MiniKrimi Adventskalender am 22. Dezember


Rache ist stärker als der Tod

Endlich. Die längste Nacht des Jahres. Genug Zeit und genug Bewegungsfreiheit. Livia schickt dem Ausgrabungsteam, das ihr das Schloss von den Füßen entfernt hat, einen innigen Dankesgedanken. Und die Archäologen haben sie auch umgedreht. Statt bröckeliger Erde sieht Livia nun eine Welt, die sich in 400 Jahren sehr und gleichzeitig kaum verändert hat. Der Friedhof mit dem eingezäunten Bereich, wo neben Livia noch andere Männer, Frauen und Mädchen begraben waren, die von den Dorfbewohnern als Vampire gefürchtet und mit entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen begraben wurden, sieht noch so aus wie damals. Ein kleiner Hügel mit struppigem Gras, fetter Erde und ein paar zerzausten Tannen. Unten sieht man das Dorf, und auch das hat sich von hier oben betrachtet kaum verändert. Niedrige Häuser ducken sich rund um das trutzige Steinkirchlein. Die Straßen bestehen immer noch aus Erde und Sand. Nur um die Kirche herum haben sie den Platz gepflastert. In den Häusern flackert Licht, und überall stehen Masten mit Leitungen. Aus den Schornsteinen quillt Rauch, und es riecht nach Holzfeuer. Livia hat auch nach dieser langen Ruhezeit keine Schwierigkeiten, sich in ihrer Heimat zurechtzufinden.

Sie klettert aus ihrem Grab, sammelt sich und betrachtet in einer Pfütze ihr Gesicht. Ein kleines Mädchen schaut sie an. Mit langen, wirren Haaren und einer vergilbten Kappe bis knapp über den stechend grauen Augen. Ein blasser, zusammengekniffener Mund im bleichen Gesicht. Ihr schwarzes Kleid ist von Würmern durchlöchert, die Schuhe verschimmelt.

Es gibt Schlimmeres. Wie zum Beispiel eine Sechsjährige zu einem Vampir abzustempeln, nur, weil sie ihren Bruder, den ersehnten Stammhalter, aus Eifersucht in den Hals gebissen hat. Livia hat damals ein Gespräch ihrer Eltern belauscht. „Zwei Kinder können wir nicht ernähren und standesgemäß aufziehen. Die Felder haben schon das dritte Jahr in Folge kaum Ernten erbracht, die Bauern können ihre Pacht nicht zahlen. Aber Theo brauchen wir, er wird meine rechte Hand und mein Nachfolger. Also: das Mädchen muss weg“, sagte der Vater.

„Aber wie willst du das anstellen?“, fragte die Mutter. Du kannst sie nicht einfach weggeben oder gar töten. Die Bauern würden das als Grund zum Aufstand nehmen.“

„Du wirst sehen, die Bauern werden die ersten sein, die ihren Tod fordern.“

„Wie das?“

„Ich erzähle im Wirtshaus, natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass ich fürchte, Livia sei zum Vampir geworden. Du erinnerst dich doch an den Tagelöhner, der mir im Sommer mit den Pferden geholfen hat?“

„Ja. Livia mochte ihn sehr. Sie saß abends oft bei ihm, wenn er auf der Mandoline spielte.“

„Genau. Ich sage, dass sie einmal nach Hause kam und zwei rote Flecken am Hals hatte. Und dann erzähle ich, wie sie Theo gebissen hat.“

„Die Bauern haben furchtbare Angst vor Vampiren! Sie werden sie steinigen. Das arme Kind!“

„Soweit lassen wir es nicht kommen. Wir geben ihr einen Trank mit Fingerhut, so dass sie im Schlaf stirbt. Man wird keine Verletzung an ihr finden, und das wird ein weiterer Beweis dafür sein, dass sie ein Vampir ist. Lass die Bauern sie begraben, mit allen nötigen Schutzmaßnahmen, damit sie nicht aus dem Grab aufstehen kann.“

Obwohl Livia vorgewarnt war, hat sie den Kakao getrunken, den ihr ihre Mutter ein paar Wochen später hinstellte. Als besondere Belohnung, weil sie den Bruder nicht mehr gebissen hat.

Dann lief alles so ab, wie der Vater es vorhersehen hatte. Livia starb, wurde begraben – und konnte erst jetzt, 400 Jahre später, ihr kaltes, dunkles Grab verlassen, in dem sie, mit dem Gesicht nach unten, damit sie nur in die Erde und nie wieder in einen Menschen beißen,  und mit einem schweren Schloss an den Füßen, damit sie nicht weglaufen konnte, gefangen war.

Aber jetzt ist sie endlich frei. Heute ist der Tag ihrer Rache.

Sie geht hinunter ins Dorf. Es ist stockdunkel in dieser längsten Nacht des Jahres. Und auch, wenn aus den Fenstern die bunten Bilder der Fernseher flackern und draußen die Straßenlampen ein gespenstisches Licht auf die Häuser werfen – die Angst vor Vampiren und Untoten ist lebendig in diesem kleinen polnischen Dorf, in dem die Neuzeit nur einen dünnen Mantel über Glauben und Bräuche des Mittelalters geworfen hat.

 Der Weg bis zu ihrem Elternhaus ist weit. Aber Livia spürt weder Kälte noch Furcht. Hier steht es, groß und stark hinter dem hohen Eisentor. Das Gutshaus, zu dem das Dorf und alle Ländereien gehören. Sie geht durch das Tor, als sei es nicht verschlossen. Drinnen auf dem gepflasterten Hof sieht es allerdings deutlich anders aus als im übrigen Ort. Große Kutschen stehen dort, aber ohne Kutschbock. Dafür glänzen sie in schwarz und blau. Aus den Ställen dringt Licht und Musik. Scheinbar leben dort jetzt Menschen und kein Vieh mehr.

Sie geht auf das Haupthaus zu. Links neben dem Eingang war der Küchengarten, den Livia besonders liebte. Jetzt hasst sie ihn, denn dort hat ihre Mutter den Fingerhut gepflückt, mit dem sie ihre Tochter getötet hat. Welche Mutter tut so etwas?

Vor der schweren Eichentür steht ein Mann. Groß, mit dunklen Haaren und einem kurzen dunklen Bart. In der einen Hand hält er etwas, das Ähnlichkeit mit den Zigarren hat, die ihr Vater – als einer der ersten in ganz Polen – rauchte. Er spricht in einen kleinen Kasten in seiner rechten Hand. Livia kennt das. Auf dem Friedhof machen das die meisten.

Da schaut der Mann auf und sieht Livia. „Nanu,“ sagt er. „Wo kommst du denn her? Wer bist du?“ Livia versteht seine Sprache, auch, wenn sie etwas anders ist als das Polnisch ihrer Zeit. Der Mann mustert sie. „Du warst wohl auf einer dieser Geisterparties zur Wintersonnenwende? Hast du dich verlaufen?“

Weil Livia nicht weiß, was sie antworten soll, verdreht sie die Augen und lässt sich stocksteif zu Boden fallen.

„Herrje, die Kleine ist ohnmächtig geworden. Ich muss Schluss machen, Oleg.“

Dann hebt der Mann Livia auf und trägt sie ins Haus. In den nächsten Stunden bemühen Andrej, so heißt er, und Olga, seine Frau, sich um das Mädchen. Sie flößen ihr Wasser und dann Brühe ein. Als sie die Augen aufmacht, tragen sie sie ins Badezimmer und legen sie in eine Wanne voll duftendem Schaum. So etwas gab es bei Livias Eltern noch nicht!

Sie schließt die Augen und hört Andrej und Olga flüstern. „Ja, ich weiß, wir sollten sie der Polizei melden. Aber sieh nur, wie sie ausschaut. Als sei sie gerade dem Tod entronnen. Wir kümmern uns erst mal um sie. Wir wollten doch schon immer ein kleines Mädchen haben, oder? Und natürlich schauen wir ins Internet, ob irgendwo ein Kind vermisst wird.“

„Wer lässt seine Tochter schon mitten in der Nacht alleine? Solche Eltern haben das Kind sowieso nicht verdient. Gut. Wir machen das so, wie du vorgeschlagen hast. Und wenn jemand fragt, dann ist sie das jüngste Kind deiner Cousine. Etwas behindert. Das erklärt, warum sie nicht spricht. Sie soll ein paar Monate bei uns auf dem Land bleiben.“

Und so lebt Livia von Stund an bei Olga und Andrej. Mit der Zeit „taut“ sie auf und beginnt sogar, zu sprechen. Ihren Plan, in ihrem Elternhaus zurück in die Vergangenheit zu gehen und sich an ihren Eltern für den Mord an ihr zu rächen, hat sie aufgegeben. Jetzt geht es ihr gut. Endlich. Und hat sie nicht ein Recht darauf, nach 400 Jahren in einem modrigen Grab?

Heute ist es genau ein Jahr her, dass Livia zu Andrej und Olga gekommen ist. Im Dorf haben sie die „Nichte“ schnell akzeptiert. Sie geht sogar zur Schule. Sie trägt die schönste Kleidung, ganz anders und viel bequemer als das, was sie in ihrem ersten Leben anziehen musste.

Sie sitzen beim Abendessen. Der Tisch ist besonders festlich gedeckt – zur Feier des Tages. „Nun bist du schon ein Jahr bei uns, liebe Livia. Du hast uns so glücklich gemacht. Du bist unser Sonnenschein. Olga und ich haben so lange vergeblich versucht, ein Kind zu bekommen. Und dann standst du auf einmal vor unserer Tür!“

„Ja, du bist unser großes Glück. Und ich bin überzeugt, dass das, was wir dir jetzt gleich erzählen werden, auch nur deshalb passieren konnte, weil du bei uns bist. Schau, Livia, du wirst einen kleinen Bruder bekommen. In einem halben Jahr bist du die große Schwester. Freust du dich?“

Livia starrt Olga und Andrej an. Es ist, als würde ihre Lebensgeschichte noch einmal von vorne beginnen. Sie steht auf, ohne zu bemerken, dass sie dabei den Stuhl umstößt. Sie rennt die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Ihr altes Zimmer. Ihr neues Zimmer mit allem darin, was ein Mädchenherz sich nur wünschen kann. Aber wie lange wird es ihr noch so gut gehen? Livia weiß, was passiert, wenn ein zweites Kind in die Familie kommt.

Doch diesmal ist sie vorgewarnt. Diesmal wird man sie nicht überraschen. Überrumpeln.

Livia lässt sich Zeit. Ein halbes Jahr lang tut sie so, als freue sie sich auf den Nachwuchs. Und als Konstantin dann auf der Welt ist, beobachtet sie ihre neuen Eltern sehr genau. Ja, es ist so, wie sie befürchtet hat. Alles dreht sich plötzlich um den Kleinen. Gut, Andrej fährt sie weiterhin zum Ballett und zum Reiten. Olga liest ihr jeden Abend eine Gutenachtgeschichte vor. Und sie hat die beiden noch nie dabei belauscht, wie sie Pläne schmieden, um Livia wieder loszuwerden. Aber das bedeutet gar nichts. Sicher hat sie es nur nicht mitbekommen.

Dann, eines Tages, ist es soweit. „Livia, wir müssen für eine Woche nach Frankreich. Arbeit. Konstantin nehmen wir mit. Aber du musst hierbleiben. Du hast Schule, Reiten, Ballett. Olgas Freundin Nadja wird auf dich aufpassen. Und wir sind in einer Woche wieder da und bringen dir was ganz Tolles mit. Was wünscht du dir am meisten? Eine große Mickey Maus? Oder einen Tüllrock?“

Livia schaut die beiden aus ihren großen, stechend grauen Augen an.

Später, als Konstantin seinen Mittagsschlaf hält, schleicht sie zu ihm ins Zimmer. Wie friedlich er da liegt. Ein rosa Gesichtchen, umrahmt von blonden Locken. „Er ist viel schöner als ich“, denkt Livia. „Ich hasse ihn.“

Sie beugt sich zu dem Baby hinunter. Und beißt zu. Kräftig. Das Blut schmeckt süß. Sie kann gar nicht genug davon trinken.

Dann geht sie in ihr Zimmer. Zieht an, was sie trug, als sie aus dem Grab gestiegen ist. Hinauf auf den Hügel, zum Friedhof, in den Teil für Vampire. Sie legt sich in ihr Grab. Mit dem Gesicht nach unten. Das Schloss umschließt ihre Füße. Aber den Schlüssel gräbt sie in die Erde unter sich ein. Sie wird noch ein paar Jahre warten. Jahrhunderte, vielleicht. Und es noch einmal versuchen, mit ihrer Rache.

Konstantin, der offenbar am plötzlichen Kindstod gestorben ist, wie die Eltern sagen, wird auch auf dem Friedhof begraben, nicht allzu weit von Livia entfernt. „Das war bestimmt ein Vampir“, flüstern die Alten. „Habt ihr gesehen, wie blass das Kind war? Und wieso ist das kleine Mädchen so plötzlich verschwunden, gleichzeitig mit dem Tod des Jungen?“ Aber wer hört schon auf sie?

Diese Geschichte ist entstanden, nachdem ich vom Fund eines „Kindervampirs“ in einem polnischen Dorf gelesen habe.  

MiniKrimi Adventskalender am 21. Dezember


Kommt Zeit, kommt Rat

von Roswitha Zatlokal

Kommt Zeit, kommt Rat von Roswitha Zatlokal

Widerwillig betrat Otto das Lokal. Ihm war sofort klar, warum Regina ausgerechnet dieses Schickimicki-Restaurant ausgesucht hatte. Er hasste diese eingebildeten Deppen, die in derartigen Lokalitäten verkehrten, und das wusste sie. „Zieh dir gefälligst was Anständiges an“, hatte sie ihn am Telefon noch angekeift. Als ob er nicht immer ordentlich angezogen wäre. Nur weil er kein Anzugträger war, hieß das noch lange nicht, dass er sich nicht zu kleiden wusste. Hoffentlich war dieser Zirkus bald vorbei. Diese Frau brachte ihn noch ins Grab.

