Und Kapuze und Schal, regelrecht vermummt ist er gewesen. Der Polizei hab ich es auch erzählt. Da hat er noch gelebt, hab ich gesagt.« 

»Werden Sie alles erben?«, erkundigte sich ihr Mann. 

Und Frau Metzger fragte fast zeitgleich: »Ziehen Sie jetzt hier ein? Das würde uns freuen. Wir wussten ja gar nicht, dass er Familie hat.« 

»Die Leute sterben wie die Fliegen«, sagte Herr Metzger. »Da dachte man, Corona würde die Alten niederstrecken, aber die Nachbarin von unten ist in ihrer Wohnung gestürzt und der Wetzstein in seinem Garten.«

Und seine Frau bohrte nach: »Sind Sie die Tochter?« 

Ich parierte mit einer Gegenfrage. »Warum fragen Sie?« Was Besseres fiel mir nicht ein. 

»Na, so was interessiert einen doch! Bisher sind ja noch nie Angehörige aufgetaucht.« 

»Zu den Kindern von Ludwig habe ich gar keinen Kontakt.« 

»Und in welchem Verhältnis stehen Sie zu ihm?« Frau Metzger ließ nicht locker. 

Es wurde knifflig. Doch dann erinnerte ich mich an die alten Familiengeschichten meiner Mutter. Wohlgemerkt: nicht nur Geschichten unserer Familie, sondern sämtlicher Familien, von denen sie je erfahren hatte und deren Historie sie in irgendeiner Form bemerkenswert fand. Ich pfiff auf die Empfehlungen von Friedl und der Lerche und legte los: »Ludwig ist gar nicht mein richtiger Onkel, sondern der Adoptivbruder von einer Tante, Tante Helene. Und Tante Helene ihrerseits ist nicht blutsverwandt, sondern hat in unsere Familie eingeheiratet, nämlich den Schwager meines richtigen Onkels, also des Bruders meiner Mutter.« 

Herr Metzger sah beunruhigt aus. Seine Frau dagegen war auf der Höhe der verwandtschaftlichen Verhältnisse und erklärte ihm: »Der, den sie geheiratet hat, das ist der Bruder der Frau des Bruders ihrer Mutter.« 

»Die Frau des Bruders, also die Schwägerin meiner Mutter, heißt übrigens auch Helene«, fuhr ich gnadenlos fort. »Das hat bei uns in der Familie immer für Verwirrung gesorgt, zwei Schwägerinnen mit demselben Namen, das geht ja gar nicht. Also hat man zur Schwägerin meiner Mutter immer Neni gesagt und zur anderen Helen.«

»Das ist ja auch irgendwie ungeschickt, dass keine der beiden Frauen ihren richtigen Namen benutzen konnte, wenn man’s recht betrachtet«, mischte sich Herr Metzger ein, und ich nickte eifrig. 

»Helen ist blutjung in den Norden gezogen, Ludwig derweil in München geblieben. Die beiden haben zeitweise völlig den Kontakt zueinander verloren. Da war nämlich Eifersucht im Spiel, glaube ich. Ludwig war zwar immer sehr verträglich, aber mit dem Mann von Helen hat er ums Verrecken nicht gekonnt.« 

Ich holte tief Luft. Die Blicke der Metzgers waren teils aufmerksam, teils überfordert. Das reichte, um voller Elan fortzufahren: »Möglicherweise hatte Ludwig ja selbst ein Auge 

auf Helen geworfen, aber das hat er dann unterdrücken müssen, weil sie ja seine Adoptivschwester war. Und das könnte der Grund dafür gewesen sein, weshalb er Onkel Heinrich, den Mann von Helen, nicht leiden mochte. Jedenfalls war der Kontakt völlig eingeschlafen, bis dann Onkel Heinrich vor wenigen Monaten gestorben ist. An Krebs.« 

Das Ehepaar Metzger gab Laute der Anteilnahme von sich. 

»Und deshalb habe ich keinen Kontakt zu den Kindern, ja ich weiß nicht einmal, ob Ludwig überhaupt welche hatte. Ich war gerade in der Gegend und wollte ihn besuchen.« 

Die Metzgers ließen mich gern und in Frieden ziehen. Sie wagten es offensichtlich nicht, mir weitere Fragen zu stellen. 

Fotos:

Im Anhang – Bildrechte Cover emons Verlag, Bildrechte Autorin Marion Vogel

Hier geht#s zu Martinas Webseite: www.martinapahr.de

Das Buch ist erhältlich im gutsortierten Buchhandel oder direkt bei der Autorin (mit SIgnatur!) über  info@martinapahr.de.

MiniKrimi am 12. Dezember


Heute lest ihr den Prolog des 6. Bandes der Sara Konrad Thriller von Marley Alexis Owen. Die Verurteilung am Ende einer Gerichtsverhandlung in Russland ist der Anfang einer spannenden Story rund um Sara Konrad. Viel Spaß beim Lesen!

Der Russe

Sie hatte sich fest vorgenommen, nicht zu weinen. Trotzdem konnte sie ihre Anwältin jetzt nur verschwommen erkennen. Sie hätte es auf das zentimeterdicke Panzerglas schieben können, doch das Brennen ihrer Augen war nicht zu leugnen.

Verteidigerin. Diese Bezeichnung hatte die Frau schlicht nicht verdient. Sie war zwar faktisch ihre juristische Vertreterin, hatte aber während des gesamten Prozesses kaum mehr als einmal das Wort ergriffen. Und auch da hatte sie nur eine Stellungnahme verlesen, die ihre Mandantin zuvor selbst verfasst hatte.