Suchend sah er sich um. Ein Kellner watschelte schnurstracks in seine Richtung. Sein Auftreten eine Spur zu hochnäsig, die angedeutete Verbeugung beinahe widerwillig ausgeführt. Herablassend fragte er: „Sie wünschen, der Herr?“

„Ich werde erwartet. Von Frau Mittergruber Regina, um genauer zu sein.“ Otto sah über die Schulter des Kellners. „Ah, da hinten sitzt sie ja und winkt mir zu. Danke.“ Er streifte den Kellner im Vorbeigehen an der Schulter, entschuldigte sich jedoch nicht. Forschen Schrittes ging er auf Reginas Tisch zu. „Wieso hier in diesem Restaurant? Und warum jetzt? Und wie bist du überhaupt an die Reservierung gekommen, wartet man hier nicht wochenlang auf einen Tisch? Ich übernehme mit Sicherheit nicht die Rechnung, meine Liebe.“

„Freut mich auch, dich zu sehen, mein Lieber.“ Sie erhob sich. Angedeutete Küsschen links rechts wurden an seinen Ohren vorbeigehaucht, seine Hände von ihren gedrückt. „Komm, schau nicht so grantig. Setz dich.“

„Was willst du?“ Er traute dem plötzlichen Frieden nicht. „Geht es um die Scheidung? Das Haus? Das Auto?“

„Aber nicht doch, mein Lieber, nichts dergleichen. Ich hab nachgedacht. Alles, was ich will, ist Theo. Sonst nichts.“

„Theo?“ Er spürte die Bleiche in seinem Gesicht aufsteigen, Schwindel ergriff ihn. „Wieso Theo. Du weißt genau, wie viel er mir bedeutet.“

„Schau, ich liebe Theo doch auch. Im Gegenzug verzichte ich auf alle deine Reichtümer.“ Sie zeichnete bei ihrem letzten Wort Entenfüßchen in die Luft. „Sogar auf die mir zustehenden.“ Betont milde lächelte sie, zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

„Ich verstehe nicht ganz. Wieso? Du hast doch bis vorige Woche um jeden Cent gestritten. Ist es, weil du mein Elternhaus nicht kriegst?“

„Ach, komm. Das hab ich doch nur gesagt um dich zu ärgern. Wer will schon dieses alte Haus? Werde doch glücklich damit. Ich habe alles schon geplant. Ich ziehe nach unserer Scheidung zu meiner Schwester nach Spanien, brauche also deinen ganzen Krempel überhaupt nicht. Aber Theo würde ich gerne mitnehmen. Er gehört schließlich nicht nur dir. Wir haben ihn gemeinsam zu uns geholt, falls du dich noch daran erinnerst, mein Lieber.“

„Im Adoptionsvertrag steht aber mein Name.“ Seine Augenbrauen zogen sich unwillkürlich zusammen, die Ader auf seiner Stirn pochte. Er hasste es, wenn er so reagierte. Regina brauchte ihn nur anzusehen, und sie wusste, wie es um ihn stand.

„Otto, Theo ist doch nur ein Hund. Du kannst dir einen anderen aus dem Tierheim holen.“ Sie lächelte zuckersüß.

„Nur ein Hund? Nur ein Hund?“ Seine Stimme überschlug sich beinahe. Die anderen Gäste reckten ihre Hälse. Empörte Blicke wegen der mittäglichen Ruhestörung und aufgeregtes Murmeln waren die Folge seines Ausbruches. Besänftigend hob er die Hände und deutete eine Verbeugung in sämtliche Richtungen an. Das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war, sich in der Öffentlichkeit zu streiten. Er durfte nichts tun, was ihr bei der Scheidung in die Hände spielte.

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Du weißt, dass ich das nicht so gemeint habe. Ich wollte nur zum Ausdruck bringen …“

„Warum um Teufels Namen holst DU dir nicht einfach einen anderen Hund? Wieso möchtest du unbedingt Theo?“

„Dasselbe habe ich eben zu dir gesagt, mein Lieber.“ Freundlich lächelte sie ihn an.

Sie beobachtete wie er an seinem Hemdkragen zerrte. Jetzt hatte sie ihn genau da wo sie ihn haben wollte. Aufgebracht, polternd und am Rande eines Herzinfarkts. Ein Riese von einem Mann, der wegen eines kleinen Hundes jämmerlich einknickte und vor Verzweiflung am liebsten losgeheult hätte. Insgeheim kicherte sie in sich hinein. Er war so herrlich einfach gestrickt, so berechenbar. Ihn zu manipulieren bereitete ihr eine Mordsfreude.

„Niemals. Nur über meine Leiche“, keuchte er mit hochrotem Gesicht. „Theo ist alles für mich.“ Er griff sich an die Brust. „Du miese kleine …“ Er röchelte.

„Ja, ja. Aber hier trink erst einmal einen Schluck Wasser. Du kriegst ja noch einen Herzinfarkt, wenn du so weitermachst. Ich weiß, Theo erinnert dich an deinen Strolchi aus Kindheitstagen, der für dich gestorben ist, indem er dich von der Straße weggezogen hat, um dich vor einem Auto zu retten. Aber Theo ist nicht Strolchi. Hol dir einen ähnlich aussehenden Hund und gib mir Theo. Dann siehst du mich nie wieder.“

Er griff mit zitternden Händen nach dem Glas, stürzte den Inhalt hinunter. Dann nestelte er eine Packung Tabletten aus seiner Jackentasche. „Los, gib mir noch ein Glas Wasser.“ Sie füllte das Glas nach und sah ihm zu, wie er zwei Tabletten aus der Schachtel nahm und mit dem Wasser einnahm. „Niemals! Du kriegst Theo niemals. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen! Er sprang auf, der Stuhl kippte polternd zu Boden. „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, meine Liebe.“ Als wäre der Teufel hinter ihm her, rannte er aus dem Lokal. Entschuldigend nickte Regina in die Runde. Mitfühlende Blicke streiften sie. Regina deutete dem Kellner, die Rechnung zu bringen.

„Nicht doch, meine Liebe. Ich übernehme das für Sie. Dieser Rüpel hat sie doch tatsächlich mit der Rechnung sitzen gelassen, Menschen gibt`s.“ Der Herr vom Nebentisch gab dem Kellner ein Zeichen, alles auf seine Rechnung zu schreiben.

„Danke, das ist sehr nett von Ihnen.“ Regina nickte höflich und verließ hocherhobenen Hauptes das Restaurant.

„Was haben wir?“ Major Stettel von der Mordkommision stopfte sich den Rest seiner Leberkässemmel in den Mund und schaute seinen Kollegen Meierhofer, der bereits in einem kleinen Park auf ihn wartete, erwartungsvoll an.

„Gute Frage. Männliche Leiche, Mitte fünfzig, keine äußeren Verletzungen. Gefunden wurde er von der Dame dort drüben. Anfangs dachte sie, er schlafe hier seinen Rausch aus. Als sie ihn nicht wachbekam, hat sie sofort die Rettung und die Polizei verständigt.“

„Und wieso bin ich hier?“ Stettel dachte an die zweite Leberkässemmel im Auto, die er noch gerne gegessen hätte, solange der Leberkäse noch heiß war.

„Weil es auch dein Job ist, hier zu sein. Fürchtest du dich neuerdings vor Tatorten?“

„Quatsch. Aber ein Toter ohne jegliche Gewaltanwendung kann auch bis morgen auf mich warten. Oder schaffst du den nicht alleine? Was sagt denn unser Medikus?“

„Erst wenn der Mann auf seinem Tisch war, kann er mehr sagen.“

„Also wie immer. Gut, dann geh ich wieder zu meiner Leberkässemmel.“

Seufzend sah ihm Meierhofer nach. Stettel war der unmotivierteste Kollege, mit dem er jemals zusammengearbeitet hatte. Welch ein Glück, dass Stettel in drei Wochen in Pension ging.

„Meine Lieben, der Doc sagt, Euer Toter vom Park hatte es mit dem Herzen. Möglich, dass er wegen der Herzattacke panisch wurde und sich zu viele Medikamente eingeschmissen hat. Ihr wisst ja, wenn das Herz rast, sich vielleicht sogar der Hals zuschnürt und man nach Luft schnappt …Aber das müsst ihr herausfinden.“ Inspektor Gruber legte einen Akt auf Meierhofers Schreibtisch.

„Also nix mit Mord. Wie ich es mir ja gleich gedacht habe.“ Stettel grinste selbstgefällig.

„Zumindest auf den ersten Blick, sagt der Doc.“ Gruber stibitzte sich einen Keks von Stettels Schreibtisch. „Ich soll dir übrigens ausrichten, dass du deinen Leberkässemmel-Konsum ein wenig einschränken sollst, deine Blutfette sind nicht gerade ohne.“

„Was zum Teufel gehen dich meine Blutfette an? Hat der Doc nicht so was wie Verschwiegenheitspflicht?“, grantelte Stettel. „Da bittet man ihn um eine Kleinigkeit, und der macht das gleich in der ganzen Abteilung publik.

„Selber schuld, wenn du in die Patho gehst statt zum Hausarzt.“ Meierhofer schüttelte missbilligend den Kopf.

„Ich wollte doch nur Elvira beweisen, dass alles in Ordnung ist.“

„Oh, hat die Frau Gemahlin bemerkt, dass du von ihrer gesunden Jause nicht so zugenommen haben kannst und Euer Hausarzt ihr das stecken könnte?“, feixte Gruber.

Meierhofer griff nach seiner Jacke. „Du, ich möchte trotzdem nochmal mit der Frau von unserem Toten reden. Die hat das doch sehr gefasst aufgenommen, das mit seinem plötzlichen Tod. Findest nicht auch?“

„Die leben schließlich getrennt, wollten sich scheiden lassen. Warum sollte sie sein Tod da noch erschüttern? Hat sie nicht gesagt, dass sie nach der Scheidung zu ihrer Schwester nach Spanien ziehen wollte?“

„Hat sie. Aber was heißt das schon?“

„Frau Bogner, Ihr Mann hatte es mit dem Herzen?“ Meierhofer zückte Bleistift und Notizblock und sah sie erwartungsvoll an. Stettler seufzte insgeheim. Dass Meierhofer immer so eine Getue veranstalten musste. Der guckte echt zu viele Krimis im Fernsehen.

„Ja, das sagte ich Ihnen ja schon. Und auch, dass er sich bei unserem Gespräch furchtbar aufgeregt hat. Es war eine derart peinliche Situation, einfach nur furchtbar.“

„Wir haben im Lokal nachgefragt. Ihre Aussage wurde uns bestätigt. Aber nochmals, nur damit ich es auch verstehe: Ihr Mann hat sich wegen ihrem Hund Theo so aufgeregt?“

„Ja. Ich wollte Theo mitnehmen ins sonnige Spanien. Das hat ihn total aufgebracht. Plötzlich wollte er den Hund behalten und mir im Gegenzug sogar sein Elternhaus überschreiben. Aber der Herr vom Nebentisch hat das ja alles mitangehört. Leider.“

„Nun, das mit Theo hat er mitbekommen. Aber ob ihr Mann ihnen das Haus überschreiben wollte, konnte er nicht bestätigen. Obwohl die Worte Haus und Vermögen gefallen sind, sagt er. Auch hat er gesehen, dass ihr Mann etwas einnahm.“

„Ja, auch das sagte ich Ihnen schon. Seine Medikamente. Aber was wollen Sie jetzt von mir?“

„Laut ihrem Hausarzt Doktor Pichler war ihr Mann doch schon seit zehn Jahren krank und wusste genau umzugehen mit seinen Medikamenten. Wieso also hat er sich dieses Mal wohl bei der Dosierung vertan?“

„Sie fragen mich das im Ernst? Ich meine, ich war doch nicht ständig bei ihm. Woher soll ich das denn wissen?“ Regina zog ihre Augenbrauen derart hoch, dass Stettler befürchtete, sie würden ihr am Haaransatz kleben bleiben.

„Wer alles hatte Zugang zu den Medikamenten?“ Meierhofer ließ nicht locker. Stettler verfluchte ihn dafür. Er könnte jetzt friedlich im Büro bei einem Kaffee sitzen und sich im Internet die Wiederholung des gestrigen Fußballspieles ansehen, welches er versäumt hatte. Er hatte extra keine Zeitung gelesen und keine Nachrichten gehört, damit er das Ergebnis nicht kannte. Aber nein, sein Herr Kollege musste ja nachfragen. Wenn der sich wo festgebissen hatte, gab es kein Erbarmen.

„Auch das kann ich Ihnen nicht sagen, da ich bereits seit Wochen nicht mehr im Haus wohne. Ich hatte doch nicht einmal mehr einen Schlüssel dafür.“

„Aber sie wollten doch gar nichts, sagten sie.“

„Ach du meine Güte. Haben Sie sich noch nie getrennt? Da sagt und tut man Dinge, die man gar nicht so meint und im Prinzip auch gar nicht machen möchte. Hören Sie, wenn Sie mich jetzt nicht bald in Ruhe lassen, rufe ich meinen Anwalt an. Ich fühle mich schikaniert.“ Sie verschränkte die Arme und schaute ihn böse an.

„Wann fliegen Sie nach Spanien?“ Stettler wollte das Thema wechseln. Auch ihm ging Meierhofer mittlerweile gründlich auf die Nerven.

„Ich weiß es noch nicht. Es gibt noch so viel zu erledigen. Die Beerdigung und die Verlassenschaftsangelegenheiten. Keine Ahnung.“

„Sie wandern also trotzdem noch aus?“ Meierhofer konnte es einfach nicht lassen.

„Ich weiß es noch nicht. Würden Sie jetzt bitte gehen?“

„Eine Frage noch“, Meierhofer kratzte sich am Kopf. „Was wollte Ihr Mann wohl in dem Park?“

„Vielleicht sich beruhigen, was weiß ich! Wahrscheinlich ist er rausgerannt aus dem Restaurant und hat sich dort auf diese blöde Bank gesetzt, um sich zu beruhigen.“

„Was war das gerade? Wieso schikanierst du die Frau so? Ich meine, wie soll die Schuld am Tod ihres Mannes sein? Indem sie mit ihm gestritten hat?“, giftete Stettler, kaum dass sie vor dem Haus standen.

„Da stinkt doch was. Ich mein, die bestellt ihn in dieses schicke Lokal, streitet mit ihm, und dann fällt der einfach tot um?“ Meierhofer schüttelte den Kopf. „Das stinkt, sag ich dir.“

„Nein, er ist gestorben, weil er sauwütend war und sich dadurch sein Zustand derart verschlechterte, dass er in Panik zu viele Medikamente zu sich nahm. Das ist ein großer Unterschied, mein Lieber. Nicht alle Witwen haben ihre Männer umgebracht.“

Am Tag der Beerdigung beobachtete Meierhofer griesgrämig aus einiger Entfernung  die Trauerzeremonie. Es ärgerte ihn maßlos, dass der Leichnam trotz seines Protestes freigegeben worden war. Stettler, dieser verfressene Faulpelz, hatte dem Staatsanwalt bestätigt, dass es keinerlei Indizien für einen gewaltsamen Tod gab. Die Witwe veranlasste natürlich sofort eine Feuerbestattung. Hätte er auch gemacht an ihrer Stelle. Einen verdammten Tag mehr hätte es gebraucht, und dieser Vollpfosten wäre in die Pension verabschiedet gewesen. Meierhofer schüttelte verärgert den Kopf.

Erleichtert und mit sich zufrieden stieg Regina vor ihrem Haus aus dem Taxi. Mit dem Wissen, wie es um Otto stand, war alles ein Kinderspiel gewesen. Aufregungen taten ihm nicht gut. Aufregungen am laufenden Band waren mittlerweile lebensbedrohlich für ihn. Ihn zu ärgern war nicht schwer gewesen. Otto kochte schon immer leicht über, geriet wegen Kleinigkeiten in Rage. Ihn dann auf diesem Level zu halten, war das reinste Kinderspiel, je länger sich die Scheidungsgeschichte hinzog. Theo ins Spiel zu bringen, war ihr Meisterstück. Niemals hätte er freiwillig auf seinen geliebten Hund verzichtet. Niemals! Sie grinste zufrieden und schloss die Tür auf.

„Frau Bogner?“ Eine Männerstimme brachte sie zum Innehalten. Langsam drehte sie sich um. Es war der nette Mann aus dem Restaurant, der ihre Rechnung übernommen hatte.

„Ja?“ Misstrauisch beäugte sie ihn.

„Ich denke, wir haben einiges zu bereden.“

„Wir? Ach, wegen der Rechnung vom Restaurant? Wollen Sie das Geld zurück?“

„Geld will ich schon, aber nicht für die Restaurantrechnung. Das wäre doch unehrenhaft, das Geld jetzt von Ihnen zurückzuverlangen, finden Sie nicht auch?“

„Aber, was wollen Sie denn dann von mir?“

„Nun, ich habe alles gesehen. Sie wissen schon, die Tabletten in der Wasserkaraffe, die Sie dann nach all der Aufregung aus Versehen umgeschüttet haben und das alles.“

Verdammt, dieser Mistkerl! Ob er bluffte? „Ich weiß zwar nicht wovon Sie reden, aber kommen Sie doch erst einmal herein.“ Regina hielt ihm freundlich die Tür auf. Nur nicht aufregen, Regina, dachte sie bei sich. Wie hat Großmutter schon immer gesagt? Kommt Zeit, kommt Rat. Sie lächelte und schloss die Tür hinter sich.

Mehr über Roswitha Zatloka findet Ihr hier https://www.roswithazatlokal.com

MiniKrimi Adentskalender am 20. Dezember


Heute verbirgt sich hinter dem Türchen der Auszug aus einem Thriller, der nächstes Jahr in der Anthologie „Sommerkrimis“ erscheinen wird. Ihr erfahrt alles Wichtige dazu dann zeitnah.

Die dreizehnte Fee (Auszug)

I

„Oscar! Komm runter und setz dich an den Tisch. Dein Kakao wird kalt.“

„Ich will keinen Kakao. Der hat zu viel Zucker und macht mir Karies. Hat Onkel Theo gesagt. Der ist Zahnarzt und muss es wissen. Und auf meinem Brot ist viel zu wenig Nutella.“

Ellen übergeht den Widerspruch in den Aussagen ihres neunjährigen Sohnes. Sie weiß aus leidvoller Erfahrung, dass eine Diskussion über Zahnhygiene nicht bis zur Abfahrt des Schulbusses beendet wäre. Stattdessen geht sie zur Treppe, legt den Kopf in den Nacken und hält nach ihrer Tochter Olive Ausschau.

„So kannst du unmöglich in die Schule gehen“, sagt sie, als die 14-Jährige aus ihrem Zimmer kommt, in zerrissenen Shorts über löcherigen Strumpfhosen.

„Ach Mama, du hast ja absolut eine Ahnung. Deine Ansichten sind sowas von cringe“, sagt Olive, setzt eine gelangweilte Mine auf und greift nach einer Banane. „Igitt, die hat ja schon braunen Flecken.“ „Gestern war sie noch grün, da wolltest du sie auch nicht.“ Ellens Stimme zittert. Aus den Augenwinkeln sieht sie, wie Oscar das Gesicht verzieht, seinen Stuhl zurückschiebt und mit dem angebissenen Brot in der einen und dem Rucksack in der anderen Hand aus der Küche stürmt. Die Haustür fällt krachend ins Schloss, und Ellen ist allein mit den Spuren ihrer Kinder: Patchouliduft in der Luft und Nutellakleckse auf dem Teppich.

‚So kann das nicht weitergehen‘, denkt sie. ‚Ich schaffe das nicht. Ich kann einfach nicht an drei Fronten kämpfen. Haushalt, Kinder und Beruf.‘ Ellen ist Enthüllungsjournalistin und arbeitet gerade an einem hochbrisanten Fall. Es geht um Organhandel bei Kindern. Ihre Undercover-Ermittlungen haben sie bis ins Herz der kriminellen Organisation geführt, die offenbar dahintersteckt. Nächste Woche soll ein Junge im Haunerschen Kinderspital in München eine neue Leber erhalten. Illegal beschafft. Das wird ihr größter Coup, der sie direkt in den Chefsessel ihrer Zeitung katapultieren kann. Oder in hohem Bogen auf die Straße, vielleicht mit einer Kugel im Kopf. Die Leute, denen sie auf der Spur ist, gehen über Leichen.

„Ellen, mein Frühstück!“ Ihr Vater ist die vierte Front, an der Ellen kämpft. Der demente Professor lebt seit seiner Alzheimer-Diagnose mit in der geräumigen Jugendstilvilla im Münchner Villenviertel Nymphenburg und wird von seiner Tochter betreut. Aber die Krankheit schreitet schneller fort, als erwartet, und Ellen weiß, dass sie weder seinen Bedürfnissen noch seinem Bedarf gerecht werden kann. Und will.

‚Was mach‘ ich nur‘, denkt sie. Gottseidank ist Klaus nicht auch noch da. Klaus ist ihr Mann. Herzensgut. Ein liebender Vater, treusorgender Partner und verständnisvoller Schwiegersohn. Aber seit Opa Heinrich eingezogen ist und Elvira jede freie Minute mit ihrer Recherche verbringt, fährt Klaus immer öfter und immer länger für sein Pharmainstitut auf Kongresse und Forschungsreisen. Ewig wird Klaus die Situation nicht tolerieren, das weiß sie. Und dann?

Ellen zündet sich eine Zigarette an – nachher wird sie lüften, damit die Kinder nichts merken. Schließlich kannst du ihnen schlecht das Rauchen verbieten und dann selbst wie ein Schlot das Haus vollqualmen. Auf dem Küchentisch liegt der Wochenanzeiger, mit dem sie den Biomülleimer auskleiden wollte. Abwesend überfliegt sie die Kleinanzeigen.

„Ich bin ihre gute Fee!
Mary Poppins gibt es wirklich: Sie stehen im Stress, beruflich und privat? Kein Problem. Ein Anruf – und Mary kommt zu Ihnen nach Hause. Mit einem Koffer voller praktischer Hilfen. Sie werden sehen, mit Mary läuft ihr Leben wieder glatt. Worauf warten Sie noch? Ich kann morgen bei Ihnen sein.“

Mary Poppins? Das kann doch nicht wahr sein. Nein, der Name neben der Telefonnummer lautet Mahler, nicht Poppins. Mary Mahler, Haushaltshilfe für dringende Fälle. ‚Wenn das kein dringender Fall ist, dann weiß ich auch nicht‘, denkt Ellen und wählt, bevor sie es sich anders überlegt und ihr Verstand sie mit einer Flut rationaler Gegenargumente überspült.

Drei Stunden später steht Mary vor der Tür. Mit blauem Mantel, grauem Hut – trotz der Hitze, einer großen altmodischen Reisetasche und – tatsächlich – einem Stockschirm. So weit hätte sie das Spiel nicht zu treiben brauchen, denkt Ellen. Aber sie muss zugeben, Marys Auftreten signalisiert Kompetenz und flößt Vertrauen ein.

„Mary Poppins war der Lieblingsfilm meines Vaters. Ich bin als Kind mit „Chim Chim Cheree“ eingeschlafen, und

später hat Papa mir erzählt, dass ich genau deswegen Mary heiße. Er war wirklich ein außergewöhnlicher Mann. Er hat mich über alles geliebt.“ Mary Mahler lacht und summt den Refrain des Liedes. ‚Hoffentlich singt sie das nicht, wenn die Kids daheim sind. Die machen sie sofort fertig. Und dann stehe ich wieder ohne Haushaltshilfe da‘, denkt Ellen. Denn sie hat sich bereits entschieden. „Ehm – wann könnten Sie denn anfangen?“, fragt sie und denkt „bitte sofort, bitte, bitte!“.

„Morgen ist der 1. Juli. Würde Ihnen das als Anfangstermin passen? Meine letzte Arbeitgeberin war krank, und ihre Tochter hat sie ganz plötzlich zu sich geholt. Sie hat eine Villa in Südfrankreich und glaubt, das Klima werde ihrer Mutter guttun. Ich bin also quasi vogelfrei“, lacht Mary und stimmt schon wieder ein Lied an: „Wer ist nicht vergnügt, wenn hoch sein Drachen fliegt.“ „Schauen Sie sich bis morgen in Ruhe meine Referenzen an“. Sie legt einen schwarzen Ordner auf den Küchentisch, von dem sie zuvor mit einem großen Leinentaschentuch ein paar Krümel und Nutellaspritzer entfernt hat.

„Ja. Wunderbar. Danke. Dann… bis morgen!“ Sie begleitet Mary Mahler zur Tür und schaut ihr nach, bis sie das Gartentor sorgfältig hinter sich zugezogen hat. Und wundert sich beinahe, dass kein Westwind kommt und die dunkle Gestalt in den blauen Sommerhimmel entschwinden lässt.

II

„Ellen! Wo bleibt das Mittagessen? Und wo ist deine Mutter? Der Kaffee ist schon wieder zu dünn. Warum lernst du nicht, wie man einen guten Expresso kocht?“ Noch bevor Heinrich, Ellens Vater, das Arbeitszimmer betreten hat, riecht seine Tochter ihn. Die Mischung aus Schweiß, Urin, Rauch und kaltem Kaffee umgibt ihn wie ein penetrantes Parfum. Old man, nicht Old Spice, obwohl er auch danach riecht, „on top“.

Ellen dreht sich um und verdeckt den IMac mit ihrem Körper. Auch, wenn er längst keine medizinischen Fachtermini mehr versteht, ist der frühere Leiter der Transplantationsmedizin eines großen bayerischen Klinikums sehr an der Arbeit seiner Tochter interessiert, allerdings ohne das, was er liest, einordnen zu können. Und das kann gefährlich sein.

„Erstens, guten Morgen auch dir, Papa. Zweitens: Dein Essen auf Rädern kommt um eins. Drittens: deine Frau ist dir schon vor Jahren ins Nirwana vorausgegangen. Und viertens: ab morgen haben wir eine kompetente Haushaltshilfe. Vielleicht macht die einen besseren „Expresso“. Und jetzt entschuldige mich, ich muss arbeiten. 

III

„Ich könnte glatt anfangen, an Märchen zu glauben“, denkt Ellen. Es ist der 8. Juli, Mary arbeitet erst eine Woche für sie, aber Ellen kann sich schon gar nicht mehr an die Zeit erinnern, als sie ohne ihre kompetente Hilfe auskommen musste. Das Haus ist aufgeräumt und sauber, der Kühlschrank immer gut gefüllt, und wie durch Zauberhand mit genau den Sachen, die ihre Familie am liebsten mag. Gut, in den ersten Tagen hat Ellen noch versucht, einen gesundheitsorientierteren Einfluss auf den Einkauf zu nehmen. Mehr Obst und Gemüse, weniger Fleisch, Chips und Schokolade. „Keine Sorge, ich achte auf eine ausgewogene Ernährung. Das Fleisch ist Bio, Chips und Schokolade sind vegan. Aber wenn ich sie ohne Verpackung serviere, merkt das niemand“, hat Mary geantwortet. „Und sehen Sie, es schmeckt Ihrer Familie ganz vorzüglich!“

Ellen hält das Wort „vorzüglich“ für antiquiert, genauso wie die knielangen blauen Röcke, die Poloblusen in Pastell, die Nylons und die flachen Pumps, Marys Arbeitsuniform, die ihr bei den Kindern schnell den Spitznamen „die Nanny“ eingebracht hat. Aber Mary hat recht: ihre Familie sitzt jetzt andächtig und einträchtig in der geräumigen Wohnküche und isst, was auf den Tisch kommt. Vorbei das Gemäkele von Oscar über zu viel Salat und zu wenig Wurst und Olives Kritik an zu viel Fett und zu wenig Proteinen. Heinrich bringt es auf den Punkt: „Mary kann einfach wunderbar kochen. Und sie nimmt sich auch die Zeit dafür.“ Im Gegensatz zu dir, sagen drei Augenpaare und fixieren Ellen mit diesem Blick, in dem sich Mitleid und Verachtung die Waage halten. Noch. Dabei kann Ellen sich sehr genau an die Zeiten erinnern, als das gemeinsame Abendessen ein Fest für alle war. Mit liebevoll zubereiteten Speisen, einem schön gedeckten Tisch und lauten Erzählungen über all die großen und kleinen Dinge, die den Alltag erfüllt hatten. Wann genau hat sich das geändert? Warum? ‚Ist das wirklich alles meine Schuld?‘, fragt sie sich. Die Kinder wachsen und ändern ihre Vorstellungen und Erwartungen an Familie. Heinrich fordert mehr und mehr Aufmerksamkeit. Klaus ist oft wochenlang unterwegs. Und dann ist da die große Sache, an der Ellen dran ist. Eine Gelegenheit, die sie sich nicht entgehen lassen darf. Nicht nur für sich. Auch für die Betroffenen. Denn hier geht es im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod. Ja, sie hat ihre Prioritäten geändert. Aber sie ist damit nicht allein.

MiniKrimi Adventskalender am 17. Dezember


Im Auge des Bösen

von Patrick Woywod

(…) Als Nico und Chris gehen wollten, kam ihnen ein Arzt entgegen. Mike, Nicos ungeliebter Bruder. „Nico, gut, dass du noch hier bist. Eine Schwester hat das hier gerade im Mülleimer im Zimmer der jungen Patientin gefunden. Die Reste der Substanz, die da mal drin war, haben wir bereits in unser Labor gegeben. Aber wir dachten, der Beutel wäre hilfreich – wegen Fingerabdrücken. Es ist ein neuartiges Gift. Die versuchen gerade fieberhaft, die Zusammensetzung heraus zu finden. Ich hoffe, dass wir bald ein Ergebnis haben und ein Gegenmittel herstellen können. Sonst sieht es schlecht aus für Yuki“, sagte Mike. „Bist ja doch ein schlaues Köpfchen und nicht nur der sture Arzt, wie unser Vater“, grinste Nico den Bruder an. „Sehr witzig“, entgegnete dieser und ging weiter.

„Manchmal bist du echt fies zu Mike“, sagte Chris grinsend und ging zur Tür von Yukis Zimmer. „Sie dürfen da nicht rein“, rief eine Schwester hinter Ihnen. „Tschuldigung“, sagte Nico, und die beiden gingen Richtung Ausgang, wo der Polizeipräsident auf sie wartete. „Das ist ja ne echte Sch… Situation. Sie wissen nicht, was das für ein Gift ist, das man ihr verabreicht hat, und das sieht nicht gut aus. Aber immerhin haben wir ein Beweisstück. Vielleicht finden unsere Jungs da Fingerabdrücke dran“, sagte Chris sichtlich bedrückt. „Verdammt, wir dürfen sie auf keinen Fall verlieren. Wir können nur hoffen, dass sie überlebt. Es wird Polizeischutz vor Ihrem Zimmer abgestellt“, sagte der Präsident und schaute gen Himmel, als erwarte er von dort irgendwie Hilfe.