Kein Plädoyer. Keine Einsprüche. Keine juristischen Kniffe, die in letzter Sekunde für Gerechtigkeit sorgten, so wie jene, die sie aus den amerikanischen Gerichtssendungen kannte, die sie in ihrer Jugend auf illegal gebrannten DVDs gesehen hatte. Nichts.

Sie blinzelte und straffte ihre Schultern, im verzweifelten Versuch, wenigstens äußerlich die Fassung zu bewahren.

Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn sie reich gewesen wäre? Wenn sie ihr mehr Geld hätte bezahlen können? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Hier trat sie gegen Mächte an, die nicht nur ihre Entschlossenheit parierten, sondern über Ressourcen verfügten, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte. 

Ihr Blick sprang durch den Raum wie ein Eichhörnchen, das einen Ausweg aus dem Käfig suchte.

Die Zuschauerbänke waren bis auf wenige regimetreue Journalisten leer. Wo während der ersten Verhandlungstage noch ihr Herausgeber und einige Kollegen gesessen hatten, um ihr stumm Mut zuzusprechen, waren nach und nach alle bekannten Gesichter verschwunden.

Ihre Freunde hatten es nicht einmal für nötig gehalten, zur Eröffnung des Verfahrens zu erscheinen. Wenig überraschend, blieben sie jetzt auch der Urteilsverkündung fern.

Mit ihr befreundet oder gar verwandt zu sein, wäre einer Mitschuld gleichgekommen – und ihre Schuld wollte niemand teilen.

Sie wusste, dass Alexander, ihr Chefredakteur, zwischenzeitlich verhaftet worden war. Das hatte ihr ein Vögelchen im Gefängnis gezwitschert. Kein Wunder also, dass die anderen auch nicht mehr erschienen – wer konnte, war spätestens nach ihrer Anklageverlesung untergetaucht. Zumindest hoffte sie das inständig.

Obwohl sie nur ein T-Shirt trug, klebte ihr der dünne Stoff am Rücken. Gern hätte sie ihn abgezupft, weil es sie kitzelte, aber sie rührte sich nicht, um nicht zappelig auszusehen.

Konzentriert ließ sie ihren Blick weiter durch den Gerichtssaal schweifen. Der Raum war klein und wirkte beengt, aber vermutlich war das albern. Im Vergleich zu den Zellen, in denen sie seit einer gefühlten Ewigkeit hauste, glich er in der Größe eher einem Tanzsaal.

Der dunkle, rotbraune Lack der Richterbank schimmerte im künstlichen Oberlicht wie frisches Blut. Ihr schlanker Körper erzitterte und zur Abwechslung lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.

Die Pappkartons, die neben dem Ankläger standen, waren angeblich voller Beweismaterial gegen sie. Sie hatte nichts davon zu Gesicht bekommen. Ebenso wenig wie ihre Anwältin, wie sie vermutete. Im digitalisierten Russland war diese Zurschaustellung von Papier antiquiert und lächerlich. Alles Show. Wie der ganze Prozess.

Man wollte sie einschüchtern. Brechen. Sie sollte sich schuldig bekennen. Schuldig des was? Die Wahrheit zu sagen, war ihr von frühester Kindheit an anerzogen worden – seit wann stand darauf eine Strafe für Hochverrat?

Von allen Anwesenden unbemerkt hob sie das Kinn. Nicht einmal die beiden bewaffneten Soldaten, die links und rechts von ihrem Glasgefängnis Wache standen, reagierten auf ihren Haltungswechsel. Doch ihre Tränen versiegten und ihre Wut verdrängte die Angst.

Sie war Lenya Vasilieva Kusnezowa. Sie war freie Journalistin. Und keine Gefängnisgitter, kein Urteil und auch sonst nichts würde an dieser Tatsache etwas ändern.

Und wenn es ihr Opfer forderte, um der Wahrheit ans Licht zu verhelfen, dann würde sie es erbringen.

Im gleichen Moment fiel ihr ein, dass genau das eben nicht passieren könnte, wenn sie heute verurteilt und weggesperrt werden würde. Die Wahrheit wäre mit ihr begraben. Ihr Artikel würde nie erscheinen. Weder gedruckt noch in den Portalen des Internets. Ihr Opfer wäre völlig sinnlos.

Hoffnungslosigkeit umschloss, wie mit kalten Fingern, ihre Kehle und sie schnappte unwillkürlich nach Luft.

Währenddessen lauschte ihre Anwältin regungslos dem Urteil des Richters. Lenya nicht.

Sie konnte überhaupt nichts hören, so sehr konzentrierte sie sich darauf, das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu halten.

Diese steckten in Handschellen, als wäre sie eine psychopathische Massenmörderin, die bei der erstbesten Gelegenheit jemanden anspringen würde, um ihm die Halsschlagader durchzubeißen. Auch das hatte sie irgendwann mal in einem Film gesehen. Hannibal hatte der Charakter geheißen und Lenya musste schmunzeln bei dem Gedanken. Doch kaum war er vorüber, spürte sie ihre Knie, die drohten, jeden Augenblick unter ihr nachzugeben.

Sie fuhr sich mit der trockenen Zunge über die spröden Lippen und zwang sich, langsam ein- und auszuatmen. Panik nützte jetzt auch nichts. Jetzt nützte überhaupt gar nichts mehr.

Eine Träne gewann den Kampf gegen ihren Stolz und rann ihr aus dem Augenwinkel über die Wange. Mit einer knappen Bewegung wischte Lenya sie beiseite und fuhr sich bei der Gelegenheit auch gleich über das andere Auge.

Die aufwallende Wut über die aussichtslose, und schlimmer noch, ungerechte Situation, gab ihr genug Kraft für ein letztes Gefecht und sie fixierte den Ankläger mit einem feurigen Blick aus ihren hellgrauen Augen.