„Ich werde mir jetzt erst mal Spike vorknöpfen“, knurrte Chris und ging Richtung Auto. „Warte ich komme mit“, rief Nico und lief hinterher. Doch selbst nach stundenlangem Verhör waren sie keinen Schritt weitergekommen. Spike sagte rein gar nichts. Auch Yukis Zustand verschlechterte sich zunehmend, und das machte allen große Sorge. Das Gift hatte sich unerkannt bereits im ganzen Körper ausgebreitet. Da fiel Chris durch Zufall ein kleines Notizbuch in die Hände, als er sein Auto ausräumte. Die Handschrift war eindeutig die von Yuki. Es musste ihr aus der Tasche gefallen sein, als sie das erste Mal bei ihm mitgefahren war. Das Büchlein war randvoll mit komplizierten chemischen Formeln, und in Chris keimte ein Verdacht auf. Er hatte das Buch nämlich schon mal in den Händen von Spike gesehen. Er raste mit dem Buch zum Krankenhaus. Er informierte Mike von unterwegs, und als er ankam, stand dieser schon da und nahm das Notizbuch in Empfang. Mit diesen Eintragungen, so hoffte Mike, konnten sie das Gift identifizieren und ein Gegenmittel herstellen. Ein erster Hoffnungsschimmer nach Tagen des Bangens!

Nico und Chris nahmen daraufhin nochmals Spike in die Mangel und konfrontierten ihn mit dem Notizbuch. Da brach er zusammen, und endlich redete er. Wie es schien, war alles von Anfang an geplant. Eigentlich hatte nur ein Mensch sterben sollen, und zwar Yuki, als Rache an ihrem Großvater. Und zwar schon vor 16 Jahren! Damals war sie noch ein Kind. Der Anschlag ging schief. Und jetzt, 16 Jahre später, der zweite Versuch. Diesmal mit einer von Yuki selbst entwickelten Waffe. Genial, denn man hätte erstmal vermutet, dass sie sich selbst beim Experimentieren getötet hat. Nach dem Anschlag verstreute sich die Bande in alle Winde. Nur Spike wurde gefasst.

Nachdem das Gegengift gefunden und verabreicht worden war, verbesserte sich Yukis Zustand allmählich. Auf dem Rückweg zum Revier sprach Chris aus, was ihn die ganze Zeit schon bewegte: „Eines verstehe ich immer noch nicht. Wie kommt Yuki darauf, so ein Gift zu entwickeln.“ „Gute Frage“, antwortete Nico. „Sie ist schon weitaus weiter in Ihrer Entwicklung, als man denkt. Ich habe mal gehört, dass sie eine IQ von über 200 haben soll. Sie soll auch schon mit 14 Jahren einen Studienplatz bekommen haben. Medizin. Ihr Schwerpunkt war Tropenmedizin. Wer weiß, was sie mit dem Gift wirklich anfangen wollte? Aber das mit der Rache sollten wir noch mal klären. Was ist vor 16 Jahren passiert, und warum sollte sie sterben? Und vor allem: warum hat sie das Gift entwickelt, mit dem die Bande sie dann töten wollte? War das auch ein Teil ihres Plans? Wollte sie sich selbst umbringen? Das scheint mir als Racheakt doch sehr heftig. Ich will das auf jeden Fall wissen, ich mag Yuki nämlich wirklich sehr“, sagte Nico. „Nicht nur du. Für mich ist sie auch wie eine kleine Schwester geworden. Ich fühle mich für sie verantwortlich. Daher sollten wir echt sehen, dass wir diesen Fall zu Ende bringen“, knurrte Chris und krampfte die Hände ums Lenkrad. Nico spürte die Anspannung in seinem Partner. Sie kannten sich schließlich schon seit der Oberstufe.

Im Revier angekommen, kam ihnen gleich Darian entgegen. „Schlechte Neuigkeiten! Spike konnte mit Hilfe seiner Komplizen auf den Weg in die JVA fliehen. Es sind schon Beamte auf den Weg ins Krankenhaus. Was immer es ist, die haben was Großes vor“, sagte er. Nico und Chris blieben wie angewurzelt stehen und schauten sich an. Keine 2 Minuten später saßen sie wieder im Auto und jagten mit Blaulicht Richtung Krankenhaus. Dort herrschte ein heilloses Durcheinander. „Was ist passiert?“ fragte Chris eine Krankenschwester. „Auf der Intensivstation wurde geschossen. Es gibt mehrere Verletzte, 3 Schwestern, ein Arzt und 2 Polizisten. Die Männer haben sich im Zimmer der Giftpatientin verschanzt. Wenn nicht schnell was passiert, stirbt die junge Dame!“, antwortete die Schwester in heller Panik.

„Das wird nicht passieren“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter Ihnen. Es war der Polizeipräsident. Und er hatte das SEK gleich mitgebracht. „Wir holen sie da raus, und zwar lebend“, rief er. Und dann, zu Nico und Chris gewandt: „Ich weiß, wie ihr euch fühlt, aber leider muss ich euch von dieser Sache abziehen. Ihr seid emotional zu sehr belastet. Auch ich werde mich raushalten müssen, da ich familiär involviert bin“, sage der Polizeipräsident und schaute die beiden eindringlich an. „Wie meinen Sie das?“ fragte Chris verdutzt. „Yuki ist meine Enkelin. Wenn sie stirbt, wird das große Konsequenzen für die Täter haben. Wir werden auf keinen Fall dulden, dass sie ungeschoren davonkommen. Keiner hat das Recht, einfach so einen Mordversuch zu begehen. Und das hier ist jetzt vielleicht schon der zweite“, sagte der Präsident in die Runde.

Chris musste sich zügeln, um nicht gleich in Yukis Zimmer zu rennen, und Nico fluchte unverständlich vor sich hin. „Sie ist euch echt ans Herz gewachsen, wie?“ fragte der Polizeipräsident „Anfangs war ich nicht gerade begeistert von Ihrem Auftrag, Babysitter für ein junges Mädchen spielen zu müssen. Aber mittlerweile ist sie wie die kleine Schwester, die ich nie hatte. Ich werde keinem verzeihen, der ihr auch nur ansatzweise schadet“, grummelte Chris und setze sich in den Einsatzwagen. „Wir hätten besser auf sie aufpassen sollen. Das wäre nie geschehen, wenn sie uns gleich reinen Wein eingeschenkt hätte. Selbst, wenn sie das Gift entwickelt hat – als sie merkte, dass ausgerechnet Spike, ihr Freund, damit ein Attentat vorhatte, hätte sie uns informieren müssen. Aber sie wollte ja unbedingt noch weitere Beweise sammeln. Herrgott, was haben wir nur falsch gemacht!“, fluchte Nico.

„Aber nochmal: was ist vor 16 Jahren geschehen, dass Yuki damals schon sterben sollte?“ fragte Chris unvermittelt. Man sah dem Polizeipräsidenten an, wie schwer es ihm fiel, darüber zu sprechen. Schließlich sagte er: „Vor fast 21 Jahren kam es zu einer Schießerei zwischen der Polizei und einem Drogendealerring. Dabei wurde ein 3-jähriges Mädchen erschossen. Die Leute, die entkamen, darunter der Vater der Kleinen, schworen Rache. Sie fanden schnell heraus, dass ich eine Enkeltochter im gleichen Alter wie das getötete Mädchen habe. Yuki sollte entführt und zum Schein sollte Lösegeld gefordert werden, aber meine Enkelin wäre auf jeden Fall gestorben. Aber da Yuki bei der Geiselnahme dann fliehen konnten, erschossen sie kurzerhand Ihre Eltern, meine Tochter und meinen Schwiegersohn. Yuki bekam eine neue Identität und lebte bei meiner Schwester. Alles schien vergessen.

Zehn Jahre später kam Spike zu uns in die Sondereinheit, er war damals sechzehn. Keiner ahnte, dass er was mit der ganzen Sache zu tun hatte. Er war einfach ein aufgeweckter, interessierter Junge. Er war der Bruder des getöteten Mädchens. Sein Vater hatte ihn intensiv darauf vorbereitet, die zweite Racheaktion als Maulwurf zu planen.

Ich hätte es merken müssen. Aber er war mein Vertrauter. Es war also meine Schuld“, sagte der Polizeipräsident. „Aber warum wollten die sich ausgerechnet an Ihnen rächen?“, fragte Nico. „Ganz einfach: Die Kugel, die das Kind getroffen und getötet hat, war aus meiner Dienstwaffe. Das ergab die Ballistik. Verdammt, ich habe meine Familie in einen Krieg reingezogen, in dem alle nur verlieren können“, sagte der Polizeipräsident und ballte die Hände zu Fäusten. Nico und Chris schauten sich an und fasste sofort denselben Entschluss. „Lassen Sie uns von nun an Yuki beschützen. Wir werden nicht zulassen, dass ihr noch einmal jemand so nahekommen kann. Das ganze Team wird hinter ihr stehen und alles tun, damit sowas nicht noch einmal passiert“, sagte Chris mit entschlossener Stimme.

„So, Gefahr gebannt, fürs erste“, sagte Shadow, der Leiter des SEK, und schob einen fluchenden Spike vor sich her. Nach und nach kamen auch die anderen Jungs mit den Gefangenen nach draußen. „Wie geht es Yuki? Ist sie in Sicherheit?“ fragte Chris. „Unserer Prinzessin geht es gut. Die Ärzte kümmern sich um sie. Macht euch keine Sorgen. Aber lasst sie von jetzt an nie mehr aus den Augen.“

Wie recht er hatte. Noch ahnte niemand, dass die Festnahme von Spike und seinen Jungs noch lange nicht das Ende des Albtraums war.

Im Krankenzimmer saß Yuki aufrecht in ihrem Bett. Dafür, dass sie gerade einem Anschlag entkommen war, sah sie erstaundlich gut aus. „Du hast wirklich das Zeug zu einer 1A Agentin, sagte Nico bewundern. „Das hat sie von mir“, versuchte der Polizeipräsident, die Situation mit einem Scherz aufzulockern.

Ach, ich weiß nicht. Nach all dem Ärger, den ich euch verursacht habe, würde mich doch kein Ausbilder hier mehr nehmen“, sagte Yuki. „Mach dir keinen Kopf. Du bist weitaus stärker, als diese Jungs es sich vorstellen können. Ich meine, du hast in deinem Leben bisher mehr durchgemacht als einer von uns. Es ist erstaunlich, dass du noch so energiegeladen durch die Gegend laufen kannst. Ich meine, machen wir uns nix vor. Als Kleinkind bist du nur knapp einer Entführung entronnen. Und jetzt haben die versucht, dich mit deinem eigenen Gift zu töten. Was mich allerdings immer noch verwirrt. Wie kann man so ein Gift entwickeln? Schielst du vielleicht schon auf den Nobelpreis? Wie auch immer, ich schweife ab. Jeder im Team respektiert dich für das, was du jetzt bist, eine starke und zielstrebige junge Frau. Wir werde dich beschützen, egal, was kommt. Das haben wir alle geschworen“, sagte Nico und hob Yukis Kopf an. „Denk immer daran, für Chris und mich bist du wie eine Schwester. Und wir lassen selten zu, dass Familienmitgliedern was passiert.“

„ Also was die Verwirrungbezüglich des Giftes angeht. Das hat eine ganz einfache Erklärung. Ursprünglich wollte ich ja Ärztin werden. Das Gift war meine Doktorarbeit. Ich denke, dass meine gesammelten rfahrungen uns in schwierigen Situationen weiterhelfen können.“

„Abgemacht“, sagte Nico und reichte ihr die Hand. Keiner ahnte zu diesem Zeitpunkt, wie spielentscheidend Yukis Erfahrungen noch sein würden.

Eine Woche verging, in denen Nico, Chris und ihr Team sämtliche Unterlagen, die mit dem Einsatz vor 16 Jahren und den aktuellen Geschehnissen in Zusammen standen, sammelten und ordneten. Dann entwickelten sie ihren Plan, um den Chef des Drogendealerrings endgültig unschädlich zu machen. An einem sonnigen Morgen standen sie vor dem Haus des Polizeipräsidenten. „Yuki, bist du bereit? Jetzt können wir dich und deine Fähigkeiten brauchen.“ Keine 5 Minuten später saß sie mit Nico, Chris und den anderen im Einsatzbus und raste Richtung Norden. Auf Ihrem Schoß lagen die Unterlagen zum Einsatz. Sie starrte darauf, ohne etwas zu erkennen. Ihr Blick ging zurück in die Vergangenheit. Sie kannte den Ort, an den sie fuhren, aus ihrer Kindheit. Einer Kindheit vor den schrecklichen Ereignissen. „Also, was genau müssen wir tun?“ fragte sie in die Runde.

„Das ganze Gebäude wurde mit TNT gespickt. Wir sollen die Bombenentschärfer begleiten, damit eventuelle Angreifer sie nicht verletzen. Gott, wie sind die nur an soviel Sprengstoff rangekommen?“ Chris schaute aus dem Fenster. Er freute sich nicht auf die Stunden, die vor ihnen lagen. (…)

Patrick Woywod hat aus dem Nichts und ohne vorherige Erfahrung bereits drei Anthologien herausgebracht, um einen Gnadenhof in seinem Heimatort zu retten. Viele Mörderische Schwestern haben dafür Geschichten gespendet.

Patrikck liegt gerade im Krankenhaus. Schreibt einen Kommentar unter den Auszug aus seinem Thriller „Im Auge des Bösen“, den er in einer der nächsten Anthologien veröffentlichen wird. Er freut sich sicher darüber. Gute Besserung, Patrick!

MiniKrimi Adventskalender am 16. Dezember


Tödliche Erinnerung/II

Lucia

Lucia ist überwältigt. Von der letzten Nacht, davon, wie einfach ihr mit heißer Nadel gestrickter Plan funktioniert hat – und von ihren Gefühlen. Die letzten 2 Wochen waren ein ständiges Auf und Ab, ein Hin und Her zwischen Verzweiflung, Angst und dem unstillbaren Hunger nach Rache. Dieser Hunger hat sich durch ihr Herz gefressen, bis er ihr Denken beherrschte. Rache. Vergeltung. Auge um Auge. Dieses Gefühl ist neu für Lucia, und sie staunt über sich selbst. Darüber, zu wieviel Hass sie fähig ist und darüber, wie präzise sie diese Aktion geplant und umgesetzt hat.

Aber vielleicht ist das so, wenn dein ganzes Leben plötzlich wie ein Kartenhaus über dir zusammenfällt, wenn nichts mehr ist, wie es war, wenn du alles verlierst, was dir Halt gegeben hat.

Lucias Leben ist in geregelten Bahnen verlaufen. Sie hat die Abwesenheit eines Vaters nie als schmerzhaft empfungen. Laura, ihre Mutter, und die Großeltern Angela und Pietro waren immer für sie da, liebevoll und fürsorglich. In den 1980ern durchlebten die Frauen in Italien eine Welle der Emanzipation, zumindest gefühlt. Eine „ragazza madre“ zu sein, eine ledige Mutter, war kein Makel, sondern ein Zeichen von Stärke. Jedenfalls in den Kreisen, in denen Laura sich bewegte. Als Lucia in den Kindergarten kam, fing Laura wieder an, als Anästhesistin in einer großen Klinik in Florenz zu arbeiten. Ihre Tochter blieb bei den „nonni“ – auch das war durchaus üblich. Die Familie war groß, Lucia hatte genug Cousins und Cousinen, Freundinnen und Freunde. Sie war beliebt, auch in der Schule und später an der Uni.