Sie sollten nicht glauben, dass sie aufgeben würde, nur weil sie sie diffamierten. Weil sie ihre Arbeit verunglimpften. Sie der Lüge und des Hochverrats bezichtigten. Nein, sie würden sie nicht mit ihrem Schauprozess brechen.

Der Urteilsspruch erging.

Im Raum wurde es erst einen Moment still, dann begann das Rascheln und Rauschen. Ankläger und Anwältin nickten dem Richter zu und fingen an, ihre Unterlagen zu ordnen und einzupacken.

Die Journalisten tippten eifrig in ihre Smartphones oder warteten auf bereits gewählte Verbindungen.

Niemand beachtete Lenya.

Nur langsam und zeitverzögert drangen die Worte »Arbeitslager – lebenslänglich« in ihr Bewusstsein.

Der Wachhabende, der näher zur Tür stand, wandte sich um, ohne sie anzusehen, und machte sich daran, die Panzerglastür aufzuschließen.

Lenyas Körper wurde von einem Beben ergriffen. Verzweiflung schoss ihr wie heiße Lava die Kehle hoch und brach sich ihren Weg. Mit aller Macht warf sie sich mit erhobenen Fäusten gegen das Panzerglas, das unter dem Aufprall sonor vibrierte.

Aus Leibeskräften schrie sie: »Ihr werdet mich nicht mundtot machen! Ihr könnt mich in den Gulag werfen, aber ihr könnt mich nicht aufhalten! Ihr könnt die Wahrheit nicht begraben! Sie wird ans Licht kommen. Die ganze Welt wird erfahren, was ihr getan habt!«

Ihre Stimme brach.

Die Anwältin, die ihr am nächsten stand, hatte auf- und sie flüchtig angesehen. Nun schüttelte sie jedoch den Kopf und senkte den Blick ebenso rasch wieder auf ihre Aktentasche.

Weder der Richter noch andere Anwesende hatten auf ihren Ausbruch reagiert.

Atemlos und außer sich vor Zorn, schlug Lenya mit beiden Fäusten gegen das Glas. Jetzt trat der Wachhabende neben sie und beschwichtigte sie.

»Kommen Sie, es hat doch keinen Zweck.« In seinen Augen lag weder Feindseligkeit noch Ärger. Nur Resignation und eine Spur Mitleid. Auch er sah rasch beiseite, während er sie am Arm aus der Zelle führte.

Lenya war auf die Fußballen zurückgesunken und keuchte. Es war, als entwiche alle Kraft aus ihr, während sie einen kleinen Schritt zur Tür machte.

Wieder war es eine Filmszene, die ihr in den Sinn kam. Von einer schottischen Königin, die am Ende ihrer jahrzehntelangen Haft schließlich zum Schafott geführt wurde.

»Ich werde nicht wie Maria Stuart enden«, schwor sie so leise, dass nicht einmal die Wachen ihre Worte hörten, die sie an beiden Armen hielten.

Bild (c) mao_autorin.

Hier geht’s zur Webseite: www.melanieamelieopalka.de

Mehr zum Buch: als eBook erhältlich bei Amazon, als Taschenbuch und Hörbuch überall, wo es gute Bücher gibt.

MiniKrimi Adventskalender am 8. Dezember


Der heutige MiniKrimi stammt aus der Feder meiner österreichischen Schwester Lotte R. Wöss. Die Story ist aus „Mordszeit 3“ – Kurzgeschichten zugunsten der Österreichischen Kinderkrebshilfe von den KrimiautorInnen Österreich. Also: Obacht beim nächsten geschenkten Likör.

Kaffeelikör

Jedes Jahr laden der Chef und seine Frau Helga, ich nenne sie Xanthippe, die fünf Vorstandsmitglieder plus Chefsekretärin zum Weihnachtsessen ein.

Die Chefsekretärin, das bin ich. Und auch heuer wieder werde ich so tun, als wäre ich nur die Sekretärin.

Xanthippe nimmt mein Mitbringsel freudig entgegen. „Kaffeelikör! Und noch dazu meine Lieblingsmarke. Wie reizend von Ihnen.“

Mich hat es auch gereizt. Nämlich mein selbst extrahiertes Tollkirschenextrakt mit einer Spritze durch den Korken zu injizieren. Es ist lächerlich einfach gewesen.

Den ganzen Abend muss ich zusehen, wie Patrick seine Hauskrähe hofiert, ihr Küsschen auf die Wangen drückt und mit der Hand über ihrem Arm streicht. Wenn sie wüsste dass es genau dieselbe Hand ist, die noch heute Vormittag spezielle Stellen von mir berührt hat.

Als Abschluss kommt die Hausfrau mit dem traditionellen Tiramisu. Tradition! Lächerlich. Ich vermute, es ist die einzige Nachspeise, die sie hinkriegt.

Immerhin schmeckt sie. Rasch lenke ich mich mit einem weiteren Löffel der Creme ab, ehe ich mich noch durch meine sehnsüchtigen Blicke zu Patrick verrate.

Geduld! Bald gehört er mir allein.

Nun klopft Xanthippe ans Glas. Alle Köpfe heben sich, die meisten haben ihre Nachspeise beendet. „Ihr Lieben! Ich muss etwas sagen. Mein Mann betrügt mich.“

Totenstille.

„Ja, ich weiß es schon länger.“ Ihr Blick fällt auf mich. Mir ist auf einmal eiskalt, Schleier trüben meinen Blick.

 „Aber Helga, Mäuschen, ich bitte dich.“ Patricks Stimme klingt fast weinerlich. Er steht auf und streckt seiner Frau die Hände hin. Weichei!

Was ist das? Taumelt er etwa? Er muss sich an der Stuhllehne festhalten.

„Ihr wusstet es alle und habt euch hinter meinem Rücken über mich lustig gemacht.“ Gemurmel setzt ein. Prokurist Meier kippt vornüber, mit dem Gesicht in den Rest seines Tiramisus. Personalchefin Biederstädt verdreht die Augen und gleitet geräuschlos vom Stuhl. Und – nein – mein geliebter Patrick stürzt zu Boden wie ein gefällter Baum.

Weshalb sehe ich alles wie durch Milchglas?

„Schmeckt es euch? Heuer habe ich es mit einer neuen Zutat verfeinert. Gut, dass meine beste Freundin Apothekerin ist. Ihr werdet nicht leiden müssen, obwohl, verdient hättet ihr es.“

Das letzte, was ich sehe, ist Xanthippes gehässiges Grinsen, wie sie sich ein Gläschen eingießt. Aus meiner mitgebrachten Flasche.

Foto (c) Daniel Furxer.

Mehr Infos gibt’s auf ihrer Website:  https://lotte-woess.com

MiniKrimi Adventskalender am 5. Dezember


Ihr Lieben, heute steckt hinter dem Türchen ein nicht ganz „Mini“-Krimi von mir. Mit etwas Magie, einer Prise Ironie und ein wenig Chi-Chi.

Viel Spaß beim Lesen – und ich freue mich über eure Kommentare und – ja! – auch über eure Kritik.

Der Tod steht im Tarot

Gerade mal vier Uhr nachmittags, und draußen kriecht schon die Dunkelheit um die Häuser. Lauert hinter Hecken und auf den kahlen Ästen der Linden im Park an der Minervastraße. In den Fenstern und an den Balkonen glimmen die ersten Lichter auf, die meisten in warmem Gold, nur die neuen Leute gegenüber haben eine von diesen bunt pulsierenden Leuchtketten um die Pfosten ihrer Terrasse gewunden. Wie geschmacklos, denkt Lenor und dann, zusammenhanglos, „wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.“

Naja, das Paar, das in die Wohnung im zweiten Stock genau gegenüber von Lenor auf der anderen Seite des gepflasterten Wegs eingezogen ist, hat ja nun eines. Ein Haus. Sozusagen. Oder die beiden wohnen in einem. Kommt aufs Gleiche raus, am Ende, oder? Lenor hält kurz inne. Immer öfter ertappt sie sich dabei, dass ihre Gedanken mäandern, wie die Wege in der Siedlung. Kürzlich hat sie während einer Legung zweimal dieselbe Karte gezogen und völlig unterschiedlich interpretiert. Frau von Westphal war darüber so irritiert, dass sie beinahe vergaß, Lenor den diskreten Umschlag auf die Biedermeierkommode im Flur zu legen. Ha, vergessen! Das Gedächtnis der – angeheirateten – Baronin funktioniert tadellos. Ohne Punkt und Komma rattert sie alle Neuigkeiten aus der Minervastraße herunter, derer sie habhaft werden konnte. Oft mit einer gehörigen Portion an Konjunktiven, dort, wo Halbinformationen auf Vermutungen oder Spekulationen treffen. Spekulatius, aber ohne Mandeln. Die muss Irina ihr unbedingt mitbringen, morgen, vom Edeka.

Ob ich vielleicht doch mal zu Dr. Möwenschwanz gehe? Die Frage taumelt ungebeten in ihr Bewusstsein. Und ja, sie weiß, dass die Ärztin Möwenbranz heißt. Meistens. Aber nein mit meinem Gehirn ist alles in Ordnung. Und wenn nicht, dann will ich es doch lieber gar nicht erst wissen. Einfach immer ein Stückchen weiter in den Nebel driften, die Gedanken verblassen lassen und die Bilder so nehmen, wie sie kommen. Unscharf, aber dafür ohne Ecken und Kanten. Das ist doch nicht unangenehm? Besser jedenfalls, als das Restleben mit einem Berg von Tabletten und einem aufwändigen Plan an Therapien verbringen zu müssen.

Therapien. Ich therapiere auch. Jede Legung/Lesung ist ein Schritt auf dem Weg zur Heilung. Wenn die Karten mitspielen. Lenor legt Tarot, seit sie denken kann. Hat es bei ihrer Großmutter gelernt, im Wasserschloss. Nein, das war nicht romantisch. Von unten leckte das Wasser ins Erdgeschoss, und von oben tropfte es durch die Löcher zwischen den Ziegeln. Wie das Geld in den Händen ihres Vaters. Schließlich hatte die Großmutter einen Bauwagen restauriert, eigenhändig, und war mit der jungen Lenor auf die Jahrmärkte gezogen. Benno, Anwalt aus gutem, aber vor allem geldigen Hause, hatte sein Schicksal besiegelt, als er den roten Samtvorhang beiseiteschob und in den Wagen stieg. Die Großmutter hat Lenor nie verraten, ob sie das Tarotdeck beim Legen manipuliert hat. Jedenfalls heiratete Benno Lenor praktisch vom Fleck weg, und die Großmutter durfte ihren Lebensabend in einer gemütlichen Wohnung in der Nähe ihrer Enkelin genießen.

Ach ja, Benno. Wir haben uns eigentlich immer ganz gut verstanden. Und dank der Karten hatte ich ihn immer fest im Griff. Schon komisch, wie abergläubisch intelligente und gebildete Männer sein können. Ob die Leute gegenüber gebildet sind? Hindert einen

Bildung nicht daran, solch scheußliche Lichterketten zu kaufen?