Ihr Leben was das eines normales italienischen Mädchens, später einer jungen Frau, des italianischen Bürgertums. Gut behütet und dann nach und nach immer mehr den eigenen Regeln folgend. Der Kontakt zur Mutter blieb eng, aber beiläufig. Jede lebte ihr Leben.

Bis zu jenem Freitag vor 2 Wochen. DIe Großmutter rief Lucia an, mitten im Unterricht. Lucia lehrt Italienisch für Ausländer an einer internationalen Sprachenschule in Siena. „Nonna, was ist passiert?“ Es musste etwas Schlimmes sein. Sonst hätte Angela sie nicht bei der Arbeit gestört.

„Es ist Laura. Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Nein, sie wurde rechtzeitig gefunden! SIe liegt jetzt im Krankenhaus. Aber ich glaube, es wäre gut, wenn du kämest. Ach ja, und schau nicht in die Online Nachrichten, kauf keine Zeitung,“

Lucia fuhr sofort los, und natürlich scannte sie die Online-Nachrichten auf ihrem Smartphone. „Schon wieder ein Fall von gefälschter Approbation. Florentiner Ärztin mit sofortiger Wirkung entlassen. Laura C. droht eine saftige Freiheitsstrafe“, titelten bereits die „cronache nere“, die Boulevardblätter. Das Foto ihrer Mutter war alt, sicher hatte ein missgünstiger Kollege es gleich der Presse verkauft. Aber Laura war deutlich zu erkennen.

Im Krankenhaus erfuhr Lucia, dass ihre Mutter sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Mit zwei senkrechten Schnitten. Sie hatte es also ernst gemeint. Wenn Angela nicht zufällig vorbeigekommen wäre, wäre Laura jetzt tot. Lucia sah ihre Mutter an, blass, an Schläuche angeschlossen. Sie sah aus wie eine Fremde. Sie WAR eine Fremde. Oder eben eine andere, als sie ihre Tochter in immerhin 40 Jahren hatte glauben lassen. Laura war unruhig. SIe murmelte Unverständliches. Und dann, plötzlich, klar und deutlich: „Lukas.“

Lucia fuhr nicht zurück nach Siena, sondern übernachtete in der Wohnung ihrer Mutter. In den Räumen ihrer Kindheit. Aber auch hier kam ihr plötzlich alles fremd vor. Und sie wusste: sie musste dem Geheimnis ihrer Mutter auf die Spur kommen, wenn sie selbst jemals wieder frei atmen und unbeschwert leben wollte. Sie musste verstehen, warum ihre Mutter mit gefälschten Papieren über 30 Jahre lang als Ärztin gearbeitet hatte. Und – sie musste endlich wissen, wer ihr Vater war. Lucia hatte das Gefühl, dass die Antwort auf beide Fragen ein und dieselbe sein würde.

Sie durchsuchte die Wohnung. Sie fand Lauras Tagebuch. Sie las die ganze Nacht und den halben Morgen hindurch. Bis es Zeit war, wieder ins Krankenhaus zu fahren. Am Bett ihrer Mutter nahm sie die immer noch bleiche Hand, küsste sie, strich über Lauras graue Locken und flüsterte: „Adesso so tutto, mamma.“ Jetzt weiß ich alles, Mamma. „E lui pagherà.“ Und er wird bezahlen.

Der Rest ist ein Kinderspiel gewesen. Laura hatte alle Einladungen zu den Treffen der Tedeschi aufgehoben. Dass das nächste genau zwei Wochen später in Marina di Pisa stattfinden würde, hat Lucia als Wink des Schicksals gesehen.

Es war so einfach. Ihr Auftritt im Lokal. Lukas, der sich sofort in sie verliebt hatte – Lucia sieht ihrer Mutter sehr ähnlich, und an diesem Nachmittag unterstrich sie die Ähnlichkeit noch. Gleiches Makeup, gleiche Frisur. Gleicher Kleidungsstil. Sie war erstaunt, dass Lukas‘ Freundin ihr so gar nichts entgegengesetzt hatte. Aber um so besser.

Nur dass Ingo sich an sie drangehängt hat, das hat Lucia nicht geplant. Andererseits – in den Aufzeichnungen ihrer Mutter steht, dass er damals mitgemacht hatte. Wenn schon Rache, dann am besten gleich als Rundumschlag.

Sie fuhren an eine einsame Stelle am Strand, die Lukas noch von damals kannte. Sie hatten Prosecco dabei. Und Lucia dazu noch Rohypnol. Zahn um Zahn. Bei Lukas setzte die Wirkung sehr schnell ein. Bei Ingo leider nicht. Er merkte, dass etwas nicht stimmte. „Ich rufe die Carabinieri“, sagte er. Da konnte Lucia nicht anders. Sie versetzte ihm einen Schlag mit der Proseccoflasche. Dann schleppte sie Lukas, der gerade noch stolpern konnte, über den Strand zu einer versteckten Grotte. DER Grotte, in der er vor 40 Jahren gemeinsam mit seinen Freunden Laura vergewaltigt hatte, nachdem er sie mit Rohypnol betäubt hatte.

Das ist jetzt 5 Stunden her. Lukas schläft immer noch, wird aber langsam unruhig. Als es hell wurde, ist sie, weil Lukas noch schlief, an den Strand gelaufen. Von Ingo keine Spur! Das heißt, dass sie sich beeilen muss mit dem, was sie noch vorhat, bevor Ingo Hilfe holt. Wenn er sich an irgendwas erinnert.

Später hat Lucia in ihrem Versteck in der Grotte Sirenen gehört. Carabinieri und eine Ambulanz. Sie fuhren Richtung Tirrenia. Aber danach ist kein Wagen mit Sirene zurückgefahren. Haben sie Ingo gefunden? Dann müssten sie ihn ins Krankenhaus gefahren haben. Oder ist er tot?

Lukas wird unruhig. „Was? Wo?“ fragt er. Und bemerkt, dass er sich nicht bewegen kann. Lucia hat ihn mit Kabelbindern an Knöcheln und Handgelenken gefesselt.

„Ciao Lukas. Oder soll ich sagen Papà?“ „Wie? Wer?“ Lukas ist noch benommen. Aber er wird schon wach werden, wenn sie ihm Lauras Tagebuch vorliest.

…..

Inzwischen ist es Spätnachmittag. Lucia klappt das Tagebuch zu. Lukas ist wach. Er war wütend, wollte schreien, da hat Lucia ihn geknebelt. Seit ein paar Stunden ist er einfach nur noch still. Ergeben? Er hat sich eingenässt. Es macht ihm nichts aus. Ist er immer noch so voller Arroganz?

„Du warst ihr Freund. Warum habt ihr sie mit Rohypnol betäubt? Warum hast du erlaubt, dass deine Freunde sie vergewaltigen? Warum hast du dich danach nicht mehr bei ihr gemeldet? Erst Jahre später? War es dir egal, dass du vielleicht eine Tochter hast?“

Jetzt stöhnt Lukas. Schüttelt den Kopf. Keine Tochter?

„Ah, du hattest damals schon eine Vasektomie machen lassen? Dann hast du meine Mutter also nur deshalb vergewaltigen lassen, weil du es konntest? Einfach so? Meine Mutter war von eurer Tat so aus der Bahn geworfen, dass sie ihr Studium nicht mehr aufnehmen konnte. Sie ist nach Südamerika gereist, hat sich dort bis zu meiner Geburt mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten und meinen Großeltern bei ihrer Rückkehr eine herzzerreißende Geschichte über einen reichen Brasilianer erzählt, der ihr alles Glück der Erde versprochen und sie dann hochschwanger verlassen hat. In Brasiien hat sie sich eine gefälschte Approbation besorgt und damit bist vor 2 Wochen gearbeitet. Dann ist sie aufgeflogen. Irgendein blödes Datenleck. Jetzt liegt sie nach einem Selbstmordversuch auf der Intensivstation. Und an all dem bist NUR du schuld.“

Lukas starrt sie an. Unverwandt. Und nickt. Nickt. Und zuckt die Schultern. Dreht den Kopf weg. Nicht sein Leben. Nicht sein Problem. Lucias Geschichte hat seine schönen romantischen Erinnerungen an die Zeit in Pisa zerstört. Das gefällt ihm nicht. Was will diese Frau von ihm? Er ist ganz bestimmt nicht schuld daran, dass ihre Mutter zu schwach war, einfach aufzustehen und weiterzugehen.

Lucia sieht ihm an, was er denkt. Sie nimmt einen Stein. Schlägt Lukas damit an die Schläfe. Als es dunkel geworden ist, schleppt sie ihn mit der Sackkarre an den Strand, Zur alten, gesperrten Mole. Ein Sturm ist aufgekommen. Kein Mensch ist zu sehen. Sie kippt ihn hinunter. Ins Meer. Wenn er rechtzeitig aufwacht, hat sie ein Problem. Aber sie geht nicht davon aus.

Danke euch allen für die vielen spannenden Tipps. Ich habe sie in den zweiten Teil des Thrillers eingearbeitet.

MiniKrimi Adventskalender am 15. Dezember


Mords-Malefiz (Auszug)

von Monika Nebel

Der Mann wird unruhig, wie soll er reagieren? Werden sie ihm abkaufen, dass er von nichts weiß?

Um ihn herum wird wild getanzt und gesungen. Heute haben die INNfernalischen einen beinahe lässigen Abend mit einem einzigen Auftritt vor sich. Ab morgen bis zum Ende der fünften Jahreszeit am Faschingsdienstag um 24 Uhr sieht es anders aus. Ein Termin jagt den nächsten, die 16 Tänzer und Tänzerinnen sind mit dem Bus quer durch die Dörfer rund um Wasserburg und Rosenheim unterwegs, begleitet von ihrem Team. Der Höhepunkt des Gardeauftritts ist der Tanz des Prinzenpaars Hubert II. und Luise I.

Doch nicht heute! In einer Stunde, so gegen 21 Uhr, werden die Trainerinnen, die Gardemajorin, die Hofmarschallinnen, der Präsident und vor allem der Prinz nervös werden. Und der Mann ahnt, was spätestens am nächsten Tag passieren wird: Ein Höllenfeuer wird bei den INNfernalischen ausbrechen. Entweder verschlingt es ihn selbst oder verbrennt zumindest seine Seele bis zur Unkenntlichkeit.

***

Am Sonntagmorgen gehen Maria und Johann Selbinger aus Griesstätt, dick eingemummelt in winterliche Kleidung, im nahe gelegenen Tal von Altenhohenau spazieren. Der Border Collie des Paars rast begeistert bellend den Inndamm entlang. Auf dem seit Wochen gefrorenen Boden liegt nun eine zarte Schicht Schnee. Der ist in der Nacht gefallen, in feinen Flocken nur, aber über ein paar Stunden. Ihr Auto parkt im Ort, die beiden haben den Weg oberhalb der Felder gewählt.

Das Paar hat Zeit, die Sonne scheint so schön, deshalb wandern sie bis zum nördlichsten Ende der Halbinsel, wo sich der Lambach dem kraftvoll dahinfließenden Inn anschließt. Dort erwartet sie ein wunderbares Panorama, das sie auf der Bank sitzend genießen: eisig wirkendes Wasser, glitzerndes Weiß an den Ästen, eine stille, friedliche Landschaft. Es ist nicht mehr weit bis Wasserburg, nur wenige Kilometer.

Zurück wählen sie einen anderen Weg. Bevor der Mann und die Frau den Wald betreten, leinen sie den Hund an, wie es im Naturschutzgebiet gefordert ist. Die Sonne blitzt durch die nackten Äste des Laubwaldes, ein Bach plätschert ein Stück parallel zum Weg. So kalt war es nicht, dass er ganz hätte zufrieren können. Sie folgen dem Weg und sehen bald darauf den Parkplatz für die Wanderer, auf dem aktuell nur ein Auto steht: ein eleganter blauer Mittelklassewagen, dessen Dach ebenfalls eine weiße Haube trägt.

Mit einem Mal bleibt ihr Hund stehen, sein Kopf in starr erhobener Haltung, er atmet heftiger, ein Zittern läuft über sein Fell. Sein Frauchen stutzt. So kennt sie das fröhliche Tier nicht.

»Ja, Cora, was ist denn los? Komm, geh weiter, gleich sind wir in der Sonne auf den Feldern, dann kannst du wieder von der Leine und sausen.«

Doch der Hund will nicht aus dem Wald, er wendet sich nach rechts und zieht Maria hinter sich her.

»Cora, jetzt bleib stehen!«, schimpft sie und stemmt sich mit den Füßen gegen die Zugrichtung in den Boden. Als sie verwundert ihren ungewohnt unfolgsamen Hund ansieht, bemerkt sie wenige Meter weiter einen farbigen Fleck zwischen den Bäumen. Ihr wird kalt, die Sonne scheint schwächer zu werden, die Welt etwas dunkler.

»Johann!«, sagt sie mit solch angespannter Stimme, dass ihr Mann neben sie tritt.

Gemeinsam starren sie in den Wald. Dort unter zierlichen jungen Ästen im unbelaubten Winterkleid, beinahe verborgen hinter einem kleinen Hügel liegt eine Frau. Ihr rot-schwarzes Kleid hebt sich vom Weiß der Umgebung deutlich ab, obwohl der Körper leicht von Schnee bedeckt ist. Die Spaziergänger werfen einander einen Blick zu, der verrät, wie die Situation sie verunsichert.

»Hallo?«, ruft Johann hinüber, erhält aber wie befürchtet keine Reaktion.

»Wer geht denn im Winter mit einem ärmellosen Kleid spazieren?«, fragt Maria ihren Mann irritiert, um sich selbst von dem Offensichtlichen abzulenken. Der bindet den neugierigen Hund an einem dicken Ast fest. Sie nähern sich mit einem unguten Gefühl. Seite an Seite, keiner mag zurückbleiben oder vorausgehen. So etwas sieht man sonst nur im Fernsehen oder liest darüber in Büchern. Und Maria mag keine Krimis oder Thriller.

Die Reglose hat einen Arm über ihren Augen liegen, als müsse sie sich vor der Sonne schützen, der andere ruht neben ihr im Schnee. Die Finger sind leicht nach innen gebogen. Um sie herum glitzert alles, bemerken die beiden Beobachter. Kommt es von den eisigen Kristallen auf ihrem schlanken Körper und auf dem Boden? Dasselbe Glitzern findet sich in ihrem brünetten Haar wieder, auf dem Kleid, sogar auf den roten Pumps, von denen sie nur noch einen trägt. Der andere liegt, wie willentlich abgestreift, neben dem schmalen Fuß. Sie scheint aus einer anderen Welt direkt in den bayerischen Schnee gefallen zu sein.

»Hallo, hören Sie uns?«, fragt Johann und kniet bei der Frau nieder. Er greift nach ihrer Hand und sieht seine Begleiterin unbehaglich an.