Sie hindert einen zumindest nicht daran, wenig Geld zu haben, denkt Lenor. Benno hat immer gearbeitet, aber er war kein Geschäftsmann, ebensowenig wie Lenors Vater. Ein paar falsche Aktienkäufe, und das Erbe seiner Eltern war verbraucht. Damals hatte es wohl großen Ärger mit einer entfernten Cousine gegeben, deswegen. Aber was genau vorgefallen war, hat Benno ihr nie verraten, nicht einmal auf dem Totenbett. Schade, eigentlich, sich auch noch auf dem Weg ins Jenseits mit Geheimnissen abzuschleppen.

Jedenfalls zahlt Lenor in der drei-Zimmer-Eigentumswohnung zwar keine Miete, aber die Ausgaben in der Siedlung sind so hoch, dass sie sich liebgewonnene Extras mit Tarot-Lesungen finanzieren muss. Einen Besuch in der Oper – Logenplatz, sonst kriegt sie ja nichts mit, Augen und Ohren sind schließlich mit ihr in die Jahre gekommen. Oder ein neues Paar Schuhe. Leider ohne hohen Absatz, dafür aus dem Sanitätshaus, aber die kosten gleich doppelt so viel wie die schönen High Heels in der Boutique in der Minervastraße. Oder ein Abendessen im Canale Grande, Bennos Lieblingsrestaurant. Nur gut, dass um sie herum einige Damen – und Herren – wohnen, die dem Tarot nicht abgeneigt sind. Erstaunlicherweise sind das nicht nur die Seniorinnen. Die lassen gerne die Männer, die die Agentur zweites Glück für sie ausgesucht hatte, vom Tarot auf Ehetauglichkeit prüfen. Aber es kommen auch jüngere Frauen, Singles auf der Suche nach dem Traummenschen, Ehefrauen mit unerfülltem Kinderwunsch, (ver)zweifelnde Verliebte und verzweifelte Bankrotteure.

Kurz, Lenor kann sich über Zulauf beklagen. Konnte. Inzwischen jedoch weist ihr Terminkalender immer größere Lücken zwischen den Sitzungen auf. Sie gibt sich alle Mühe. Dimmt das Licht, zündet duftende Kerzen an – außer, ihre Kundin ist Allergikerin, und mischt die Karten mit feierlicher Konzentration.

Und dennoch: kürzlich fing Frau M. kurz nach der zweiten Karte an, schrecklich zu husten. Ihr Gesicht wurde blassblau, und sie rang deutlich nach Luft. Lenor hatte die falschen Kerzen angezündet, und Frau M. konnte sich nur dank ihres Inhalators vorm Ersticken bewahren.

Bei Rosi P. brachte sie mehrmals die Augenfarbe des am Horizont wartenden Traummannes durcheinander. Aber schlimmer noch: das ist jetzt vier Wochen her, und der Typ hat Rosis Weg immer noch nicht gekreuzt. Wenn ich er wäre und Rosi sehen würde, würde ich mich sofort unerkannt aus dem Staub machen, denkt Lenor. Aber ihrem Geschäft sind solche Missgriffe abträglich.

„Ich habe jüngst gehört (fragen Sie mich nicht, von wem, das habe ich vergessen), dass man munkelt, Sie seien wohl zu alt fürs Kartenlegen,“ hat Frau von Westphal ihr bei der letzten Lesung erzählt. Bezeichnenderweise nach dem Fauxpax mit der doppelten Karte.

Und wenn sie mich dann fragt, woran ich meinen Gedächtnisschwund festmache? Ich kann Frau Dr. Möwenschwanz doch nicht sagen, dass ich beim Tarotlegen patze?

Lenor schaut aus dem Fenster. Die bunten Lichter flackern und flimmern. Sie kann gar nichts erkennen, draußen. Schlimm. Ob ich mal rübergehe und mit den Leuten rede? Oder ist das übergriffig? Lenor ist hin- und hergerissen. Und wie immer, wenn sie unschlüssig ist, nimmt sie ihr Tarotdeck zur Hand. Geübt mischt sie so lange, bis sie die Karten in ihren Händen vibrieren spürt. Es gibt immer welche, die gelegt werden wollen.

Lenor schließt die Augen. Legt die große Ouvertüre. Alles soweit im grünen Bereich. Dann die letzte Karte: der Tod. Lenor benutzt für sich das Crowley Thoth Tarot, während sie in ihren Legungen immer mit dem Rider-Waite-Deck arbeitet. So viel einfacher zu verdeutlichen, findet sie. Aber Lenor lebt von Kindesbeinen an mit den Karten. Sie schmiegt ihre Deutungen auch gerne an die okkulten Andeutungen des geltungssüchtigen Aleister Crowley an. Ein genialer Irrer – aber das macht ihn in ihren Augen sympathisch.

Der Tod, also. Neuanfang, Loslassen von dem, was zu schwer geworden ist. Blablabla. Der Tod hat für eine mit 78 auch eine ganz pragmatische Bedeutung. Und welche Karte hat sie direkt davor gezogen? Den Pik Buben. Soso.

Sie versucht es noch einmal. Sie weiß ja inzwischen, dass sie sich auf sich selbst nicht mehr immer und unbedingt verlassen kann. Aber hier: Pik Bube, gefolgt vom Tod.

Nachdenklich schaut Lenor aus dem Fenster. Inzwischen ist es stockdunkel draußen, die Häuser sind nur noch weiße Schatten entlang der Wege. Einzig der Balkon gegenüber flackert im tanzenden Licht der Girlanden, von grün zu rot, von gelb zu blau. Eine Form tritt hinaus, schmal und geschmeidig, die huschenden Farben malen Flecken auf ein düsteres Gesicht. Ein expressionistisches Gemälde, halb fertig. Da hebt der Mann die Augen und starrt Lenor an. Durch die Dunkelheit hindurch, über den Weg hinweg, als trennten sie keine Kälte, kein Fenster. Der Blick trifft sie als eisiger Hauch, Lenor fröstelt in ihrem warmen Wohnzimmer.

Wer bist du?, fragt sie. Und starrt zurück. Eine winzige Ewigkeit lang stehen sie sich gegenüber, zwei körperlose Duellanten, und messen ihre Kräfte. Wie kommt sie darauf?, fragt sich Lenor. Wieso Kräfte? Und wieso messen? Sein Blick brennt auf ihrer Stirn, und sie erkennt ihn. Er ist der Pik Bube.

Mit einem entschlossenen Griff lässt Lenor den Rolladen herunter. Fast scheint es ihr, als suchten die Augen des Mannes eine Ritze, ein Durchkommen. Aber nein. Sie hat ihn ausgesperrt. Nur – für wie lange? Sie weiß, was er vorhat. Diesmal haben die Karten sie nicht belogen, betrogen. Warum? Darum geht es nicht. Oder vielmehr: das ist egal. Fakt ist: sie muss sich entscheiden. Kämpfen oder…?

Am nächsten Morgen zieht Lenor sich mit besonderer Sorgfalt an. Nicht wie sonst die Leggins mit der Laufmasche, die muffeligen Wollstrümpfe und darüber einen karierten Rock, einen Baumwollpulli und eine löcherige Strickweste. Sie hat auch andere Kleidung, Die gute aus besseren Tagen, die sie für Besuche in der Stadt, in der Oper oder bei der Ärztin aufhebt. Was sie heute vorhat, ist genauso wichtig, nur leider nicht so glückverheißend wie ein Opernabend und noch unangenehmer als ein Arztbesuch. Und gefährlicher.

Es ist Sonntag, und die Siedlung liegt in tiefem Schlummer. Nicht mal Emma Peel und John Steed, die beiden Dobermänner der Agentur zweites Glück, sind wach. Schade, zwei Detektive hätte Lenor gut brauchen können. Stattdessen legt sie sich ihren Kaninchenkragen um. Er ist blassbraun und passt eigentlich nicht zum tiefroten Wollmantel. Aber wie die Tarotkarten wollte der Kragen mitgenommen und um ihren Hals getragen werden. Lenor hat sich noch nie darüber gewundert. Warum sollen Dinge keine Seele und ergo auch keinen eigenen Willen haben?

Die Lichter am Balkon gegenüber im zweiten Stock sind tagsüber stummgeschaltet. Als Lenor den Weg zwischen ihren Häusern überquert, löst sich ein schmaler Schatten von der Wand und geht in die Wohnung. Noch ehe Lenor die Klingel berührt, summt der Türöffner.

Willkommen in der Höhle des Löwen. Mach dir’s bequem, flüstert die Spinne. Auf dem Treppenabsatz ringt Lenor nach Atem. Den Aufzug hat sie vermieden. Man muss ja keine unnötigen Risiken eingehen.

„Guten Tag“, sagt der schmale Mann mit den schwarzen Augen und dem durchdringenden Blick. „Kommen Sie rein.“

Die Höhle des Löwen ist enttäuschend unspektakulär, auch wenn Lenor sich keiner klaren Erwartung bewusst ist. Keine Säbel an den Wänden. Kein Revolver auf dem Couchtisch. Nur eine Wohnlandschaft, eine schlichte Schrankwand, ein Picasso hinter Glas und eine Teekanne mit zwei Tassen. Gift also. Kluge Wahl und unter Umständen schwer bis gar nicht nachzuweisen.

„Tee?“, fragt der Mann und schenkt ein, ohne ihre Antwort abzuwarten. Natürlich lässt er ihr keine Wahl. Aber er ist höflich, das könnte ein Fehler sein. Leider kann Lenor ihre gute Erziehung nicht über Bord werfen, sich auf dem Absatz umdrehen und gehen. Das würde selbstverständlich auch nichts nützen, und bei der nächsten Gelegenheit würde er sie vielleicht, sehr wahrscheinlich sogar, unvorbereitet treffen.

„Sehr gerne, danke. Schwarz.“ Nur für den Fall, dass der Zucker vergiftet ist und nicht der Tee. Arsen? Daran kann man sich gewöhnen, und die Dosis, die für das Opfer tödlich ist, schadet dem Mörder nicht, so dass er als Täter ausscheidet, weil er ja den gleichen Tee getrunken hat.

„Sehr gern. Bitte, nehmen Sie doch Platz.“

„Danke. Bitte, darf ich fragen, ob wir uns kennen?“

„Ja, Sie dürfen. Und nein. Jedenfalls nicht persönlich.“

„Ah. Und warum?“

„Warum ich Sie töten werde?“

„Ja, genau. Sie scheinen nicht erstaunt darüber zu sein, dass ich das weiß.“

„Nein. Ihre Karten werden es Ihnen verraten haben. Damit habe ich gerechnet. Das ist ja sogar Teil meines Plans. Sie sind halt so. Neugierig und so unglaublich selbstsicher. Sie denken wahrscheinlich, Sie können in letzter Minute noch einen Trumpf aus dem Hut zaubern. Da muss ich Sie leider enttäuschen. Eine alte Dame besucht ihre Nachbarn. Die Frau ist nicht da, und um das Warten zu verkürzen, bietet der Mann der Damen einen Tee an. Sie trinkt ihn, und dann erleidet sie einen Herzanfall. Im Tee wird man später nichts finden, das ist ja klar. Kommen Sie, trinken Sie. Wir wollen das doch nicht unnötig in die Länge ziehen.“

„Natürlich nicht. Kluger Plan. Aber darf ich fragen, warum?“ Lenor blickt sich um. Das Gemälde kommt ihr bekannt vor.  Ein Picasso. Ja natürlich.