»Eiskalt!« Und einige Sekunden später fügt er ein wenig atemlos hinzu: »Kein Puls!«

Maria hat ihr Handy bereits gezückt und verständigt mühsam mit erstarrten Fingern den Notruf über den Fund der Leiche. Sie gibt ihrem Mann die Anweisung weiter, die sie von ihrem Telefonpartner erhalten hat, ihre Stimme bebt: »Wir sollen uns nicht bewegen, um keine Spuren zu zerstören.«

Sie reibt die Hände aneinander, wagt einen weiteren Blick auf die Frau im Schnee und schüttelt ungläubig den Kopf:

»Ist das ein Diadem, das sie trägt?«

Beide verharren wie angewiesen neben der Toten. Sie rühren sich nicht, bis die Einsatzkräfte eintreffen, obwohl sie frieren und der Hund winselt. Zwei Krankenwagen, ein Polizeieinsatzfahrzeug nähern sich, die Wartenden hören sie schon, als die Wagen die Straße von Wasserburg her den Laiminger Berg hinunterfahren. Nun biegen sie ab. Die Sirenen werden schwächer, weil sie hinter den Bauernhäusern verschwinden, dann wieder lauter, als sie den Weg zum Wanderparkplatz einschlagen. Glücklicherweise ist die Schneedecke dünn, sonst ist hier im Winter oft kein Durchkommen.

Zunächst steigen die Polizeibeamten und nur ein Sanitäter aus. Sie begrüßen Johann und Maria und treten vorsichtig zu der Toten.

Der eine Polizeibeamte pfeift durch die Zähne. »Die abgängige Prinzessin!«

Auf die fragenden Blicke der anderen hin erklärt er: »Sie sollte gestern auf einem Ball auftreten, die INNfernalischen und ihr Mann haben sie als vermisst gemeldet.«

»Und natürlich der Prinz«, kommt es vom Kollegen ein wenig spöttisch. Der Polizist versteht den Tonfall. Sie hatten neulich mit einer Streitschlichtung zwischen zwei hoheitlichen Konkurrentinnen um das schönere Diadem zu tun. Er seufzt.

»Ob der Prinz sie vermisst, weiß ich nicht. Im Fasching geht es manchmal höllisch zu. Auch unterm jeweiligen Hochadel der Saison gibt es sicher die ein oder andere Intrige.«

Mehr zu Monika Nebel gibt es hier: monika-nebl.defacebook.com/MonikaNeblAutorininstagram.com/monikanebl.autorin

Mords-Malefiz ist vor Weihnachten nur bei den Wasserburger Buchhandlungen und im eigenen Shop (https://www.eyedoo.biz/shop/Regionalkrimi) verfügbar.

MiniKrimi Adventskalender am 14. Dezember


dliche Erinnerung

„Hey Lukas, weißt du noch? Du hattest immer weiße Jeans an, knalleng, hat sich alles abgezeichnet. Und dazu mit Silber beschlagene Cowboystiefel.“ „Klar. Aber du hast meine Ray Ban vergessen. Die war übrigens reiner Selbstschutz. Wenn ich die während der Vorlesung abgesetzt hätte, wären die „ragazze“ beim Anblick meiner strahlend blauen Augen reihenweise in Ohnmacht gefallen.“

Lautes Gelächter, von einigen nicht ganz ernst gemeint. Es ist fünf Uhr nachmittags, die Terrasse der Strandbar „Da Micco“ bietet einen malerischen Ausblick auf die Marina, sanfte Wellen schaukeln Möwen und ein paar Tretboote. Der Himmel strahlt, die Sonne neigt sich zum Horizont und leckt schon himbeerrot am Meer. Von drinnen klingen die Lieder herüber, die in den späten 1970ern die Jukebox gefüllt haben: Battisti und Dalla, De André und Baglioni. Lukas hat extra einen Stick damit vorbereitet. Es soll alles so sein wie damals, als sie an der Università degli Studi in Pisa Medizin studiert haben. Es waren tolle Jahre, in jeder Hinsicht. Raus aus dem deutschen Mief, weit weg von den Eltern, Sonne, Meer, Espresso und Prosecco zum Abwinken. Und die „ragazze“! Die blonden Deutschen mit den dank Papa gut gefüllten Geldbörsen waren beliebt. Nicht nur bei den Mädels in den Bars und am Strand. Auch die – zugegeben wenigen – Kommilitoninnen ließen sich gerne auf die Studenten aus Heilbronn, Marburg oder Oberursel ein.

Ach ja. Tempus fugit, wie Lukas bei der Begrüßung sagte. Über 40 Jahre sind seitdem vergangen. Aber die Clique der „Tedeschi“ – den Namen hatten ihnen die italienischen Studenten gegeben, und sie hatten ihn gerne übernommen – hat sich nicht aus den Augen verloren. Alle 5 Jahre treffen sie sich in der Strandbar. Jetzt heißt sie „da Micco“, davor hieß sie „Queen“, „Miami“ und, in den späten 1990ern, „Stella Marina“. Die Zeit flieht, und die Reihen der Freunde werden lichter. Hermann hatte 1990 einen tödlichen Unfall mit seinem Ferrari. Andreas hatte Krebs – Bauchspeicheldrüse. Beim vorletzten Treffen war er noch dabei und siegessicher. Ein Chirurg wird doch die Oberhand behalten? Kurz danach kam dann die Todesanzeige. Franz hat das zweite Mal geheiratet, klassischerweise seine OP-Schwester, 30 Jahre jünger. Jetzt sitzt er mit den Zwillingen in der Villa am Bodensee, und sie macht Yogaurlaub. Mit einer Freundin…

Olli trägt Glatze und Bierbauch, Max ein Toupé. Nur Lukas sieht noch so aus wie früher. Zumindest auf den ersten Blick. Die gleichen weißen Jeans, Cowboystiefel, dazu eine freche Ray Ban. Die Haare flott gestylt und noch ziemlich üppig, die Zähne blendend weiß, keine Falte zu viel im Gesicht. Naja, Berufsehre. Lukas leitet die größte Praxis für Plastische Chirurgie in Mannheim. 5 angestellte Ärzt*innen, 15 Mitarbeitende. Er ist nur noch 2 Mal die Woche da, für die wichtigsten – und reichsten – Patientinnen und Patienten.

So sind sie diesmal also nur noch zu siebt. Lukas und Ingo, Olli, Wolfram mit seiner Frau Isa, die seinen Rollstuhl schiebt und ihm mit säuerlicher Miene den dritten Prosecco genehmigt, Peter, Fritz und Hajo. Alles arrivierte Ärzte. Fritz und Hugo engagieren sich ehrenamtlich in einer Klinik für Landminenopfer in Pakistan. Ingo hat seine unfallchirurgische Praxis seinem Sohn Heiko übergeben und segelt seitdem mit Freunden um die Welt. Freunde, Partner – heute ist das ja alles kein Thema mehr. Aber damals….

Außerdem sind bei den Treffen immer auch noch ein paar Italienerinnen dabei. Kommilitoninnen von damals. Freundinnen aus dem Dunstkreis der Tedeschi. Allegra, die Dolmetscherin, die Lukas‘ Doktorarbeit übersetzt hat, Francesca, die niedergelassene Dermatologin. Nur Laura fehlt. Natürlich.

Warum hat Lukas sie immer wieder eingeladen, obwohl sie nie gekommen ist? Pflichtbewusstsein? Alte Zeiten? Oder ein schlechtes Gewissen? Er hat den anderen nie von der Einladung an Laura erzählt. Hermann und Ingo wären dann auf keinen Fall gekommen. Wolfram? Der schon. Kann ja alleine keine Entscheidungen mehr treffen, und Isa liebt diese Auszeit an der toskanischen Küste. Und Olli – der kann sich wahrscheinlich gar nicht mehr an Laura erinnern. Kam ja erst vier Semester später dazu.

Inzwischen sind sie beim 4. oder 5. Negroni, Lukas hat das Zählen aufgegeben, und auch Mavi, seine aktuelle Lebensgefährtin, genießt die „dolce vita“ in vollen Zügen. Detox und Pilates waren gestern und stehen morgen wieder auf dem Plan. Heute wird gefeiert. Lukas‘ Freunde sind gar nicht so öde, wie sie befürchtet hatte. Witzig, charmant und auf eine altertümliche Weise liebenswert. Ingo hat ihr den Stuhl zurechtgerückt. Fritz füllt ihr Glas regelmäßig nach, und Hugo erzählt ihr mit glänzenden Augen von den Frauen, denen sie mit einer Prothese das Leben erleichtert haben. Klingt heldenhaft. Vielleicht fährt sie mal mit. Aber wahrscheinlich legt sich ihre Begeisterung für dieses Projekt, wenn der Prosecco verflogen ist.

Da geht die Terrassentür auf, und eine junge Frau steht vor ihnen. Im langen, weiten weißen Leinenkleid, Goldkettchen um die schmale Fessel, weiße Sandalen. Lange schwarze Locken fallen auf braune Arme. Ihre Augen so groß, ihr Mund so rot.

Lukas lässt das Glas mit seinem Negroni fallen. Klirren. Stille. Hugo, ganz Mann von Welt, geht auf die junge Frau zu. „Signora, suchen Sie jemanden? Das ist eine geschlossene Gesellschaft…“ Aber Lukas sieht und hört, dass auch Hugo die Frau erkannt hat. Laura. Sie sieht aus wie Laura. Aber das kann nicht sein. Laura ist heute Ende fünfzig. Und die Frau vor ihnen? In den Dreißigern. Oder so.

„Scusi, entschuldigen Sie. Ich habe von draußen meine Lieblingsmusik gehört. Ich musste einfach reinkommen. Aber ich gehe gleich wieder. Ich wollte sie nicht stören.“

„Ma no! Nein, bitte. Bleiben Sie. Was möchten Sie trinken? Einen Negroni?“

Mavi schaut zu, wie Lukas der Frau einen Platz anbietet, einen Negroni bringt, sich neben sie setzt und sich alsbald angeregt mit ihr unterhält. Das ist so typisch Lukas. Aber Mavi macht sich nichts mehr daraus. Auch streunende Hunde kehren irgendwann wieder zu ihrem Futternapf zurück. Und der ist bei Mavi immer gut gefüllt. Mit feinstem Essen, gutem Sex und einem offenen Ohr für all die Problemchen und Wehwehchen, die ein arrivierter plastischer Chirurg so hat.

Die Sonne geht unter, Mavi hat Kopfschmerzen. „Ich fahr schon mal ins Hotel“, sagt sie. Lukas nickt abwesend. „Ich komm bald nach. Nimm ruhig das Auto, aber fahr langsam. Ingo nimmt mich mit.“ Ingo ist im gleichen Hotel abgestiegen. Die beiden sltzen links und rechts von der Italienerin, Lucia heißt sie. Reden, lachen, sind betört davon, dass eine schöne Frau ihnen zuhört, mit großen Augen und strahlendem Lächeln. Er wirkt immer noch, ihr Charme. Und warum auch nicht? Zwei erfolgreiche Männer, Ärzte aus Deutschland. Das war doch schon immer ein Freibrief, hier.

Am nächsten Morgen wacht Mavi alleine auf. Von Lukas keine Spur. Sie denkt sich nichts weiter und geht runter zum Frühstück. Dort trifft sie einen verkaterten Wolfram mit einer – wie immer – mürrisch dreinschauenden Isa. Peter, Olli, Fritz und Hajo kommen dazu. Lukas und Ingo sind nirgends zu sehen. Für den späteren Vormittag ist ein Besuch im Naturhistorischen Museum der Universität Pisa geplant. Francesca hat eine Führung organisiert. Mavi fährt bei Fritz und Hajo mit. Auch zum Mittagessen in der Osteria, die die Clique als Studenten zum Stammlokal auserkoren hatten, fehlen Lukas und Ingo.

Was tun? Ist das noch normal? Oder ist den beiden etwas zugestoßen? „Mavi, was sollen wir machen?“, fragt Isa. Denn die Männer sind unschlüssig. Typisch. „Keine Ahnung. Sowas ist eigentlich noch nie passiert. Aber sie sind ja zu zweit. Was soll schon sein?“, antwortet Mavi. Sie ist eher verärgert als besorgt. So eine Rücksichtslosigkeit. Sie sind über 60, nicht 20. Was denken sich die beiden eigentlich? Sie werden doch sicher nicht zusammen mit Lucia…? Ja, was?

Also zurück ins Hotel. Abwesend macht Mavi den Fernseher an. Sie versteht kaum Italienisch. Aber die Bilder sind deutlich genug. Eine männliche Leiche wurde angeschwemmt. Auf der Höhe von Tirrenia. Ohne Papiere. Mit einer Wunde am Kopf. Und 1,9 Promille im Blut. Ganz offensichtlich ist der Mann betrunken von einer Mole ins Meer gestürzt, hat sich dabei an den Steinen verletzt und ist dann ertrunken. Die Großaufnahme der Leiche zeigt – Ingo. (…)

So, meine Lieben. Das ist der erste Teil des Thrillers Tödliche Erinnerung. Übermorgen kommt der zweite Teil. ABER: ihr habt die Möglichkeit, einzugreifen. Was ist passiert? Wo ist Lukas? Und wie soll es weitergehen? Macht mit! Seid Ermittler*innen und Kriminalisten. Ich freue mich auf eure Tipps!

MiniKrimi Adventskalender am 13. Dezember


Tod in der Pfalz (Auszug)

von Tina S. Martin

„Tod in der Pfalz“ von Tina S. Martin

 Prolog                                                                                                   

Es war vollbracht.

Das Notwendige war getan.                                      

Sie würde kein weiteres Unheil in die Welt bringen. Die Welt würde es nicht danken, aber darauf kam es nicht an.

Entscheidend war das Gleichgewicht. Jetzt, wo es wiederhergestellt war, konnten Ruhe und Frieden einkehren.  Die Betrachtung des Werkes nahm Zeit in Anspruch. Es sollte eine angemessene Würdigung erfahren.  Der nackte Körper zierte den fein gemaserten Parkettboden.

Das einstmals schöne Gesicht war aufgedunsen und entstellt.

Die blasse Haut an Brüsten, Bauch und Oberschenkeln war von dunkelroten Linien durchzogen.

Weiß wie Schnee, rot wie Blut. Das Schwarz war mit der Seele ausgelöscht.                 

Schade, dass nach dem Tod nichts mehr kam. Für sie wäre die Hölle die passende Option gewesen.  Die Ermittler würden rätseln. Gab es ein sexuelles Motiv? Drohten weitere Morde? War ein Serienkiller unterwegs? Hatte das Muster etwas zu bedeuten? Warum lag eine Übertötung vor?                           

Schon bald würden sie der Spur folgen, die für sie gelegt worden war.

Freitag, 4. Mai

Der Mannheimer Maimarkt verzeichnete bei wolkenlosem Himmel und Temperaturen über dreißig Grad Besucherrekorde.

Für Maike Neuendorf war das Verfolgen des Reitturniers unter glühender Sonne ein echtes Opfer. Sie liebte Pflanzen, engagierte sich für den Umweltschutz und wanderte oder joggte gerne in der freien Natur. Zu haarigen Tieren jeglicher Art hatte sie jedoch ein gänzlich unromantisches Verhältnis. Sie aß kein Fleisch, aus gesundheitlichen Gründen und auch, weil sie das Schlachten und Quälen von Tieren grundsätzlich ablehnte. Auch das Springen mit Pferden über mannshohe Hindernisse hielt sie für vollkommen abwegig. Aber sie verspürte keine Sympathie für die Tiere.