„Ah, Sie sind schon selbst drauf gekommen? Eigentlich ist es Onkel Bennos Schuld. Aber der ist ja nun schon tot. Also bleiben nur Sie. Nein, nein, ich weiß, dass Sie inzwischen arm wie

eine Kirchenmaus sind. Mir geht es nur noch um Rache. Manche Dinge dürfen einfach nicht ungestraft bleiben. Was schauen Sie mich denn so an? Sie wissen gar nicht, wovon ich rede? Dieser Benno! Hat er Ihnen nicht mal auf dem Totenbett gebeichtet, wie er seine Cousine, meine Mutter, übers Ohr gehauen hat? Am Ende fand er es sogar noch amüsant. Aber sie ist daran zugrunde gegangen.“

Lenor runzelt die Stirn. Sie versteht diesen Mann nicht. Was zum Teil auch daran liegt, dass er sich offensichtlich immer mehr in Rage redet. Seine Stimme kratzt, seine Augen sind gerötet. Jetzt hüstelt er auch noch. Ob sie ihm etwas Tee…?“

„Benno hat den Löwenanteil vom Erbe seiner Eltern bekommen. Klar. Aber seiner Cousine hatten sie im Testament den Picasso vermacht. Damit hat meine Mutter fest gerechnet. Sie führte ein großes Haus, meine Ausbildung an internationalen Schulen war auch nicht billig – kurz, sie wollte das Bild schnellstmöglich verkaufen.“

„Ah jaaaa.“ Langsam beginnt Lenor, zu verstehen.

„Ja, genau! Der Auktionator ließ das Bild natürlich schätzen. Und wissen Sie was?“

„Es war wahrscheinlich eine Fälschung,“ mutmaßt Lenor.

„Genau! Benno hatte das Original offenbar selbst schon zu Geld gemacht, nach seinem Aktienfiasko. Und meine…“ er unterbricht sich und hustet schwer. Sein Gesicht ist rot und geschwollen. „Meine Mutter“, röchelt er und greift sich mit beiden Händen an den Hals, „meine Mutter hat diese Schmach nicht ertragen. Sie hat sich.. um….ge….bracht“, flüstert er. Dann bricht er auf dem Boden zusammen.

Die Wohnungstür geht auf, eine junge Frau kommt herein. Sieht ihren Mann am Boden liegen, schreit auf, rennt aus dem Raum und kommt mit einem Autoinjektor zurück. Aber es ist schon zu spät. Panisch schaut sich die Frau im Wohnzimmer um. „Wo ist das Kaninchen? Er ist hochallergisch gegen Kaninchen.“

Lenor legt der jungen Frau kurz die Hand auf die Schulter und geht zur Tür. Beim Hinausgehen dreht sie sich nochmal um und sagt eindringlich: „Schütten Sie den Tee weg. Der ist kalt und absolut ungenießbar.“

MiniKrimi Adventskalender am 4. Dezember

Stadt am Wasser

Diesmal stammt der MiniKrimi von meiner Mörderischen Schwester Katja Kleiber. Wir wünschen spannende Unterhaltung. Vielleicht seid Ihr neugierig, wie es weitergeht? Der Spanienkrimi „Riskantes Erbe“ ist im Buchhandel erhältlich.

Riskantes Erbe ( Kapitel 9)

Ein untersetzter Mann in Blaumann fummelte am Schloss rum. Er lächelte Irene unsicher zu und setzte seine Arbeit fort.

Irene hatte sich ins Café an der Strandpromenade geflüchtet, während Carlos seine Helfer aktiviert hatte. Jetzt roch es im Apartment nach dem Zitronenaroma eines Bodenreinigers. Araceli hatte geputzt, und zwar gründlich. Die Staubschicht war von den Möbeln verschwunden, die Küche glänzte und die Fenster blitzten nur so vor Sauberkeit.

Der Blick aufs Meer war ungetrübt. Sie verlor sich in dem Anblick der blauen Weite.

Das Surren eines Akkuschraubers rief sie in den Moment zurück. Juan befestigte den Beschlag des Schlosses.

Irene fragte sich, ob sie ihm etwas zu trinken anbieten sollte. Sie nahm zwei Gläser aus dem Schrank, öffnete den Kühlschrank und griff nach der Colaflasche. Noch besser würde die Cola mit Eis schmecken. Sie öffnete die Klappe vom Gefrierfach. Tatsächlich fand sie dort eine Eiswürfelform, daneben eine Packung Spinat. Gedankenverloren brach sie einige Eiswürfel aus der Plastikschale und ließ sie in die Cola gleiten.

Spinat? Anders als sie hatte Hubert das Gemüse nie gemocht. Wenn sie Spinat zubereitete, musste sie für ihn extra etwas anderes kochen. Stand sein Flittchen auf Grünzeug? Die jungen Mädchen waren doch heutzutage alle Veganer.

Sie nahm die Packung. Ob der Inhalt noch genießbar wäre? Als sie sie in den Händen drehte, um nach einem Haltbarkeitsdatum zu suchen, sah sie, dass der Karton bereits aufgerissen war. Sie öffnete die Lasche.

Geldscheine. Anstelle eines gefrorenen Blocks pürierter Spinatblätter kamen ihr Scheine entgegen. Fünfziger, Hunderter, Fünfhunderter. Ein dicker Stapel Geld in dem Karton einer Packung Tiefgefrorenes.

Irene spürte auf einmal Juans Blicke in ihrem Rücken. Hektisch stopfte sie die Scheine zurück in die Packung und schob diese wieder ins Eisfach, das sie mit einem Knall schloss.

Dann drehte sie sich um und hielt dem Schlosser ein Glas Cola entgegen, in dem drei harmlose Eiswürfel schwammen: »Te apetece una Coca Cola?«

Verlegen nahm der Mann die Limonade an, trank in hastigen Zügen. Dann zeigte er auf das Schloss, legte ihr zwei nagelneue Schlüssel in die Hand. Er zückte sein Handy, tippte darauf herum und zeigte Irene die Anzeige eines Taschenrechners, in dessen Ergebnisfeld eine lächerlich geringe Summe stand.

Sie holte ihr Portemonnaie aus der Handtasche und gab ihm seinen Lohn, rundete ihn mit einem großzügigen Trinkgeld auf. Der Mann bedankte sich und ging.

Ob er die Scheine aus dem Kühlschrank gesehen hatte? Aber sie hatte ihm den Rücken zugewandt. Ihr Körper hatte vermutlich den Blick auf den Geldstapel versperrt.

Irene stürzte ihre Cola herunter, ging zur Tür und schloss zwei Mal ab. Der neue Schlüssel hakelte noch etwas.

Dann öffnete sie erneut das Eisfach, nahm die Spinatpackung heraus und holte die Scheine hervor. Sie setzte sich an den Esstisch und zählte. Bei hundertzwanzigtausend kam sie durcheinander und gab auf.

Woher hatte Hubert so viel Bargeld? Irene schluckte. Eine solche Menge Scheine hatte sie noch nie auf einmal gesehen. Sie brauchte Ruhe, um über den Fund nachzudenken. Nur eins war klar: Im Kühlschrank konnte der Schatz nicht bleiben, denn eventuell hatte Juan sie beobachtet. Sie musste sich ein besseres Versteck ausdenken.

Mehr über die Autorin und ihr Werk auf www.katja-kleiber.de

Eine ganze Stadt geht Krimi!


Morgen beginnt in Speyer das Ladies Crime Festival. Aber eigentlich hat es schon am Montag angefangen. Das Organisationsteam der Region Rein-Neckar hat das LCF wahrlich auf die nächste Stufe gehoben. Eine Buchvorstellung. Lesungen an allen möglichen Orten, ein Nachwuchs-Schreibwettbewerb, ein Kindertheater – und. nach der Mitgliederversammlung am Samstagmorgen dann am Abend die legendäre Ladies Crime Night.

Und dort werde auch ich lesen. Ich habe meine dreizehnte Fee im Gepäck und freue mich schon „narrisch“.

Davor gibts noch ein Interview mit dem Fernsehen über unseren Verein, die Mörderischen Schwestern.

Mädels, werdet doch Mitglied bei uns? Es lohnt sich auf alle Fälle – egal. ob du Krimis schreibst, verlegst, verkaufst, liest oder darüber blogst.

Ich berichte im Nachgang. Und drückt mir die Daumen, denn seit gestern Nacht plagt mich ein ganz übler Bauch-Virus. Abereins ist klar: ich bin auf jeden Fall dabei!

Hier könnt ihr euch das Programm in Auszügen anschauen. Super Mega Spitze, was die Regioschwestern da auf die Beine gestellt haben!

Und hier alle Veranstaltungen auf einen Blick ❣️

Herbst-Zeit-Lose


Ihr Lieben, ja, ich gebe es zu: ich bin eine Herbst-Zeit-Lose. Eine, die ihren Blog vernachlässigt. Und euch, die ihr – vielleicht – ab und zu mal was Neues von mir lesen wollt.

Hier deshalb zumindest eine Skizze. Und ein Versprechen.

Zunächst die Skizze:

Viel ist passiert, im Sommer. Ich habe mich für viele Events beworben,, viele Beiträge eingereicht. Eine Einreichung – bis jetzt – war erfolgreich: Ich werde auf der Ladies Crime Night im Rahmen des Ladies Crime Festival in Speyer lesen und meine dreizehnte Fee, die böse Mary Poppins, zum Leben erwecken. Am 8. November!

Weil Ihr diese Lesung leider sehr wahrscheinlich nicht live erleben könnt, lade ich euch ganz herzlich ein, am 27. November um 19 Uhr dabei zu sein. Ganz egal, wo ihr dann gerade seid. Daheim oder im Urlaub, auf der Couch oder im Auto. Ihr braucht nur einen Computer, einen Laptop, ein Tablet oder ein Smartphone. Und schon seid ihr mittendrin in der ersten Online-Lesung der Mörderischen Schwestern!

Insgesamt werden 5 Autorinnen lesen. Ich bin mit meiner dreizehnten Fee dabei. Und ich zeige euch die wichtigsten Protagonist*innen. Und Ellens Münchner Villa.

Klickt auf unseren Youtube-Kanal, schaut und hört zu. Es lohnt sich!

Alle Infos findet ihr auf dem Plakat. Wenn euch was fehlt – fragt mich!

Und jetzt noch das Versprechen:

Ich habe soviel auf dem Herzen. Zu Gaza, zum Rechtsruck, der immer mehr zum Erdrutsch wird, nicht nur in Deutschland. Und zu mir. Ich schreibe. Es. Auf. Versprochen.

Genießt den Sommer bis zum Sch(l)uss. Und noch darüber hinaus


Er ist da: der ultimative Krimigenuss voller Sonne und Spannung. Ideal für lazy moments am Strand, chillige Stunden auf Balkon oder Hängematte. Und natürlich als Sommerrevival Must have, wenn die Blätter rieseln.

Die Anthologie enthält 16 Sommerkrimis, von böse bis skurril. Mit dabei: meine „Dreizehnte Fee“, in der Journalistin Ellen von einer modernen Mary Poppins zunächst fabelhaft und entlastet und dann (beinahe) entsorgt wird.

Erhältlich als E-Book und als Taschenbuch, z.B. hier:

https://amzn.eu/d/4zNCz7D

Ich freu mich über eure Rezensionen!

Habt eine spannende Zeit!

Eure Marie Bastide