Sie verstand ihre zahlreichen tierlieben Freundinnen nicht, die Hunde, Katzen und Pferde vergötterten und unbeschwert  Rinder, Schweine  und Hühner aßen.

Maike hatte das Turnier nur bruchstückhaft verfolgt; sie war überwiegend damit beschäftigt gewesen, den Kopf ihrer achtjährigen Tochter Sophie regelmäßig mit Wasser aus der Flasche zu benetzen, um einem Hitzschlag vorzubeugen.

Ärgerlich hielt sie Ausschau nach ihrem Mann, der sich wieder einmal erfolgreich abgesetzt hatte.

Sophie bestand darauf, als nächstes die Tierschau zu besuchen. Maike schauderte, aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als mitzugehen.

In den Zelten staute sich die Luft und mischte sich mit den Ausdünstungen von Fell, Schweiß und Exkrementen.

Maike fühlte das Wasser in Bächen am Rücken hinunterlaufen. Sie hatte das Gefühl, zu ersticken. Ärgerlich  über die Reaktion ihres Körpers versuchte sie, die Anzeichen zu ignorieren. Wofür trainierte sie schließlich diszipliniert und achtete, seit sie erwachsen war, auf gesunde Ernährung?

Sicher nicht, um sich zu fühlen wie eine alternde Frau in den Wechseljahren. Der Gedanke erschreckte sie. Konnte es sein, dass dies die ersten Vorboten waren? Von wegen Vorboten, lästerte eine Stimme in ihr. Du bist schon mittendrin!

Sie wurde in der Menge von feuchten Leibern weiter geschoben. Verzweifelt versuchte sie, dem Druck standzuhalten.

Sophie betrachtete fasziniert eine Mutterziege, die ganz ruhig stand,  während ihre Kleinen aufgeregt um sie herum sprangen und sich immer wieder unter ihren Bauch schoben, um zu saugen.

Maike konnte ihre Unruhe kaum unterdrücken.  Wie süüüß, hörte sie Kinderstimmen rufen. Sophie starrte mit offenem Mund auf die Tiere; sie war der Welt außerhalb des Geheges entrückt. Als Maike ihre Tochter so glücklich sah,  erfüllte sie eine Welle der Zärtlichkeit. Die Opfer waren gering im Vergleich.

Eine Berührung an der Schulter riss sie aus ihren Gedanken.

Frank, ihr Mann, war endlich aufgetaucht. Er hatte sich von hinten genähert und schien ihr etwas mitteilen zu wollen. In dem Lärm der vielen Menschen verstand sie nichts. „Was sagst du?“

Er wiederholte es, aber sie verstand immer noch nicht.

Schließlich beugte er sich herunter und sprach direkt in ihr Ohr.

„Ich gehe.“

„Was soll das heißen?“

„Ich bin verabredet.“

Maike stöhnte. „Mit ihr?“

„Sie wartet am Ausgang auf mich.“ Frank legte seiner Frau eine Hand auf die Schulter. „Hör zu, es ist vorbei. Ich ziehe mit ihr zusammen.“

Was er sonst noch sagte, hörte Maike nicht mehr. Ein Dröhnen in ihrem Kopf schaltete alles andere aus. Verzweifelt suchte sie einen Halt.

Clara, dachte sie. Ich muss mit Clara reden.

 

Foto: Carol Alles

„Tod in der Pfalz“ von Tina S. Martin ist bei emons erschienen (Oktober 2023). Das Buch ist beim Verlag, bei amazon und im Handel erhältlich. 

MiniKrimi Adventskalender am 12. Dezember


Leben und sterben lassen

Helena arbeitet gerne beim ärztlichen Bereitschaftsdienst. Für die Chirurgin in einer großen Klinik sind die Einsätze die wenigen Momente, in denen sie nicht nur einen Körper „bearbeitet“, sondern den ganzen Menschen erlebt. Die vierfache Mutter, die so viel mit den Kindern zu tun hatte, dass sie ihren Husten so lange verdrängte, bis sie keine Luft mehr bekam. Den Rentner in seiner kleinen Wohnung, in der sie durch Zeitungsstapel waten und einen fauchenden Kater umgehen musste, um bis zu der Eckbank vorzudringen, wo er, vor Gallenschmerzen gekrümmt, kauerte. Das Pärchen in einer schicken Villa im Nobelviertel, das sich in Abwesenheit der Eltern mit Magic Mushrooms in einen Rausch katapultiert hatte, der bei einer der beiden in einen massiven Verfolgungswahn umgeschlagen war.

Ihre Arbeit beim ärztlichen Bereitschaftsdienst motiviert sie, weiterzumachen, wenn der Klinikalltag mit Bürokratie, engstirnigem Regelwerk und ständiger Bevormundung durch die dienstälteren Kollegen unerträglich zu werden droht.

Jetzt, in der Woche vor Weihnachten, hat sie gleich mehrere Schichten übernommen. Als Single in einer ihr noch fremden Stadt ist ihr das lieber als einsame Abende mit Rotwein und TV-Schnulzen. Nur heute würde sie gerne pünktlich zum Schichtwechsel um 22 Uhr Schluss machen. Denn sie hat sich mit ihrer besten Freundin, die für ein Jahr in New Orleans arbeitet, für ein Zoom-Treffen verabredet.

21 Uhr. Bis jetzt ist der Dienst mehr als ruhig verlaufen. Die Leute sind mit den Weihnachtsvorbereitungen offensichtlich zu beschäftigt, um krank zu werden. Und die Einsamen, Depressiven warten mit ihrem Blues vermutlich bis Heiligabend. Wo werde ich am 24. sein?, fragt sich Helena. Zuhause bei den Eltern, 400 physische Kilometer und Lichtjahre entfernt von ihrem Leben? Oder auf der X-Mas Single Party, auf der sie wahrscheinlich mehr als einen Kollegen treffen würde?

Das Telefon klingelt. „Helena, Einsatz. Nichts Lustiges, leider. Ne Leichenschau. Im Entenbachstift.“ „Aber das Stift hat doch seine eigenen Ärzt*innen?“ „Ja, aber die Anruferin hat explizit nach dir gefragt. Ihr Mann ist gestorben.“ „Wie, nach mir?“ „Also nach jemandem von uns. Fahr da mal hin. Vielleicht kriegst du ja auch was geschenkt.“ „Wie bitte? Das geht ja gar nicht!? „Der Dr. Hennig-Liske war mal dort und hat ne Flasche Champagner mitgebracht. Sei ihm regelrecht aufgezwungen worden, hat er erzählt.“ „Naja, wohl kaum, wenn sie gerade den Ehemann verloren hat. Ich bin schon unterwegs.“

Und so klingelt Helena am 21. Dezember um 21.20 Uhr bei Prof. Dr. Weimar. So steht es auf der Adresse., die Sybille ihr und dem Fahrer, Frank, mitgegeben hat.

„Du wartest?“ Die Frage ist rhetorisch. Natürlich wartet Frank. Und natürlich erwartet er, dass Helena nicht länger als nötig weg ist.

Der Türöffner summt, gleichzeitig sagt eine verzerrte Stimme aus der Gegensprechanlage: „4. Stock, gleich gegenüber vom Aufzug. Oder rechts neben der Treppe, wenn Sie lieber zu Fuß gehen.“

Als Helena oben ankommt, ist die Tür zur Wohnung Weimar angelehnt. Aus halbdunklen Tiefen tönt Musik: Mozarts Requiem. Die Frau hat Nerven wie Drahtseile, denkt Helena. Oder Stil. Oder beides.

„Guten Abend. Danke, dass Sie gekommen sind. Bitte hier entlang.“ Die Frau ist hochgewachsen und schlank, sie trägt einen weiten Hausanzug aus dunkelrotem Samt. Die gleiche Farbe wie ihre Lippen. Die grauen Haare fallen in weichen Wellen auf ihre Schultern. Die Augen schwarz, die Nase gerade, der Blick scharf. Eine sehr schöne Frau. Eine alte Dame. Unwillkürlich fühlt Helena sich zu ihr hingezogen. Das ist unprofessionell und ihr noch nie passiert.

Die alte Dame deutet auf eine Gestalt, die in der Ecke eines dunkelgrauen Sofas lehnt, den Kopf nach hinten gebeugt, in eine karmesinrote Decke gehüllt. „Mein Mann.“ Als wolle sie ihn Helena vorstellen. Er sieht aus, als würde er schlafen, und einen Augenblick lang denkt Helena, dass er aufstehen und ihr die Hand küssen wird, vielleicht mit einer gemurmelten Entschuldigung, weil er eingenickt ist. Seine Frau beugt sich über ihn, streicht ihm über das perfekt geschnittene Haar und streift seine Stirn mit einem leichten Kuss. Es ist ein Bild von unendlicher Nähe und Zärtlichkeit.

„Sie haben doch schon mal einen Toten gesehen?“ Jetzt erst merkt Helena, dass sie im Türrahmen stehengeblieben ist. „Natürlich.“ Sie gibt sich einen Ruck. Es fällt ihr nicht leicht, die Routine aufzunehmen in diesem gemütlichen Raum, der Leben und die Liebe dazu atmet. Von den deckenhoch in Reihen geordneten Büchern über das Sofa, die Lesesessel links und rechts vom Kamin, in dem ein küstliches Feuer flackert, bis zu den Fenstern, die die näctliche Stadt mit ihren Lichtern ungehindert teilhaben lassen an dem, was sich hier abspielt. Als sei es eine Bühne.

Sie nähert sich dem Mann. Dem Toten. Das kann sie zweifelsfrei feststellen. Der Körper ist noch warm, doch die Haut beginnt schon, abzukühlen, und Helena erkennt einzelne Totenflecken. Die Augen sind geschlossn. „Waren Sie das?“, fragt Helena die Frau. „Nein, er hat die Augen selbst zugemacht. Ihm war komisch, hat er gesagt.“ „Und wann war das?“ „Keine Ahnung. Vor zwei Stunden, vielleicht.“ „Warum haben Sie nicht gleich einen Arzt gerufen?“ „Er wollte das nicht. Und es ging ihm ja nicht schlecht. Ihm war, wie gesagt, nur komisch.“ „Und wann haben Sie gemerkt, dass er tot war? Waren sie die ganze Zeit bei ihm?“ „Nein, ich zwar zwischendurch in der Küche und im Bad. Ich habe immer mal wieder nach ihm gerufen. Als er nicht mehr geantwortet hat, bin ich sofort zu ihm gegangen. Da hat er nicht mehr geatmet.“

Helena versucht, die Situation in Augenschein zu nehmen. Woran der Mann gestorben ist, kann sie nicht erkennen. Er sieht friedlich aus. Es hat mit Sicherheit keinen Kampf gegeben. Weder mit einem anderen Menschen noch mit dem Tod. „Als habe er ihn willkommen geheißen“, denkt sie. Und schüttelt den Kopf. Sie ist sonst nicht romantisch veranlagt. Aber dieser Raum verbreitet eine ganz eigene Athmosphäre. Erst jetzt wird ihr bewusst, dass die Musik immer noch an ist. Sie kann keine Anlage erkennen, der Klang scheint frei im Raum zu schweben. Eine teure Wohnung, das ist klar. Ein reiches Paar.

Helena stellt die obligatorischen Fragen. Litt der Mann an einer oder mehreren Krankheiten? Natürlich. Mit 91. Bluthochdruck, Arthrose, er hatte grauen Star. Und mehere Bypässe. Aber vor allem war er alt. „WIr beide sind alt“, sagt seine Frau. Sind. Nicht waren. Denn ihr Mann ist noch hier, ist noch präsent. Helena bemerkt, dass kein Fenster geöffnet ist. Keine Seelenwanderung geplant, offensichtlich.

„Ging es ihm schlecht, heute? Hat er über etwas gekasgt?“ „Nein, nicht mehr als üblich. Er konnte seine Brille nicht finden, und die Butter war nicht salzig genug. Männer ertragen das Alter schwerer als Frauen, wussten Sie das? Aber nein, dafür sind Sie zu jung.“

Tatsächlich kann Helena ein Lied davon singen, wie wehleidig Männer sind. Aber daran sterben sie normalerweise nicht. Was also soll sie auf den Totenschein schreiben?

« Ich kenne weder die unmittelbar zum Tod führende Krankheit noch eine ursächliche Krankheit, die die unmittelbare Todesursache herbeigeführt haben könnte. Vor allem: sogar ein moribunder Patient kann rein theoretisch eines unnatürlichen Todes sterben. Ich kann – auch bei fehlenden äußeren Verletzungszeichen – nicht ausschließen, dass ein Verbrechen vorliegt, eine Vergiftung, zum Beispiel“, sagt sie. Eigentlich ist die Bescheinigung eines natürlichen Todes nur im Krankenhaus möglich, und auch dann nur, wenn der Tote vorher immer unter ärztlicher Kontrolle stand.

Helena muss eine Entscheidung treffen. Soll sie – mit erheblichem finanziellen und, für sie und für Frank, zeitlichen Aufwand eine Obduktion veranlassen? An einem 91-Jährigen, der in einem luxuriösen Seniorenstift wohnte? Helena sieht die Überschriften der lautesten Boulevard-Zeitschriften vor sich: Bereitschaftsärztin schikaniert trauernde Witwe. Wer weiß, vielleicht war der Professor irgendeine bekannte Koriphäe?

„Und was machen wir jetzt?“, fragt seine Frau. „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich brauche jetzt einen Gin Tonic. Und für Sie einen Tee, als Kompromiss, ja?“ Sie geht in die Küche, ohne Helenas Antwort abzuwarten. DIe ruft in der Zwischenzeit ihren Fahrer, Frank, an. „Du, das kann hier noch dauern. Ich muss das irgendwie abklären.“ „Wie, abklären? Isser tot oder nich?“ „Doch, schon.“ „Aber? Im Auto wird’s langsam kalt, und wir beide haben um 22 Uhr Schichtende. Das ist in 5 Minuten!“ „Ich weiß. Aber (Helena hat noch nie ihre Autorität raushängen lassen, doch jetzt tut sie es. Unwillkürlich. Und sehr bestimmt) ich brauche hier noch eine Weile. Fahr zurück, schick wen anders. Aber sag mir nicht, wie ich meine Arbeit machen soll.“ „Okokok!“ Frank ist hörbar beeindruckt.

„So, der Tee. Milch, kein Zucker, stimmt’s?“ „Ja. Danke. Woher…?“ „Ach, egal. Also, was müssen Sie wissen? Ich soll Sie überzeugen, dass ich meinen Mann nicht getötet habe? Hier sehen Sie den Beweis.“ Mit einer ausladenden Geste zeigt sie auf das Zimmer, die Wohnung. Die Bücher. Die vielen Fotos. alle von einem glücklichen, zufriedenen, ineinander ruhenden Paar. „Wir sind seit 50 Jahren verheiratet. Keine Kinder. Wir waren uns gegenseitig genug. Zwei Hälften eines Ganzen. Jetzt ist eine Hälfte zerbrochen. Ich werde nie wieder ganz sein. Warum hätte ich ihn umbringen sollen? Und damit einen Teil von mir?“

Helena schaut in den Tee. Earl Grey. Sie liebt ihn, kennt aber niemanden, der diese Vorliebe teilt. „Frau Weimer“, beginnt sind. Und wird unterbrochen. „Weimar, das war er. Julius. Mein Name ist Best. Elisa Best. Dr. aber das vergessen Sie gleich wieder. Und bevor Sie fragen: wir haben uns in Berlin kennengelernt, im Kalten Krieg. Er arbeitete für die USA. Ich – hatte auch einen spannenden Job. Ich habe Menschen geholften. Es war für uns beide die große Liebe. Bitte, glauben Sie mir. Sie wissen, wovon ich spreche!“, Elisa Best fixiert Helena mit diesem Blick, schwarz und tief.

Best. Best. Dieser Name.

Pltzlich muss Helena auf die Toilette. Granz dringend. „Der Tee…“, entschuldigt sie sich. „Sie haben sicher ein Gäste-WC.“ „Ach, gehen Sie einfach ins Bad. Gleich hier rechts.“

Als sie aus dem Badezimmer kommt – schwarz-weiße Kacheln, blitzender Chrom,, eine Badewanne auf goldenen Füßen und eine doppelt verspiegelte Vitrine als Schrank, geht Helena noch einmal zum Toten hinüber. Zu Julius. „So darf ich ihn doch nennen?“, fragt sie, und Elisa nickt. Mit einer, wie sie hofft, liebevollen Geste streicht Helena ihm übers Haar. Nimmt zärtlich seine Hand in die ihre. „Wie wunderbar er aussieht. Julius. Als würde er zu einem großen Fest gehen. Ein eleganter Anzug. Glänzende Shuhe. Und die Hände. Perfekt manikürt. Ich hätte ihn gerne kennengelernt.“

Elisa kommt dazu. Legt ihren Arm um Helenas Schulter.

„Er war bereit. Komm. Lass ihn gehen. Bitte.“

Helenas Telefon unterbricht den Moment. Frank. „Ich hab doch gesagt, ich brauche noch etwas Zeit.“ „Ok, aber beeil dich. Hattest du nicht auch noch was vor, heute?“

Ja, hatte sie. Aber manchmal kommt dir das Leben eben dazwischen.

Sie breitet den Bogen aus, den sie ausfüllen muss. Schreibt und kreuzt an und schreibt.

„So“, sagt sie schließlich. „Ich gehe jetzt runter zu Frank und gebe ihm den Bogen mit.“

„Und dann?“ „Und dann komme ich nochmal rauf. Ich glaube, wir haben noch was zu besprechen, Elisa. Du und ich.“

Elisa nickt. Und dann, plötllich, schwimmt ein verdächtiger Schimmer in ihren Augen.

Es ist lange nach Mitternacht. Draußen, jenseits der Fenster, umrahmt von roten Samtportieren, gehen nach und die Lichter aus in der Stadt. Drinnen sitzen zwei Frauen am Feuer.. Eine alte, eine junge. Die Hände verschränkt. Die alte weint. Endlich. Zum ersten Mal, seit bei Julius vor über drei Jahren Alzheimer diagnostiziert wurde. In London. Von einem befreundeten Neurologen, der darüber Stillschweigen bewahrte.

„Seitdem tanzten wir beide auf dem Vulkan. Jedes Schachspiel, jeder Ausflug, jedes Abendessen waren plötzlich einzigartig, weil unwiederbringbar. Dann, vor einem Monat, erkannte Julius mich eines Morgens nicht mehr. Am Abend erinnerte er sich daran. Und wir wussten, jetzt ist es an der Zeit. Julius hat sein Leben lang immer selbst die Zügel in der Hand gehalten. Genau wie ich. Er wollte in Würde gehen. Und manchmal heißt lieben auch loslassen, gegen dein eigenen Willen. Oder die eigene Überzeugung. Ich hatte die Mittel. Und das Wissen. Und den Mut. Also habe ich ihm geholfen.“

„Und warum gerade heute?“, fragt Helena, obwohl sie die Antwort kennt. „Ich wusste, dass du die diensthabende KVB-Notärztin sein würdest.“

„Wie hast du mich gefunden?“ „Deine Großmutter und ich sind nach wie vor befreundet. Das passiert beim BND nicht so oft. Eigentlich gar nicht. Die meisten wollen ihre Agentenzeit lieber komplett vergessen. Aber wir beide – wir waren ein tolles Team.“

„Ich weiß. Die „Mad Women“, haben sie euch wohl genannt. Meine Großmutter hat das gleiche Foto“, sagt sie und zeigt auf ein S/W-Bild von zwei jungen Frauen, schön, stark, Rücken an Rücken und jede mit einem Revolver in der Hand.

„Ja, und stell dir vor, den Namen hat Julius uns gegeben! Aber woran hast du gemerkt, dass etwas an Julius Tod nicht stimmte? Ich bin eigentlich perfent und arbeite ohne Fehler.“

„Du warst perfekt. Fast. Ich habe im Bad herumgeschnüffelt. Dabei habe ich deine Diabetes-Spritzen gefunden. Und ein paar Antidementiva und Neuroleptika. Als ich Julius Hand genommen habe, habe ich unter dem Nagel noch die feinste Spur eines Einstichs gefunden. Aber warum ich überhaupt misstrauisch geworden bin? Ich glaube, ich habe dich einfach erkannt. Das Foto bei meiner Großemutter hat mich von klein auf fasziniert.“

„Ja. Ich glaube, wir beide wären verweandte Seelen, wenn es denn so etwas gäbe. Was machst du übrigens zu Weihnachten? Ich werde sehr einsam sein.“

„Nein. Zusammen wird keine von uns alleine sein. Und auch nicht einsam.“

MiniKrimi Adventskalender am 11. Dezember


Wer Vertrauen schenkt (Auszug)

von Monja Luz

Gemeinsam betreten Chris Muth und Jake Imhof die Küche. Die ist hell erleuchtet und sperrt das spärliche Tageslicht gänzlich aus. Am Bartisch sitzt ein junger Mann mit geröteten Augen, sein Hemd ist blutverschmiert. Die Hände halten eine Tasse.
Er bemerkt sie offenbar nicht. Selbst als sie direkt vor ihm stehen, reagiert er nicht, sondern starrt weiter vor sich hin. Die Tasse ist unbenutzt. Es scheint, als hätte er danach gegriffen und im nächsten Moment vergessen, was er damit wollte.

»Herr Danner? Wir haben ein paar Fragen.«

Unsicher hebt der Angesprochene den Kopf, schaut von Chris zu Jake. Chris stellt sie beide vor, während Jake sich an der Kaffeemaschine zu schaffen macht. Das laute Mahlen der Kaffeebohnen überbrückt das Schweigen. Ein aromatischer Geruch breitet sich aus, der den Zeugen zusehends belebt. Jake verteilt die gefüllten Tassen. Nach einem ersten vorsichtigen Nippen drückt der Zeuge den Rücken durch, blickt Chris fest in die Augen und sagt: »Ich werde Ihnen keine große Hilfe sein. Im Moment kann ich mich nur daran erinnern, hergekommen zu sein. Und plötzlich standen Ihre Kollegen vor mir.«

»Aber Sie haben den Notruf gewählt?«

»So hat es mir Ihre Kollegin geschildert, aber ich kann mich nicht entsinnen, es getan zu haben. Sobald ich versuche, den Morgen zu rekapitulieren, sehe ich Steff, wie sie daliegt …« Wieder verliert sich sein Blick.

»Wie wäre es, wenn Sie uns zunächst einmal Ihre persönlichen Daten nennen, Herr Danner?« Chris zückt seinen Notizblock.

»Mein Name ist Daniel Danner, siebenundzwanzig Jahre, ich bin Germanistikstudent im fünften Semester.«

Kommt daher seine gestelzte Sprache, wundert sich Chris. Dann fragt er: »Wohnen Sie hier?«

»Nein, ich habe eine Wohnung in Gonsenheim, die Adresse hat Ihre Kollegin notiert.«
Sichtlich dankbar lässt sich Herr Danner auf den Plausch ein.

»Und wer wohnt hier?«

»Steff mit ihren Eltern. Wobei die vor einem Jahr auf die Kanaren umgesiedelt sind und sich nur selten in heimatlichen Gefilden aufhalten. Herr Seidel hat ein Lungenleiden, das ihn sehr einschränkt. Die Seeluft und das gleichbleibende Klima dort erleichtern ihm den Alltag.«

»Wie lange sind Sie und Frau Steffanie Seidel ein Paar?«

»Seit zehn Monaten. Wir kennen uns von der Uni. Ich betreue die Erstsemester.«
»Das machen Sie neben dem Studium?«

»Richtig, das hat sich durch die Pandemie entwickelt. Ich habe mich zurückgezogen und mich mit den Möglichkeiten vertraut gemacht, ein Leben ohne direkten Außenkontakt zu führen. Ich bin nicht technikaffin, aber ich kenne mich mittlerweile gut aus. Ich mache auch die Betreuung online, um die Studierenden auf eine erneute Umstellung vorzubereiten. Damit nehme ich ihnen die Angst und zeige, wie die soziale Isolation vermieden werden kann, auch wenn der Individualkontakt nicht möglich ist.«

Chris spürt, wie wichtig seinem Gegenüber das Thema ist. »Wann haben Sie Ihre Selbstisolation aufgehoben?«

»Ich meide weiterhin große Ansammlungen und trage FFP2-Masken, wenn ich einkaufen gehe, beim Arzt, in Bus und Bahn und in der Uni.«

»Auch bei Ihrer Familie und unter Freunden?«

»Ich habe keine Familie. Und Freunde … ich treffe mich im Grunde nur mit Steff.«

»Haben Sie sich gestern gesehen?«

»Ich denke schon.« Die Bemerkung stoppt Danners Redefluss, wieder verfällt er in stummes Starren ins Nirgendwo.

»Herr Danner, was ist gestern passiert?«

»Ich glaube, wir hatten einen Disput. Unseren ersten kleinen Konflikt.«

»Worum ging es?«

Danner richtet sich auf, schüttelt den Kopf. »Es war nichts. Nur eine infantile Bemerkung in der Nachricht einer Freundin. Wir haben es geklärt. Nur wegen des Nachklangs des Streits haben wir uns nicht wie gewohnt verabschiedet.«

»Wie muss ich mir das vorstellen?«, hakt Chris nach und wirft einen Blick auf Jake, der es sich auf einem Barhocker bequem gemacht hat. Dabei trinkt er Kaffee und wirkt abwesend.
»Ich … ich weiß, dass es so war, aber an die Einzelheiten kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass ich heute Morgen dachte, ich muss Steff gleich als Erstes herzen.«

»Sie können sich nicht an den Ablauf erinnern?«, mischt sich Jake nun doch ein.

»Nein«, antwortet Herr Danner mit einer Selbstverständlichkeit, die Chris erstaunt.

»Haben Sie das öfter? Immerhin sind seitdem wohl kaum mehr als zwölf Stunden vergangen. Und es war Ihr erster Streit, den behält man in Erinnerung.«

»Nein.«

»Sie wollen sich nicht daran erinnern?«, fragt Chris.

»Richtig. Negativ belegte Erlebnisse bewahre ich nicht im Gedächtnis. Wozu auch? Ich weiß, dass etwas war, mehr nicht. Warum soll ich mich mit solchen Erinnerungen quälen?«

Darauf kann Chris nichts erwidern, fast beneidet er sein Gegenüber um die Fähigkeit – wenn der Wahrheit entspricht, was er sagt. »Dann erzählen Sie, woran von gestern Abend Sie sich erinnern.«

»Wir haben uns Essen bestellt, thailändisch, die Vorspeise haben wir uns geteilt und beim Hauptgericht nach der Hälfte die Teller getauscht. Das machen wir immer so.« Ein Lächeln blitzt auf. »Dann hat Steff ihre Geschenkliste überarbeitet. Da ist sie sehr penibel. Ich habe versucht herauszufinden, was ich ihr schenken soll.« Das Lächeln wird stärker. Offensichtlich hat Herr Danner seine tote Freundin im Wohnzimmer nebenan ebenfalls vergessen.

»Dann kam der Streit?«

»Nein, der war später.«

»Wann?«

»Ich habe sie nach Hause gefahren.«

»Sie haben ein Auto?«, wundert sich Chris, der sich von seinem Wagen wegen der Parkplatznot und den horrenden Parkgebühren in Mainz vor Längerem getrennt hat.

»Nun, den Luxus erlaube ich mir.«

»Und als Sie hier ankamen, kam es zum Streit.«

»Nein.«

»Sondern?«

Die Antwort kommt zögerlich: »Sie wollte, dass ich das Haus inspiziere.«

»Und? Haben Sie?«

»Nein.«

»Herr Danner, können Sie uns bitte den Ablauf erzählen, wie Sie ihn in Erinnerung haben?«
Der Angesprochene schüttelt erst den Kopf, richtet sich auf und schaut Chris direkt an.

»Gewiss. Ich habe Steff hergefahren. Dann hat sie rumgedruckst. Vorher war sie schon fahrig gewesen, hatte ständig ihr Handy in der Hand und hat Nachrichten und sogar Anrufe bekommen.«

»Von wem?«

»Darüber habe ich keine Kenntnis.«

»Sie haben nicht gefragt?«

»Nein.«

»Und wegen der Nachrichten haben Sie sich gestritten?«

»Gestritten? Nein. Das war später. Sie wurde immer unruhiger. Um kurz nach halb elf wollte sie plötzlich nach Hause. Also habe ich sie gefahren. Dann sollte ich eine Runde durchs Haus machen, nach Einbrechern suchen. Steff hat aufgeschlossen, aber die Alarmanlage war aktiviert. Wie soll da jemand Unbefugtes im Haus sein? Außerdem waren die Katzen unten. Ich bin gleich weg.«

»Ohne Verabschiedung?«

»Ja. Weil es einfach albern war. Ich habe gefragt, was los ist, darauf hat sie nicht geantwortet.«

Scheint, als hätte sich die erste Verliebtheit verflüchtigt und ohne rosarote Brille entsprach die Partnerin nicht mehr hundertprozentig den Vorstellungen. Wie so oft, denkt Chris.
»Sie wollte einfach nur ihren Willen durchsetzen!«

Die Heftigkeit der Bemerkung lässt selbst Jake aufhorchen, der gerade sein Handy hervorgeholt hat. Doch genauso plötzlich, wie das Aufbegehren gekommen ist, erlischt es und Herr Danner sitzt mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern da, knetet seine Hände.

Dann flüstert er: »Bin ich schuld an ihrem Tod?«

Monja Luz verbringt ihre krimifreie Zeit hauptberuflich mit Buchhaltung. Dabei ordnet und schiebt sie die Zahlen so lange hin und her, bis sie stimmig sind. Genauso verfasst sie ihre Krimis. Nach und nach wird das Knäuel aus Verdächtigen und Motiven entwirrt, und am Ende wird das Lügengeflecht des Täters entlarvt.

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